Alle haben einen Schwipps. Alle haben gute Laune und sehen gut aus (weil alle einen Schwipps haben und durch die Schwippsaugen alles viel schöner ist). Alle tanzen und sind fröhlich. So weit, so Party. Und dann passiert Folgendes: Das Lied wechselt und ein Hit wird gespielt, also ein nicht mehr ganz brandneuer Song, der damals, als er rauskam, ziemlich einschlug. Und an diesem Song spaltet sich die Tanzmasse. Sobald beispielweise "Kids" von MGMT oder "Get Lucky" von Daft Punk lĂ€uft, wird auf der einen Seite gejubelt und gesprungen. Auf der anderen Seite wird mit den Augen gerollt und mit verschrĂ€nkten Armen rumgestanden. Â
Das ist eine klassische Indie-Disco-Situation. Auf einer Elektroparty passiert das nicht, da gibt es die, die es gut finden, und die, die es schlecht finden. Aber auf der Indie-Party gibt es die, die durchgĂ€ngig SpaĂ haben, weil sie gut gelaunt sind. Und es gibt die, die einen Song irgendwann mal gut fanden, aber glauben, schon lĂ€ngst darĂŒber hinweg zu sein und darum schlechte Laune davon zu bekommen. Die Anno 2008 als Erste zu "Kids" getanzt haben und denen Icona Pop schon ein Begriff waren, bevor "I love it" auf jeder Studentenparty rauf- und runter gespielt wurde. Sie fĂŒhlen sich in ihrer Ehre gekrĂ€nkt, wenn alte Hits gespielt werden. Sich dazu zu bewegen ist unter ihrem Niveau. Das Gesamtpaket ihrer Mimik und Gestik sagt: "Leeeute, nicht im Ernst, oder?" Â
Es ist sehr schwer sich vorzustellen, dass jemand so sensibel auf Musik reagiert, dass ihm drei bis sechs Minuten, die ihm mal gute Laune gemacht haben, auf einmal den Abend versauen. Entweder fand man einen Song mal gut und hat jetzt genug davon, dann wartet man halt auf den nĂ€chsten. Oder man mochte einen Song noch nie, wartet man halt auch auf den nĂ€chsten. Aber die professionell Gelangweilten im Club tun so, als ob diese durchgenudelte Musik dafĂŒr sorgt, dass sie sich nicht mehr bewegen können oder ihre Augen automatisch anfangen, in ihren Höhlen herumzurollen. Anstatt sich einfach ein neues GetrĂ€nk zu besorgen, aufs Klo zu gehen oder eine zu rauchen, bis das Lied vorbei ist, stehen sie demonstrativ bockig rum oder verlassen mit groĂer, genervter Geste die TanzflĂ€che, damit alle sehen: Der ist oft hier, eigentlich immer, und der kennt sich aus, seine musikalischen Rezeptoren wachsen schnell, entwickeln sich mit den neusten Entwicklungen â und sind darum inkompatibel mit dem Gedudel aus den Nullerjahren. Â
"Gut", könnte man sagen, "sollen sie halt mĂŒrrisch sein, mir wurscht, prost!" Aber leider funktioniert eine Party ja als Masse. Oder als Kette, die immer nur so gut gelaunt ist wie ihr am schlechtesten gelauntes Glied. Zumindest, wenn das genau neben einem steht. Wenn man gerade SpaĂ hat, ist Missmut ohnehin das letzte, was man will, aber man kann damit umgehen, wenn der Missmutige Liebeskummer oder Bauchweh hat. Wenn er sich aber zu fein ist, zu einem bestimmten Lied zu tanzen, und das sehr offen demonstriert, ist das in etwa so, als wĂŒrde er sich genau vor einen hinstellen, einem den Finger auf die Brust setzen und sagen: "Du bist dumm, weil du gerade SpaĂ hast!" Das Gemurre ist am Ende nichts weiter als selbstdarstellerisches Ăberlegenheitsgetue und wenn man nicht so beschĂ€ftigt damit wĂ€re, sich den SpaĂ nicht verderben zu lassen, mĂŒsste man eigentlich hingehen, dem professionell Gelangweilten den Finger auf die Brust setzen und sagen: "Geh doch nach Hause und schreib fĂŒr die Spex!" Â
Das Problem der Gelangweilten ist wahrscheinlich ihr Stolz. Ihr Stolz auf das, was sie wissen, was sie erkennen und erspĂŒren können in der Musik, auf ihr musikalisches FeingefĂŒhl und ihre Expertise. Darum stelle ich heute eine einfache, aber wie ich finde goldene Regel auf, mit der sich der ganze Konflikt vermeiden lieĂe: Musikalischer Stolz ist zwar schön und gut, hat aber auf einer Indieparty nichts zu suchen! Wer zu viel davon hat, soll ihn bitte an der Garderobe abgeben. Oder gleich Zuhause bleiben.  Â
Auf der nÀchsten Seite: die flammende Gegenrede von Jan Stremmel!
