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Nationales Mißtrauen

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Im Expresstempo wälzt das Parlament in Kiew seit Tagen die Ukraine um, dass man schon nicht mehr daran geglaubt hat, es könne sich auch etwas verzögern. Aber am Dienstag passierte es doch. Erst schepperte vor der Werchowna Rada eine Stimme über Lautsprecher, die eine längere Pause ankündigte. Dann wurde die Sitzung gleich ganz abgebrochen. Der neue Ministerpräsident wird nun erst am Donnerstag gewählt. Man brauche noch Zeit für Konsultationen, sagte Übergangspräsident und Übergangsparlamentschef Alexander Turtschinow. Es soll eine Regierung des „nationalen Vertrauens“ gebildet werden, was insofern schwierig ist, weil derzeit eher das nationale Misstrauen wächst.



Zentrum des Umbruchs - Die Maidan-Bewegung will bei der Neuordnung der Ukraine mitsprechen

Die Maidan-Bewegung, die zum Machtwechsel entscheidend beigetragen hat, will mitreden bei der Regierungsbildung - und keine Reichen im Kabinett. Damit wäre der Unternehmer und frühere Minister Pjotr Poroschenko, eigentlich einer der aussichtsreicheren Kandidaten für den Premiersposten, den Ukrainern nicht vermittelbar. Auch Arsenij Jazenjuk, ehemaliger Außenminister und Protagonist von Julia Timoschenkos Vaterlandspartei ist in der Bevölkerung umstritten. Und wenn es nach Oleksiy Schurewitsch ginge, dürfte das Parlament überhaupt keine Weichen mehr stellen.

Schurewitsch steht schon seit Stunden in Kiew vor dem Parlament, er trägt einen Vollbart, eine dicke Mütze und ein Schild, auf dem er für ein „Lustrationsgesetz“ plädiert, also für eine Durchleuchtung aller Abgeordneten. „Es gibt etwa hundert Deputierte, die noch Mitte Januar die diktatorischen Gesetze mitgetragen haben, das Gesetz über ausländische Agenten, die Schießbefehle. Warum sind sie überhaupt noch in diesem Saal?“, fragt er. „Die Abgeordneten sind doch nicht deshalb im Parlament, weil sie frei vom Volk gewählt wurden, sondern weil sie sich ihre Stimmen zusammengekauft haben.“

Die Parole der Kiewer steht aufgesprüht mit weißer Farbe an der Wand gegenüber, damit die Abgeordneten sie auch lesen können, wenn sie die Rada verlassen. „Das Parlament muss dem Volk dienen.“ Nur wie? So schnell kommt kaum noch jemand mit, wie derzeit die neuen Machtverhältnisse zementiert werden. Timoschenkos Vaterlandspartei wurde während ihrer Haftjahre durch Arsenij Jazenjuk geprägt. Sie stellt in Turtschinow bereits die Schlüsselfigur des Übergangs, sie dürfte auch den Premiersposten besetzen und das Innenministerium hat sie auch schon bekommen, wenn auch bisher nur übergangsweise. Die Zeitung Kapital hat getitelt: „Der Sieger kriegt alles“, fast das gesamte Monopol der Macht im Land sei bereits in den Händen der Vaterlandspartei konzentriert.

Zeit sollte in der Ukraine nun nicht mehr verloren gehen, nach all den Dramen und Tragödien der letzten Wochen. Kein Zaudern, kein Zögern, schnell den Regimewechsel manifestieren, handlungsfähig sein für neue Gesetze, für Gespräche mit den künftigen Kreditgebern aus der Europäischen Union, des Internationalen Währungsfonds, und, theoretisch zumindest, auch aus Russland.

Neue Minister, neue Armeechefs, neue Offiziere, neue Gouverneure, sogar einen neuen Metropoliten, das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche – beinahe stündlich tickern Nachrichten über Rochaden und Volten durch das Land. Manche Entscheidungen schrammen hart an der Grenze des Erlaubten entlang. Die schnelle Ernennung von Turtschinow als Präsident sei gesetzmäßig gewesen, weil sie aufgrund der jetzt wieder geltenden Verfassung von 2004 basierte, sagte das ehemalige Mitglied der Verfassungsversammlung, Igor Koliuschko. „Aber die Ernennung der Chefs der Sicherheitsbehörden entspricht nicht den Buchstaben des Gesetzes.“

Gleiches gelte für manche im Eilverfahren durchgepeitschten Gesetze, die anders als vorgesehen offenbar ohne Mitwirkung irgendeines parlamentarischen Ausschusses beschlossen wurden. Es sind nicht die Zeiten, danach zu fragen. Die Urkraft der Revolution hat ihre eigenen Gesetze. Das wird auch im Westen, in Europa, in Berlin so gesehen, und auch bereits gefürchtet.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier warnte die neue ukrainische Führung eindringlich, sie dürfe sich nicht von Rachegelüsten leiten lassen. Am Dienstag kam Kritik ebenfalls einmal nicht aus Russland, sondern von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie klagte, dass ein Gesetz zurückgenommen wurde, dass Russisch in jenen Gebieten als zweite offizielle Sprache erlaubte, in denen es Minderheiten von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung gibt. Solche Schritte könnten „zu weiteren Unruhen führen“, sagte die Hohe OSZE-Kommissarin für Minderheiten, Astrid Thors.

Der Westen weiß, dass diese Rücknahme des unter dem verjagten Präsidenten Janukowitsch beschlossenen Gesetzes Sprengkraft birgt für die Einheit des Landes. Der Osten, der Süden, die Krim, dort wird Russisch gesprochen. Kostjantin Krasowskij, Berater eines rechten Swoboda-Abgeordneten im Parlament, wittert es schon: „Russland treibt eine Spaltung voran, so wie vor Jahren in Georgien mit Abchasien und Südossetien.“ Er habe gehört, dass Moskau im Osten der Ukraine und auf der Krim russische Pässe ausgebe.

Jedenfalls haben russische Reaktionen auf den Sprachenstreit und den abrupten Machtwechsel nicht lange auf sich warten lassen. Der russische Kommunistenchef Gennadij Sjuganow, der Leiter des Duma-Ausschusses für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), Leonid Sluzkij, und der Parteichef von Gerechtes Russland, Sergej Mironow, kokettierten in der Tat mit der Idee, den Menschen auf der Krim in einem beschleunigten Verfahren russische Pässe zu geben, falls sie es wünschten. In der Ukraine sehen darin manche ein Vorzeichen: Russland könnte Panzer schicken zum Schutz der russischsprachigen Ukrainer, so wird befürchtet. Gerüchte sind derzeit noch schneller als neue Gesetze.

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