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Auslaufmodell Schule

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„Die Erwachsenen begehen eine barbarische Sünde, indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten.“ Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“


Die Jugend von heute ist faul, unmotiviert, orientierungslos, unentschlossen, verwöhnt, will nur die neuesten Designerklamotten haben, wohnt noch bei Mama und Papa, lernt nicht mehr für die Schule und hängt stattdessen den ganzen Tag nur am Smartphone, spielt PlayStation und will Party machen. Das sind die Sätze, die ich fast täglich höre – überall, wo ich hingehe.


Ganz ehrlich: Ich habe es satt, dieser Heuchelei zuzuhören, und möchte heute für eine Generation Partei ergreifen, die OPFER einer verdorbenen, psychisch kranken, perversen, verschmutzten, ausbeuterischen, egozentrischen, geldsüchtigen und gierigen Gesellschaft ist. Für die Kinder der Baby-Boomer-, Flower-Power-, Öko-Freaks-, Digital-Nerds- und Wall-Street-Wölfe-Generation. Oder wie auch immer sie sich nennen will.


Mit diesem Buch möchte ich die Jugend in Schutz nehmen und stattdessen ihren Eltern den Spiegel vorhalten. Den Eltern, die in der Regel einen Job machen, den sie hassen, in dem Überstunden nicht bezahlt werden und wo sie schamlos und im großen Stil ausgebeutet werden. Den Eltern, die von montags bis sonntags, von der Arbeit gestresst, zum Zumba-Kurs, zum mongolischen Kochen, zur Meditation für Manager, zum Stylecoaching für Karrieremenschen, zur Brad-Pitt-Bauch- oder Beyoncé-Po-Gymnastik rennen – und sich dann beschweren, dass sie keine Zeit haben.


Ich möchte die Jugend in Schutz nehmen vor ihren Großeltern, die ganz alleine in schmutzigen Pflegeheimen verrecken, gepflegt von polnischen Krankenpflegern, die nicht einmal ihre Sprache sprechen und gerade mal 9 Euro in der Stunde verdienen. Sie brauchen sich nicht zu wundern, dass ihre Kinder, Enkelkinder oder Freunde und Verwandte sie nicht besuchen kommen, denn sie ernten, was sie gesät haben. Sie haben ihre Zeit und ihr hart verdientes Geld in teure Gegenstände investiert anstatt in Menschen. Soll ich euch was sagen? Euer Porsche wird euch nicht im Pflegeheim besuchen kommen.


Dieses Buch begann als Brief, den ich an meine älteren Kinder schreiben wollte, um ihnen zu erklären, wie die Welt funktioniert. Mir war es wichtig, meinen Kindern zu erzählen, wie ich die Welt, in der wir leben, sehe. Wie sie aus meiner Sicht funktioniert. Was habe ich daraus gelernt? Was ist in meinen Augen falsch und was ist richtig? Aber der Brief wurde schnell länger und länger und als ich irgendwann unter Tränen schrieb, da wünschte ich mir, mein Vater hätte mir so einen Brief geschrieben. Ich wünschte, sein Vater hätte ihm so einen Brief geschrieben. Ich wünschte, alle Väter jeder Generation hätten ihren Kindern zu allen Zeiten so einen Brief geschrieben. Dann würden wir vielleicht nicht immer die gleichen Fehler wiederholen. Woher sollen sie es denn auch besser wissen? Wie sollen sie sich denn in dieser Welt orientieren, wenn wir ihnen nicht sagen, wie?


