Über die Chancen und Möglichkeiten, die Gefahren und Auswirkungen, die Gipfel und Abgründe der Onlinepokerwelt. Junge Menschen isolieren sich.
Die Schläge an seine Kopfinnenwand haben nun seit mehreren Minuten nicht mehr pausiert. Das grelle Licht der Schreibtischlampe, die er damals aus dem Büro seines Vaters entführen durfte um sie der neuen Nutzung als Lernlampe zuzuführen, trieb ihm immer wieder Tränen in die Augen. Vier Stunden war es nun her. Er traute sich, kurz nach dem er die letzten Seiten seines Seminartextes überflogen hatte, an ein Sattelite-Turnier heran. Kurz zuvor hatte er einige hundert Dollar auf der gleichen Onlinepokerplattform gewinnen können, nun wollte er sich mit diesen Dollar einen Lebenstraum erfüllen. Zugegebenermaßen war es kein großer Traum. Nichts Nachhaltiges für das er gelebt hätte. Keine großen Ideen, die ihm durch den Kopf gingen, welche ihm womöglich Schlaf rauben könnten. Alles das gab es nicht bei ihm. Er wusste, dass er seit dem Beginn seines Studium in ein Loch gestürzt war, welches ihn aufsog, ihn ausbluten ließ, ihm alles genommen hatte, was irgendjemanden beeindrucken könnte. So saß er immer öfter einfach an seinem Schreibtisch herum. Ab und zu gab es Frauen, die bei ihm schliefen, manche sogar länger als ein paar Wochen, jedoch war seine Leere für die Frauen nach einiger Zeit immer sichtbarer geworden. Keine Tiefe, keine moralische Größe, kein Geld und sehr selten Liebe. Sie überschätzen den jungen Mann und kamen ihm irgendwann auf die Schliche. Also saß er eben an seinem Schreibtisch. Früher las er noch regelmäßig. Etwas Literatur könnte seine Leere füllen. Davon sprachen doch einige Menschen immer. Literatur verändert Menschen hieß es dann. Aber als Füllmaterial waren ästhetische Worte oder durchdachte Sätze nur sehr selten geeignet. Einmal bei Joyce, da kam ihm es so vor. Auch das war lange her.
Also saß er. Nach wenigen Monaten, in der Anfangszeit seines Studiums, hatte er dann im falschen Moment seinen Fernseher eingeschaltet und sah einen ähnlichen jungen Mann, allerdings Amerikaner, sehr viel Geld, in Zahlen mehrere Millionen Dollar, gewinnen. In dem Interview, nach dem er sich auf den Pokertisch in sein Geld gelegt und die funkelnde riesige Trophäe in Empfang genommen hatte, sprach auch er von: Perspektivlosigkeit davor, Streben nach etwas, Großer Traum und nun erlangte unendliche Freiheit. So meldete sich auch der erstaunte und beeindruckte junge Mann vor dem Bildschirm bei einem dieser Pokerseiten an. Was sollte auch groß passieren? Zeit hatte er schließlich und den Drang zu entfliehen, den spürte er auch, jeden Morgen.
Sein Kopf würde bald zerfetzen. Es waren nur noch fünfzehn Spieler im Spiel, die ersten sechs erhielten ein sogenanntes “Package” für ein European Poker Tour Event in Wien. Das Mainevent, das Event mit den meisten Teilnehmern, dazu noch ein Hotelaufenthalt in einem Luxusappartement. Eine schöne Stadt kam noch hinzu, welche er jedoch nur sehen würde, sollte er beim Mainevent früh die Segel streichen. Ein wenig Schweiß stand auf seiner Stirn am Haaransatz, verdeckt von einer Vielzahl an Locken. Bei solchen langen Multitabletournements musste er viel Koffein also hauptsächlich Kaffee zu sich nehmen. Meistens mussten diese Turniere bis spät in die Nacht gespielt werden. Manchmal gesellten sich zu den unvermeidlichen Kopfschmerzen auch Brust- oder Rückenschmerzen dazu. Sein Schreibtischstuhl war alt und schraubenlos.
Der Schweiß beunruhigte ihn nicht. Er schwitze mittlerweile bei fast jeder halbwegs anstrengenden oder aufregenden Tätigkeit. Er sprach mit einem fremden Menschen. Schweiß. Er sprach mit bekannten Menschen, die er für sich überlegen hielt. Schweiß. Er sprach mit seinen Eltern (immer seltener). Schweiß. Nein, ihn beunruhigte Schweiß nicht mehr. Die Kopfschmerzen beunruhigten ihn. Die waren nicht immer da. Früher waren sie gar nicht da. Noch 14 Spieler im Turnier. Die Tische wurden angeglichen, zwei Tische, an jedem sieben Personen, logisch. Er streckte sich kurz. Vorsichtig müsse er jetzt sein. Er war vor zwei Tagen das letzte Mal aus dem Haus gegangen. Er hatte sich seinen warmen Mantel übergeworfen, der seit dem letzten Weihnachtsmarktbesuch noch Curryflecken am Kragenansatz erahnen ließ. Rötlich schimmerten sie mit dem grau des Mantels vermischt. Er war aus dem Haus gegangen, weil er musste. Seine Druckerpatronen waren ausgelutscht. Sein Bahnticket war kaum zu erkennen, der Ausdruck hatte Lücken, Unregelmäßigkeiten und würde so kaum von einem Bahnangestellten akzeptiert werden. Also musste er raus. In die Stadt. Damals.