Von der wunderbaren Patti Smith gibt es ein Lied mit dem Titel My Blakean Year. Ein Jahr ganz mit einer bestimmten Stimmung zu verbinden, klappt wahrscheinlich nur im Rückblick auf ein ziemlich langes Leben und mit viel gutem Willen. Käme ich aber in diese Situation, müsste das Jahr nach meinem 30. Geburtstag ganz anders heißen, nämlich: My Selfish Year.
Über die 30 wird viel geredet, vor allem von Leuten, die mit 30 Jahren bestimmte Ziele erreicht haben wollen – meist sind das eine Familie, ein solider Job und vielleicht ein Haus mit Garten und VW Kombi vor der Tür. Das war nie mein Plan und die „schicksalhafte“ Zahl war mir nie wichtig, weshalb es um so ironischer ist, dass sich pünktlich zu meinem runden Geburtstag mein ganzes Leben verändert hat (die Zusage für den neuen Job in Norddeutschland kam tatsächlich ca. eine Woche davor).
Ein kurzes Vorher-Nachher-Szenario sähe wie folgt aus: Bis zu meinem 30. Geburtstag lebte ich in Hessen, nicht allzu weit von der Kleinstadt meiner Kindheit entfernt. Ich hatte einen interessanten, nicht besonders anstrengenden, befristeten Job mit klaren Hierarchien und viel Freiräumen sowie seit kurzem eine Fernbeziehung – zum Ausgleich aber eine Menge an ungefähr gleich „engen“ Freunden in Reichweite, inklusive all der alten Schulfreunde, die in der alten Heimat geblieben waren. Auch meine Eltern und alle weiteren Verwandten lebten nicht weiter als eine Stunde Fahrt entfernt, und so manches Mal kam ich in die Verlegenheit, wegen all der Fernbeziehungspendelei meine diversen sozialen Kontakte kaum noch in der Woche unterbringen zu können, denn da waren ja auch noch der Sport an zwei Abenden und all der Kulturkram, den man in der Stadt nun einmal so macht. Sollte ich das Ganze in Zahlen ausdrücken, wäre meine Energiebilanz in etwa 50% Arbeit, 25% Fernbeziehung und 25% Freunde, Familie, Freizeit gewesen. Bücher oder die Zeitung (die zu Schul- und Unizeiten ca. die Hälfte meiner Zeit beanspruchten) las ich im Zug und vielleicht mal an einem (ausnahmsweise freien) Abend in der Woche. Obwohl mich die Arbeit nicht besonders beanspruchte, hätte ich auf Nachfrage vermutlich neben dem Fernbeziehungsdasein vor allem bemängelt, zu wenig Zeit für meine Freunde zu haben und zu oft die Floskel „wir müssen unbedingt mal wieder...“ auszusprechen.
Spulen wir vor in den Februar 2014: Ich wohne nun 500 km weiter nördlich, in einer großen Stadt, in der ich neben den Arbeitskollegen etwa fünf entfernte Bekannte von früher, aber keine Freunde habe. Mein Freund und ich wohnen nun zusammen, was so schön klappt, dass es vor lauter Unkompliziertheit hier gar keine Rolle spielt, und ich habe einen neuen Job, der wie keiner zuvor meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Nicht nur das, er hat auch meine Selbstwahrnehmung verändert, da ich nicht nur fachlich in ganz neuen Gewässern schwimmen muss, sondern auch, um die Allegorie weiter durchzuspielen, hinter jeder Koralle neue Strategiefragen auftauchen und die Zuständigkeiten und Hierarchien so nebulös und giftig sind wie Quallen. Früher habe ich mich beispielsweise im Job nie um Geschlechter- und Machtfragen gekümmert, nun denke ich darüber dauernd nach; ganz zu schweigen davon, dass ich jede noch so kleine Entscheidung ausdiskutieren, mir unglaublich viele Dinge anlesen und allgemein viel zu viel Zeit im Büro und bei Veranstaltungen verbringen muss – bzw. will, denn der Job ist wirklich spannend und ich möchte in diesem seltsamen Gewässer trotz allem eine lange Zeit verbringen.
Ich merke also – hier kommt das egoistische Jahr ins Spiel –, dass ich seitdem nur noch über mich selbst nachdenke. Noch dazu habe ich in Hamburg noch niemanden außer meinem geduldigen Liebsten, den ich mich solchen Erörterungen traktieren kann. Ich vergesse sogar immer öfter, was mir andere Leute von sich erzählen, weil ich so sehr im eigenen Saft schmore. Und das Seltsamste ist, dass ich im Moment meist nicht einmal besonders viel Lust darauf habe, mir hier neue Freunde zu „erarbeiten“. Ich kenne doch schon so viele Menschen, die ich mag und gern hier hätte, wieso müssen da noch mehr dazukommen, quengelt das Kind in mir. Früher war ich mal stolz darauf, Anderen gut zuhören zu können, und jetzt beeindruckt es mich schon, wenn sich mein Kollege merkt, wann ich zum Sport gehe – während ich seine kranken Kinder längst wieder vergessen habe. Meine Freizeit verbringe ich plötzlich am liebsten mit simplen, handgreiflichen Dingen, und beim Lesen bin ich unkonzentriert, weil ich an so viel denken muss und das zu Lesende ja trotzdem auch noch wichtig und eigentlich immer etwas für die Arbeit ist.
Vielleicht ist das Gefühl, das ich in diesen Monaten habe, ganz ähnlich wie das, das all die frischgebackenen Eltern in meinem Freundeskreis haben, seitdem sie in eine völlig neue Welt mit anderen Aufgaben und Anstrengungen eingetaucht sind, natürlich in viel drastischerem Ausmaß. Als Außenstehender denkt man dann leichthin: komisch, die sind immer müde, und dann interessieren sie sich für rein gar nichts, was man ihnen so erzählt, sondern immer nur für ihr Kind. Ungefähr so benehme ich mich vermutlich auch gerade. Nun ja, vielleicht ist man ja nach einem Jahr auch mal wieder „aus dem Gröbsten raus“... und trotz allem war die Entscheidung für das seltsame Gewässer im Norden eine wirklich gute. Patti Smith sagt das schließlich auch: One road was paved in gold, one road was just– a road.