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Leiden in der Parallelwelt

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Beschwerden und kein Befund möglich? Oft fühlen sich Menschen krank, Ursachen für die Leiden werden aber nicht gefunden.

Wer krank sein will, muss leiden. Das ist die übliche Vorstellung davon, wie es einem anständigen Patienten zu gehen hat. Doch immer häufiger kommt es in Kliniken wie Arztpraxen zu folgender Konstellation: Dem Patienten geht es schlecht, aber der Arzt kann keine Veränderung in Blut, Urin oder anderen Körpersäften feststellen, jedenfalls nichts, was die Beschwerden erklären könnte. Auch Röntgen, Kernspin, CT oder Endoskopie bringen keine Aufklärung. Der Kranke fühlt sich miserabel, der Arzt denkt: „Das kann doch gar nicht wehtun!“ Befund und Befinden passen nicht zusammen.

Der Umgang mit Leiden, bei denen keine körperlichen Ursachen festgestellt werden, ist nicht nur für Patienten, sondern auch für Ärzte schwierig: „Sage ich Patienten, sie haben nichts, sind sie enttäuscht, sage ich ihnen, sie haben etwas, sind sie auch enttäuscht. Deshalb sage ich: Wir finden keine Ursache, aber Sie haben trotzdem Beschwerden“, erklärt ein erfahrener Hausarzt das Dilemma. Denn wenig ist für Patienten schlimmer, als wenn ihnen die Legitimation für ihr Leiden abgesprochen wird. Wer leidet, will auch zu Recht krank sein – und sich nicht nur krank fühlen.

Häufiger ist allerdings der umgekehrte Fall: Mit Untersuchungsmethoden, die immer ausgefeilter werden, entdecken Ärzte Normabweichungen, auffällige Befunde und messen Details, denen sie Krankheitswert zuschreiben, obwohl sich der Patient pudelwohl fühlt. Sagt der Arzt dann, der Befund sollte künftig regelmäßig kontrolliert werden, fällt der Patient aus allen Wolken. Ihm geht es doch gut.

Viele Diagnosen sind nicht sinnlich, das heißt nicht körperlich erfahrbar, sondern abstrakt. Das gilt für Leiden wie Bluthochdruck oder erhöhte Cholesterinwerte. Aber auch, wenn während einer Gewebeprobe oder im Röntgenbild Krebsherde entdeckt werden, haben viele Menschen vorher nichts an sich bemerkt. Die Patienten spüren das nicht, sie riechen oder schmecken keine Veränderung, sie sind häufig auch nicht weniger leistungsfähig – gerade wenn der Tumor ein Zufallsbefund ist. Die erste Konfrontation spielt sich ja vor allem in der Vorstellungswelt der Kranken ab, die sich nicht krank fühlen, aber dennoch von einem Moment auf den anderen zu Patienten geworden sind.

Die kleinteilige Organisation der Medizin mit ihren vielen Unterdisziplinen trägt ebenfalls nicht dazu bei, dass sich Patienten mit ihrer subjektiven Körperwahrnehmung gut aufgehoben fühlen. Die Medizin unterteilt kranke Menschen in Körpersegmente oder Organsysteme, wie die Kardiologie, die Gynäkologie oder die Urologie. Ein Arzt fürs Herz, einer für untenrum. Manche Spötter sagen, es gebe heutzutage ja Ärzte, die können nur Ultraschall. Diese Aufteilung ist mit dem Erleben der meisten Kranken nicht vereinbar. Sie fühlen sich meist ganz krank (oder trotz einiger pathologischer Befunde ganz gesund) – und nicht allein krank an Herz, Niere, Hirn oder Leber. Das macht ihr Befremden im Krankenhaus oder in der Praxis noch größer.

