Istanbul, 8. Februar
Da sage nochmal einer, ich sei nicht chaotisch — erst in größter Eile zum Flughafen aufbrechen, dabei sämtliche fünf Reiseführer, das Kamera-Ladekabel und Sonnenbrille vergessen, um dann beim Einchecken festzustellen, dass mein Flieger vor zwanzig Stunden abgehoben ist, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ich im Weinlokal Pizzini auf meine Reise angestoßen habe. Anreise Zwei schließlich erfolgreich, Ankunft in der größten und chaotischsten Stadt, jedoch kurz vor Mitternacht, kurz vor Abfahrt der letzten Tram. Dank rudimentärer Türkischkenntnisse und der Hilfe verschiedener Nachtgeister kam ich um eins in meinem Viertel an, einem Labyrinth aus Antikläden, Teehäusern und bewohnten Ruinen — ein Traum! Zufällig befindet sich gleich um die Ecke das “Museum der Unschuld “, von dem ich erst letzte Woche erfahren habe. Weniger schön der Zufall, dass meinem Zimmer gegenüber der Turm der einzigen Moschee weit und breit sich befindet und der Muezzin mich noch zwei Monate lang täglich um fünf Uhr wecken wird. Dafür nette Mitbewohner, ein Originaltürke und ein englischer Englischlehrer, was braucht man mehr.
Görüsmek üzere!
Istanbul, 11. Februar
Ähnlich wie die Venezianer sind auch die Einwohner Istanbuls schlank, denn die Straßen sind schmal und steil. Inzwischen finde ich ohne Karte und Hilfe nach Hause, dennoch bleibt mir mein Wohngebiet Beyoglu ein chaotisches Labyrinth, durch das Tag und Nacht hupende Taxis (Dolmusch) knattern, humpelnde Mütterchen knappen und sich hungrige Katzen auf die Suche nach Fleischresten machen (es wird sich hier gut um streunende Tiere gekümmert). Keiner der einheimischen Fahrer scheint den Führerschein zu besitzen; man fährt hier gegen den Strich durch Einbahnstraßen, feindet sich in einem fort durch Gehupe an und schießt so schnell aus dem Nichts um die Ecke, dass es mich wundert, noch keine Verletzten auf der Straße gesehen zu haben. Bei der Vielzahl an herrenlosen Katzen (kediler) ist es ebenfalls ein Wunder, dass der ‚Katzendöner‘ noch nicht erfunden wurde. Wie die Pizza in Italien schmeckt auch der Kebab in der Türkei viel besser als bei uns in Deutschland. Angesichts der Türkischen Küche bin ich einmal mehr froh, kein Vegetarier geschweige denn Veganer zu sein. Das Gesicht eines türkischen Imbissbesitzers möchte ich sehen, dem man als Deutscher erklärt, keine Soße zu wollen, weil man Veganer sei. Da die Türken gerne Angeln, gibt es außerdem hervorragende Fischgerichte, an jeder Straßenecke kann man Muscheln kaufen. Und sitzt man ein paar Minuten einsam auf einer Parkbank, erscheint sofort ein Mann mit Tee- und Kaffeekanne. Nicht nur um Katzen wird sich gekümmert.
Die zweite Nacht in Istanbul gestaltete sich spannend. Ich begleitete meinen türkischen Mitbewohner zu dessen Bruder, jedoch wurde uns nach wenigen Minuten der Weg abgeschnitten, als ein Haufen Protestierender auf der Flucht vor der Polizei und deren Tränengas-Bomben gröhlend und vermummt über das Pflasterstein rannte. Inzwischen protestiert man nicht mehr nur gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Gezi-Park, sondern auch gegen die geplante Internetzensur Erdogans. Um zukünftige Massenproteste zu unterbinden, will Erdogan, der religiös-konservative und seit zwölf Jahren amtierende Premierminister, soziale Netzwerke wie Twitter und facebook ausknipsen. Dass dieses Vorhaben die jungen Türken auf die Palme bringt ist verständlich. Aus der Ferne hörte ich Platzpatronen, aufgeregtes Rufen und Polizeisirenen. Wir verwarfen den Plan, den Bruder meines Mitbewohners zu besuchen, setzten uns auf eine Treppe mit Blick auf den Bosporus und tranken türkisches Dosenbier. Die Nächte sind lau hier, das Wort Nachtruhe scheint nicht zu existieren.
