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In der Warteschleife

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Wie es studentischen Hilfskräften ergeht, die monatelang kein Gehalt bekommen - weil eine EDV-Panne Tausende Auszahlungen blockiert

Zuerst wundert man sich, dass die Überweisung ausbleibt, man hängt sich ans Telefon, fragt nach, wird vertröstet. Am Ende wird der Autorin dieser Zeilen das Geld knapp werden so wie Tausenden anderen Studenten in Nordrhein-Westfalen auch. Vor allem, wenn die Miete für Juli fällig ist. Seit Wochen blicken viele studentische Hilfskräfte auf bedrohliche Kontoauszüge. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) schuldet wegen einer Software-Umstellung fast 5000 Uni-Mitarbeitern die Gehälter für April und Mai. Es klingt wie eine Geschichte aus Griechenland.



Anrufen, nachfragen, vertröstet werden: studentische Hilfskräfte in NRW warten auf ihr Geld
Volker Bertz ist wütend, vor allem aber enttäuscht. 'Es gab keine Vorwarnung, keine Informationen, einfach nichts', sagt der 26-jährige Lehramtsstudent. Im März ist er mit seiner Freundin zusammengezogen. 'Da sind natürlich extrem viele Kosten auf uns zugekommen.' Das April-Gehalt der beiden war für die Kaution eingeplant. Bertz ist studentischer Mitarbeiter an der Universität Köln, seine Freundin hat kürzlich das Referendariat begonnen. Sie bekommen ihre Gehälter vom Landesbesoldungsamt in Düsseldorf, normalerweise. Zusammen kommen sie auf 1430 Euro im Monat. 'Aber die Kohle ist wochenlang nicht überwiesen worden, obwohl wir das Geld dringend brauchten', sagt Bertz. Anderswo hätten Angestellte die Arbeit längst niedergelegt, sagt er. Erst im Mai erfährt der angehende Lehrer durch Kommilitonen von der EDV-Panne beim Amt. Da hat er bereits sein Konto überzogen.

'Wir wissen, dass die derzeitige Situation für viele studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte nicht einfach ist, aber wir versuchen, die ausstehenden Gehaltszahlungen so schnell wie möglich zu bearbeiten', sagt Wolfgang Pohl, stellvertretender Leiter der Behörde. Die Umstellung auf ein neues Bezügeverfahren zu Semesterbeginn hatte bei den Neu- und Wiedereinstellungen die Verzögerungen verursacht. Die neue Software sei mittlerweile nicht mehr das Problem, heißt es in einer Stellungnahme. 'Unsere Mitarbeiter müssen jetzt etliche Fälle manuell bearbeiten, so schnell kommen wir leider nicht hinterher.' Das zuständige nordrhein-westfälische Finanzministerium erklärt, das Landesamt habe die Hochschulen mehrmals über Probleme bei der Gehaltsauszahlung informiert. Es arbeite nun 'mit Hochdruck' daran, die Gehälter für April auszuzahlen. Das solle bis Juni abgeschlossen sein. Auf den Schreibtischen im Landesbesoldungsamt türmen sich derweil die Papierstapel: Für den Monat April müssen noch rund 5500 Gehälter bearbeitet werden, für Mai sind es 4100. Zusätzlich zur EDV-Panne macht der Behörde die hohe Anzahl neuer Hilfskräften zu schaffen. In diesem Semester seien es 19000 statt 13000. 'Vermutlich liegt der Anstieg am doppelten Abitur-Jahrgang', mutmaßt Pohl.

Die Telefonleitungen der Behörde sind seit Wochen überlastet. Studenten hängen stundenlang in der Warteschleife - bis sie dann einen Mitarbeiter an den Hörer bekommen, der ihnen sagt: 'Also bis Juli ist nichts zu machen.' Aber auch das sind nur Prognosen. Denn wann das Land wieder zuverlässig zahlt, ist noch nicht abzusehen. Einige Hochschulen im Bundesland haben daher kurzfristig Maßnahmen ergriffen. Die Universität Münster geht in Vorkasse und hat mittlerweile 135 Hilfskräften bis zu 80 Prozent der Vergütung überwiesen. 'Wir wollen verhindern, dass die Betroffenen in finanzielle Bedrängnisse kommen', sagt ein Uni-Sprecher.

Volker Bertz hatte mehr Glück als andere, seine Akte gelangte vor einigen Tagen in die Hände eines Sachbearbeiters. Seit Mitte des Monats hat der Student wieder Geld. Jetzt heißt es für ihn erst mal, Schulden abbezahlen. Die Autorin dieses Textes wartet noch auf ihre Gehälter. Bald sind es 510 Euro, die ausstehen. Der einzige Trost: Wenigstens gibt es dann auf einen Schlag einen Geldsegen, den man als Student sonst nicht gewohnt ist.

Zusammen ganz unten

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Günter Wallraff ist wieder ganz unten, diesmal allerdings nicht alleine: Um für RTL die Hotelbranche auszuspionieren, hat der Investigativ-Journalist sich mit einer jungen Kollegin zusammengetan - und entdeckt Stundenlöhne von drei Euro.

Nach vielen Tagen auf den Knien, nach vielen Stunden in den Kloschüsseln und Betten fremder Zimmer sagt Jessica, sie sei nun 'ganz unten'. Genau da also, wo Günter Wallraff sie haben wollte, am Boden der Gesellschaft, der für ihn ja ein fester und vertrauter ist.




Es geht also mal wieder ganz nach unten, mit schmerzenden Knien und kaputten Fingern, mit Tränen in den Augen. Die herrschenden Verhältnisse im Kapitalismus als sinnliche Erfahrung.

Das System ist für Wallraff Fluch, aber auch ein klein bisschen Segen, weil es seit Jahrzehnten immer wieder diese Elendsgestalten produziert, die in den Kasten ganz unten stehen, um die Wallraff sich dann kümmern kann. Er war schon fast alles, er war Stahlmalocher, er war bei McDonald"s, er heuerte in einer Großbäckerei an und fuhr Pakete aus. Jetzt hat er sich für RTL die Hotelbranche vorgenommen, die teuersten Häuser am Platz. Und diesmal ist Wallraff nicht selbst auf den Boden der Gesellschaft hinabgestiegen, sondern eine RTL-Reporterin, die sich im Film Jessica nennt. Das liegt zum einen daran, dass Wallraff, der bei manchen Menschen zwar schon als Afrikaner durchging, mit seinen 70 Jahren nur noch schlecht in ein Zimmermädchen zu verwandeln ist, das auch in die Ecken kommt. Der andere ist die Sorge darum, was nach ihm kommt. 'Ich möchte, dass meine Methode Schule macht. Im Ausland habe ich schon etliche Nachfolger gefunden. Im Inland wünsche ich mir mehr', sagt Wallraff in einer kleinen Gartenlaube in Köln. Sie steht hinter dem Haus seiner Eltern, durch den Rasen sieht man noch die Schienen, auf denen der Vater die Klaviere gezogen hat, die er hier baute. In den Regalen stehen die vielen Bücher des Sohnes, der nun auf gewisse Weise einen Erben sucht, für sein Familienunternehmen. Zumindest für seine Methode. Die Tradition soll nicht abreißen.

Deshalb ist Team Wallraff - Reporter Undercover auch ein bisschen Journalistenschule. 'Meine Hauptangst war immer aufzufliegen', sagt er der jungen Reporterin. Albträume habe er gehabt. Sein Rat: 'Durchziehen. Überspielen.'

Und so spielt die RTL-Reporterin mit Unterbrechungen acht Monate lang ein Zimmermädchen, in den großen Hotels des Landes. Sie geht auf die Knie, in die Ecken, unters Bett. Sie filmt Zustände. Sie filmt Hoffnungen, die nicht wahr werden. Sie filmt versteckt eine Branche, in der die Zimmer viele Hundert Euro kosten und die von Frauen gereinigt werden, die zumeist aus Osteuropa kommen. Deren Hoffnungen und Träume hier nichts wert sind. Tarifverträge werden umgangen, die Frauen haben das Recht, den Mund zu halten. 'Ich bin doch kein Tier', sagt eine Kollegin von Jessica. Ihre Chefin sieht das wohl anders. 'Ich mache dir jeden Tag einen Gefallen, dass du hier arbeitest.' Um die drei Euro bekommen die Frauen pro Zimmer, für das sie in schlechten Fällen eine Stunde brauchen, um es sauber zu machen. Oft kommt das Geld aber auch gar nicht. Die Hotels selbst machen sich nicht die Finger schmutzig, sie beschäftigen Subunternehmer, die wiederum andere Subunternehmer beschäftigen. Die Kette derer, die mitverdienen ist so lang, dass bei den Frauen oft gar nichts mehr ankommt. Deutschland ganz unten. Zur besten Sendezeit. Und das auf RTL. Der Sender war bislang nicht für seine sozialkritischen Reportagen bekannt und auch Wallraff sagt, er habe Anfangs Bedenken gehabt, sei aber selbst auf RTL zugegangen. 'Bei den Öffentlich-Rechtlichen erreiche ich leider zu wenige aus der Zielgruppe unter 50 Jahren. Bei RTL kann ich auch die Jüngeren ansprechen, auf dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen.' Nun also auch die Kinder, keiner bleibt verschont von Wallraff und von seinem Blick in die Abgründe.

RTL will aus dem Pilotfilm wohl eine Serie machen. Wallraff sagt, das hänge von den Themen ab, preist aber die junge Reporterin. 'Das sind Kollegen, die gewerkschaftlich orientiert sind und die was riskieren.' Gewerkschaftsnähe hat RTL noch niemand unterstellt. So oder so, es ist ein guter Film geworden, so weit man das anhand der teilweise unvertonten Version sagen kann, die am Sonntag vorab zu sehen war. Am Rest wurde noch geschnippelt. Wallraff macht sich derweil in der Gartenlaube schon Gedanken, was der Film bewirken wird. 'Man erreicht zumindest den anderen Blick', sagt er. Die Leute würden mit anderen Augen ins Hotelzimmer gehen. Das zumindest. Vielleicht würde sich die Politik auch stärker darum kümmern, dass Tarife eingehalten werden, die Staatsanwaltschaft mal ermitteln.

Die aber begann im vergangenen Jahr erstmal gegen Wallraff selbst zu ermitteln, ein ehemaliger Mitarbeiter hatte ihm vorgeworfen, ihm zu wenig gezahlt zu haben. Wallraff hat mit den Jahren eine gewisse Routine entwickelt, gegen all die Angriffe, gegen seine Methode, seine Person. 'Es fällt letztlich auf die zurück, die sich auf meine Kosten profilieren wollten.'

Wallraff hat immer Leute aufgenommen in seinem Haus, hat Asyl gegeben, ein Zimmer, Aufbauhilfe in ein neues Leben. Zuletzt einem iranischen Sänger, aber auch schon ehemaligen Knackis. Einmal hat er wohl nicht genau hingeschaut, einen Mann als Mitarbeiter eingestellt, der Probleme hatte, der ihn erpresste. Von den Vorwürfen ist offenbar nichts geblieben.

Außer der Diskussion darüber, dass Wallraff nicht immer alles alleine aufschreibe, was er erlebt, ohne die Mitarbeit kenntlich zu machen. Das monierte auch das Zeit Magazin, das Wallraff wieder eine große Bühne gab, nachdem er viele Jahre lang nicht sehr präsent gewesen war, auch wegen einer Krankheit. 'Im entscheidenden Bereich, da kann mir keiner helfen, da bin ich Darsteller und Regisseur in einer Person', sagt Wallraff.

Ein bisschen was scheint sich aber doch verändert zu haben, seit der Diskussion. Neben das Ich hat sich ein Wir gestellt, wird deutlich sichtbarer. 'Ich will nicht im Mittelpunkt stehen', sagt er. 'Team Wallraff' heißt das Format bei RTL, zusammen mit anderen hat Wallraff den Work-Watch gegründet, der sich um die üblen Drückerbranchen kümmern will. Ein Buch soll erscheinen, dessen Erlöse den Betroffenen zu Gute kommen. So viele Projekte, fast hört es sich nach einem Franchise-System der Marke Wallraff an.

Hören Sie mir auf, sagt Wallraff in seinem Garten. 'Die Methode darf nie Selbstzweck sein.' Entscheidend sei doch der Missstand, der Skandal, den es aufzudecken gilt. Wallraff hat neue Rollen im Kopf, in die er schlüpfen wird. Rollen, die anstrengend sind, die weh tun. Wallraff sagt, er sei ein schlechter Schüler gewesen, sei nur dann gut, wenn er die Dinge selbst erfahre. 'In einer Rolle bin ich oft mehr ich selbst, als wenn wir hier sitzen. Als ein anderer bin ich präsenter und konzentrierter, und kann wie ein Kind alles fragen und in Frage stellen.' Kinder lachen vielleicht etwas mehr, aber Wallraff sieht so jung und frisch aus wie lange nicht mehr. Er hat sie gefunden, die Rolle seines Lebens.

Team Wallraff: 21.15 Uhr, RTL

Dirk und Dennis in Dallas

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Dennis Schröder ist Deutschlands neue Basketball-Hoffnung. Den 19-Jährigen zieht es in die NBA - vielleicht sogar zu Dirk Nowitzki?