Der heutigen Jugend, die Anfang der 90er Jahre geboren wurde, blieb nach dem Ende des Kalten Krieges nur noch eins übrig: Konsum. Der sogenannte Ostblock-Kommunismus/-Sozialismus, der keiner war, war gerade erfolgreich vom Kapitalismus „besiegt“ worden. Die großen Revolutionen lagen hinter uns: Der Kampf um Demokratie, um freie Liebe und um Frieden war ausgefochten. Es gab nichts mehr, woran es sich zu glauben oder wofür es sich zu kämpfen lohnte. Da wirkt es wie ein fader Ersatz für die einstigen Ideale, dass Eltern ihrem Nachwuchs heute von chinesischen Kindern zusammengesetzte Smartphones kaufen, mit Hunderten von sinnlosen Apps – wie etwa „iFart“, mit der man die Stärke der Furze berechnen kann, oder „Poo Log“, mit der man die Zeit berechnet, die man auf Toilette verbringt. Wir haben es versäumt, ihnen wahre Werte zu vermitteln – und doch beschuldigen wir sie, nicht selbständig denken zu können und keine Ideale zu haben. Früher hat man Menschen, die im Kalten Krieg ihr Leben riskiert haben, inoffiziell als Helden gefeiert; heute werden Snowden, Assange und andere Aktivisten wie Leprakranke behandelt. Die Großeltern der Jugendlichen kämpften für die Grundrechte, ihre Eltern jedoch tun die NSA-Abhörung mit einem dummen Spruch à la „Ich habe nichts zu verbergen“ ab. Und die Kinder? Die rennen ziellos durch die Geschäfte und Online-Shops und geben für das kleine Konsumglück alles von sich preis.


Die Werbung sagt ihnen, sie sollen ihre Körper topfit halten, sagt aber auch: „Junk-Food ist einfach gut.“ Die Fitnessclubs schießen wie Pilze aus dem Boden – und mit ihnen die Fastfood-Restaurants. Auf der einen Seite vermitteln wir den jungen Menschen, sie sollen umweltbewusst leben, auf der anderen Seite werden die neuen 500-PS-Autos, wie Batmans Fahrzeug, mit Glanz und halbnackten Frauen präsentiert. Nachdem die gestressten Eltern die nächste verführerische Coca-Cola- und McDonald’s-Werbekampagne fertig geplant haben, gehen sie stilvoll in den Bioladen, um gesunde Nahrung für ihre Kinder zu kaufen. Seid ehrlich, liebe Eltern, ihr seid doch diejenigen, die unsere Städte mit Alkoholwerbung zupflastern, mit meterhohen Werbebannern, auf denen Models in Reizunterwäsche lustvoll posieren. Und dann wundert ihr euch, warum die Kinder mit zehn Jahren schon alles über Sex wissen und mit zwölf Jahren Alkoholprobleme haben?


Die Kinder der späten 90er Jahre sind die Generation, die mit „Scrubs“, „How I met your Mother“ und „The Big Bang Theory“ groß geworden ist. Die Hauptbotschaft, die diese Serien vermitteln, ist: Freunde bumsen sich gegenseitig, bescheißen sich gegenseitig – aber am Ende bleiben sie trotzdem alle gute Freunde. Nach jeder Folge hat man das Gefühl, im Leben drehe sich alles nur um Sex und Konsum, als seien Sex und Konsum das Einzige, woran wir noch Spaß finden. Und wenn Spaß das Wichtigste ist, dann ergibt es einen Sinn, dass die Kinder von heute keine Familien mehr gründen wollen. Sie sind die Generation der geschiedenen Eltern und scheitern an dem Versuch, das alles zu verstehen. Diese Kinder sind die Zombies einer gescheiterten Gesellschaft. Sie leben in einer Welt, in der zugleich alles und nichts möglich ist. Unsere Kinder sind die unschuldigen Opfer. Es ist höchste Zeit für ein Geständnis, bevor es zu spät ist.