Gestern mein erster Tag am Goethe-Institut. Da in Istanbul fast nur Langschläfer wohnen, beginnt auch mein Tag praktischerweise um 10 Uhr. Anders als erwartet werde ich kaum Deutsch unterrichten (nur bei der Hausaufgabenbetreuung darf ich helfen), sondern vielmehr die Abteilung Bildungskooperation unterstützen. Bereits am Gebäude des Instituts merkt man, dass man es mit einer deutschen Einrichtung zu tun hat – im Gegensatz zu seinen Nachbarhäusern ähnelt das Institut keiner Ruine, sondern einer herrschaftlichen Villa. Es besitzt einen Aufzug, gepflegte – und funktionierende – Sanitäranlagen (in meiner türkischen Wohnung gewährt uns die Dusche nur die beiden Optionen ‚kochend-heiß‘ und ‚eiskalt‘), und in jedem Raum gibt es bunte Plastikhelme, falls es doch einmal zu einem Erdbeben kommen sollte. Da die meisten Mitarbeiter entweder Deutsch sprechen oder eben Deutsche sind, fühle ich mich während der Arbeitszeit ein bisschen wie zu Hause. Nur das Krächzen von Möwen und das Jodeln des Muezzin von draußen erinnert mich noch daran, dass ich in Istanbul bin.
Istanbul, 12. Februar
Gestern Abend versammelte sich vor meinem Fenster eine Art türkischer Geheimbund. Zuerst dachte ich, es sei nun tatsächlich ein altes Mütterchen unter die Räder jener militanten Taxifahrer geraten, als die Traube betagter Männer anwuchs und sich alle aufgeregt zu unterhalten schienen. Während ich mein mit schwarzer Olivenpaste bestrichenes Abendbrot aß, sah ich, wie einige der Männer weiße Plastikstühle aus ihren umliegenden Häusern zusammentrugen und sich in einem Kreis mitten auf die Straße setzten. Was hatte jene Versammlung zu bedeuten? Ein Gipfeltreffen der umliegenden Antiquitätenhändler, die die Preise ihrer feilgebotenen Nutzlosigkeiten (z.B. hat ein Laden eine winzige Hitler-Holzfigur im Schaufenster stehen) beim Tee besprachen? Der Auftakt einer Senioren-Verschwörung gegen die geplante facebook-Zensur? Oder doch nur die Feier einer (sehr verspäteten) rituellen Beschneidung?
Da die Zahl meiner Freunde in der Fremde noch überschaubar ist, streunte ich des Nachts alleine durch Beyoglu, wie eine der hungrigen Katzen. Als Kleinstädter ist man stets überrascht, wie anders die Uhren der Metropolen ticken; Supermärkte, ganz gleich wie klein und abgelegen, scheinen keine Sperrstunde zu haben; auch die Kebab-Spieße von Ali und Mustafa drehen sich nimmermüde wie zu dick geratene Derwische. Der Großteil der hier ansässigen Kiosk- und Gemüsestandbesitzer trägt eine Kombination aus 3-Tagebart und Schnauzer (natürlich sollte man bei anderen Völkern nie generalisieren, gerade als Deutscher nicht). Wenn einmal nichts los ist in ihren Läden, lesen sie gemütlich Zeitung und trinken Schwarztee. In den Antik- und Teppichläden meiner Nachbarschaft ist nie etwas los, ihre Besitzer haben genügend Zeit, ihre Zeitung ausführlich zu studieren. Wenn ich bis zum Ende meines Aufenthalts nicht schon alles Geld für türkisches Essen verbraten habe, werde ich das Leben dieser Antikhändler so richtig aufmischen und vielleicht den ein oder anderen türkischen Nippes (oder eben Hitler) importieren … „Was kostet Hitler?“ heißt auf Türkisch „Hitler ne kadar?“
Bei meiner gestrigen Odyssee durch die Nacht lenkte mich meine nicht existierende Intuition vorbei an dubiosen Wettstudios und Bierschenken, aus denen grässliche türkische Livemusik schallte. Die Regenbogenfahne einer mit verdunkelten Scheiben ausgestatteten Kneipe zog mich schließlich an. Um die Katzenmetapher noch einmal zu bemühen – ich schlich auf leisen Pfoten an dem Schuppen vorbei, schnupperte, und begab mich schließlich in schwules Revier. Mein dortiges Nippen an einem 10 Lira teuren Efes-Bier lässt sich nicht weiter ausschmücken, vielleicht war der Abend einfach zu jung für aufregende Begegnungen. Offensichtlich sehen sich Istanbuls Wirte dazu verpflichtet, jeden Dienstag eine dunkle Ecke ihrer Spelunke mit einem unerhört laut singenden Bardensänger auszustatten. In meinem Fall war es ein übertrieben gestylter Türke, der verblüffende Ähnlichkeit mit Tarkan (‚Kiss Kiss‘) besaß und auch als junge Version von Harald Glööckner durchgehen könnte. Wie üblich für türkische Popmusik strotzt jeder Song vor Theatralik und Herzschmerz. An den besonders emotionalen Stellen seiner Songs ergoss Tarkan sein Herz dermaßen stimmgewaltig, dass die Wirkung des Verstärkers einem Erdbeben gleichkam. Nach dem vierten Song wurde mir die Regenbogenbar zu bunt, ich schleppte mich noch ein wenig durch die touristische Istiklal-Straße, dem Herzen des Taksim-Gebiets, lehnte freundlich die mir angebotenen Drogen ab, und beschloss den Tag in der Hoffnung, bald neue Freunde zu finden, um türkische Pferde zu stehlen.