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Das freie Wort

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Männer brüllen, Schlüssel klappern, Türen knallen. Gewalttäter und Drogensüchtige leben Zelle an Zelle in Haus Zwei des ältesten Gefängnisses Deutschlands. Ein Knast, ja. Aber auch eine Redaktion. Hinter der verriegelten Tür Nummer 117 sitzen fünf Verurteilte und produzieren eine Zeitschrift.



Redaktion hinter Gittern - Der Lichtblick berichtet über das Leben in Haft

David Moor (Namen der Häftlinge geändert) sitzt in dem mit Schreibtischen vollgestellten Raum an einem Computer und schimpft über den Lärm vor der Tür. An der Wand hinter ihm hängen Korkwände, darauf Familienfotos. Der 52-Jährige trägt Pferdeschwanz, Jeans, Filzpantoffeln und eine rahmenlose Brille, die er mit der Fingerspitze zurechtrückt. Draußen, sagt er, sei er Bauunternehmer gewesen. Bis er wegen Anstiftung zum Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden sei. Hier drin, in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel, ist er Chefredakteur des Lichtblick – einer Gefangenenzeitschrift, die ganz offiziell ohne Zensur durch die Gefängnisleitung veröffentlicht wird.

Üblicherweise erscheint das 58 Seiten dicke Heft viermal im Jahr mit einer Auflage von 8500 Stück. Gedruckt und gebunden wird das Heft ebenfalls im Gefängnis. Kerkerfenster und Gitterstäbe auf den Titelseiten, im Blatt dann düstere Texte über das Leben hinter Mauern und Stacheldraht, Beschimpfungen gegen die Verantwortlichen aus Politik und Justiz und dutzende Kontaktanzeigen einsamer Häftlinge. Viele Ausrufezeichen, viele Großbuchstaben. Die Hauptbotschaft: Das Knastleben muss besser werden. Seit 1968 erscheint das Gratisblatt, einige Abonnenten sitzen auch im Ausland – in Haft. Lichtblick ist eine Zeitung von Gefangenen für Gefangene.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es eine Menge Gefangenenzeitschriften in Deutschland, mehr als 60 verschiedene sollen es Schätzungen zufolge im Moment sein. Dass die Anstaltsleitung in Tegel der Redaktion freie Hand lässt, ist ungewöhnlich. Und es hat die Redakteure zu Haftexperten gemacht. Moors Telefon klingelt mehrmals pro Stunde. „Journalisten und Wissenschaftler, die wissen wollen, was im Knast abgeht, rufen uns an.“

Im Lichtblick steht, was schlecht läuft hinter Gefängnismauern. Im Sommer 2012 etwa hatten die Redakteure mehrere überregionale Zeitungen auf einen Mithäftling aufmerksam gemacht, der gut eine Woche ohne warme Mahlzeiten in Einzelhaft verbrachte. Er sei eine Gefahr für sich selbst, argumentierte die Gefängnisverwaltung. Er werde gequält, schrieb der Lichtblick. Immer wieder handelt sich die Haftanstalt wegen solcher Berichte Ärger ein.

Dann springt jedesmal JVA-Pressesprecher Lars Hoffmann ein, seit 15 Jahren. Sein Büro liegt ein Stockwerk unter der Zelle 117, auch hier sind Familienfotos auf Korkwände gepinnt. Der Lichtblick wurde vor einem halben Jahrhundert gegründet. Damals änderte sich gerade das Strafrecht. Freiheitsstrafe statt Zuchthaus. Resozialisierung statt Stigmatisierung. Der Zeitgeist änderte sich. Eine gute Grundlage für eine unzensierte Gefangenenzeitung.

Von Anfang an sei der Lichtblick „ein steter Quell der inhaltlichen Auseinandersetzung“ gewesen, erzählt Hoffmann mit geduldigem Vaterlächeln. Und dennoch, vor allem: „Eine Errungenschaft.“ Meist seien sich die Redakteure ihrer Verantwortung bewusst. Einmal nur habe sich die Gefängnisleitung mit ihnen darauf einigen müssen, ein Heft nicht in den Versand zu geben. Darin habe eine haltlose Geschichte über JVA-Angestellte gestanden, die angeblich einen Gefangenen verprügelt hätten. Auf der Titelseite sei die Zeichnung eines blutüberströmten Sträflings zu sehen gewesen, der umringt von uniformierten Beamten auf dem Boden gelegen sei. Hoffmann lächelt, zupft Fussel von seinem Pullover. „Wir haben der Redaktion die Produktionskosten ersetzt, nachdem die entsprechende Ausgabe vernichtet wurde.“

In der Regel seien die Krawalltexte sogar gut für das Knastklima: Weil die Häftlinge das Gefühl hätten, Gehör zu finden, gäbe es weniger Frust. „Der Lichtblick hat damit eine Ventilfunktion, die helfen kann, Aggressionen abzubauen.“ Die Redakteure ein Stockwerk höher kennen Hoffmanns Ventilmetapher. Sie steht in jedem seiner Interviews, sie hören sie jedesmal, wenn er Botschaftern, Politikern und Journalisten die kleine Redaktionszelle vorführt, das Aushängeschild des Gefängnisses. „Für uns fünf mag das ja gelten“, berlinert Moor, „aber von den anderen Insassen kriegen wir ständig auf den Deckel, weil wir nicht kritisch genug sind.“

Sein Kollege Jan Schlosser, 41, nickt grinsend hinter einem Bildschirm. Bevor er wegen mehrfachen Kreditbetrugs in Tegel landete, war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Universität in Norddeutschland. Heute promoviert er hinter Gittern. „Die Zeitung wurde in der Revoluzzer-Euphorie der 68er-Generation gegründet. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, das Interesse der Öffentlichkeit ist zu groß“, sagt er. „Aber wenn die hier könnten, wie sie wollten, gäbe es uns längst nicht mehr.“

Trotzdem bezahlt die Anstaltsleitung das Blatt zum großen Teil, der Rest wird mit Spenden finanziert. Die Redakteursposten zählen mit dem maximalen Stundenlohn in der JVA Tegel von 15 Euro pro Stunde zu den besseren Arbeitsplätze in der Anstalt. Bevor sie Knastjournalisten wurden, haben die fünf Männer im Gefängnis Böden geschrubbt und Kartoffeln geschält. Da haben sie weniger verdient. Heute dürfen sie sich als Redakteure frei auf dem Gefängnisgelände bewegen, recherchieren per Telefon, Fax und E-Mail, aber alles kontrolliert von der Anstaltsleitung. „Ins Internet können wir nicht. Aber wenn ich etwas online herausfinden muss, rufe ich meine Frau an, die googelt für mich“, sagt Hamit Bulut, 40. Er sitzt ein wegen mehrfacher Körperverletzung.

Früher war er Reiseleiter, heute schreibt er verträumte Urlaubsberichte im Lichtblick. Und er öffnet die Post. Mehrere Hundert Briefe landen nach jeder Ausgabe auf seinem Tisch. Erfahrungsberichte aus anderen Gefängnissen. Liebesbriefe. Anfeindungen. Bestellungen. Erst kürzlich, erzählt Bulut, habe eine inhaftierte Rechtsextremistin um ein Abo gebeten. Sie stehe gerade vor Gericht, weil sie in Migrantenmorde verwickelt sein solle. „Da haben mir als Türke schon ein bisschen die Hände gezittert.“ Er seufzt. Doch dann habe er ihrem Wunsch entsprochen. Das Abo laufe nun.

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