Frankfurt/Main - Neulich hat Deutschlands bester Basketballer, Dirk Nowitzki, seinen potenziellen Nachfolger kennengelernt, Dennis Schröder. Der 19 Jahre alte Spielmacher des Bundesligisten Phantoms Braunschweig war zum Probetraining bei den Dallas Mavericks, dabei hat Teamkapitän Nowitzki einen guten Eindruck von dem Teenager gewonnen: 'Schnell, korbgefährlich, gutes Auge.'




Dennis Schröder hat sich für die sogenannte Draft angemeldet, die Talentbörse der nordamerikanischen Profiliga NBA, die in diesem Jahr am 27. Juni stattfindet. Er wird dort hoch gehandelt, nur knapp außerhalb der Top Ten. Dallas hat als 13.Team Zugriff auf den Talentepool, Dirk Nowitzki soll seinen Klubchef Mark Cuban und Sportdirektor Donnie Nelson erstmals beraten bei der Auswahl. Wird er, der vor 15 Jahren als neunter Spieler seines Jahrgangs engagiert wurde, ein gutes Wort einlegen für seinen Landsmann? Dirk und Dennis in Dallas - das wäre doch was. 'Das muss man mal abwarten', sagt Nowitzki zurückhaltend. 'Vielleicht geben wir unsere Option auch ab', mutmaßt er - um Geld zu sparen für einen erfahrenen Mann. Die Mavericks können ja auf jeder Position Verstärkung gebrauchen. Und überhaupt kenne er sich mit den Feinheiten des Transfergeschäfts ja doch noch nicht so gut aus.

Damit wird sich Nowitzki beschäftigen, wenn er wieder zurück in den USA ist; in diesen Tagen ist er ja wieder einmal auf Besuch in Deutschland, es gibt Familienfeste zu feiern, aber nicht nur. Am Wochenende saß er in Frankfurt bei einem Festakt seines langjährigen Sponsors, der Direktbank ING Diba, in der ersten Reihe mit Helmut Schmidt, dem Bundeskanzler a.D.; am kommenden Sonntag tritt er zugunsten seiner Stiftung bei einem Benefizspiel in seiner Heimatstadt Würzburg mit seinen All Stars gegen Manuel Neuer and Friends an. 'Leider im Fußball', sagt Nowitzki: 'Dafür waren meine Füße immer zu groß.' Neben Bayern-Torwart Neuer erwartet er auch die Nationalspieler Mats Hummels, Ilkay Gündogan, Stefan Kießling und Lukas Podolski. Und weil Nowitzki seit Jahren Projekte für bedürftige Jugendliche fördert, ist er gerade auch angesprochen worden, ob er nicht als Botschafter des Kinder-Hilfswerks Unicef auftreten mag.

Die vielen Nebentätigkeiten erwecken den Eindruck, als ob sich Dirk Nowitzki, der NBA-Meister a.D., allmählich auf die Zeit nach seiner aktiven Karriere vorbereitet. Er wird ja in dieser Woche 35 und im nächsten Monat erstmals Vater ('ein Mädel', wie er verriet). Aber in Frankfurt versicherte er, noch eine Weile spielen zu wollen: 'Ich hoffe, dass die Gelenke noch ein paar Jahre mitmachen, ich bis 38, 39 noch auf hohem Niveau spielen und dann in den Sonnenuntergang reiten kann.'

Selbst eine Rückkehr ins Nationalteam ist nicht ausgeschlossen, sagt Wolfgang Brenscheidt, der Generalsekretär des Deutschen Basketball-Bundes (DBB) - die Aussicht auf die Spiele 2016 in Rio reize den Fahnenträger der deutschen Olympia-Mannschaft von 2008 in Peking. Für die diesjährige EM in Slowenien (4. bis 22. September) stehe er aber nicht zur Verfügung, aus den bekannten familiären Gründen, hat Nowitzki bekräftigt. Dem neuen Bundestrainer Frank Menz fehlen damit namhafte Akteure: Tim Ohlbrecht, der zweite deutsche NBA-Profi, hat ihm ebenfalls abgesagt; er will sich auf seine Karriere bei den Houston Rockets konzentrieren. Und falls Dennis Schröder ein Angebot von einem NBA-Klub erhält, wird wohl auch er die EM sausen lassen.

Wenn die Nerven blank liegen

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Nach Peer Steinbrücks Kritik am Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel ist die sozialdemokratische Basis extrem irritiert. Das SPD-Treffen droht zum Fiasko zu werden. Doch dann tritt die Frau des Kanzlerkandidaten auf die Bühne




Berlin - Als Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zusammen mit seiner Frau und zwei Dutzend namhafter Sozialdemokraten kurz vor 12 Uhr beim kleinen Parteitag in Berlin eintrifft, besitzt er, vorsichtig gesagt, nicht die Sympathien seiner ganzen Partei. Fassungslos hatten etliche Delegierte am Vorabend gelesen, dass es 98 Tage vor der Wahl schwere Spannungen in der Führungsspitze gibt und Steinbrück dem Vorsitzenden Sigmar Gabriel kaum verhüllt Illoyalität attestiert - unter Parteikollegen der schlimmstmögliche Vorwurf. Warum man überhaupt noch Wahlkampf mache, fragten sich die höflicheren unter den verstörten Sozialdemokraten. Die weniger Höflichen fragten, ob die Herren an der Spitze ihren Verstand beieinander haben. Dieses Parteitreffen, gedacht zur Belebung des ohnehin schwierigen Wahlkampfes, droht zum Fiasko zu werden.

Doch schon eine gute Stunde später macht der Kandidat in den eigenen Reihen wieder einigen Boden gut. Zu verdanken hat er dieses kleine Wunder einzig und allein seiner Frau Gertrud. Die sollte, im Gespräch mit ihrem Mann und der Fernsehmoderatorin Bettina Böttinger, auf der Bühne erzählen, wie es so zugeht in der Familie Steinbrück und welch ein Typ ihr oft als kalter, dünkelhafter Technokrat beschriebener Gatte in Wahrheit ist. Das tut sie auch - und rührt ihren Mann an einer Stelle buchstäblich zu Tränen.

Man hatte schon erfahren, dass Peer Steinbrück bis zum Tag seiner Nominierung der Mumm fehlte, seiner Familie die Wahrheit über seine Pläne zur Kandidatur zu sagen. Dass er ein guter Handwerker ist, nahezu atombombensichere Vogelhäuser baut und nichts von Ehefrauen hält, die sich daheim jahrzehntelang um Mann und Kinder kümmern und auf einen Beruf verzichten. Bei einer anderen Frau hätte ein solches Gespräch über die menschlich-allzumenschlichen Seiten eines Politiker-Partners peinlich werden können. Aber Gertrud Steinbrück, Biologie-Lehrerin in Bonn, ist ebenso scharfzüngig wie ihr Mann, unprätentiös und schlagfertig.

Sehr hübsch erzählt sie, warum es im Hause Steinbrück keine Fototermine gibt. Vor 20 Jahren wurde ein Journalist eingeladen, um die Familie beim gemeinsamen Frühstück abzulichten. X-mal mussten Gertrud und die drei Kinder die Treppe hinabsteigen, wo sie von Peer Steinbrück erwartet wurden. Mit solch gestelltem Zeug sei künftig Schluss, entschied die Ehefrau damals. Der Saal lacht und klatscht. Mit der Heiterkeit ist es dann allerdings schnell vorbei. Böttinger möchte über den schwierigen Wahlkampfstart reden, den, wie sie sagt 'Shitstorm', der über Steinbrück hinwegfegte. Gertrud Steinbrück erzählt, wie sie diese Zeit erlebte.

Sie, die von den Plänen zur Kandidatur überhaupt nichts hielt, nimmt ihren Mann in Schutz. Die Medien suchten stets die 'kleinen Gemeinheiten', 'Sottisen', immer nach schlechten Nachrichten. 'Das finde ich schwer zu ertragen', sagt sie und fragt laut, warum man sich das eigentlich alles antut. Genau das will Böttinger von Steinbrück wissen. Der schaut auf den Boden und schweigt. Vom Saal aus sieht man - er kämpft mit seiner Fassung. Die Ehefrau bemerkt es auch, streckt die Hand nach seinem Arm aus. Steinbrück bedeutet ihr mit einer Handbewegung, ihn nicht zu berühren. In den Delegiertenreihen stehen die ersten Leute auf. Die Prominenz auf der Bühne weiß zunächst nicht, was los ist. Sie sieht nur Steinbrücks Rücken, nicht seinen Kampf mit sich selbst. Aber schnell steht der Saal, man applaudiert lange dem Mann, dessen Nerven blank liegen. Man verzeiht ihm, stützt ihn, trägt ihn. Wieder einmal.

Auch Sigmar Gabriel ist aufgestanden und klatscht. Er muss außer sich gewesen sein, als er am Freitag vernahm, was Steinbrück dem Spiegel erzählt hat. Einige fragten sich, ob er überhaupt noch auf dem Parteitag reden würde. Dem Vernehmen nach hatten die beiden vor dem Sonntag mehrfach miteinander gesprochen, die Sache aber offenkundig nicht klären können. Gabriel fühlt sich zu Unrecht angegriffen; Steinbrück und andere in der Partei fanden dagegen, es sei nun allerhöchste Zeit, dem umtriebigen, brummkreiseligen Vorsitzenden, der ständig mit neuen Ideen und unabgestimmten Vorschlägen die Wahlkampfplanung durcheinander bringe, die Grenzen aufzuzeigen. 'Sigmar versteht die Dinge erst, wenn sie richtig wehtun', beschreibt einer die Gemengelage in der SPD-Führungsmannschaft. Der Kandidat hatte, so wird versichert, in den vergangenen Wochen den Eindruck gewonnen, Gabriel halte ihn und alle anderen für Polit-Deppen, die keinen Wahlkampf auf die Beine kriegen. Als Gabriel-Marionette will Steinbrück aber nicht auftreten.

Der Vorsitzende war am Sonntag sehr bemüht, die Gemüter zu besänftigen. Schon in der Sitzung des Parteivorstandes vor dem Konvent sagte er nach Teilnehmerangaben, dass der Kandidat das Sagen habe und auch den Parteichef zur Ordnung rufen dürfe. Die Luft, so sagen die Teilnehmer, sei danach frischer gewesen. In dieser Runde stellte niemand die Frage, ob denn die Häuptlinge keine anderen Wege hätten, um sich in heiklen Fragen auszutauschen. Stattdessen beteuerten hinterher alle, wie wichtig Geschlossenheit sei und dass man nun nach vorn schauen wolle. Vorn, auf der Parteitagsbühne prangt das Partei-Motto 'Das WIR entscheidet'. Man könne selbst noch üben, kommentierte ein verstörter Sozialdemokrat diesen Slogan.

Und auch beim Parteitag, bei dem das eigentliche Thema, die Familienpolitik, keine Rolle mehr spielte, versuchte Gabriel, die Mitglieder zu beruhigen. Ungeplant ergriff er als erster das Wort und sprach von seiner politisch-privaten 'Ehe' mit Steinbrück, in der es fröhlich zugehe, manchmal aber eben auch Reibungen gebe. Mit der Bemerkung, dass eine stumme Partei eine dumme Partei sei, versucht er, dem Wirbel noch etwas Gutes abzugewinnen.

Das aber werden weder die eigenen Leute noch die Wähler glauben. Die könnten auf die Idee kommen, dass in der SPD-Führung der Siegeswille längst verflogen ist und schon jetzt nach den Schuldigen für eine weitere bittere Wahlniederlage gesucht wird. Für die SPD ist das gefährlich. Das weiß auch Gabriel. Aus seiner Ansprache im Parteivorstand wird er mit der Warnung zitiert, es dürfe jetzt nicht um die Frage gehen, wer die Verantwortung für das Ergebnis am 22. September trage. Dabei ist die Antwort klar: Der Kandidat, zusammen mit dem Vorsitzenden, der den Herausforderer ins Amt bugsierte.

Was ist dein "Cronut"?

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Das neue hippe Gebäck aus New York heißt "Cronut" und ist, wie der Name andeutet: eine Mischung aus Croissant und Donut. Von welcher Gebäckkreuzung träumst du?

Von außen sieht der "Cronut" aus wie ein hochgewachsener Donut. Frittiert, wie es sich für einen Donut gehört. In Zucker gerollt. Und glasiert. Innen ist aber kein Hefe-, sondern blätteriger Croissant-Teig. Und, natürlich, eine Creme-Füllung. Was sich anhört wie eine verrückte, möglichst kalorienreiche Idee aus der YouTube-Kochsendung "Epic Meal Time", ist der letzte Foodie-Schrei aus New York. Seit ein paar Wochen ist der "Cronut", ein fettig glänzender "croissant-doughnut hybrid", im Sortiment der Dominique Ansel Bakery. Seitdem bilden sich jeden Morgen Schlangen wie vor dem Apple Store am ersten Verkaufstag des neuen iPhones.  




Die 200 bis 250 "Cronuts", die täglich produziert werden, sind nach ein paar Stunden ausverkauft. Danach werden sie auf dem Schwarzmarkt für bis zu 40 Dollar pro Stück vertickt; im Laden kosten sie fünf. Inzwischen darf jeder nur noch zwei auf einmal kaufen. Dominique Ansel hat sich den Namen "Cronut" sichern lassen. Den Titel als Erfinder der Gebäckkreuzung machen ihm aber einige streitig, unter anderem ein Bäcker aus Ohio, der bereits seit 1991 "Doughssants" verkauft; in Washington und Chicago kennt man außerdem "Doissants".

