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"Subkulturelles Utopia der sexuellen Identitäten"

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jetzt.de: Markus, wir wollten eigentlich über dein Buch sprechen, aber jetzt müssen wir erst mal fragen: Was ist da los bei euch in Baden-Württemberg?Seit November hat die Online-Petition „Zukunft - Verantwortung - Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ fast 130.000 Unterstützer gesammelt. (Stand: 14.1.14,  hier geht’s zur Gegenpetition)
Markus Pfalzgraf:
Ich bin erschrocken, mit welcher Heftigkeit diese Debatte über Baden-Württemberg hereingebrochen ist. Man könnte sagen, die Kritik an dem Vorhaben, alternative Liebesformen zum Unterrichtsthema zu machen, kommt aus bestimmten Kreisen, die man nicht so ernst nehmen muss. Aber ich fürchte, dass solche Ressentiments in Teilen der Bevölkerung diffus vorhanden sind. An den beiden großen Diskussionsthemen im Moment merkt man aus meiner Sicht: Schulen und Profifußball sind die letzten beiden Hochburgen der Homophobie in Deutschland. Die Debatte um Hitzlsperger findet so überdreht statt, dass man sich fragen muss, ob wir wirklich so weit sind, so tolerant, so akzeptierend, dass es kein Thema mehr ist.  

Du hast ein Buch über „schwule Comics“ geschrieben. War oder ist Homosexualität in Comics auch ein „Tabuthema“? Oder fällt sie Nicht-Comic-Lesern einfach nicht auf?

Früher war sie ein Tabuthema. Der erste, den man als schwulen Comic-Zeichner kannte, ist Tom of Finland. Er hat in der Nachkriegszeit angefangen, da war Homosexualität im Comic wie in allen Bereichen ein ganz krasses Tabuthema. Er hat schöne Männer gezeichnet, die Bilder waren homoerotisch konnotiert, später auch sehr explizit. Obwohl Tom of Finland den Weg bereitet hat, gab es auch später in den USA immer wieder Boykott-Aufrufe gegen schwule Zeichner, von rechten oder evangelikalen Gruppen, von besorgten Elterninitiativen oder Lehrern.

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Gibt es solche Proteste immer noch?
Die Comic-Zeichnerin Alison Bechdel hat 2006 die sehr einflussreiche Graphic Novel „Fun Home“ herausgebracht. Damals gab es Proteste von Gruppierungen, die nicht wollten, dass das in ihrer Schulbibliothek steht. In der Jugendserie „Life With Archie“ fand 2012 eine Schwulen-Hochzeit statt, daraufhin gab es Aufrufe von der konservativ-christlichen „American Family Association“: Sie forderten eine große Handelskette auf,den Comic aus dem Programm zu nehmen. Auch heute scheint das noch ein Problem zu sein, wenn auch in Deutschland nicht so heftig. Ganz anders ist es bei gezeichneter Kunst. Ich kenne einen Künstler, der unter anderem homoerotische Zeichnungen macht und Probleme hat, diese Werke bei seinen Galeristen unterzubringen. Ich kann nur mutmaßen, woran das liegt, vielleicht an der Angst, Renommee zu verlieren. Im Comic-Bereich gab es in Deutschland aber auch andere Zeiten.

Welche?
Ralf König war Anfang der achtziger Jahre der erste, der in Deutschland Homosexualität und Comics zusammengebracht hat. Selbst zu einem seiner Comics gab es mal einen Antrag, den Band zu indizieren. Der Niederländer Theo van den Boogaard hat den Aufklärungscomic „Anne und Hans“ gezeichnet, der 1973 in Deutschland indiziert wurde. Mitte der Neunziger gab es noch eine Razzia, in der Comics von Ralf König in Buchhandlungen beschlagnahmt wurden. Das hatte dann zwar keine großen Konsequenzen, aber ist noch nicht mal 20 Jahre her.

Wie ist der Stand heute?
Was ich zusammengetragen habe, ist eine Art Kompendium von schwulen Autoren, entsprechenden Figuren verschiedenster sexueller Identität, Comics, in denen verschiedene Sexualitäten behandelt werden. Da gibt es im Moment eine enorme Vielfalt. Die Menschen merken, dass Comics nicht nur was für Kinder sind, sondern Literatur. Auch wenn wir hier noch nicht so weit sind wie in Frankreich, Belgien oder in den Niederlanden, wo das schon lange eine anerkannte Kulturform ist. Plötzlich tauchten sie in den Feuilletons auf, im Tagesspiegel gibt es sogar eine Rubrik dafür, Comics werden rezensiert wie andere literarische Werke. In dem Zusammenhang kommen dann auch Comics mit Themen wie sexueller Vielfalt vor. Ein aktuelles Beispiel ist der Kinofilm „Blau ist eine warme Farbe“, der auf einer Graphic Novel basiert.