Was ist da los? Hat die Medizin den falschen Werkzeugkasten, um zu erfassen, wie es den Menschen tatsächlich geht? Wollen die Patienten nur nicht wahrhaben, dass sie krank sind? Oder ist den Ärzten während des Siegeszugs der technischen Innovationen und des quantitativ-naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin das Gespür dafür abhanden gekommen, was die Patienten wirklich belastet? Wer das Krankheitsverständnis der Ärzte und die subjektive Wahrnehmung der Patienten betrachtet, könnte auf die Idee kommen, dass sich beider Erleben auf getrennten Umlaufbahnen befindet. Leiden findet in der Parallelwelt statt.

In der Medizin geht es eben nicht allein um die physikalisch oder biochemisch fassbaren Körpervorgänge, sondern um mehr. Das Messbare, etwa ein Laborwert, ist nicht ein Wert an sich, der über Wohl und Wehe, Krankheit oder Gesundheit entscheidet. Er muss angemessen sein für den Patienten und übereinstimmen mit dem Erleben des Einzelnen. Passt die Lebenswirklichkeit nicht, fühlt sich der Mensch krank, auch wenn seine Gerinnungsstoffe, Röntgenbilder, die Blutwerte oder das Immunsystem in Ordnung sind. Für Thure von Uexküll, der die Psychosomatik in Deutschland im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat, war Krankheit deshalb eine „Passungsstörung“ – das eigene Befinden passt nicht zu dem Erleben von Umfeld und Umwelt. Und häufig eben auch nicht zu dem, was Ärzte messen und den Patienten als Diagnosen zuweisen.

Manche Menschen werden beispielsweise mit erhöhten Cholesterinwerten 90 Jahre alt, weil sie gelassen und ausgeglichen sind und ihr Körper genügend Schutzfunktionen entwickelt hat, sodass die vermehrten Blutfette ihnen nicht schaden. Andere Menschen mit normalen Blut- und Cholesterinwerten sterben hingegen mit 40 Jahren am Infarkt, ohne dass Ärzte eindeutig erklären können, warum die Koronarien so früh dichtmachen. Weil die Messwerte nur eingeschränkt etwas über die Widerstandskräfte und das Befinden der Menschen aussagen, überleben manche Krebspatienten die Diagnose acht Monate, andere hingegen 18 Jahre – obwohl beide ähnliche Röntgenbefunde und Laborwerte aufweisen.

Röntgenbilder der Wirbelsäule sehen bei manchen Menschen so aus, dass es jedem Arzt graust – trotzdem fühlt sich der Kandidat munter und hat keine Beschwerden. Andere haben hingegen ständig Rückenschmerzen, doch der Arzt sieht auf dem Bildschirm wunderschöne, gerade Wirbel, die nicht zu dem Leiden des Patienten passen wollen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, flüchten sich Ärzte dann in die Verlegenheitsdiagnose: degenerative Veränderungen. Als „Konstruktion einer notwendigen Krankheitsursache“ hat der Medizinhistoriker Thomas Schlich von der McGill University in Montreal es bezeichnet, wenn Ärzte versuchen, das womöglich Unerklärliche doch noch naturwissenschaftlich erklären zu wollen.

Zwar wird oft betont, wie wichtig die Arzt-Patienten-Kommunikation ist, aber dennoch gibt es etliche Mediziner, die in Schilderungen der Patienten vor allem lästige Sozialgeräusche sehen. Der Brockhaus hat bereits vor 120 Jahren unter dem Stichwort „Diagnose“ diese Haltung notiert. 1892 heißt es in der Ausgabe, dass „Mitteilungen, die der Kranke über seinen Zustand macht, gewöhnlich nur Gefühle und subjektive Empfindungen der verschiedensten Art betreffen, die den Arzt nur selten zu einem sichern und begründeten Urteil über die vorliegende Krankheit befähigen“. Heute gibt es das Ärzte-Bonmot: Die Medizin ist eine schöne Disziplin, wenn nur die Patienten nicht wären.