Die Aufregung um das Gebäck (die ersten Blogger versuchen bereits, ihn nachzubacken) mag seine Berechtigung haben, dabei bringt es eigentlich nur zwei altbewährte Sachen zusammen. Wir wagen mal ein Gedankenexperiment: Wie wäre es mit "Eiscakes", Cupcakes mit einer Eis- statt einer Cremehaube? Einem Schnookie, einer Schnecke aus Cookie-Teig? Oder einem "Bragel", einer Mischung aus Breze und Bagel? Ein "Bronut", Breze plus Donut, klingt zwar toll, würde aber wohl eher nicht funktionieren.  

Von welcher Gebäckkreuzung träumst du? Welche Speisen würdest du gern mal zusammenbringen? Hast du sogar schon mal herumexperimentiert? Und: Wie war das Ergebnis?

Ude holding things

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Ein gutes Wahlplakat braucht ein Wortspiel, dachten sich die Werber, die Christian Ude dabei helfen wollen, Ministerpräsident in Bayern zu werden. Der jetzt-Redaktion wurden weitere Entwürfe aus den Geheimschubladen der Salzburger Werber zugespielt.

Christian Ude will Ministerpräsident von Bayern werden. Seine Kampagne wird von einer Salzburger Werbeagentur unterstützt, die offenbar ein Faible für Wortspiele hat. Als sie vor zwei Jahren Kurt Beck in Rheinland-Pfalz berieten, erfanden die Werber das Kampagnenmotto "PersBECKtive 2011". In Bayern hat die SPD traditionell weniger Chancen, da muss man noch tiefer in die Wortspiel-Trickkiste greifen. So kam es zu dem schönen Plakat, auf dem, haha, der Münchner Oberbürgermeister zu sehen ist, wie er das Wort „Wort“ in den Händen hält. Ein Politiker, der Wort hält. Brüller, oder? Aber das ist erst der Anfang! Der jetzt-Redaktion wurden noch weitere Entwürfe aus den Geheimschubladen der Salzburger Werber zugespielt:








































Weitere Bilder von Christian Ude, der Dinge hält, sammeln wir auf dem Tumblr-Blog udeholdingthings.tumblr.com.

Endlich Sommer, endlich Salat!

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Gegessen wird immer, aber jeder macht es anders. In der Kolumne Kosmoskoch dokumentieren jetzt-User und jetzt-Redakteure jeweils eine Woche lang, was am Abend bei ihnen auf den Tisch kommt, und schreiben auf, warum. Heute: jetzt-Userin butterflycaught

Diese Woche hat sich jetzt-Userin butterflycaught die Mütze des Kosmoskochs aufgesetzt.

Samstag:  



Es ist Wochenende und ich habe Lust, mich in der Küche richtig auszutoben. Und endlich, endlich gibt es Spargel. In Folie gegart, mit Kartoffeln, Schweinefilet und Weißweinsoße. Letztere durfte erst in der zweiten Version auf den Tisch, da Versuch Nummer eins aufgrund des zu starken Weingeschmacks Bekanntschaft mit der hiesigen Kanalisation schließen durfte. Dennoch war die gesamte Kombination ein gelungener Spargelsaisonauftakt.



Abgerundet wurde das Ganze von einem Stück Apfelkuchen. Ihn habe ich gestern gebacken, um das Putzen aufzuschieben. Das Putzen war dann zwar heute fällig, der Apfelkuchen aber trotzdem lecker. Getrunken wurde Saftschorle.    

Sonntag:   



Mein Mann mag Gulasch. Dieser Wunsch wird durch ein Wetter begünstigt, das einen in der Wohnung hält. Ein gutes Gulasch muss zwei Stunden simmern, da kommt das Wetter gerade recht. Als Beilage gibt es Reis. Die Bandnudeln waren – wider meiner Annahme – nicht mehr vorhanden. Getrunken wird Leitungswasser.    

Montag:  



Der normale Alltagswahnsinn hat begonnen. Die MVG und die Bahn haben sich im Kollektiv gegen mich verschworen und ich komme spät nach Hause. Ein Telefongespräch verzögert weiter den Beginn der Essenszubereitung. Also Planänderung, statt Nudeln gibt es eben Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. War an sich lecker, nur sollte ich mich künftig in mehr Geduld üben und die Kartoffeln noch ein paar Minuten länger braten, sie waren doch noch etwas hart.    

Dienstag:  



Mein Mann muss arbeiten, also muss ich allein essen. Mittags habe ich auf Arbeit eine kleine Portion Nudeln gegessen, also ist mein Hunger nicht allzu groß. Deswegen mache ich mir ein Fetapäckchen. Jeder kennt vom Grillen Fetapäckchen, ich habe diese für den Backofen übernommen. Echter Schafskäse, Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln, Tomaten und ganz viel frischer Thymian und Rosmarin und dann ab in den Ofen. Eine Scheibe Brot ist auch schnell abgeschnitten und so wandert dieses Abendessen vor dem Fernseher in meinen Magen.    

Mittwoch:  



Der Sommer ist da! Und deswegen gibt es einen Salat mit Tomaten, Zwiebeln, Gurke und Feta. Als Beilage gibt es Riesengarnelenschwänze und Baguette. Geht schnell, macht satt und ich bilde mir ein, was für meine Gesundheit getan zu haben. Er hat ein dunkles Bier, ich Wasser.   

Donnerstag:  



Heute gibt es die am Montag verschobenen Spaghetti. Ein verwaister Zucchini aus dem letzten Winkel des Kühlschranks, Hackfleisch und gehackte Tomaten bilden die Soße. Und natürlich darf ein Hauch Zimt nicht fehlen, nur dann ist es eine Soße, die meinen Stempel trägt. Darauf kommt eine unverschämt große Menge gehobelter Parmesan. Nur so dürfen Nudeln mit Soße in meinen Mund.    

Freitag:    



Das Ende der Woche ist endlich da – ein langes freies Wochenende steht vor der Tür. Was nichts an der Tatsache ändert, dass ich so spät nach Hause komme. Es ist weder bei mir noch beim männlichen Teil des Haushalts der Elan vorhanden zu kochen. Gurke, Rettich, Semmeln, Bärlauchfrischkäse und Putenbrust bilden eine gesunde Brotzeit, mehr widerspricht einfach dem Bedürfnis nach unserer Couch. Zu trinken gibt es – wie immer – Wasser.

Auf der nächsten Seite liest dubutterflycaughtsAntworten auf den Fragebogen zur Kochwoche.

Welchen Stellenwert hat Essen in deinem Leben?  
Kochen ist für mich Erholung und macht mir Spaß. Unter der Woche ist das für mich ein Runterkommen vom Tag, ich kann mich auf etwas konzentrieren, das mir Spaß macht und meine Gedanken weg von der Arbeit lenkt. Hier kann ich meine Kreativität ausleben. Ich liebe es, am Wochenende stundenlang in der Küche zu stehen. Hier ein Gewürz, da eine andere Zubereitung, dort eine neue Kombination. Essen hat demnach einen hohen Stellenwert in meinem Leben, denn zwangsläufig landet das Gekochte ja doch im Magen.

Was ist dir beim Essen und Einkaufen besonders wichtig?  
Ich versuche immer frisch zu kochen. Fertigpackungen nehme ich so gut wie nie in die Hand. Ob ich jetzt ein Päckchen aufreiße und noch zig Zutaten hinzufüge oder gleich selbst würze, ist vom Zeitaufwand her egal, deswegen bevorzuge ich das Frische. Beim Einkaufen bin ich eine Planerin, das habe ich wohl von meiner Mutter. Da wir beide pendeln, haben wir abends keine große Lust mehr, Einkaufen zu gehen. Deswegen schreibe ich einmal die Woche einen Einkaufszettel und kaufe die Lebensmittel für eine Woche, damit kommt man ganz gut hin. So bin ich zwar im Speiseplan relativ festgelegt, aber das macht uns nichts. Gekauft wird meistens beim Discounter, wobei ich schon darauf achte, ob das Gemüse für mich in meiner persönlichen Ökobilanz vertretbar ist. Wenn die Paprika aus Ägypten kommt, dann gibt’s eben keine.

Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal für dich selbst gekocht hast und wer dir das Kochen beigebracht hat?  
So richtig angefangen zu kochen habe ich erst, als ich von zu Hause auszog. Zunächst so einfache Gerichte wie Nudeln mit Tomatensoße oder Pfannkuchen. Gelernt habe ich es von meiner Mama. Ich weiß noch, dass ich ihr immer beim Kochen zugeschaut habe und vom Zusehen gelernt habe. Es scheint auch ganz gut geklappt zu haben, meine Rouladen schmecken wie bei ihr.

Was war dein Lieblingsessen als Kind?
Nudeln mit Tomatensoße. Aber nur die mit Lorbeeren und passierten Tomaten.

Was ist dein aktuelles Lieblingsessen?  
Da gibt es zu viel – aber Salate gehen immer.

Was magst du gar nicht?  
Wirsing. Eindeutig.  

Mittags warm und abends kalt oder andersrum?   
Mittags esse ich in der Einrichtung den obligatorischen „pädagogischen Happen“ - da wir den erst nehmen dürfen, wenn alle Kinder essen, ist dieser meistens nur noch lauwarm. Und schmeckt oft etwas lasch und weich. Die Geschmacksnerven von Krippen- und Kindergartenkindern sind eben doch nicht auf gut gewürzte Speisen ausgelegt. Deswegen gibt es abends zu Hause etwas Warmes.

Wo isst du am liebsten, am Tisch oder auf dem Sofa?  
Am Tisch. Ist einfach kommunikativer, außerdem wechseln der männliche Teil des Haushalts und ich uns regelmäßig damit ab, irgendwas beim Essen zu verkleckern. Einen Tisch kann man abwischen.
 
Was trinkst du zum Essen? 
Wasser oder Saftschorle.

Wie oft gehst du auswärts essen und hast du ein Lieblingsrestaurant?   
Nicht so oft – ich bin zwar im Herzen Fränkin, habe mich aber dem berüchtigte Schwabengeiz ganz gut angepasst. Aber wenn, dann geht es zu einem super Vietnamesen etwas außerhalb von Augsburg.

Was isst du, wenn es schnell gehen muss?   
Brot oder Salat. Oder angebratene Maultaschen.

Was war das aufwändigste Gericht deines Lebens?   
Gefüllte Schweinelende mit Ofengemüse und selbstgebackenem Brot. Allein das Gemüseschnibbeln hat eine Ewigkeit gedauert.

Hast du ein Standard-Gericht, wenn Eltern oder Freunde zu Besuch kommen?   
Rahmgeschnetzeltes mit selbstgemachten Spätzle. Oder Rouladen mit Kartoffelklößen.

Welchen jetzt-User oder -Redakteur möchtest du als Kosmoskoch sehen?   
Ich glaube cascalar kann verdammt gut kochen – das würde ich gern mal in Schrift und Bild dokumentiert sehen.

Taksim-Klavier und Aufzug-Streich

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Wer kommt da durch die Tür? Wie alt sind diese Musiker? Und wer ist der Mann mit Klavier auf dem Taksim-Platz? Die fünf Filme der Woche haben Antworten auf all diese Fragen und wie immer eine Menge Unterhaltungspotenzial.

Guten Tag, kommen Sie doch herein!
Zum Einstieg in die fünf Filme der Woche fallen wir gleich mal mit der Tür ins Haus. Besser gesagt: Julius tut es. Wer Julius ist? Das erfährst du nach dem Klick:
http://vimeo.com/9841493 

Harte Zwölfährige
Süß, der Julius aus Video eins, gell? Mindestens genauso süß sind diese drei Zwölfjährigen, wobei sie eigentlich alles dafür tun, es nicht zu sein. Das Trio bildet nämlich die Metal-Band „Unlocking the Truth“ und macht, wie sich das für eine Metal-Band gehört, eher unsüße Musik. Das Video zeigt ihren Auftritt in W. Kamau Bells Show „Totally Biased“. Kamau hat sie eingeladen, nachdem er mit ihnen in Brooklyn rumgehangen hatte – behauptet zumindest die Videobeschreibung des „Totally Biased“-YouTube-Kanals. Jetzt werden die Nachwuchsmetaller vermutlich sehr schnell berühmt und können mit Mitte zwanzig schon in den Ruhstand gehen. Praktisch!
http://www.youtube.com/watch?v=Lf-arntrLkI   

Musiker statt Terroristen
Als am 11. Juni der Taksim-Platz in Istanbul von der Polizei gestürmt wurde, gingen die Bilder von Wasserwerfer- und Tränengasattacken, von flüchtenden Demonstranten mit improvisierten Gasmasken und Verletzten um die Welt. Der türkische Ministerpräsident Erdoğan bezeichnete die Demonstranten kürzlich als „Terroristen“. Wie wenig das zutrifft, beweist zum Beispiel dieser junge Mann: Der Pianist David Martello besuchte am 12. Juni mitsamt Instrument den Taksim-Platz. Dort hat er ziemlich schöne Musik gemacht und ein Zeichen für den friedlichen Protest gesetzt. Das kann und sollte man sich auch nach der endgültigen gewalttätigen Räumung des vergangenen Wochenendes immer und immer wieder ansehen und –hören.
http://www.youtube.com/watch?v=L_-w0SHKTZk 

Krankletterer
Noch ein junger Mann mit Mumm (allerdings mit weniger politischem Ansinnen): James Kingston beschreibt sich auf seiner Facebook-Seite mit „Constantly looking for adventure!“ und ist diesmal auf einem Kran fündig geworden. Den ist er hochgeklettert, mit einer Kamera im Gepäck. Wer nicht schwindelfrei ist, sollte sich das besser nicht ansehen.
http://www.youtube.com/watch?v=2Fs0hkdJzk8   

Die Macht ist mit ihm!
Juhu, wieder mal ein Film aus der Kategorie: Lustige Alltagsscherze, die man auch mal nachmachen könnte. Diesmal ein Aufzugscherz, inspiriert von Star Wars und featuring genervte Leute. Hihi!
http://www.youtube.com/watch?v=GAJD3V8Bd34 

"Es gibt nur noch Glück und Freude"

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Luke Steele und Nick Littlemore verkleiden sich gerne als Imperator und Prophet. Als Empire Of The Sun machen sie Musik, die klingt, als hätten gutgelaunte Hippies den Auto-Tune entdeckt. Ein Gespräch über Lebensglück, Männer mit Koffern - und darüber, weshalb australische Bands verrückter sein müssen als der Rest der Welt.

jetzt.de: Laut einer vor kurzem veröffentlichten OECD-Studie ist Australien das lebenswerteste Land der Welt.
Nick Littlemore: Ach, wirklich?