Welche Arten von „schwulen“ Comics gibt es?
Es gibt Hardcore-Comics aus den Sechzigern, die franko-belgische Tradition des Ligne claire (klare Linie), die man zum Beispiel auch bei Tim und Struppi findet, es gibt amerikanische Superheldenserien und die deutschen Comics von Ralf König. In Japan gibt es auf der einen Seite sehr extreme Hardcore-Fetisch-Comics, die teilweise sehr pornografisch sind und auch immer wieder mit den Behörden in Konflikt geraten, denn in Japan gibt es ein Zensurgesetz. Auf der anderen Seite gibt es dort sogenannte „Boys Love Comics“, sehr verträumte Jugend-Comics, die an Seifenopern erinnern, aber nicht viel mit Schwulenkultur zu tun haben. Sie werden häufig von jugendlichen Mädchen gelesen und fast nur von Frauen geschrieben. „Schwule Comics“ stellen eigentlich kein eigenes Genre dar, sondern sind eher ein Thema, das in jeder Stilform vorkommen kann.

Wie ist es mit Mainstream-Comics wie Donald Duck?

In Entenhausen tauchen ganz viele Onkel und Neffen auf, die Familienverhältnisse sind relativ unklar. Deswegen gibt es immer wieder Mutmaßungen, ob die nicht alle schwul sind. Das finde ich lustig, das hat ein bisschen was von Promi-Klatsch. Ich glaube aber, dass Entenhausen eine sexfreie und sexualitätsfreie Zone ist. Oder bei Batman: In einer Episode aus den Fünfzigern liegen Batman und Robin zusammen im Bett. Da fragt man sich natürlich auch, was das zu bedeuten hat. Es gibt ja auch ein paar schwule Superhelden.

Zum Beispiel?
Es gab mal einen Relaunch von Green Lanterns Universum, da wurde er als Schwuler definiert. Die beiden großen amerikanischen Comic-Häuser, DC und Marvel, sind relativ offen geworden. Der erste schwule Superheld, der sich im Comic geoutet hat, war Northstar 1992. Der hat dann Jahre später als Teil der Astonishing X-Men seinen Freund heiraten dürfen. Auf dem Cover! Entweder war das eine bewusste Platzierung fortschrittlicher Gedanken. Oder eine gelungene PR-Aktion.



                        Markus Pfalzgraf

In der Debatte um Hitzlsperger wird unter anderem kritisiert, dass nur über schwule Männer diskutiert wird, nicht über lesbische Frauen...
Das ist in meinem Buch auch so. Ich interessiere mich sehr für Frauen-Comics, aber dafür bräuchte man ein neues Buch. Ich sehe es als generelles Problem, dass Lesben in der allgemeinen Diskussion um Homosexualität immer ein bisschen zu kurz kommen. In der Comic-Welt könnte die Wahrnehmung sicher auch noch stärker sein, aber es gibt ein paar Beispiele. Da muss ich nochmal Alison Bechdel nennen, die ihre Karriere mit den Comic-Strips „Dykes to Watch Out For“ begonnen hat, in denen sie die amerikanische Lesbenszene porträtiert und karikiert hat, wie Ralf König das in Deutschland mit der Schwulenszene gemacht hat. Ihr Werk „Fun Home“ hat sich sehr gut verkauft und renommierte Preise gewonnen, auch aus dem gewöhnlichen Literaturbetrieb. Das zeigt für mich, dass es Frauen gibt, die sichtbar sind, das finde ich sehr wichtig.

Wie ist es mit Bi- oder Transsexualität?
Es gibt einen Trans-Comic, den ich sehr großartig finde: „Anarcoma“, ein spanischer Comic von einem Zeichner namens Nazario, der schon während des Franco-Regimes angefangen hat, sehr subversive Comics zu zeichnen. Er hat eine sehr interessante Comic-Welt geschaffen: Es geht um eine Trans-Detektivin, die sehr bewusst und spielerisch ihre wechselnde, uneindeutige Identität ausspielt. Das Ganze geschieht in so einer Art idealen Unterwelt, in der fast alle Figuren eine Nicht-Hetero-Identität haben, und das eine völlige Normalität darstellt. So eine Art subkulturelles Utopia der sexuellen Identitäten.

Welche Länder sind Vorreiter, wenn es um sexuelle Vielfalt in Comics geht?
Ich habe länger in den Niederlanden gelebt, dort gibt es mehrere schwule Zeichner, die ich kenne, die auch auf dem großen Mainstream-Markt erfolgreich sind. Da scheint es völlig akzeptiert und normal zu sein. Theo van den Boogaard hat sich schon recht früh getraut, Homosexualität in seine Comics einfließen zu lassen. Er hat in den Sechzigern mit Underground-Comics angefangen, heute kennen fast alle Niederländer seine Figuren. Und dann hat er irgendwann auch mal homosexuelle Figuren dargestellt, ohne dass das groß Aufsehen erregt hätte. Es war natürlich anfangs schwierig, aber er hat es geschafft, das in den Comic- und Literatur-Mainstream einzubringen. Jetzt gibt es eine Reihe von jungen niederländischen Zeichnern, die davon profitieren. Die Hauptfigur des Zeichners Flo heißt auch Flo und ist sehr autobiografisch angelegt. In den Geschichten spielt Homosexualität eine selbstverständliche Nebenrolle, sie schwingt immer mit, aber wird nie das Hauptthema.  

