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Denn sie wissen, was sie tun

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Tote, überall Tote. An der Rückseite des Maidan-Platzes, neben einem zur Krankenstation umfunktionierten Café, liegen elf Leichen nebeneinander aufgereiht. Ein paar sind mit einer ukrainischen Flagge, andere mit Wolldecken zugedeckt, damit man nicht auf die schrecklichen Wunden der Männer starrt – und ihnen ein Rest Würde bleibt. Blut breitet sich auf dem Pflaster aus. Die roten Lachen werden größer und größer, während immer wieder jemand die Decken anhebt, um sich zu vergewissern: Diese Männer sind wirklich tot. Erschossen von Scharfschützen, gezielt ermordet – mit Schüssen ins Gesicht, in den Hals, in den Oberkörper.



Demonstranten in Kiew kümmern sich um Verletzte

Ein Priester betet laut. Zahlreiche Menschen stehen um die improvisierte Aufbahrungsstätte herum und weinen. Unter ihnen auch viele gestandene Kämpfer, abgehärtet in den vergangenen Wochen, aber nun zu Tränen gerührt über die Jungen, die dort vor ihnen liegen mit wächsernen Leibern. Über dem Platz liegt das schrille Jaulen von Krankenwagen, alle paar Minuten werden neue Verletzte abgeholt, auch mit Privatwagen, weil die Krankenwagen nicht mehr hinterherkommen. Gegen Mittag werden 35 Tote gezählt, vielleicht auch 50, keiner weiß das so genau. Unter ihnen sind auch zwölf Polizisten. Die Krankenhäuser sind überfüllt, sie nehmen keine zusätzlichen Verwundeten mehr an. Chaos, und Verzweiflung überall.

Die Auseinandersetzungen am Maidan waren am Donnerstagmorgen eskaliert, als Hundertschaften gut organisierter Demonstranten über ihre eigenen Barrikaden kletterten und die Polizisten ins Regierungsviertel zurückdrängten. Und sie eskalierten noch einmal mehr, als die Scharfschützen ihr grausames Werk begannen.

Das Innenministerium versichert zwar, seine Truppen seien nicht mit scharfer Munition ausgestattet und man habe keine Sniper postiert, aber es wird auch eingeräumt, dass das Ministerium die eigenen Leute vielleicht nicht unter Kontrolle habe. In der Präsidialkanzlei wird jede Verantwortung bestritten. „Sie haben angegriffen“, heißt es in einer an Zynismus kaum zu überbietenden Erklärung über die Demonstranten. „Es sind bewaffnete Gruppen, die töten. Die Sicherheitskräfte sind unbewaffnet und wenden ausschließlich spezielle Mittel an.“ Am Innenministerium selbst treffen derweil immer mehr Einsatzkräfte ein. In gelben Bussen – ausrangierten Schulbussen – rollen die Truppen heran, die Fenster sind mit Decken verhängt, damit man nicht sieht, wer da in die Stadt gebracht wird. Männer in Kampfuniformen mit Maschinengewehren klettern heraus. Wann sie wohl zum Einsatz kommen?

Gegenüber vom Ministerium steht die Klosterkirche St. Michael, eines der improvisierten Krankenhäuser der Regierungsgegner. Journalisten der Kyiv Post berichten, auch hier säßen Scharfschützen auf den Dächern. Sollen sie auf Verwundete und Ärzte zielen?

Kiew ist im Ausnahmezustand, die Menschen sind erschüttert, verängstigt, empört. Immer mehr verlassen die Stadt, die Bahnhöfe sind überfüllt, weil die Metro noch nicht wieder fährt, und auch die Autostraßen aus dem Zentrum heraus sind voll mit Fahrzeugen – bloß weg hier. Zeiten wie diese sind ein fruchtbarer Boden für fürchterliche Gerüchte: Alle Brücken über den Dnjepr sollen demnächst geschlossen werden. Russische Truppen sind im Anmarsch oder schon in der Stadt. Solche Dinge sagen sie sich weiter, auf dem Maidan und in den angrenzenden Straßen, wo die Zahl der Toten steigt, denn es muss ja eine Erklärung geben dafür, dass hier so viele Menschen sterben müssen. Der russische Außenminister hatte Stunden zuvor geätzt, die Europäer forderten immer eine freie Wahl für die Ukraine, aber diese Wahl sei in den Augen der EU automatisch eine Entscheidung für den Westen. Dieser Westen sehe die Schuld nur bei den staatlichen Autoritäten, er arbeite lediglich mit Extremisten zusammen.