Ja. Siehst du das auch so?
Auf jeden Fall. Ich meine, ich bin Australier und ich bin immer happy. Ich glaube, etwas Wundervolles umweht diesen Ort, weil du dort den Ozean hast, die Sonne und tolles Essen. Dort aufzuwachsen ist großartig. In Europa haben sich die Dinge über so viele Jahre verhärtet, während wir in Australien eine andere Geschichte haben. Dadurch fühlt es sich für mich so an, dass in Australien mehr möglich ist.

Euer Debüt "Walking On A Dream" hat sich weltweit mehr als eine Million Mal verkauft. Welches Ziel habt ihr euch für euer neues Album "Ice On The Dune" gesetzt?
Im Grunde genommen ist das Ziel für jede Art von Musik, die ich mache, dasselbe: Ich möchte etwas Positives in den Kosmos schicken und schauen, was zurückkommt. Luke und ich können uns sehr glücklich schätzen, dass die letzte Platte bei Menschen aus aller Welt großen Anklang gefunden hat. Und dieses Mal hatten wir das überwältigende Gefühl, den Menschen, die uns unterstützt haben, verpflichtet zu sein. Wir wollten ihnen etwas geben, das sie als hörenswert empfinden.

Euren Song "We Are The People" habe ich oft auf großen Radiostationen gehört, aber auch in der Indie-Disco. Empire Of The Sun, ist das nun Pop oder ist das Indie?
Weder noch. Ich glaube, wir stehen für positives Denken und für Warmherzigkeit. Ich denke nicht, dass wir Teil einer Szene sind oder einem Genre angehören. Wir lieben es einfach, gemeinsam Musik zu machen. Dabei sind wir von den verschiedensten Musikrichtungen beeinflusst worden. Offensichtlich komme ich eher aus der elektronischen Ecke, also wird es auch immer ein Element daraus in Empire Of The Sun geben. Der Sound kann sich aber auf alle möglichen Arten verändern. Ich denke, wir können Wundervolles erschaffen, so lange Lukes Stimme diese Wärme und Schönheit hat.

Der Titel eures neuen Albums – "Ice On The Dune" – klingt erst einmal nach einem Widerspruch. Was habt ihr euch dabei gedacht?
Für mich bedeutet "Ice On The Dune", dass zwei Aspekte aus ganz verschiedenen Bereichen zusammenkommen. Egal, ob das Winter und Sommer sind oder Luke und ich – zwei ziemlich unterschiedliche Menschen, die sich treffen, um etwas Drittes zu schaffen, etwas Neues.




Stellen sich dem Kampf gegen den "König der Schatten": Imperator Luke und Prophet Nick.    

Innerhalb eurer Band-Mythologie bist du der Prophet, Luke der Imperator. Ist es etwa so, dass du die Visionen hast, die Luke dann in die Tat umsetzt?
Nein. Luke und ich, wir teilen das Meiste. Empire Of The Sun ist unsere gemeinsame Reise. Uns verbindet die Idee, experimentieren zu wollen. Deshalb tauschen wir auch gerne Rollen. Ich glaube, Luke ist vor allem der Imperator, weil er die Stimme der Band ist. Er ist also das Gefäß, wodurch all das Licht strahlt.

Die Fantasiewelt von "Ice On The Dune" ist in einer tausend Jahre entfernten Zukunft angesiedelt. Wie sieht diese Zukunft aus?
Oh, sie ist wunderschön! In dieser Zukunft gibt es keine Kriege mehr, keine Religion. Es gibt nur noch Glück und Freude in der Welt.

Aber es gibt doch auch einen Bösewicht, den "König der Schatten".
Stimmt, aber zum Schluss können wir ihm das Juwel abluchsen und so wieder Gleichgewicht im Universum herstellen. Der "König der Schatten" ist eine Metapher für bestimmte Situationen, durch die jeder von uns im Leben gehen muss: die Schwierigkeiten, das Elend. Wir wollten die klare Botschaft an die Menschen senden, dass jeder in der Lage ist, so viele wunderbare Dinge zu tun. Always look on the bright side of life. Es ist sehr wichtig, sein Bestes zu versuchen.

Tame Impala
, The Temper Trap, Gotye,The Jezabels, Cut Copy und natürlich ihr – ist Australien die neue Indie-Pop-Schmiede?
Ich glaube, wir Australier sind gerade auf einem guten Weg, aber es gibt wunderbare Musik aus allen Teilen der Welt. Vielleicht ist es in Australien so: Weil wir so weit entfernt sind vom Rest der Welt, versuchen wir unsere Musik in allen Tönen der Magie und der Verrücktheit zu färben, nur um gehört zu werden.

Kannst du uns eine australische Band empfehlen, die noch nicht so bekannt ist?
Ja, Freunde von mir, die High Highs. Ihre Musik ist sehr schön, sehr friedlich.
   
http://vimeo.com/65432503
Die erste Single aus dem neuen Album: "Alive".

Noch einmal zurück zu Empire Of The Sun: Obwohl ihr ein Duo seid, geht nur Luke auf Tour.
Ja, er ist ein total natürlicher Künstler, ein Troubadour. Sein Vater ist auch ein fantastischer Musiker. Der hat Blues gespielt und einige Platten in den Siebzigern und den Achtzigern gemacht. Und er spielt und tourt auch heute noch.

Auch zusammen mit Luke?
Die Beiden spielen manchmal Shows in einer klitzekleinen Bar in Neuseeland, so um Weihnachten herum. Wenn du also das Glück hast, dann dort zu sein, kann es sein, dass du sie erwischst.

Was machst du denn, während Luke auf Tour ist?
Allerlei Dinge: Ich arbeite, ich gehe angeln, ich lese und ich koche viel.

Wünschst du dir manchmal, wieder unbekannt zu sein?
Ich weiß es nicht. Ich habe mir vor kurzem erst gedacht: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. Aber nein, bis jetzt war das mit Empire Of The Sun so eine wundervolle Reise. Die Musik hat mir so viele Türen geöffnet und ich habe so viele bemerkenswerte Leute getroffen. Die Menschen waren unglaublich gut zu mir und geduldig. Jeder Tag fühlt sich großartig an: Du weißt, in dieser Welt aufzuwachen, ist immer wieder eine Überraschung.

Luke und du, ihr habt vor Empire Of The Sun in verschiedenen Bands gespielt: Du hattest das Elektroprojekt Pnau
, Luke war Sänger der Rockband The Sleepy Jackson. Luke kommt aus Perth, du aus Sydney. Was hat euch dann überhaupt zusammengebracht?
Ein Typ aus dem Platten-Business hat uns einander vorgestellt, weil er dachte, dass wir ein gutes Team bilden könnten. Wir kommen zwar aus ganz verschiedenen Welten, aber ich denke, dass es am Anfang die Experimentierfreude war, die uns miteinander verbunden hat. Mein erster Eindruck von Luke: Was für ein außergewöhnlicher Kerl! Er lief damals immer mit einem Koffer herum. Jedes Mal, wenn er den Koffer dabei hatte, waren dort andere Dinge verstaut. Einmal befanden sich darin nur alte Telefonapparate. Ein andermal nur Bananen, das nächste Mal nur Murmeln. Jedes Mal etwas Anderes. Er hat mich einfach umgehauen mit seiner wunderbar bizarren Art.

Wieso trug er diesen Koffer denn mit sich herum?

Ich bin immer noch dabei, dieses Geheimnis zu lüften. Ich glaube, es sind diese Art von Rätseln, die uns vorantreiben.    

Das zweite Album von Empire Of The Sun, "Ice On The Dune", ist am Freitag auf Universal Music erschienen.

'Wir sind die 100 Prozent!'

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Wie weit haben sich die Demokratien in Europa und in den USA voneinander entfernt? Historiker diskutierten in München über die transatlantische Demokratie und das Problem populistischer Bewegungen.

Die Symptome mehren sich, die Diagnose lautet immer häufiger "Demokratiemüdigkeit". Hat die westliche Demokratie ihre beste Zeit schon hinter sich, wie Colin Crouch mit seiner These der "Postdemokratie" behauptet? Wahlkampfdebatten sind demnach nur noch PR-Spektakel. Politik wird von Eliten gemacht, hinter verschlossenen Türen und im Interesse großer Unternehmen. Im wachsenden Krisendiskurs brodelt Unzufriedenheit und Enttäuschung. Zuletzt gab der Soziologe Harald Welzer im Spiegel bekannt, die nächste Wahl boykottieren zu wollen. Fundamentale Zweifel werden insbesondere in Europa größer, in den USA dagegen - so meint man - herrscht noch immer ein grundlegendes Vertrauen in die Demokratie. Haben sich Europa und Amerika in unterschiedliche Richtungen entwickelt? Kann von einer transatlantischen Demokratie überhaupt noch die Rede sein? Diesen Fragen stellten sich jetzt Historiker und Politikwissenschaftler in München.



Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Ist die Demokratie in der Krise?


Die klassische repräsentative Demokratie habe sich transformiert, erklärt Paul Nolte von der FU Berlin, der zur Tagung am Münchner Historischen Kolleg eingeladen hatte, wo er gerade als Stipendiat zu Gast ist. Die Demokratie sei heute fließender, beweglicher. Mit den Protestbewegungen sind neue Formen der Partizipation entstanden. Fragen des Konsums und Boykottaktionen haben an Wichtigkeit gewonnen. Zudem ist das System stark von der Justiz, zum Beispiel von Verwaltungsgerichten geprägt. Und es sind oft nicht Bürger, die sich im Eigeninteresse an politischen Konflikten beteiligen, sondern Anwälte, die die Interessen anderer vertreten.

Nicht ein Gespenst, nein, mehrere Gespenster gehen um, in Europa wie in Nordamerika: Eines ist die Krise der repräsentativen Demokratie, ein anderes der Populismus. Die einen sehen darin eine Deformation der Demokratie, die anderen ein nützliches Korrektiv, das das System periodisch therapiert. Jan-Werner Müller (Princeton) räumt erst einmal mit Missverständnissen auf: Populismus ist weder mit einer gesellschaftlichen Klasse noch mit Ressentiments oder Vereinfachungen gleichzusetzen. Populisten nehmen in der Regel eine klare Trennung vor. Da wird das reine, unschuldige, hart arbeitende Volk von zwei Gruppen abgegrenzt, die offenbar nicht dazu gehören: der korrupten Elite und der Unterschicht. In Amerika wirkten die liberalen Eliten zum Beispiel mit afroamerikanischen Minderheiten zusammen; dagegen steht der reine, der echte Amerikaner.

Solchen Oppositionen liegt die Annahme zugrunde, so Müller, dass es einen common sense gebe und dass dieser einen allgemeinen Willen bestimme, der von einer Partei repräsentiert wird, die nicht nur die 99 Prozent für sich beansprucht: "We are the 100 percent." Die Definition von Demokratie als "organized uncertainty" ist dem Populisten fremd, weil ihm nichts ungewiss ist. Dass populistische Bewegungen nicht unbedingt nur Protestbewegungen sind, sondern durchaus Regierungsverantwortung tragen können, zeigt das Beispiel Ungarn. Viktor Orbáns Regime betreibe Massenklientelpolitik nach dem Motto: "Wir gehören wahrhaftig zum Volk!" Der Fall Berlusconi beweise indessen, das auch nicht immer eine Bewegung hinter Populisten stehen muss. Ebenso wenig forderten sie immer mehr direkte Demokratie. Viel eher entspricht dem Populismus eine responsive Form der Repräsentation, die auf das antwortet, was das Volk angeblich will.

Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Probleme, die auf beiden Seiten des Atlantiks bekannt sind. Und doch scheint es Unterschiede zu geben: Der Historiker Volker R. Berghahn von der Columbia University in New York hält die Spannung zwischen europäischem Pessimismus und amerikanischem Optimismus für sehr stark. Skepsis und Abneigung waren in den USA denkbar groß, als Deutschland noch für Militarismus stand, das Kaiserreich amerikanisches Feindbild war und alle Einsprengsel deutscher Kultur ausradiert werden sollten: aus dem Hamburger wurde das Liberty Sandwich, aus Sauerkraut Liberty Cabbage, wie Thomas Welskopp (Universität Bielefeld) berichtet. Zur Zeit Roosevelts wuchs das Interesse an Europa, vor allem an den kooperativen Unternehmen Schwedens. So floss die kooperative Idee in die Sozialgesetzgebung des New Deal ein und war eine Inspirationsquelle für das Federal Project Number One, das amerikanische Schriftsteller und Künstler wie Steinbeck oder Pollock unterstützte, so Kiran Klaus Patel von der Universität Maastricht.

Die transatlantischen Beziehungen waren und sind eng, Konflikte haben sie sogar vertieft. Für beide Seiten war die Demokratie nach 1945 nicht nur ein Regierungssystem, sondern auch ein "way of life", der bestimmte Formen, Stile und Emotionen beinhaltete. Und eine bedeutende Antithese: für die USA zum Kommunismus, für die Europäer zur faschistischen Vergangenheit. Ob aber die ideelle Klammer des "Westens" auch in Zukunft hält, das ist angesichts globaler Machtverschiebungen ungewiss.

Bestechen lernen

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Das 'Institut für angewandte Korruption' erklärt beim Spaziergang durch Wien, wie man sich am besten bereichert.

Wien - Für ein Startup braucht es bekanntlich Startkapital, eine gute Idee sowie einen Instinkt für Marktlücken, ein bisschen Glamour bei der Erstpräsentation kann auch nicht schaden. Insofern hat das "Institut für angewandte Korruption", das kürzlich in Wien sein erstes Produkt vorstellte, alles richtig gemacht. Bei der Premiere gab es Sekt, Treffpunkt war die prunkvolle Wiener Oper. Und auch die Präsentatorin des Startups hatte sich schick gemacht, sie trug Perlen zum dunklen Businesskostüm.



"Verwandtschaft lieben und Freundschaften pflegen - sie könnten nützlich sein."

Die Idee entspricht dem Zeitgeist und hat Potenzial für einen Verkaufsschlager: In zwei Stunden erfahren Laien bei einem Stadtspaziergang anhand erfolgreicher Beispiele aus der Praxis, wie Korruption funktioniert, wie man sich ihre Grundprinzipien aneignen und damit auch noch reich, intelligent und sogar schön werden kann. Dass das geht, hat Österreichs Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser demonstriert. Als er sich, nach zahlreichen anderen Skandalen, 2011 wegen möglicher Steuerhinterziehung rechtfertigen sollte, las er in einer Talkshow einen Fanbrief vor, um zu beweisen, dass ihn Kritik und Missgunst nicht treffen könnten, gebe es doch nach wie vor Menschen, die zu ihm hielten: Er sei "für diese abscheuliche Neidgesellschaft zu jung, zu intelligent, zu gut ausgebildet, zu schön". Voilà. Bis heute wird gegen Grasser ermittelt, bis heute ist er nicht verurteilt.

Das "Institut für angewandte Korruption" hat also offenbar eine Marktlücke entdeckt: In Österreich jagte in den vergangenen Jahren ein politischer Skandal den anderen, oft war Korruption im Spiel. Konsequenzen meist: keine. Warum also nicht lernen, wie das geht: bestechen und bestochen werden, sich und seine Freunde bereichern, das Volksvermögen in die eigene Tasche umleiten, ganz ohne moralische Skrupel? Schließlich erfreue sich "diese Kulturtechnik wachsender Beliebtheit", wie die Institutsgründer meinen.

Das Startkapital wurde durch Crowdfunding aufgebracht - und was das bringt, zeigen kleinen Gaben, die als Dankeschön retourniert werden: Wer 250 Euro spendet, darf an einem Geheimtreffen teilnehmen, und wer 4000 Euro gibt, für den wird gleich eine ganze Stiftung in der Karibik eingerichtet.

Natürlich ist das Ganze Satire. Und die Erfinder, eine Gruppe von Wiener Künstlern, Wissenschaftlern und Schriftstellern, veranstalten ihre Stadtspaziergänge auch mit einem heftigen Augenzwinkern. Andererseits sagt Julia Draxler, die am Museum für moderne Kunst als Kunstvermittlerin arbeitet, durchaus ernsthaft, sie habe mit ihrer Aktion etwas gegen die grassierende Korruption im Land tun wollen, um als Wählerin und Bürgerin nicht ganz wehrlos zu sein. Und Roland Spitzlinger, der einst als Parlamentsreferent bei den Grünen gearbeitet hat, holte sich Anschauungsmaterial zum Thema aus nächster Nähe - von den Abgeordneten selbst.

So oder so zeigt der kabarettreife Streifzug durch Österreichs Hauptstadt, der an Büros von PR- Strategen und Wirtschaftsberatern, an Ministerien, Anwaltskanzleien und dem Parlament vorbeiführt, sehr schnell: Die Realität ist nicht nur das beste Kabarett, sondern auch der beste Lehrmeister. Daher kann, wer sich die Grundsätze der Veranstalter einprägt, eines Tages eventuell wirklich ein gut gefülltes Offshore-Konto sein eigen nennen oder sich mit überhöhten Rechnungen, Kickback-Zahlungen und Insidertipps die Taschen füllen. Gewusst wie.

Los geht"s also - immer dem Schild der Stadtführerin hinterher, auf dem der wohl meistzitierte Satz der österreichischen Politik steht: "Es gilt die Unschuldsvermutung". Erster Stopp ist am Kärntner Ring, vor der Handelsgesellschaft des Grafen Alfons Mensdorff-Pouilly. Der Jäger, Großbauer und Waffenlobbyist hatte kürzlich vor Gericht gestanden. Er wurde freigesprochen - mit dem denkwürdigen Richter-Satz: "Die Sache stinkt, aber sie stinkt nicht genug." Was man vom Grafen lernen könne, fragen die Korruptions-Experten mithin und tragen Lehrsatz 1 vor: "Kommunikation geht vor Korruption". Der Menschenfänger Mensdorff-Pouilly habe Kontakte zur Wirtschaft, zur Politik, in Adelskreise und zu Jägern gepflegt - und alle regelmäßig auf seine Schlösser eingeladen. Es hat sich ausgezahlt.

Weiter geht es zur PR-Agentur des Gernot Rumpold, der aktuell wegen verdeckter Parteienfinanzierung vor Gericht steht. Das Ehepaar Rumpold, das für Jörg Haiders FPÖ tätig war, hatte einst eine legendäre Pressekonferenz zum Thema Eurofighter mit 96000 Euro verrechnet. Bei ihr habe eine solche Veranstaltung eben ihren Preis, und der sei angemessen, hatte Erika Rumpold auf kritische Nachfragen beschieden. Lehrsatz 2: "Der Wert der eigenen Leistung kann gar nicht hoch genug bemessen sein."

Wenig später stoppen die Spaziergänger am Sitz einer Gesellschaft des bereits zitierten Ex-Finanzministers Grasser. Von ihm, referiert die Tourleiterin, lasse sich vieles lernen: Als etwa die Staatsanwaltschaft nach hohen Bargeldeinzahlungen des Politikers auf eigene Bankkonten wegen des Vorwurfs der Geldwäsche ermittelte, sagte dieser, das Geld stamme von seiner Schwiegermutter. Die habe seine Fähigkeit zur Geldvermehrung testen wollen. Ein Scherz? Nein, sondern Lehrsatz 3: "Verwandtschaft lieben und Freundschaften pflegen - sie könnten nützlich sein."

Ein paar hundert Meter weiter bietet sich ein guter Blick auf das Penthouse Grassers, das er zu günstigsten Konditionen von einer befreundeten Versicherung mietete und ausbaute; die Suche nach Nachmietern gestaltet sich schwierig, weil die Ablöse elf Millionen Euro betragen soll. Tapeten mit Rochenmuster aus England, goldbesprühte Raumteiler auf 420 Quadratmetern Wohnfläche samt umlaufender Terrasse - eine insgesamt schicke Sache, die zu Lehrsatz 4 führt: Baue "kostbar, aber nicht protzig", wie Fiona Pacifico Griffini-Grasser zitiert wird, dann kämen die richtigen Leute schon von selbst ins Haus.

Der Spaziergang des "Instituts für angewandte Korruption", der jeden Freitag stattfinden soll, führt auch vorbei am Innenministerium, wo man bei Bedarf Staatsbürgerschaften gegen Geld erwerben könne, wie Stadtführerin und Schauspielerin Barbara Braun erläutert, und zum Michaelerplatz, wo sich im Loos-Haus alle paar Wochen eine exquisite Gesellschaft von Jagdfreunden treffe. Lehrsatz 5: "Ein Jagdschein ist die beste Investition."

Am Parlament, wo der Untersuchungsausschuss zu sieben Korruptionskomplexen 2012 auf Druck der Regierungsparteien verfrüht beendet wurde, endet schließlich auch die Tour. Die Abschlussprüfung für die Teilnehmer enthält eine Kernfrage und in der Antwort darauf auch Lehrsatz Nummer 6: Mit welchem Beruf bringen es Korruptions-Novize am weitesten? Nicht als Politiker, denn die müssen sich rechtfertigen oder werden im schlimmsten Falle abgewählt, sondern, natürlich, als Lobbyist oder als Berater. "Eine echte Leistung", soviel ist klar, "muss nicht erbracht werden. Hauptsache ist, der Preis stimmt."


Angemacht und ausgeraubt

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Am Ballermann werden betrunkene Touristen Opfer von kriminellen Prostituierten.

Madrid - Unermüdlich hat Radio Ballermann, der Spaßsender für ungetrübtes Urlaubsvergnügen, in den letzten Jahren immer wieder auf die sehr spezielle Art der Bandenkriminalität auf Mallorca hingewiesen: Auf Europas beliebtester Touristenmeile, der Playa de Palma, rauben zu später Stunden kleine Gruppen von nigerianischen Prostituierten betrunkene Urlauber aus - meist Deutsche und Briten. Auch im Kneipen- und Discoviertel von Gran Canaria und am Südende der berühmten Ramblas, der immer mehr herunterkommenden Flaniermeile Barcelonas, muss die Polizei immer häufiger Anzeigen von Urlaubern aufnehmen, die von aggressiven Afrikanerinnen ausgeraubt wurden.



Prostituierte rauben betrunkenen Urlauber auf Mallorca aus.

Die Polizei von Palma de Mallorca schätzt die Zahl der Frauen, die auf diese Weise die von ihren Zuhältern geforderten Quoten erarbeiten wollen, auf mindestens 200. Besonders beliebt ist dem Diario de Mallorca zufolge der Abschnitt um den Balneario 6, der als "Ballermann" Teil der deutschen Prollkultur geworden ist. Das Vorgehen sei immer dasselbe: Ein Mann aus einer Gruppe torkelnder Urlauber wird isoliert, zwei Frauen verwickeln ihn in ein Gespräch, die dritte und vierte attackieren ihn von der Seite oder von hinten, die fünfte läuft schnell mit der Beute davon. Wie Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen, wird dabei geschlagen und getreten, gekratzt und gebissen. Besonders beliebt als Opfer sind Teilnehmer von Junggesellenabenden und Betriebsausflügen.

Die Polizei lässt zwar Streifen in Zivil an den gefährdeten Abschnitten patrouillieren. Doch angesichts der Menge an Touristen und auch an Straßenprostituierten ist deren Wirkung nur sehr begrenzt. Auch bewegen sie sich in einem rechtsfreien Raum: Prostitution ist in Spanien nicht verboten. Zwar hat Spanien die UN-Resolution gegen Menschenhandel unterzeichnet, die Zuhälterei kriminalisiert, aber sie ist nicht im spanischen Strafrecht umgesetzt.

Nach Schätzungen der Behörden verfügt die Mehrheit der Afrikanerinnen über keine Aufenthaltsgenehmigung. Vertreter deutscher und britischer Reiseunternehmen deuten hinter vorgehaltener Hand an, dass die spanische Polizei bei dieser Art von Verbrechen keinen besonderen Ermittlungseifer zeige, weil die Opfer kaum bemitleidet werden. Warnungen gibt es ja genug, durch die Reiseveranstalter, auf Plakaten und Faltblättern, in den deutsch- und englischsprachigen Lokalsendern.

Nach Meinung spanischer Soziologen ist der starke Anstieg dieser neuen Art der Kriminalität auch eine Folge der großen Wirtschaftskrise in Spanien: Wegen der hohen Arbeitslosigkeit drängen immer mehr junge Spanierinnen auf den hart umkämpften Sexmarkt, folglich sinken die Preise. In der Hierarchie des Sexbusiness stehen die Afrikanerinnen ganz unten, für manche von ihnen scheinen die Überfälle auf Nordeuropäer, die sich kaum auf den Beinen halten können, lukrativer zu sein als ihren Körper für ein paar Euro zu verkaufen.

Ihre Aggressivität ärgert auch die einheimischen Patrone des Sexbusiness, die oft mit rumänischen und russischen Mafiaorganisationen zusammenarbeiten: Denn die Kontaktaufnahme zwischen Prostituierten und Freiern funktioniert nur in entspannter Atmosphäre. Raubüberfälle verderben das Geschäft. Polizeiexperten erwarten daher, dass den Zuhältern und Bordellbetreibern kein anderer Ausweg bleibt, als eigene Ordnungsdienste aufzustellen, so wie dies in den Rotlichtvierteln der meisten europäischen Metropolen der Fall ist. Unglücklich darüber wäre man bei der Polizei nicht.