Jenseits dieser ärztlichen Arroganz liegen die Gründe für die Unterschiede zwischen Befund und wahrgenommenem Befinden auch in der Mediziner-Ausbildung. Im Englischen gibt es „Disease“, „Sickness“ und „Illness“. Begriffe, die verschiedene Perspektiven für das beinhalten, was wir lediglich „Krankheit“ nennen und somit nur wenig Differenzierungen zulässt. „Disease“ meint das Konzept der Krankheit, wie es in Lehrbüchern steht – eben das, „was man Ärzte in ihrer Ausbildung zu sehen gelehrt hat“, sagt der Harvard-Psychiater und Anthropologe Arthur Kleinman. „Dieses Sehen erfolgt durch die Brille der theoretischen Sichtweisen ihrer speziellen Form klinischer Praxis. Das bedeutet, dass der Arzt die Probleme des Sich-krank-Fühlens seitens des Patienten und seiner Familie in abgeschlossene technische Sachverhalte umformt.“

Krankheit wird jedoch von den Leiden der Menschen bestimmt – und nicht durch Konzepte der Mediziner. Die Ängste der Patienten, die Bedeutung, die das Leiden für den Kranken und sein Umfeld hat, werden im Englischen durch „Illness“ erfasst, „Sickness“ beinhaltet zusätzlich die soziale Komponente, etwa die Abwesenheit am Arbeitsplatz.

Es liegt nicht nur an der Begrifflichkeit, wenn ärztliche Diagnosen und subjektives Leiden nicht zusammenpassen. Aber sollte man überhaupt von Krankheit sprechen, fragten Allgemeinmediziner aus Heidelberg und Erlangen kürzlich im Deutschen Ärzteblatt, wenn etwa von Bluthochdruck, Hypercholesterinämie oder Osteoporose die Rede ist? Eher handelt es sich hier um Risikofaktoren, denn der Patient spürt weder erhöhte Blutfette, noch den Druck in den Adern und erst recht nicht eine verminderte Knochendichte. Die Trennlinie ist unscharf, und „was als Krankheit und was als Risikofaktor für Krankheiten angesehen wird, unterliegt erheblichen Wandlungen im historischen Verlauf und kann dem Verdacht einer gewissen Willkür nicht entgehen“, schreiben Thomas Kühlein, Tobias Freund und Stefanie Joos im Ärzteblatt.

Neu ist diese Entwicklung nicht. Ärztlichen Diagnosen haben sich im 20. Jahrhundert immer weiter vom Erleben der Patienten weg hin zu technisch erzeugbaren Befunden entwickelt. Der Bakteriologe Ludwik Fleck beschrieb diese Veränderung in seinem Standardwerk über „die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ schon 1935, in dem er nachzeichnete, wie die Syphilis nicht mehr nach den Symptomen der Patienten definiert wurde, sondern danach, ob die Geschlechtskrankheit mittels des 1906 entwickelten „Wassermann-Tests“ nachgewiesen werden konnte oder nicht.

Kühlein, Freund und Joos führen im Ärzteblatt etliche aktuelle Beispiele auf: Die Angina pectoris wurde lange Zeit ausschließlich klinisch – das heißt durch das Engegefühl in der Brust – diagnostiziert. Inzwischen ist die Diagnose nur „gesichert“, wenn sich eine Engstelle in der Koronarangiografie zeigt, die längst zum viel zu häufig praktizierten Routineeingriff geworden ist. Der scharfsichtige Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke hat auf den „oculostenotischen Reflex“ der Kardiologen hingewiesen: Die Herzexperten sehen ein verengtes Kranzgefäß und sind vom Augenschein so beeindruckt, dass sie daraus zwangsläufig auf die Diagnose schließen – unabhängig davon, wie sich der Patient fühlt. Nach dem gleichen Prinzip wird aus der Angina pectoris erst ein Herzinfarkt, wenn der Troponintest einen erhöhten Wert anzeigt.