Ihr Eltern, ich verachte eure Designeranzüge, ich verachte eure schnellen Autos, ich verachte eure Ökohäuser, ich verachte eure Silicon-Brüste und Botox-Gesichter, ich verachte eure iPads und iPhones, ich verachte eure Karrieren, die auf Ärscheküssen aufgebaut sind, ich verachte eure Glanz- und Glitzer-Magazine, die bis zur Hölle stinken, denn hinter dem Vorhang eurer Show liegen die leblosen Körper eurer Kinder! Ihre zertrampelten Träume, ihre erstickten Talente, ihre versenkten Leidenschaften, ihre verlorene Begeisterung. Sie liegen wie Scherben auf den schmutzigen Böden unserer Shopping-Center und der Schulen, wo immer noch genauso unterrichtet wird, wie vor 150 Jahren. Wo unsere Kinder von Lehrern unterrichtet werden, die keine Lust haben, die ständig „krank“ sind, die seit 20 Jahren wie ein kaputter Kassettenrekorder immer wieder das gleiche „Lied“ abspielen, aber den Beamtenstatus genießen und am Ende unsere Kinder mit schlechten Noten bestrafen. Ich verachte euch dafür, dass ihr selbst Tag und Nacht von Geld träumt, aber euren Kindern nicht den Weg in die Selbständigkeit zeigt. Stattdessen zwingt ihr sie, jeden Tag in eine Schule zu gehen, die sie zu mutlosen, gehorsamen, gebrochenen Angestellten macht. Und das alles nur, damit sie später als hochgebildete Sklaven einer neuen reichen Elite ausgebeutet werden können – unterstützt von einer korrupten Regierung, die die Augen vor dem verschließt, was die Konzerne tun.


Ich habe es satt, talentierte Menschen zu treffen, denen jahrelang in der Schule gesagt wurde: „Du bist dumm, du bist dumm, du bist dumm.“ Jeder Mensch wird begabt geboren! Nur ist jede Begabung anders. Doch wie entdecken Menschen ihre Begabung? Unsere Kinder kommen mit 18 oder 19 Jahren aus der Schule, die Köpfe voll mit Physik, Mathematik, Biologie und Chemie. Aber sie wissen nicht, wie man andere Menschen liebt, wie man die Umwelt schützt, wie man für Gerechtigkeit sorgt oder wie man Demokratie lebt. Und so werden diese Kinder irgendwann Opfer unserer korrupten Welt und – wie ihre Eltern – unglückliche Angestellte. Weil niemand ihnen vorlebt, dass es auch anders sein könnte. Dass man auch ohne Schule erfolgreich sein kann. Dass Schule nicht alles ist. Dass Noten nichts über einen Menschen und seine Stärken aussagen.


Darüber hinaus fehlt es unserer Jugend an richtigen Vorbildern, an denen sie sich ein Beispiel nehmen können. Sie haben keine Vorbilder mehr, weil es inzwischen kaum noch welche gibt. Es gibt keine Martin Luthers, Lincolns, Gandhis, Che Guevaras, Luther Kings, Mandelas und Mutter Theresas mehr. Es gibt nur noch Politiker, die außer der Farbe ihrer Partei nichts mehr voneinander unterscheidet, Dieter Bohlens Superstars und Supertalente (die spätestens nach einem Jahr vergessen sind), Heidi Klums Supermodels (die für Ruhm jede Erniedrigung und Hunger erleiden) und die neuen Superreichen à la „Die Geissens“ (ganz nach dem Motto: „Wir sind eigentlich dumm, aber wir haben viel Geld und ihr seid arme Schweine!“). Und daneben eine ganze Armee von A-, B- und C-Promis, die sich in Dschungelcamps mit Kakerlaken und Vogelscheiße vergnügen, nur um im Fernsehen zu sein. Inzwischen wird sogar der Nobelpreis an Politiker verliehen, nur weil sie eine super Wahlkampagne gemacht haben. Man wird mit Erfolgsgeschichten bombardiert, die aber in Wirklichkeit keine sind. Ständig sehen wir im Fernsehen, wie glücklich die einen Millionäre leben und wie sich die anderen mit Drogen, Alkohol und Antidepressiva vollstopfen oder sich selbst das Leben nehmen. Und wir erwarten, dass unsere Kinder ernsthaft über das Leben nachdenken? Dass sie wissen, was wirklich wichtig ist und wonach es sich zu streben lohnt?