Wörter aus der Wüste

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Alle kleinen Sprachen sind bedroht? Nicht alle. Im Outback Australiens haben Aborigines-Kinder sogar eine neue Sprache entwickelt.


Es ist eine Nachricht vom Ende der Welt, Linguisten werden sie mit Freude hören: Neue Forschungen belegen nun endgültig, dass in der Tanami Wüste in den Northern Territories Australiens in den vergangenen 35 Jahren eine neue Sprache entstanden ist. "Light Warlpiri" heißt das neue Idiom, das die Wissenschaftlerin Carmel O"Shannessy von der University of Michigan ausführlich in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Language vorstellt (Bd.89, S.328, 2013). Gesprochen wird es vor allem von den Kindern und jungen Erwachsenen des entlegenen Dörfchens Lajamanu, das laut letztem Zensus weniger als 700 Einwohner zählt und gut 100 Kilometer von der nächsten asphaltierten Straße entfernt liegt.

Ursprünglich sprachen die Einwohner Lajamanus - fast ausschließlich Aborigines - das sogenannte Warlpiri, eine indigene Sprache, die von insgesamt 4000 Menschen in der Region gesprochen wird und selbst als potenziell gefährdet gilt. Doch dann nahm die bilinguale Schule Einfluss, in der forciert auch auf Englisch unterrichtet wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Schüler sich angewöhnten, zwischen drei Sprachen hin- und her zu springen: zwischen Warlpiri, Englisch und Kriol, einer englisch basierten Kreolsprache, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts beim Kontakt zwischen Siedlern und Aborigines in den Northern Territories gebildet hatte.



Aborigines-Kinder im australischen Outback.

Interessanterweise entwickelten nun die Kinder von Lajamanu in den 1970er und 1980er Jahren aus diesem ständigen Sprachwechsel heraus ein eigenständiges linguistisches System, das letztlich zu einer neuen Muttersprache im Dorf wurde. Als nämlich diese Kinder in den vergangenen Jahren selber zu Eltern wurden, lehrten sie ihrem Nachwuchs als erstes die neue Sprache Light Warlpiri.

Nun lässt sich streiten, ab wann die Variante einer Sprache als etwas wirklich Neues bezeichnet werden kann, das mehr ist als ein Jargon oder Dialekt. Linguistin O"Shannessy jedenfalls ist überzeugt, dass Light Warlpiri die "Eigenschaften einer gemischten Sprache" habe, die über ganz neue Eigenschaften verfüge. So sei die Struktur der Verben aus dem Englischen und dem Kriol entlehnt; die Struktur der Substantive entstamme hingegen dem Warlpiri. Hinzu kämen neue grammatische Formen, die sich in keiner der drei Quellsprachen fänden. So bedeute der Ausdruck "yu-m" im Light Warlpiri, dass jemand in der Vergangenheit und in der Gegenwart sei (abgeleitet vom englischen "I am"="Ich bin", übertragen auf die zweite Person Singular "you"). Die Kinder von Lajamanu hätten demnach die zuvor unbekannte Zeitform der "Nicht-Zukunft" erfunden.

Die neue Sprache aus Australien ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil Linguisten sonst rund um den Globus das Sterben von Sprachen beobachten. Von den derzeit 6500 Sprachen gelten mehr als die Hälfte als bedroht.

"Taksim ist überall - überall ist Widerstand"

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Jahrelang haben die Deutsch-Türken sich anhören müssen, dass es ihnen an bürgerschaftlichem Engagement mangele. Nun wehen in verschiedenen deutschen Städten rote Flaggen: Vor allem junge Leute demonstrieren für Demokratie in Köln und Berlin.


Berlin/Köln - Vor dem Kölner Dom steht eine Gruppe junger Frauen mit Kopftuch und einen großen Transparent. Das Transparent ist auf Türkisch und das, was die Frauen rufen, ist es auch. Sie würden für den türkischen Regierungschef Tayyip Erdogan demonstrieren, sagt eine Frau. Ein Junggesellenabschied zieht vorbei, prostet den Frauen zu und ruft: "Euch versteht doch keiner." Die Frauen sehen jetzt sehr traurig aus.

Ein paar Meter weiter, auf der anderen Domseite, wehen am Samstag rote Flaggen, manche mit dem Halbmond, andere mit einem Bild von Mustafa Kemal Atatürk. Eine junge Frau steigt auf das Podest und nimmt sich ein Megafon: "Taksim ist überall - überall ist Widerstand", sagt sie. Das ist der Slogan der Proteste in Deutschland. Tausende gehen in diesen Tagen auf die Straßen, sie demonstrieren vor dem Kölner Dom und der Bochumer Fußgängerzone, am Cottbusser Tor in Kreuzberg und auf dem Schlossplatz in Stuttgart.

Sie demonstrieren für den Wandel, in der Türkei, aber auch ein bisschen hier in Deutschland. Jahrelang haben die Deutsch-Türken sich anhören müssen, dass es ihnen an bürgerschaftlichem Engagement mangele, dass sie keine Organisationen und Strukturen hätten, um ihre Interessen zu vertreten in diesem Land. Die Solidaritätskundgebungen zeigen jetzt aber den Mehrheitsdeutschen: Es gibt sie sehr wohl, die deutsch-türkische Zivilgesellschaft. Das macht sie auch ein wenig stolz, diejenigen, die nun auf den Plätzen stehen und in den sozialen Netzwerken diskutieren.



Bei einer Solidaritäts-Demo am Cotbusser Tor in Berlin ist ein Banner mit der Aufschrift "Taksim ist überall, überall ist Widerstand!" vor dem Protestzelt der Occupy Gezi Bewegung gespannt.

"Wir wurden nicht beachtet - und wenn, dann wurde höchstens mit den islamischen Gemeinschaften diskutiert", sagt Erkin Odabasi. Er ist 23 Jahre alt, studiert in Aachen Luft- und Raumfahrtechnik und engagiert sich beim Bund Türkischer Jugendlicher, einer kemalistischen Vereinigung. Odabasi steht vor dem Dom, inmitten vieler junger Deutsch-Türken, alle ziemlich schick gekleidet, alle ziemlich gut drauf. Odabasi sagt, durch den Protest werde der Gesellschaft endlich einmal ein anderes Bild der Deutsch-Türken gezeigt, junge Menschen, die sich für die Demokratie engagieren. Sonst gebe es in den Medien oft die selben Klischees - der Deutsch-Türke als Opfer, oder als Islamist. Jetzt ist das anders. Und so soll es auch bleiben. "Wir wollen in der Politik Fuß fassen", sagt Odabasi. Sein Verein bietet Deutschkurse und Nachhilfe an, und will sich auch dann einmischen, wenn es um die Interessen der Deutsch-Türken geht. Sie haben Zulauf bekommen in den vergangenen Wochen, die Leute wollen spenden, sich engagieren.

Am Anfang ging es in Istanbul nur um den Bau eines Einkaufszentrums. Jetzt geht es vor dem Kölner Dom auch um die Lage der Deutsch-Türken. Taksin, das bedeutet auch, dass jeder in die Proteste hineinlesen kann, was er möchte. In Stuttgart glauben die Menschen, dass es irgendwie auch gegen Stuttgart 21 geht, "Stuttgart und Taksim - Hand in Hand", steht dort auf den Transparenten. In Berlin sehen die Demonstranten die sozialistische Revolution nahen in Europa. Und in Köln glaubt Odabasi, die Deutsch-Türken hierzulande würden alle Streitereien beenden. "Wir legen unsere Ideologien beiseite und treffen uns bei Atatürk." Jeder hat so seine eigenen Hoffnungen, es hängen sich viele dran an diesen Protest, kleine linke Gruppen vor allem, die in den vergangenen Jahren keine große Beachtung erfahren haben, von deren Existenz man jetzt erst erfährt. Auch die Linke schleust oft ihre Redner ein, was auf mäßige Begeisterung stößt.

In Kreuzberg, am Cottbusser Tor, haben sie sich heute wieder in dem kleinen Zelt getroffen, vor den Fotos der Toten, haben die letzten Neuigkeiten ausgetauscht, haben über ihre Angst gesprochen, dass die Regierung die Proteste blutig niederschlägt. An diesem Freitag ist Ertugul Kürkcü vorbeigekommen, Abgeordneter im türkischen Parlament und nach Ansicht seiner Anhänger so etwas wie der "türkische Rudi Dutschke". 15 Jahre lang saß er im Gefängnis, jetzt hält er eine kleine Rede, in der es um eine neue Linke geht, die sich in Europa bilden wird, um das Ende des Turbokapitalismus. Dann lässt sich Kürkcü fotografieren und die Bilder ins Netz stellen, damit die Leute daheim sehen, dass es auch in Deutschland eine große Solidarität gibt.

Mit den Demonstranten, aber auch untereinander, betont Hakan Dogonay. Er ist 48 Jahre alt und nach dem Militärputsch 1980 nach Deutschland geflohen. Hier hat er dann gesehen, dass es für alle politischen und ethnischen Richtungen ein Art deutsches Spiegelbild gibt, und dass die Konflikte oft die selben waren. "In diesen Tagen spielt es aber keine Rolle, ob du Alevit, Kurde, Armenier oder sonst was bist. Es ist eine tolle Atmosphäre der Brüderlichkeit." Am Freitag sind nur ein paar Dutzend Leute gekommen zur Mahnwache am Cottbusser Tor. Am Sonntag demonstrieren dann etwa 2000 Menschen, viele junge sind dabei, viele Frauen. Mit den Deutsch-Türken war es lange ähnlich wie mit den Bürgerlichen von der CDU, man demonstrierte nicht. Wofür und wogegen denn auch überhaupt? Türkische Jugendliche schlossen sich höchstens den Randalierern vom 1. Mai an. Jetzt demonstrieren sie für Demokratie. Das seien schöne Zeiten, sagt Hakan Dogonay. "Hoffentlich hält das noch länger an."

Beschnüffelte Staatsgäste

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Großbritannien hat bei zwei G-20-Gipfeln die ausländischen Delegationen umfassend abhören lassen. Diese Nachricht platzt mitten in das Treffen der G8, bei dem London erneut Gastgeber ist.


Enniskillen - Der britische Geheimdienst hat auf zwei G-20-Gipfeln im April und im September 2009 in London offenbar ausländische Politiker und Delegierte abgehört und deren E-Mails gelesen. Das geht aus einem Bericht des Guardian hervor. Das Blatt platzierte seine Enthüllung genau zum Beginn des G-8-Gipfels der führenden Industrienationen, der am Montagnachmittag in Nordirland begonnen hat. Für die britischen Gastgeber bedeutet der Bericht eine Peinlichkeit: Es ist davon auszugehen, dass die ausländischen Delegierten von den Briten wissen wollten, ob sie auch diesmal wieder abgehört werden. Einige Delegierte, die damals Ziel der Spionage waren, sind anlässlich des G-8-Gipfels erneut zu Gast in Großbritannien.

Die Informationen der Zeitung stammen aus Unterlagen des ehemaligen US-Geheimdienstlers Edward Snowden, der kürzlich Details über das streng geheime Überwachungsprogramm Prism des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA öffentlich gemacht hatte. Snowden hält sich derzeit in Hongkong auf, um sich dem Zugriff der amerikanischen Behörden zu entziehen. Dem Guardian und der Washington Post hat er einen Berg an Unterlagen überlassen, den diese nun auswerten. Den Angaben zufolge hat der britische Nachrichtendienst Government Communications Headquarters (GCHQ), das Pendant zur amerikanischen NSA, die ausländischen Delegierten und Politiker gezielt ausspioniert, um der eigenen Delegation Verhandlungsvorteile zu verschaffen.



Von diesem Gebäude wird vermutet, dass es Teil der mindestens 12 über die Welt verteilten Bestandteile des GCHQ 's (Government Communication Head Quarter) ist.

Die Dienste begründen ihre weitreichenden Befugnisse zur Überwachung damit, dass diese zum Schutz vor Terror und schweren Verbrechen nötig seien. In diesem Fall wurde jedoch offensichtlich aus politischen Motiven spioniert. In einem Briefing von Mitarbeitern an den damaligen Chef der GCHQ heißt es: "Die Absicht der GCHQ ist es sicherzustellen, dass Informationen, die unserer Regierung helfen, ihre Ziele während der G-20-Präsidentschaft zu erreichen, den Kunden zur richtigen Zeit erreichen, und zwar so, dass er sie bestmöglich einsetzen kann."

Die Geheimdienstler richteten zum Beispiel ein Internet-Café ein und sorgten dafür, dass es von Delegierten genutzt wurde. Sämtliche Computer waren präpariert, so dass die Briten die E-Mails ihrer Gäste mitlesen konnten - oder gar, wie es heißt, sie lasen, bevor der jeweilige Empfänger sie geöffnet hatte. Zudem hackten die Geheimdienstler die Mobiltelefone der Delegierten, was ihnen nicht nur Zugriff auf die E-Mails, sondern auch das Mithören von Telefonaten ermöglichte.

