Nach relativ ereignislosen Jahren, in denen ich behütet, umsorgt und geliebt aufgewachsen bin, häuften sich um und ab meinem 20. Geburtstag die Schicksalsschläge innerhalb meiner Familie. Nun, fünf Jahre nach der ersten tragischen Episode, kann man wohl sagen, dass ich die Ereignisse so gut es ging verkraftet habe, mich eher selten zu ihnen umschaue und mir eine zynisch-humorvolle Attitüde zugelegt habe, mit der ich darüber spreche. Nur in seltenen Momenten kehren sie zurück auf die Bildfläche und werden mit dem Respekt und der Vorsicht behandelt, die sie verdienen. Die Zeit hat den Schleier der Belanglosigkeit darüber gelegt und das Gefühl, den Freunden nicht mit immer wiederkehrenden Geschichten, die sich in ihrer Unlösbarkeit und Endgültigkeit ständig um sich selbst drehen, auf die Nerven fallen zu wollen, hat sich eingestellt. Hin und wieder kehren sie auf das Parkett der freundschaftlichen Gesprächsthemen zurück und meist sehe ich mich dann konfrontiert mit Rat- und Hilflosigkeit. Ich mache das niemandem zum Vorwurf. Was kann man schon sagen. Die Mutter tot, der Bruder anderweitig aus dem Sichtfeld geschieden, der Vater krank. Mit einer solch gehäuften Konstellation emotionaler Engpässe konfrontiert, ist es für niemanden einfach zu reagieren. Man will nicht respekt- oder anteilnahmslos erscheinen, zu tief in die Materie einzusteigen bereitet manchen Unbehagen, geschlagen von so viel Leben. Aber es funktioniert. Diese Leute kennen mich und wissen um meinen emotionalen Ballast. Dieser hat mich schließlich auch geprägt. Ich bin verletzlicher geworden, suche und fürchte die Nähe zu gleichen Teilen. Die Angst vor Bindung und die Angst verlassen zu werden geben sich stets ein Stelldichein in der Verkorkstheit meiner Beziehungen. Und ich bin stärker geworden, erwachsener, beinahe weiser. Ich trage diese Erinnerungen mit mir herum, kein leichtes Handgepäck.
Doch anders als die Menschen, die mich seit langer Zeit kennen, die meine Macken und Neurosen als liebevolle Einheit akzeptiert haben und unlängst die Angst verloren haben, bei jedem Schritt in ein weinerliches Fettnäpfchen zu treten, kennen die Männer in meinem Leben mich nicht auf diese Weise. Für sie bin ich anders, präsentiere mich so, wie ich wahrgenommen werden will: lustig, charmant, tollpatschig, laut, extrovertiert, schlagfertig und knallhart. Die leise, zerbrechliche Seite wird fürs erste sorgfältig hinter lauten Lachern und Schimpfwörtern versteckt. Doch irgendwann, wenn die Gefühle für den neu in mein Leben getretenen Mann angewachsen sind, bildet sich in mir das Bedürfnis, mehr von mir preiszugeben. Ja, ich habe sogar das Gefühl, es wäre meine Pflicht, ihnen die volle Breitseite tragischer Familienhistorie unzensiert ins Gesicht zu pfeffern, damit sie wissen, auf was sie sich einlassen. Und, wenn ich ehrlich bin, erhoffe ich mir, damit ein Stück weit interessanter zu wirken, lebenserfahren quasi.
Im selben Moment fürchte ich mich davor. Dies offenzulegen macht mich schutzlos, angreifbar. Die mühevoll, Stein für Stein, Bitterkeit um Bitterkeit, Zynismus um Zynismus aufgebaute Schutzmauer bröckelt. Die Maske der Selbstsicherheit läuft Gefahr zu verschwinden und was dahinter sichtbar wird, ist hässlicher, schwärzer und trauriger als das, was man erwartet hat. Wann und besonders wie sollte sich der Seelenstriptease präsentieren? Man möchte weder den Eindruck vermitteln, mit seinen Problemen und Macken hausieren zu gehen, noch durch striktes Verbergen die Geheimnisse größer werden zu lassen als sie eigentlich sind. Ungeschminkt und ungehemmt alles in einem Aufwasch, in einem Atemzug vor dem andere ausbreiten oder häppchenweise den anderen teilhaben lassen? Nicht nur, dass die eigene emotionale Offenbarung für mich schwierig ist, es ist zugleich beinahe ein Test für den anderen. Ich baue Erwartungshaltungen auf: Reagiert er angemessen darauf? Was ist überhaupt eine angemessene Reaktion? Und kann das Gegenüber sich hier eigentlich in richtigem Verhalten üben oder ist es, egal was er tut, zu viel oder zu wenig?
Momentan schlage ich mich mit diesen Fragen in einer ganz anderen Form herum: Der emotionale Striptease im Cyberspace. Hier sind die Grenzen noch viel weniger sauber abgesteckt, man verpasst Mimik und Gestik des anderen, übersieht leicht, wann es zu viel wird. Doch gerade hier schaukelt sich mein Bedürfnis hoch, durch die Preisgabe meiner dunklen Seelenflecken Intimität aufzubauen. Ich betrete selber Neuland und laufe Gefahr, mit zu viel Offenheit über den Rand der Erde zu fallen. Zu schnell. Zu viel. Zu unverblümt. Und im Wechselspiel von Angst zurückgewiesen und der Hoffnung, angenommen zu werden, tanze ich auf dem Scheitel der Unzulänglichkeit Tango, stets in der Erwartung, von einem Windhauch auf die eine oder andere Seite gerissen zu werden. Denn eine Antwort auf diese Frage, eine Frage, die mich zwangsläufig wohl mein Leben lang begleiten und bei neuen Kontakten zum immerwährenden Fallstrick werden wird, habe ich noch nicht gefunden. Das ist eine Lektion, die ich noch lernen muss!