[seitenumbruch]
"Ein DJ, der spielt, was jeder kennt und jeder liebt, hat nichts verstanden!", entgegnet Jan Stremmel:
"Gassenhauer, der: allbekanntes, triviales Lied. UrsprĂŒnglich: das von Nachtbummlern gesungene Lied." (Duden, 2014)Â
Zwei bis drei Monate - so lang dĂŒrfte das Zeitfenster gewesen sein, in dem ich zu "Get Lucky" tanzen konnte, ohne finsterste Laune zu bekommen. Ein paar Wochen, nachdem Daft Punk auf dem Coachella Festival den ersten Ausschnitt ihres Videoclips prĂ€sentiert hatten, flutschte es noch: Das Gitarrenriff klang unerhört, beim Text musste man tatsĂ€chlich noch kurz ĂŒberlegen, wie es weiterging nach "Weeeee've come too faaaar". Der Song war noch nicht im Hirn festgetrampelt wie ein schwarzer Kaugummi auf dem U-Bahnsteig. Er lebte noch. Â
Wenn heute in einem Club die ersten Takte der Basslinie andengeln, stehe ich plötzlich in einem Wald aus hochgerissenen Armen, ĂŒberall grinsende MĂŒnder, die sich irgendwas DĂ€mliches zubrĂŒllen wĂŒrden, wenn sie nicht zu beschĂ€ftigt wĂ€ren, dieses absurde "Woo-Hoo" zu brĂŒllen, das man sonst nur von betrunkenen Cheerleadern in Sitcoms kennt, kurz bevor eine ĂŒber die Bar kotzt. Â
Schlechte Laune im Club, das ist natĂŒrlich so ziemlich das Sinnloseste, was man haben kann. Aber ich und alle anderen "professionell Gelangweilten", wie du sie nennst, wir können uns nicht helfen. Wenn ein DJ Musik spielt, die jeder kennt und jeder liebt, hat er versagt. Wer das nicht einsieht, freut sich vermutlich auch, wenn jeden Morgen im Advent "Last Christmas" auf Radio Alpenwelle lĂ€uft. Â
Denn: doch doch, Songs können kaputt gehen, auf eine subtile Art, Ă€hnlich wie Converse Chucks, lustig bedruckte Jutebeutel oder Hornbrillen. Sie können zerdrĂŒckt werden von zu viel Beliebtheit. Â
Nehmen wir "Smells Like Teen Spirit" von Nirvana. Oder "Kids" von MGMT. Es sind Songs, die jeder kennt und jeder liebt, egal wie viel Wodka Lemon er getrunken hat, ob er die letzten zwölf Monate auf Neufundland verbracht hat oder stellvertretender Schatzmeister der Jungen Union LĂŒdenscheid ist. Es sind Songs, die so groĂ und strahlend waren, dass sie verglĂŒht sind â nĂ€chste Station: Wiesnhit. Â
Und klar, auch wir haben zu den Songs mal getanzt, waren ganz unironisch begeistert. Aber jetzt liegen sie da in der Rotation von Formatradios und den CD-Taschen uninspirierter Gelegenheits-DJs wie abgelegte Chitin-Panzer von Libellen, die lĂ€ngst gröĂer und schöner sind, aber eben auch: ganz woanders. Und ein DJ, der diese Songs jetzt noch spielt, kann zwar mit Instant-Ruhm unter den "Woo-Hoo"-BrĂŒllern rechnen. Aber er ist ein feiges WĂŒrstchen. "Get Lucky" spielen im Februar 2014, das ist eine tongewordene BankrotterklĂ€rung, die Kapitulation vor dem Massengeschmack. Kein Wunder, dass Daft Punk fĂŒr ihren Auftritt bei den Grammys neulich den rĂŒhrend schief singenden Stevie Wonder angekarrt haben â mit einer normalen Live-Version hĂ€tten sie sich bis auf die Knochen blamiert. Â
Schon klar, man darf das gerne anders sehen und uns Gelangweilte mit schielendem Wodka-Tonic-Blick zum Teufel oder zur Spex schicken, aber es ist doch so: DJs haben einen Bildungsauftrag! Sie mĂŒssen die Gegenwart nach relevanter, neuartiger Musik durchleuchten, mit dem Ohr permanent auf der Schiene der Musikindustrie, das ist ihre einzige Daseinsberechtigung. Wer also "Seven Nation Army" auflegt und sich angesichts eines "Pooo po ro po po pooo pooo"-BrĂŒllchors schön gewitzt vorkommt, hat nichts verstanden. Er geht mit dem Schleppnetz am Angelteich fischen, maximale Trefferquote bei minimalem Risiko und null Eigenleistung. Â
Im Kern geht es darum, dass Clubs der Humus der Musik- und Gegenwartskultur sind, immer schon waren. Wer Gassenhauer spielt, hĂ€ngt in der RĂŒckschau fest, feiert Konservatismus und Angepasstheit und damit das ziemliche Gegenteil von dem, was Nachtleben im besten Fall zutage bringt: Neues, Ăberraschendes, Ăbertriebenes, Irrsinniges! Auf die Gefahr hin, dass du und die Junge Union LĂŒdenscheid das anders sehen: Ich bin dreimal lieber professionell gelangweilt als trivial begeistert.