45 Mitarbeiter waren in London während zweier G-20-Gipfel damit beschäftigt zu protokollieren, wer wann mit wem telefonierte. Die Ergebnisse wurden auf einer fünf Meter breiten Schautafel präsentiert und ausgewertet. Die Geheimdienstler sprachen von einem dauernden "dynamischen Auswerten" der Leitungen. Die so erlangten Informationen wurden den britischen Delegierten umgehend zur Verfügung gestellt. Der Nachrichtendienst zog ein positives Fazit der Aktion. In einem Dokument heißt es: "Es hat sich als nützlich herausgestellt zu notieren, welche nationale Delegation in der Zeit vor, während und nach dem Gipfel aktiv war. Alles in allem ein sehr erfolgreiches Wochenende mit der Telefonaktion gegen die Delegationen."

Genehmigt wurde die Spionage offenbar auf hoher Regierungsebene. Premierminister war damals Gordon Brown von der Labour-Partei. Es ist allerdings unklar, ob er von der Aktion gewusst hat. Die Ergebnisse wurden nicht nur direkt in den Verhandlungen benutzt, sie wurden auch an Staatsminister weitergereicht. Diese erfuhren, dass zum Beispiel eine Delegation aus Südafrika überwacht wurde. Zudem wird der türkische Finanzminister ausdrücklich als "Ziel" während des Gipfels im September 2009 genannt, ebenso bis zu 15 Mitglieder seiner Delegation. Offenbar ging es den Briten darum herauszufinden, ob die Türkei zu den beim Gipfel im April 2009 vereinbarten Zielen stehen würde. Ferner geht aus den Unterlagen hervor, dass NSA und GCHQ kooperierten, zum Beispiel als die NSA versuchte, das Telefon des damaligen russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew abzuhören.

Premier David Cameron sagte am Montag lediglich, dass seine Regierung die Arbeit des Geheimdienstes grundsätzlich nicht kommentiere. Auch von den internationalen Delegierten in Nordirland gab es zunächst keine Reaktion. Die türkische Regierung bestellte laut Medienberichten den britischen Botschafter in Ankara ein. Der stellvertretende Sprecher der Bundesregierung, Georg Streiter, sagte der dpa, er habe keine Informationen zu den Vorgängen. Er bemühe sich, "vielleicht welche zu bekommen", wisse aber nicht, ob er diese dann weitergeben könne. Auf die Frage nach möglichen Auswirkungen auf das Treffen sagte Streiter: "Ich wüsste nicht, was das für den G-8-Gipfel heißen soll."

Das 15-Punkte-Tiefkühlhuhn

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Schule ist nicht nur Fleißarbeit - manchmal bekommt man für skurrile Ideen auch gute Noten hinterhergeschmissen. Was war dein genialster Einfall zu Schulzeiten?

Noch ein Tag bis zur Abgabe und ich hatte einfach überhaupt keine Idee. Es war Sommer, es war die zwölfte Klasse und so ziemlich alles schien interessanter als der Kunstunterricht. Dabei war der Kunstlehrer niemand, der Wert auf feine Radierungen oder Ölpinselein legte. Eher der Typ Dadaist, der unkommentiert in Klausuren zum Rauchen nach draußen ging, um dann 90 Minuten nicht mehr gesehen zu werden. Somit war die Aufgabe auch keine Standard-"Malt ein Ensemble aus Brötchen mit Marmelade"-Aufgabe. Stattdessen sollten wir ihm etwas zum Oberthema "Kommunikation" per Post schicken. Das war's.

Während meine Freundinnen also aufwändige Brieftauben auf Origami-Art falteten oder Videobotschaften aufnahmen, vegetierte ich lustlos in der Hitze am Küchentisch vor mich hin. Es wurde Abend, die letzte Briefkastenleerung bei uns im Dorf nahte. Meine Mutter fragte besorgt, was ich denn nun abgeben werde - ich zuckte lustlos mit den Schultern und holte mir das dritte Snickers-Eis aus der Tiefkühltruhe.



Über die Ästhetik von Tiefkühlhühnern lässt sich streiten. Kunst sind sie trotzdem.

Und dort, zwischen Eiscreme und Fischstäbchen, fand ich die künstlerische Erleuchtung: ein Tiefkühlhuhn. Mit leichtem Gefrierbrand lag es da, die Flügelchen in Plastikfolie gequetscht. Euphorisch rannte ich mit dem Huhn in die Küche, schrieb vor den Augen meiner ver­dutzten Mutter "Brieftaube" auf einen Paketaufkleber und brachte es zur Post.

Wenige Tage darauf stand im Kunstunterricht die Notenvergabe an. Als der Lehrer bei meinem Namen ankam, sagte er mit angemessenem Ernst "15 Punkte". Später sagte er noch etwas von "Memento Mori" und stellte das Huhn vier Wochen lang in einer Glasvitrine in der Schule aus, wo es langsam und stetig die Origami-Hühnchen aufweichte. Insbesondere die anderen Kunstlehrer verzogen bei dem Anblick nur angewidert das Gesicht.

Für mich zog ich aus meinem 15-Punkte-Huhn die Lehre, dass die besten Ideen nicht besonders aufwändig sein müssen. Welche Idee hat dir in der Schulzeit mal den Hintern gerettet?

Denn was ihn nicht tötet

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Superman fliegt wieder, in "Man of Steel" - aber findet er einen Platz in der Gegenwart?


Ganz offensichtlich ist der Name ein Problem. Also nicht die Tatsache, dass es hier einen Mann gibt, der super ist. Das wäre auch für heutige Zeiten in Ordnung. Nur glauben die Macher von "Man of Steel" anscheinend, dass die Kinogänger der Gegenwart gerne selbst darüber entscheiden, was sie super finden und was nicht.

So huscht nun der verliebten Reporterin Lois Lane alias Amy Adams, als sie Superman gegenübersitzt, einmal ein Lächeln der Erkenntnis übers Gesicht. Sie denkt: Super, der Mann. Wäre auch ein cooler Name für ihn. Das sagt sie dann auch, nur versteht man es nicht, weil in diesem Moment heftige Störgeräusche losdröhnen. Später spricht ein aufgeregter Soldat das Wort "Superman" tatsächlich aus, erntet aber nur peinlich berührte Blicke.

"Mann aus Stahl" also. Identifikationstechnisch einfacher, einerseits. Andererseits: Stahl? Das ist ja im popkulturellen Bewusstsein doch eher ein Material unserer Großväter - als Kruppstahl vor allem -, das dann in Vergessenheit geriet. Bis die Chinesen wieder größere Mengen davon brauchten. Kann es sein, dass die Chinesen auch hinter diesem Superman-Neustart stecken, nachdem der letzte Versuch 2006 noch schiefging? Der chinesische Markt bestimmt ja inzwischen alles.



Henry Cavill als Superman Clark Kent in einer Szene des Kinofilms "Man of Steel".

Definitiv nicht mehr gebraucht wird heute die rote Unterhose, die Superman fünfundsiebzig Jahre lang trug. Nicht unter seinem hautengen Anzug wohlgemerkt, sondern darüber - eine Art leuchtender Keuschheitsgürtel. Die Herausforderung für alle Superman-Darsteller war, trotzdem nicht lächerlich auszusehen. Das ist nun einfacher geworden. Sexuell befreit wirkt Superman dennoch nicht - zu schwer lasten Verantwortungsgefühl und Vorbildfunktion weiterhin auf ihm.

Eine Zeitlang, in seiner Selbstfindungsphase als junger Mann, trägt Superman jetzt sogar Vollbart und Holzfällerhemden. Er arbeitet als Aushilfskellner in Truckerkneipen oder als Seemann auf Fischkuttern, und wenn die Menschen gemein zu ihm sind und es Probleme mit seinen Superkräften gibt, packt er seinen Rucksack und zieht weiter. Einmal läuft sogar ein klagender Gitarrensong dazu, frühe Neunziger, Seattle: "Seasons" von Chris Cornell. "I"m left behind as seasons roll on by..." Grunge Superman? Oh yeah.

Überhaupt die Gemeinheit der Menschen. Superman kommt ja, hier wird es ausführlich noch einmal gezeigt, vom Planeten Krypton. Als Waisenkind landet er auf der Erde und wird von Kevin Costner und Diane Lane aufgezogen. Ein Alien, ein Immigrant im großen Schmelztiegel Amerika. Als Repräsentanten des Homo sapiens tun die Eltern erziehungstechnisch ihr Bestes - der Rest der Menschheit aber zeigt sich von der fiesesten Seite: Bullys, Schulschläger, Mobbingmonster, immer feste auf den, der sich nicht wehrt.

Oder eben nicht wehren darf - wie der junge Superman. Weil es dann ja herauskommen könnte, dass er anders ist. Die Schwerkraft auf der Erde mag geringer sein - der Konformitätsdruck nicht. Noch nie hatte ein Held wohl größere Angst vor den eigenen Kräften als dieser neue "Man of Steel". Sogar den eigenen Vater lässt er zwischendrin im Tornado umkommen - weil es verräterisch gewesen wäre, ihn vor aller Augen zu retten.

Ist das der Einfluss des düsteren Christopher Nolan, der hier als Produzent und Ideengeber mitwirkt, der auch die inneren Widersprüche in "Batman" bereits auf die Spitze getrieben hat? Wahrscheinlich. Jedenfalls wundert es nicht, dass Superman nun als ruheloser Schmerzensmann durch die Welt ziehen muss, als wäre er Jesus oder zumindest Kurt Cobain.

Später, als er zu sich gefunden hat, kommt ein weiterer Schock. Plötzlich ist er sauber und glatt rasiert, wie aus den Dreißigerjahren zurückgeholt: stählern, backenknochig, heldenkantig. Nur fühlt sich das genauso fremdartig an.

Denn die Mädchen von heute, würden sie nicht eher auf den schluffigen Vollbart zusteuern, solang sich unterm Flanell ein Waschbrettbauch abzeichnet? Man sagt es nicht gern angesichts Tausender Fitnessstudiostunden, die der britische Darsteller Henry Cavill investiert haben muss - aber auch diese zuchtputenartigen Brustmuskeln sind überflüssig. Christopher Reeve brauchte die auch nicht.

Reeve konnte sogar, in Richard Donners "Superman"-Film von 1978, in Brooklyn Heights eine Katze aus einem Baum retten und sie ihrer Besitzerin übergeben, einem kleinen blonden Mädchen mit Pigtails, ohne sich für alle Zeiten zum Deppen zu machen. Aber warum? Und warum wirkt dieser neue Superman dagegen doch am Ende freudlos? Der Grund ist wahrscheinlich, dass der ganze Fokus auf die Psyche des Superhelden, seine Ängste und inneren Zerrissenheiten, am Kern der Sache vorbeigeht. Die alte Regel bewahrheitet sich immer wieder: Superheldenfilme leben am Ende gar nicht von ihren Helden. Sie leben von ihren Schurken.

Christopher Reeve hatte einen sehr gerissenen Lex Luthor alias Gene Hackman an seiner Seite - und später auch einen unfassbar coolen General Zod, gespielt von Terence Stamp. Eine Performance von diesem Kaliber, mehr braucht es für einen Superhelden-Klassiker nicht - wie zuletzt Heath Ledger mit seinem "Dark Knight"-Joker wieder bewiesen hat.

Der neue General Zod (Michael Shannon) ist dagegen leider nur Standardmaterial, ein militaristischer Rassenideologe und Weltenplattmacher von Supermans Heimatplanet. Er und seine Mitverschwörer prügeln sich ganz fürchterlich mit dem "Man of Steel", schließlich verfügen sie allesamt über Superkräfte. So geht das vierzig Minuten ohne Unterlass, bis die Stadt in Trümmern liegt und die Bilder an 9/11 erinnern. Es sind aber doch nur rohe Kräfte, die hier sinnlos walten - und als Zuschauer fühlt man sich wie der Depp in der Arena, dem niemand die Regeln erklärt hat. Dass all diese Kämpfer Schwachpunkte und Achillesfersen haben, dass sie mit der einen Strategie zu besiegen wären, mit der anderen aber nicht - das ist aber wahrscheinlich nur noch eine altmodische Phantasie. In Wahrheit wird es eher so sein, dass für ungefähr 200 Millionen Dollar Spezialeffekte bestellt werden, dann lässt man die Großrechner aufeinander los - und am Ende schaut man einfach, was rauskommt.

Man of Steel, USA 2013 - Regie: Zack Snyder. Buch: David S. Goyer. Idee und Produktion: Christopher Nolan. Kamera: Amir Mokri. Mit Henry Cavill, Amy Adams, Michael Shannon. Warner, 143 Minuten.

Schöner scheitern

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"Infektionen"-Festival II: Der Regisseur Falk Richter orchestriert an der Berliner Schaubühne die Einsamkeit unserer Tage.


Tatjana Winter optimiert tagsüber ihre Mitarbeiter und nachts sich selbst. Dann sucht sie neue Bilder für ihr Online-Dating-Profil. Und während sie so ihren Marktwert steigert, träumt sie von einer Liebe, die nichts berechnet, sondern einfach da ist - einer Liebe wie in der Oper.

Falk Richter lässt in seinem neuen Stück an der Berliner Schaubühne Menschen von heute auf Bühnen-Personal des 19. Jahrhunderts prallen. "For the disconnected child" heißt das Projekt, eine Kooperation mit der Berliner Staatsoper und eine Art Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Musik, Tanz und Video. Sieben Komponisten haben die Musik dazu geschrieben: Neue Musik, die von einem Kammerorchester gespielt wird, eigentümliche Popsongs mit Gitarre und elektronische Klänge.

