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Es war einmal ein Brudervolk

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In den sozialen Netzen der Ukraine kursiert derzeit ein Schaubild, es sieht aus wie eine Bastelanleitung für Kinder: ausschneiden, zusammenkleben, spielen. Allerdings zeigt dieses kleine Schaubild die große und bittere Wirklichkeit, mit der das Land derzeit konfrontiert ist: links, riesig und bedrohlich, in Rot, die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim mit ihren mehr als 40 mächtigen Kriegsschiffen. Daneben, in Grau und sehr klein, die ukrainische Flotte mit halb so vielen Schiffen, von denen einige nach Angaben von Experten ohnehin nicht einsatzbereit sein sollen.



Die Ukraine reagiert mit Mobilmachungauf die Besetzung der Krim

Nicht, dass irgendein Ukrainer glauben würde, sein Land habe den Hauch einer militärischen Chance gegen Russland – auch wenn die Rhetorik in Kiew derzeit mehr nach Entschlossenheit und Heldenmut klingt als nach Verzweiflung. So hat der Verteidigungsminister in Kiew am Sonntag die Generalmobilmachung befohlen; alle wehrpflichtigen Männer sollen sich bei den Wehrämtern melden. Übergangspräsident Alexander Turtschinow hatte zuvor die Armee in Alarmbereitschaft versetzt. Es gebe einen „Aktionsplan“, sagte er drohend. Und Premier Arsenij Jazenjuk verkündete, wenn Russland die Krim einnehme, dann komme die „Katastrophe“, dann gebe es Krieg.

Die explizit antirussische neue Regierung agiert bemüht professionell und geht auf Konfrontationskurs; sie beharrt auf der territorialen Souveränität ihres Landes und droht mit Gegenwehr. Alles andere, etwa sofortige Gesprächsangebote, wären in den Augen des Volkes einer Demutsgeste gleichgekommen, mit der sich die neue Regierung kurz nach ihrer Inthronisierung selbst jeder Autorität im Land beraubt hätte. Nur: Die Ukraine hat einen der kleinsten Militäretats Europas. Denn wen hätte diese schlecht ausgebildete und schlecht ausgestattete Armee bisher auch erschrecken sollen? Aus dem Westen war keine Aggression erwartet worden, und Russland war, bis vor wenigen Tagen, ein „befreundetes Brudervolk“ gewesen, in dessen Schutz sich das Regime von Viktor Janukowitsch geglaubt hatte.

Jetzt verletzt Russland den Stationierungsvertrag über die Schwarzmeerflotte, die ein Maximum an Soldaten und Material sowie beschränkte Bewegungsfreiheit vorsieht – aber Moskau, das jährlich 70 Milliarden Dollar in die Verteidigung steckt, macht sich seine eigenen Regeln.

Nun hat es sich also entschieden, die flächenmäßig große, aber bankrotte und instabile Ukraine zu zerteilen. Der Hilferuf an die Nato, den das ukrainische Kabinett absetzte, kommt einem Flehen gleich. Doch aus Brüssel gibt es kein Signal, dass sich die westliche Militärgemeinschaft einzumischen gedenkt zugunsten eines Landes, das gar nicht in der Nato ist.

Nein, die Krim ist wohl verloren. Das ahnt man nicht nur in Kiew, wo am Sonntag das Parlament hinter geschlossenen Türen beriet, sondern im ganzen Land – auch wenn das niemand so sagen würde und in zahlreichen Botschaften vom Maidan, per Fernsehen und im Internet versichert wird, man sei ein Volk. Die Russen würden lügen, wenn sie behaupteten, ethnische Russen auf der Krim müssten vor Extremisten und Faschisten beschützt werden. Unten, im Süden, kommen diese Botschaften nicht mehr an.