Anders als es die Patienten erleben, die sich meist gesund oder eben krank fühlen, werden Risikofaktoren, Frühformen von Krankheiten und manifeste Krankheiten in der Medizin gerne als zwangsläufige Entwicklung konzeptualisiert, als Stufenschema. Oft resultieren daraus Diagnosen ohne Nutzen. „Gesundheit, physiologische Alterungsprozesse, Risiken für Krankheit und eigentliche Krankheit verschwimmen zunehmend in Kontinuen“, wie Kühlein, Freund und Joos es ausdrücken. Auch deswegen ist Früherkennung unter Ärzten so populär. Jüngst zeigte eine elf Jahre andauernde Studie, dass 1055 Männer untersucht und 37 behandelt werden mussten, um einen Tod durch Prostatakrebs zu verhindern. Viel Medizin und viel Leid für etliche Männer, um einen zu retten. Doch selbst dieser Erfolg trog: Die Gesamtsterblichkeit blieb in der Gruppe aller gescreenten Männer genauso hoch wie in der Gruppe derer, die sich nicht per PSA-Test untersuchen ließen. Ein Vorteil der Reihenuntersuchung konnte nicht belegt werden.

Man muss es betonen: Infolge der ärztlichen Untersuchungen stieg die gemessene Krankheitshäufigkeit an, während die Sterblichkeit unverändert blieb. Die Allgemeinmediziner führt das im Ärzteblatt zu dem paradox anmutenden Fazit: „Mehr ärztliche Tätigkeit führt zu mehr Morbidität. Eigentlich müsste es umgekehrt sein.“ Ein anderer Schluss lautet: Die Medizin hat ein untaugliches Konzept von Krankheit – und damit ist auch der Maßstab falsch, nachdem Milliarden für Diagnostik und Behandlung zugeteilt werden.

Zwar gibt es schon länger den Ansatz, die Patientenperspektive in die Konzepte von Krankheit aufzunehmen und beispielsweise die Lebensqualität der Kranken zu erfassen und ihre Einschränkungen stärker zu berücksichtigen. Doch in der durchökonomisierten Medizin haben diese Initiativen wenig Platz, zudem lassen sie sich in dem einzig nach kodierbaren Diagnosen strukturierten Abrechnungssystem im ärztlichen Alltag kaum umsetzen.

Dieses System der Diagnosegläubigkeit hat Folgen. Es führt dazu, dass Patienten in Deutschland schnell einem Übermaß an Medizin ausgesetzt sind. Eine Untersuchung im Saarland zeigte kürzlich, dass bei Patienten mit unkomplizierten Rückenschmerzen schon die Hausärzte zu viel bildgebende Diagnostik verwendeten und zu oft invasiv tätig wurden. Bei niedergelassenen Orthopäden waren Überdiagnostik und Übertherapie noch ausgeprägter, obwohl sie damit wider die Leitlinien des eigenen Fachverbandes handelten. Da Fachärzte pro Patient mehr abrechnen können und ihr apparativer Aufwand zusätzlich vergütet wird, bekommen sie dieses Fehlverhalten auch noch belohnt und sehen vermutlich wenig Anreiz, es zu ändern.

Die Allgemeinmediziner appellieren im Ärzteblatt an ihre Kollegen, „diagnostische Unsicherheit auszuhalten“, um Patienten unnötige Diagnostik und Therapie zu ersparen. Es geht um die Kunst des Weglassens. „Dazu gehört, nach Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe nicht primär nach Diagnosen zu suchen, sondern die Diagnose im Symptomhaften zu belassen und sich im aufmerksamen Abwarten zu gedulden.“ Gerade bei Patienten, die an mehreren Gebrechen leiden, ist es wichtig, medizinische Interventionen auf das Wesentliche zu beschränken. „Unterbleibt diese Begrenzung, auch dies ein merkwürdiges Paradox, droht der medizinische Fortschritt die Lebensqualität der Patienten erheblich zu senken.“

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