Im Zentrum steht Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin" um einen bindungsunwilligen Mann. Und die Idee, dass die Welt heute voller Eugen Onegins ist, die ewig suchen und nie ankommen. Da ist Tatjana Winter, eine geschiedene Managerin mit zwei Kindern, die von Männern Liebesschwüre erwartet, aber selbst nicht mal ein Kompliment über die Lippen bringt. Da ist ihre Mutter, eine bulgarische Sängerin, die seit zwölf Jahren in der Fremde lebt und als Zweitbesetzung darauf wartet, den einen Satz singen zu dürfen, der zugleich ihr Leben zusammenfasst: "Was man erst kaum ertragen kann, wie schnell gewöhnt man sich daran." Und da ist der smarte Typ im Anzug, den Tatjana Winter im Internet kennenlernt und der sich beim ersten Date schnell wieder verabschiedet: "Wir können ja nächste Woche mal smsen."



Die Tänzerin Jorijn Vriesendorp bei einer Probe des Stücks "For the Disconnected Child".


In loser Szenenfolge begegnen sich diese Figuren in einem leeren, offenen Raum mit zwei Etagen, der so kalt wirkt, dass man in ihm weder wohnen noch arbeiten möchte (Bühne: Kathrin Hoffmann). Im Hintergrund sind ästhetisierte Video-Bilder vom Großstadt-Alltag zu sehen: Straßen, Dächer, Hotelzimmer.

Musik und Schauspiel greifen ineinander: Etwa wenn ein Mann und eine Frau einen absurden Dialog über Nähe im Stakkato-Ton sprechen, streng nach Partitur. Oder wenn ein Paar halbherzig versucht, seine Beziehung zu retten: Die Opernsängerin Maraike Schröter singt, der Schauspieler Tilman Strauß redet. Der Komponist Oliver Frick unterstreicht die Klischeehaftigkeit des Dialogs durch Mickey-Mousing: Ihr Jammern wird von einem Bratschen-Legato begleitet, seine Schroffheit von einer jäh abreißenden Bassklarinette.

Die Polyphonie erreicht ihren Höhepunkt, als die Schauspielerin Ursina Lardi sich ans Klavier setzt und anfängt Schubert zu spielen. Der Opernsänger singt, die Tänzer schleudern ihre Körper auf den Boden, die Schauspieler erzeugen in Katie-Mitchell-Manier Geräusche: Eine haut immer wieder einen Stuhl auf den Boden, ein anderer zerreißt Fotos, von einem Mikrofon verstärkt. Oliver Prechtl hat eine autistische Kakophonie komponiert, in der jeder in seinem Kosmos gefangen bleibt.

Die Neue Musik passt hervorragend zum Stück, denn ihr ist das Unbehagen an der Welt eingeschrieben. Quietschende Glissandi und schräge Ton-Cluster klingen wie ein Aufschrei gegen Perfektion und Norm. Die romantische Opernmusik bleibt dagegen ein Fremdkörper, ein ferner Sehnsuchtsort, den die Figuren verwundert bestaunen.

Zu den Geschlechterverhältnissen in "Eugen Onegin" findet Richter allerdings keine klare Haltung: Ist nun alles beim Alten geblieben, die Männer bindungsunwillig und die Frauen liebeshungrig? Oder sind heute alle Narzissten, die nur zu ihrer Arbeit eine erotische Beziehung pflegen?

Farce-artige Szenen im Assessment-Center wechseln sich ab mit surrealen inneren Monologen, die manchmal von ihrer eigenen Bedeutungsschwere erdrückt werden: "Ich fühle dass es in mir schneit / und das ist keine Metapher jetzt." Falk Richter beschreibt in seinen Stücken seit Jahren die glatten Oberflächen der digitalen Welt und die einsamen Menschen, die sie hervorbringt. Mittlerweile sind die Figuren mit ihm älter geworden, sie jetten nicht mehr als DJs um die Welt, sondern verarbeiten ihre Scheidung. Die Diagnose aber ist damals so richtig wie heute.

Und so kann man diesem faszinierenden Abend vor allem vorwerfen, dass er bei all dem Leiden so schrecklich gut aussieht. Das blassrosa Seiden-Nachthemd sitzt auch im Moment existenzieller Verzweiflung perfekt. Die Video-Bilder sind in warmes Retro-Sepia getaucht. Und schöner als der isländische Songwriter Helgi Hrafn Jónsson kann sich wohl keiner die Seele aus dem Leib schreien. Die viel kritisierte Selbstoptimierung ist auch an der Schaubühne weit fortgeschritten. Aber das zeigt vielleicht nur, wie Recht Falk Richter hat.

Mehr Sicherheit durch Truppenabzug

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Künftig tragen die Afghanen selbst die Verantwortung für den Militäreinsatz in ihrem Land. Vielen macht das Angst.


München - Afghanen sind ein stolzes Volk, in Gesprächen betonen die Menschen immer wieder, sie wollten keinen Tag länger als nötig auf ausländische Hilfe angewiesen sein. Und dennoch betrachten sie mit Sorge die Entwicklung in ihrem Land - der westliche Abzug kommt vielen zu früh, auch trauen sie den Ankündigungen ihrer Regierung noch nicht, mit den Taliban würden nun Friedensgespräche im Wüstenemirat Katar aufgenommen.

Aber wie Präsident Hamid Karsai am Dienstag in Kabul bekannt gab, werden von nun an einheimische Soldaten und Polizisten die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen. Bis zum Ende deswestlichen Kampfeinsatzes im Jahr 2014 sollen ihnen zwar noch Nato-Truppen zur Seite stehen, aber alle Operationen werden die Afghanen selbst vorbereiten und möglichst allein durchführen.

"Wenn die Menschen sehen, dass die Sicherheit an Afghanen übergeben wurde, werden sie die Armee und die Polizei mehr unterstützen als zuvor", sagte Karsai bei einer Zeremonie in einer Militärakademie nahe Kabul. Auch verbindet er mit der Übergabe die Hoffnung, dass zukünftig weniger Zivilisten bei militärischen Operationen sterben. Denn dies hat Karsai der Nato häufig lautstark vorgeworfen, auch wenn die Vereinten Nationen in ihren Studien zu Todesopfern in Afghanistan immer wieder darauf hinweisen, dass die Taliban für die meisten zivilen Opfer in diesem Krieg verantwortlich sind.



Bald wird den einheimischen Soldaten die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan allein obliegen.

Karsai hatte sich bereits in den vergangenen Tagen sehr positiv über die Schlagkraft der einheimischen Sicherheitskräfte geäußert, etwa nach einer niedergeschlagenen Taliban-Belagerung des Kabuler Flughafens in der vergangenen Woche. Doch entgegen aller Beteuerungen bleibt die Sicherheitslage prekär. Zwar greifen die Islamisten die afghanischen oder ausländischen Truppen nur noch selten direkt an, dafür haben sie die Zahl der Anschläge wieder erhöht. Am Dienstag kamen bei einer Sprengstoffattacke in Kabul mindestens drei Menschen ums Leben, 20 weitere Menschen wurden verletzt. Offenbar galt der Anschlag einem Anführer der Hazara-Minderheit, Mohammed Mohaqiq, der nach eigenen Angaben unverletzt blieb.

Karsai kündigte am Dienstag auch an, eine Delegation des Hohen Friedensrates nach Katar zu schicken. Das Gremium war im Jahr 2010 eingesetzt worden und sollte Friedensgespräche mit den Taliban anbahnen. Der Prozess erlitt immer wieder Rückschläge, vor allem als der Vorsitzende des Hohen Friedensrates, Burhanuddin Rabbani, im September 2011 einem Anschlag zum Opfer fiel. Nun erklärte ein Sprecher der Taliban am Dienstag aber, man sei für Gespräche bereit. Diese sollen im Wüstenemirat Katar geführt werden, auch die Amerikaner wollen direkte Verhandlungen mit den Aufständischen aufnehmen.

Der sogenannte Doha-Prozess zwischen US-Regierung und den Taliban war bereits Anfang des Jahres 2012 unter deutsche Vermittlung angestoßen worden. Auf neutralem Boden sollten den Taliban ermöglicht werden, ein Verbindungsbüro zu eröffnen. Karsai hatte der , der sich von dem Prozess ausgeschlossen fühlte. Die Kontakte zwischen den Taliban und den USA waren zum Erliegen gekommen, bevor die Gespräche begonnen hatten.

Obwohl die Islamisten in Doha durchaus hochrangig vertreten sind, haben Diplomaten in den vergangenen Monaten immer wieder betont, es gebe keinerlei Gespräche. Bislang haben die Taliban immer wieder zu verstehen gegeben, sie wollten mit der Kabuler Regierung keine Gespräche aufnehmen, Karsai beschimpften sie als "Marionette" des Westens.

Der Präsident selbst betonte stets, es gebe Kontakte zu den Aufständischen, diese würde es offiziell nur anders darstellen. Seit März war Karsai zwei Mal in Katar, um mit dem Emir Scheich Hamad bin Chalifa al-Thani zu sprechen. Offenbar erkundete der Präsident dabei auch, ob die Taliban sich nun doch verhandlungsbereit zeigen. Der Sender al-Dschasira berichtete, die Islamisten in Doha würden bald ein offizielles Verbindungsbüro eröffnen. Dies gilt als erster Schritt für den Friedensprozess. Von den Taliban selbst gab es aber zunächst keine Stellungnahme

Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung ist bereits vor zwei Jahren begonnen worden, nachdem US-Präsident Barack Obama seinen Plan bekannt gegeben hatte, bis Ende des Jahres 2014 die amerikanischen Kampftruppen aus Afghanistan abzuziehen. Nach dem jetzigen Nato-Einsatz soll es eine Folgemission mit deutlich verringertem Kontingent geben, das sich weiterhin um die Ausbildung von afghanischen Soldaten kümmern soll.


Angst vor einer Hexenjagd

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Nach der Räumung des Gezi-Parks geraten Unterstützer ins Visier.


Istanbul - Nach der gewaltsamen Räumung des Istanbuler Gezi-Parks befürchten Regierungsgegner eine Hexenjagd. Die türkischen Antiterror-Polizei nahm am Dienstagmorgen in Istanbul und Ankara 85 Menschen fest. Nach türkischen Medienberichten forderte die Regierung zudem bei Krankenhäusern die Daten von verletzten Demonstranten an. Sorge bereitet der Opposition auch die Ankündigung der Regierung, die Nutzung der sozialen Medien neuen Regeln zu unterwerfen.

Nach Regierungsangaben richteten sich die Festnahmen gegen zwei linke Organisationen, die seit langem beobachtet würden. Mehr als 500 Menschen waren nach Angaben der türkischen Anwaltskammer bereits vor der neuen Festnahmewelle allein in Istanbul und Ankara in Gewahrsam genommen worden.



Nachdem die türkische Regierung den Gezi-Park auf brutale Weise räumte, will sie die Demonstranten jetzt auch noch strafrechtlich verfolgen.

Nicht nur die Demonstranten selbst befinden sich im Blickfeld der Regierung. Premier Recep Tayyip Erdogan hatte betont, man wisse sehr wohl, wer die Besetzer im Gezi-Park zwei Wochen lang mit Nahrungsmittelspenden versorgt habe und welche Hotels ihre Türen für Demonstranten geöffnet hätten. Bei den Ermittlungen gegen Polizisten wegen überproportionaler Gewalt geht die Regierung nach Ansicht von Kritikern weit weniger energisch vor. Nach Angaben von Innenminister Muammer Güler wurden bisher drei Beamte suspendiert. Die Staatsanwaltschaft in Ankara begann mit einem Ermittlungsverfahren wegen des Todes des 26-jährigen Ethem Sarisülük, der am 1. Juni von einer Polizeikugel am Kopf getroffen wurde und in der vergangenen Woche starb.Güler erklärte aber bereits, der Beamte habe in Notwehr gehandelt.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, forderte, Polizisten und Behördenvertreter, die exzessive Gewalt einsetzten, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung müsse erkennen, dass das massive Vorgehen gegen Demonstranten noch immer ein großer Teil des Problems sei. Die meisten der jungen Gezi-Park-Besetzer gehörten nicht zu den linken Splittergruppen, die die Regierung für die Proteste verantwortlich macht. Wissen-schaftliche Untersuchungen zeigten das bereits. Viele wollen sich nun auf neue Formen des Protests verlegen. Nachdem in der Nacht zum Dienstag der Tänzer Erdem Gündüz durch stummes Stehen auf dem Taksim aufgefallen war, verbreiteten Aktivisten die Idee, in der eigenen Nachbarschaft allabendlich "fünf Minuten zu stehen und dann wieder zu gehen". Auch Konsumentenboykotte werden diskutiert. Diese könnten sich gegen große Einkaufszentren in Istanbul richten.

Seit der gewaltsamen Räumung des Parks in der Nacht zum Sonntag ist die Grünanlage nicht mehr betretbar. Hunderte Polizisten schirmen sie von allen Seiten ab. "Polis Parki" titelte die Zeitung Radikal. In Ankara setzte die Polizei auch in der Nacht zum Dienstag erneut Tränengas und Wasserwerfer ein, um Hunderte Menschen im Zentrum von den Straßen zu vertreiben. Hingegen blieb es in Istanbul ruhig.
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