Ihr Eltern, in einem Punkt sind wir uns doch wohl hoffentlich alle einig: In unserer Welt dreht sich alles nur ums Geld. Überall heißt es: Ohne Geld bist du niemand. Ohne Geld kannst du nichts im Leben erreichen. Umso mehr Geld du auf deinem Konto hast, umso mehr mögen dich die Menschen. Sie würden für Geld alles machen. Geld regiert die Welt. Man kann nie genug Geld haben. Nur mit Geld kannst du deine Träume verwirklichen. Du wirst sogar freigesprochen, wenn du ein Verbrechen begangen hast – nur weil du viel Geld hast. Der Wert eines Menschen wird nur noch an seinem Vermögen gemessen. Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Wir kaufen ständig irgendwelche Sachen, die wir nicht brauchen, in der Hoffnung, damit glücklicher zu werden. Und dennoch sind die meisten Menschen wahnsinnig unglücklich. Aber wenn wir unseren Kindern schon vermitteln, dass Geld alles ist, was zählt, warum sind wir dann nicht wenigstens konsequent und zeigen ihnen, von der ersten Klasse an, wie man Geld verdient? Und im Idealfall auch, wie man dabei noch glücklich wird? Die reiche Elite in unserer Welt besteht doch zum überwiegenden Teil aus Unternehmern. Warum lehren wir unsere Kinder dann nicht, was sie wissen müssen, um erfolgreiche Unternehmer zu werden? Oder wie man ein Unternehmen gründet? Weil wir es selbst nicht beigebracht bekommen haben und gegebenenfalls auf die harte Tour lernen mussten? Warum lassen wir unsere Kinder Opfer des gleichen Systems werden, dem schon wir Eltern zum Opfer gefallen sind?Über 80 % der Angestellten mögen ihren Job nicht; über 60 % würden am liebsten in diesem Moment kündigen. Warum? Hier eine klare Antwort:


„Wie um Gottes willen kann jemand daran Freude finden, 6 Uhr früh von einem Wecker geweckt zu werden, aus dem Bett zu springen, sich anzuziehen, Essen in sich hineinzuzwingen, zu scheißen, zu pissen, Zähne zu putzen und Haare zu kämmen, sich durch den Verkehr zu kämpfen, um nur an einem Ort anzukommen, wo du praktisch viel Geld verdienst für jemand anderen und es wird erwartet, dass du dankbar dafür bist, dass dir diese Möglichkeit gegeben wurde.“ Charles Bukowski


 


Warum zwingen wir unsere Kinder dazu, ein System anzunehmen, mit dem wir selbst nicht glücklich geworden sind? Warum tun wir unseren Kindern das an? Warum lassen wir sie zu gehorsamen Angestellten erziehen, wenn das am Ende nur bedeutet, dass sie später von einer Minderheit schamlos ausgebeutet werden? Warum lassen wir sie in die gleiche Falle tappen und riskieren, dass auch sie irgendwann einen Job ausüben müssen, in dem sie unglücklich sind?


Wozu soll das denn gut sein, was die Kinder in der Schule lernen? Inzwischen wissen wir doch alle, dass sie über 90 % von dem, was sie in der Schule lernen, nie wieder brauchen werden. Wir brauchen Schulbücher über das Leben da draußen und nicht über abstrakte Zahlen. Die kann man später immer noch lernen. Warum müssen Kinder in einem Zeitalter, in dem ich das ganze Internetwissen in der Tasche mit mir herumtrage, und „googeln“ ein fester Bestandteil unseres Vokabulars geworden ist, noch immer Gedichte auswendig lernen?Ich kann mir vorstellen, dass ein verbeamteter Literaturprofessor jetzt mit einem lauten Seufzen den Kopf schüttelt. Aber er braucht sich gar nicht zu wundern: Ein Blick auf die Bestsellerlisten genügt, um zu sehen, dass das Land der Dichter und Denker schon längst nicht mehr auf Goethe und Co. schwört. „Sei schlau, stell dich dumm“ von Daniela Katzenberger oder „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche rangieren jetzt auf den vorderen Plätzen. Möpse treffen Buch oder Avocado trifft Muschi hat heutzutage größere Chancen, ein Bestseller zu werden, als romantische Gedichte vom Schriftsteller Nobody. Dabei muss man im Hinterkopf behalten: Es sind die Eltern, die solche Bücher kaufen, und nicht die Jugendlichen. Wir können unseren Kindern also nichts vorwerfen. Wir Erwachsenen sind es doch, die die Welt kreieren, in der sie heranwachsen. Also tragen wir auch die Verantwortung. Denn was nützt es, wenn sich die Jugendlichen für etwas einsetzen, etwas lernen oder verstehen wollen, wenn ihre Eltern mit Paris Hilton und Harald Glööckler beschäftigt sind?