Gleichzeitig drängt die russische Regierung den Präsidenten Viktor Janukowitsch massiv, die Ordnung in seinem Land wiederherzustellen. Dieser dürfe nicht zulassen, dass die Opposition über ihn wie über einen „Fußabtreter“ hinweggehe, sagte Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew in Moskau. Russland könne nur mit legitimen und effektiven Regierungen zusammenarbeiten. In Kiew interpretiert man das nicht nur auf Regierungsseite, sondern auch bei den Demonstranten als eindeutige Warnung: Ordnung muss geschaffen werden im Land. Die Regierung solle endlich durchgreifen.

Aber es gibt kleine Zeichen der Hoffnung, es muss sie geben. Der von Janukowitsch eingesetzte Verwaltungschef der Millionenstadt kündigt Presseberichten zufolge an, er trete aus der Regierungspartei, der Partei der Regionen, aus, und er werde auch die seit Mittwochmorgen geschlossene Metro wieder fahren lassen. In einer Videobotschaft appelliert er an die Regierenden, auf die Euro-Maidan-Bewegung zuzugehen und das Blutvergießen zu beenden. Mehrere Parlamentsabgeordnete der Partei der Regionen kündigten ihren Austritt aus der Partei an, sie laufen, sozusagen, über. Sie erinnern die Polizisten daran, dass diese einen Eid geschworen hätten, das Volk zu beschützen, nicht die Regierung.

Offiziell bewegt sich auch die Regierung ein wenig. Der strategische Kopf hinter Präsident Viktor Janukowitsch, Andrij Klujew, lässt wissen, man sei eventuell bereit, über eine Verfassungsänderung zu verhandeln. Nachdem die Partei der Regionen sich am Dienstag noch geweigert hatte, eine Verfassungsdebatte überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen, heißt es jetzt, der Oberste Rat, die Werchowna Rada, könne eventuell eine Resolution verabschieden, in der Grundprinzipien und Verpflichtungen dargelegt würden, das könne zur „Vertrauensbildung“ beitragen. Einige Parlamentarier deuten unterdessen an, sie könnten mit der Opposition für eine Verfassungsänderung stimmen. Darauf hatten Vitali Klitschko und die anderen Oppositionspolitiker immer gehofft, sie hatten auf eine Verbrüderung im Namen des Volkes gesetzt, aber zu der war es bisher nie gekommen. Ob die vielen Toten und das landesweite Entsetzen womöglich den Umschwung einläuten?

Am Donnerstagnachmittag trat das Parlament zu einer Sondersitzung zusammen. Am Morgen noch war das Parlamentsgebäude in aller Eile geräumt worden, als es so aussah, als könnten die Demonstranten sich weiter vorarbeiten, den Berg hinauf, zum Präsidentenpalast, zum Parlament. Aber nun will man dort die Arbeit wieder aufnehmen. Will das Land nicht in einen unerklärten, schleichenden Ausnahmezustand fallen lassen, ohne den Versuch der Gegenwehr.

Am Nachmittag verfliegt dann wieder die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt. Ukrainische Medien melden, der Innenminister habe bekanntgegeben, dass der Polizei jetzt Waffen ausgehändigt würden, die sie entsprechend den geltenden Gesetzen anwenden müssten. Aber sind diese Waffen nicht vielleicht schon seit den Morgenstunden im Einsatz? Ist das die nachträgliche Erklärung dafür, warum schon am Morgen, wie zahlreiche unabhängige Augenzeugen berichten, von Polizeikräften gezielt auf Demonstranten geschossen worden war? Oder eine weitere Maßnahme im Rahmen jener ominösen „Antiterrormaßnahmen“, die die Staatssicherheit am Vortag angekündigt hatte? Der Terror, so viel ist klar, ist erst so richtig losgegangen in diesem unglücklichen Land.

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