Die Ukraine sieht sich am Rande eines Krieges. Und sie sieht sich schon jetzt als Opfer, vergleichbar mit der Tschechoslowakei 1968, allein gelassen von den internationalen Zaungästen der Konterrevolution. Dabei geht es längst nicht mehr einzig um die Krim, es geht um den ganzen, russisch geprägten Osten des Landes, der erstaunlich stillgehalten hatte während der Aufwallungen der vergangenen Monate. Dort wünschen sich, laut einer aktuellen Untersuchung der Stiftung Demokratische Initiative, weniger als 50 Prozent der Bewohner einen Anschluss an Russland, höchstens mehr Autonomie. Dennoch wurden, etwa aus Charkow, erste Ausschreitungen gemeldet, die – laut russischen Medien – ethnische Russen gefährdet hatten. Selbst wenn es sich um Provokateure handelte, dürften solche Vorfälle laut russischer Argumentation einen Vormarsch auf den Donbass, das Industriegebiet im Osten, rechtfertigen. Die Frage, die man sich panisch in Regierungskreisen in Kiew stellt, lautet: Wird Wladimir Putin es wagen, noch weiterzugehen?

Weiter, als Tausende zusätzliche Soldaten auf die Krim zu schicken, wo ohnehin 13000 russische Militärs bei der Schwarzmeerflotte Dienst tun? Weiter, als russische Pässe an ukrainische Polizisten auszugeben und ukrainische Militärstützpunkte zu umstellen? Straßen und Grenzübergänge seien übernommen worden, berichten Reporter und Augenzeugen, der Zugverkehr und die Telekommunikation würden blockiert, überall seien Militärs unterwegs, überwiegend ohne Kennzeichnung, die Zivilisten aufhielten und durchsuchten. Im Detail ist das schwer zu überprüfen, aber die schiere Masse der Berichte spricht für sich.

Die selbsternannte politische Führung auf der Krim hatte sich schon vor Tagen auf die Seite Putins gestellt. Der Propagandakrieg ist seither in vollem Gange: Russische Medien berichten, Tausende ukrainische Soldaten und Polizisten seien übergelaufen. Zudem gebe es einen Exodus nach Russland. Als Beleg soll ein Foto gelten. Es zeigt allerdings eine Autoschlange an einem Grenzübergang nach Polen.

Außer Frage steht derzeit wohl nur: Wladimir Putin hat mit rasender Geschwindigkeit und Brutalität Fakten geschaffen, die auch die neue, unglückliche Regierung in Kiew nicht negieren kann. Was nun? Die Reaktionen jenseits der Politik sind im Wesentlichen mit einem Wort zu beschreiben: Fassungslosigkeit. Vor der russischen Botschaft in Kiew stehen Menschen mit Plakaten, darauf steht: „Putin, ich bin Russe, bitte beschütze mich vor dir.“ Und die Medien titeln: „Russland gegen das ukrainische Volk“ oder „Putin droht mit Ausweitung der Invasion auf andere Teile der Ukraine“. Die Sonntags-Demonstration auf dem Maidan läuft unter dem Motto: „Die Krim ist die Ukraine“. Die Stimmung dort sei, wie Augenzeugen berichten, geprägt von Bitterkeit, nicht von Zuversicht. So schnell soll das europäische Experiment schon wieder zu Ende sein?

Eine leise, letzte Hoffnung setzt man auf die Landsleute im Osten, die Russland vereinnahmen will – und die sich, allem Anschein nach, nicht alle vereinnahmen lassen wollen. Am Sonntag werden große Protestkundgebungen gemeldet aus Charkow, Mykolajew, Saporoschie, Dnjepropetrowsk, Odessa; ihr gemeinsames Thema: Hände weg von der Ukraine. Selbst der Anführer der prorussischen Partei „Vaterland“, Igor Markow, soll zur Bewahrung der Integrität der Ukraine aufgerufen haben: „Wir sprechen verschiedene Sprachen, wir haben verschiedene Mentalitäten, aber einen gemeinsamen Staat.“

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