Wir tragen die Verantwortung für die „Lernumgebung“, die wir für unsere Kinder geschaffen haben, und für die Welt, in der sie aufwachsen. Und doch beschweren wir uns über ihre Lücken in der Allgemeinbildung. Aber stößt das irgendwem auf? Gibt es dagegen irgendwelche Proteste? Nein. Die wenigen, die sich empören, kommen gegen den allgemeinen Lärm der Casting-Shows und Promiklatschgeschichten gar nicht erst an. Die Superreichen 1 % und ihre Marionetten, die sich Politiker nennen, werden alles Mögliche tun, um das alte Schulsystem am Leben zu halten. Aus einem ganz einfachen Grund: Sie wollen keinen Wettbewerb haben. Man stelle sich nur eine neue Generation vor, die die Ungerechtigkeit nicht länger erdulden will. Eine Generation unabhängiger Denker, die niemals eine „Große Korruption“ – oh, Entschuldigung „Große Koalition“ – wählen würde. Eine Generation mit unternehmerischem und innovativem Denken, die sieht, dass viele Konzerne eigentlich schlechte Produkte und schlechten Service verkaufen und trotzdem viel Geld damit verdienen – einfach, weil sie mit ungerechten Mitteln den Markt beherrschen. Eine solche Generation würde sich nicht mit der Ausbeutung abfinden. Die Angst vor einer solchen selbständig denkenden Generation beherrscht Politik und Wirtschaft schon seit den ersten Tagen des Schulsystems.


So erklärt sich dann auch, warum die Schule so gegründet wurde, wie wir sie heute kennen: Ziel der Schule war es von Anfang an, funktionierende Arbeiter und Angestellte zu haben, die sich leicht ausbeuten ließen. Das klingt hart? Aber so ist es. Als 1839 das Kinderschutzgesetz verabschiedet wurde, das allen Kindern eine Schulbildung zusicherte, waren die reichen Fabrikbesitzer empört, dass die Kinder nicht mehr Vollzeit in ihren Fabriken arbeiten durften. Deswegen wurden, in Übereinstimmung mit der damaligen Regierung, Fabrikschulen eingerichtet. Ich wiederhole es noch einmal: Fabrikschulen. Das waren Schulräume innerhalb einer Fabrik. Die Kinder durften hier also neben der Arbeit zur Schule gehen. Und das lief so ab: 45 Minuten Arbeit am Fließband, zehn Minuten Pause, 45 Minuten Unterricht, zehn Minuten Pause, 45 Minuten Arbeit am Fließband, zehn Minuten Pause, 45 Minuten Unterricht usw. Die Art des Lernens an unseren Schulen widerspricht allen pädagogischen Prinzipien. Die Lernforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht – doch praktisch umgesetzt werden sie nicht. Jeder Pädagoge weiß heute eigentlich, dass ein einfaches Thema 20 Minuten braucht und ein komplexeres bis zu 60 Minuten, um gründlich bearbeitet zu werden. Da erscheint es doch verrückt, eine Klasse, die elektrisiert dem Lehrer zuhört, der über den Mauerfall 1989 spricht, plötzlich nach 45 Minuten zu unterbrechen und zu sagen: „Jetzt schaltet für den Chemieunterricht sofort eure Gehirne auf Redoxreaktion und molares Volumen um.“ Das mag zu Anfangszeiten des Schulsystems dem aktuellen Wissensstand entsprochen haben, aber damals war es auch eine gängige Meinung, dass arme Menschen dumm sind (deswegen auch arm) und reiche Menschen klug (deswegen auch reich). Die moderne Schule, wie sie bis heute Fortbestand hat, war deshalb darauf ausgerichtet, den armen Menschen, der dumm geboren wurde, durch Zwangsunterricht klug zu machen – oder wenigstens so klug, wie man ihn brauchte. Schnell merkten die Fabrikbesitzer nämlich, dass gebildete Arbeiter den Umgang mit den Maschinen besser beherrschten als ungebildete. Die Produktion wurde immer komplexer und das verlangte Arbeiter, die auch Betriebsanleitungen lesen konnten. Die moderne Schule ist also nicht – wie das häufig angenommen wird – aus humanistischen Gründen gegründet worden. Damals wie heute war und ist es die reiche Elite, die bestimmt, wie und was gelehrt wird. Und das nur aus einem einzigen Grund: weil sie darin einen Gewinn für sich sieht. Hätten sie daraus nicht in irgendeiner Form Profit schlagen können, würde es so etwas wie das Kinderschutzgesetz gar nicht geben, und unsere Kinder würden noch heute ganztägig in Fabriken schuften.


Und obwohl wir heute wissen, dass die Theorie von den dummen und klugen Menschen falsch ist und dass jeder Mensch wissensdurstig geboren wird, hat sich an der Art und Weise, wie noch heute an Schulen unterrichtet wird, in den vergangenen 150 Jahren nichts geändert. Jeder Mensch ist auf seine Art intelligent. Doch die Schule geht bei der Bewertung vor wie die Fabrik, in der sie entstanden ist. Sie trennt beschädigte (mit Produktionsfehlern behaftete) und unbeschädigte Kinder (also Produkte) voneinander. Kluge Kinder bekommen gute Noten und dumme Kinder schlechte Noten. Doch komischerweise werden die meisten Erfolgsgeschichten in unserer modernen Gesellschaft von Menschen mit schlechten Schulnoten geschrieben. Rudolf Steiner, Johann Heinrich Pestalozzi und Alexander von Humboldt jedenfalls würden sich im Grabe umdrehen und laut schreien, wenn sie wüssten, dass heute – im Jahr 2014 – noch immer die gleichen erniedrigenden, demotivierenden, menschenverachtenden, fabrikähnlichen Schulen in Betrieb sind, die sie damals schon verfluchten. Mit Ausnahme des Arbeitsteils (und der physischen Bestrafung) funktionieren die Schulen heute noch genauso wie früher.


Für die Software auf unseren Laptops gibt es alle zwei Wochen ein neues Update und in der Wikipedia gibt es täglich bis zu 500 neue Einträge. Warum haben unsere Schüler dann noch Bücher, die vor zehn Jahren geschrieben wurden? Wenn alle Eltern mit Tablets und Kindles rumlaufen, warum haben die Kinder dann noch zentnerschwere gedruckte Bücher, die sie mit sich herumschleppen müssen und die inzwischen uralt sind? Ganz zu schweigen von dem Wahnsinn um die Rechtschreibreform, die im Auftrag der Verlagslobby von Politikern durchgebracht wurde, so dass alle Schulbücher neu gedruckt werden und sich Eltern zu Tode ackern mussten, um dafür zu zahlen. Die Verlage haben Milliarden damit verdient – schon allein an den Abertausenden von Wörterbüchern, die in der Folge erforderlich waren. Wir haben Korruption längst legalisiert – und nennen sie Lobbyismus. Hat es denn für irgendjemanden einen Unterschied gemacht, dass wir „daß“ jetzt „dass“ schreiben? Wichtiger wären doch neue Schulbücher gewesen, die unsere Kinder auf das Leben vorbereiten. Wir brauchen Schulbücher, die auf der Höhe der Zeit sind und unsere Kinder zu verantwortungsvollen, frei denkenden Menschen erziehen, die sie zum Protest auf die Straße bringen, wenn die Regierung Gesetze verabschiedet, die das Volk ausbeuten. Doch die Eltern von heute denken gar nicht daran, aufzubegehren und eine bessere Bildung für ihre Kinder zu verlangen. Vielleicht schauen sie auch einfach lieber die nächste Sendung von „Bauer sucht Frau“. Lasst mich fragen: Macht es euch glücklich, zu sehen, wie eure Kinder leiden, nur weil ihr auch leiden musstet? Ist das eine akzeptable Ausrede? „Wir mussten da alle durch“ – so reden nur Eltern, denen ihre Kinder egal sind. Ihr Eltern habt eure Kinder für Konsumgüter eingetauscht. Schämt euch.


Ihr habt eure Kinder abgestempelt und es versäumt, ihnen das beizubringen, was im Leben wirklich wichtig ist. Die Jugendlichen haben 500 „Freunde“ auf Facebook, sitzen aber alleine zu Hause und entfliehen der realen Welt in eine virtuelle Realität, weil sie nicht mehr kommunikations- und konfliktfähig sind. Sie haben keine Lust mehr, erwachsen zu werden, weil sich Erwachsene inzwischen schlimmer als Kinder benehmen. Früher sind viele Eltern auf die Straße gegangen, um für ihre Rechte zu protestieren, heute gehen sie mit 50 oder 60 in eines der zahllosen Fitnessstudios, um Salsa, Rumba, Cha-Cha-Cha und andere Lächerlichkeiten zu lernen. Ganz nach der Devise: „Ich habe etwas verpasst.“ 60 Jahre alte Frauen kleiden sich wie 16-Jährige und die 16-Jährigen schminken sich wie 60-Jährige, die versuchen, ihre Falten zu verstecken.


Ich mache mir also nichts vor: Es wird lange dauern, bis sich an unserem Schulsystem etwas grundlegend ändert. Es gibt zu viele Heuchler da draußen, die daran interessiert sind, das System so zu erhalten, wie es ist, und zu viele Eltern, deren Köpfe so vom sinnlosen Konsum kontaminiert sind, dass sie keine anderen Ratschläge mehr für ihre Kinder haben als: „Lerne für die Schule, damit du eines Tages auch so einen guten (eigentlich Scheiß-)Job machen kannst wie ich.“


Doch die Jugend ist längst auf dem Weg dahin, die Schule unbewusst zu boykottieren. Lesen und Rechnen können sie kaum noch. Bei der gigantischen Flut an Informationen bleibt kaum noch etwas hängen. Social Media hat sie in Bezug auf jegliches Gefühl abgestumpft. Kaum einer liest noch Bücher. Gleichgültigkeit steht in ihren Gesichtern großgeschrieben. Die Fragen, die sie täglich beschäftigen, werden in der Schule nicht beantwortet. Deswegen flüchtet sich unsere Jugend in Alkohol, Drogen, Spielsucht und Kriminalität. Sie fühlt sich alleingelassen. Dann schimpfen wir über sie und stempeln sie als faul, unmotiviert und nicht ehrgeizig genug ab, sagen, es gehe ihr zu gut. Doch das wahre Problem liegt viel tiefer in den Wurzeln unserer modernen Gesellschaft vergraben. Dort, wo jede moderne Generation geprägt wird. An einem Ort, an dem keiner von uns oder von unseren Kindern einfach so vorbeikommt, sondern wo einen das Gesetz hineinzwingt: an der Schule. Es ist aber nur noch eine Frage der Zeit, bis das ganze System kollabiert. 




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