Vielleicht ist das Geheimnis?

Ja, das ist eine ganz unaufgeregte Art damit umzugehen, die zum Beispiel Flos Comic auch sehr kompatibel für den großen Markt macht. Das könnten Schulen und der Fußball von Comics lernen: eine Gelassenheit und einen normalen unaufgeregten Umgang. Keine überdrehte Diskussion, in der sich alle mit Respekt überschlagen.

Stripped - A Story of Gay Comics ist im Bruno Gmünder Verlag erschienen.

Wenn das Herz schmerzt

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Natürlich darf "Privates privat bleiben". Da haben wir Verständnis mit François Hollande, der dies am Dienstag in einer Pressekonferenz forderte, die sich eigentlich mit Finanzpolitik beschäftigen sollte, stattdessen aber von Fragen nach dem Beziehungsstatus des Präsidenten zerlöchert wurde. Bloß hat seine Lebenspartnerin Valerie Trierweiler das "Private" mittlerweile selbst öffentlich gemacht: In einem Interview erzählte sie einem befreundeten Journalisten en detail von der Szene, in der sie Hollande wegen der Gerüchte um seine angebliche Affäre mit einer Schauspielerin zur Rede stellte. In einem vertäfelten Saal des Elysée-Palastes habe es stattgefunden, er habe seine Untreue sofort zugegeben. Sie selbst, fährt Trierweiler in den Interview fort, fühle sich seither "wie von einem TGV überrollt".

Dass es sich dabei um eine glaubwürdige Zustandsbeschreibung von Trierweilers Gefühlshaushalt handeln dürfte, kann man daran ablesen, dass die Première Dame seit Freitag wegen eines „schweren emotionalen Schocks“ in einem Krankenhaus behandelt wird. Sie wird dort noch mindestens eine Woche bleiben.



Autsch.

Diese Nachricht hinterlässt wohl in jedem, der schon mal betrogen, verlassen oder anderweitig liebesmäßig schwer verletzt wurde, tiefes Mitleid. Denn wer kennt nicht den trüben, zähen Schmerz, den Liebeskummer in uns auslöst? Das Gefühl, dass jedes noch so leckere Essen seinen Geschmack verloren hat? Dass der Bauch sich zur Faust ballt und die Wirbel im Rücken plötzlich nicht mehr zu passen scheinen? Und wer hätte sich mit frisch kaputtgetrampeltem Herz nicht schon mal am liebsten in ein Krankenhaus eingeliefert, in dem es Heilung von diesen Symptomen gibt?

Liebeskummer, wie ihn offenbar gerade die arme Madame Trierweiler erlebt, hat mitunter durchaus auch drastische körperliche Folgen. Das Herz geht zwar in den seltensten Fällen tatsächlich zu Bruch, aber die Kardiologie kennt tatsächlich ein "Broken-Heart-Syndrom", das unter anderem von akutem seelischen Stress verursacht wird.

Der Ticker ist heute eine Herzschmerz-Sprechstunde: Wirkt sich Liebeskummer bei dir auch körperlich aus? Welche Symptome hast du schon erlebt, Magenkrämpfe, Migräne, Übelkeitsattacken? Und natürlich: Was hilft dir dagegen? Yoga, Tee, Tanqueray?

Wenn Wörter plötzlich böse werden

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Sozialtourismus ist das Unwort des Jahres 2013. Die Aktion "Unwort" rückt die Begriffe ins Zwielicht unserer Gesellschaft.

Auch die Wörter haben ihre Schicksale. In Österreich etablierte sich 1953 der „Verband für Sozialtourismus“. Was er wollte, sagte sein Name: einkommensschwächeren Familien eine günstige Sommerfrische ermöglichen. 60 Jahre danach ist Sozialtourismus zum Unwort des Jahres 2013 geworden, zu einem Wort also, mit dem man sich nur noch in den Hinterzimmern der Sprache und Moral vernehmen lassen kann. Die Jury begründet ihre Wahl gesellschaftskritisch. Mit dem Ausdruck Sozialtourismus werde gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer gemacht. Das Vergnügliche am Grundwort Tourismus werde durch das Bestimmungswort Sozial pervertiert, um Menschen, die aus Not eine bessere Zukunft suchten, zu diskriminieren.

Lässt man die bisher aufgelaufenen Unwörter an sich vorüberziehen, wird einem fast übel. Es begann mit ausländerfrei (1991), ethnische Säuberung (1992) und Überfremdung (1993), machte mit Peanuts (1994) einen Schlenker ins vermeintlich Lustige, scherte mit Rentnerschwemme (1996), Wohlstandsmüll (1997), sozialverträgliches Frühableben (1998) und Kollateralschaden (1999) aber rasch wieder in die Fahrspur unserer alltäglichen Widerwärtigkeiten ein. Der national befreiten Zone von 2000 folgten ein Jahr später die Gotteskrieger, eine Öffnung aus der Provinz zur Welt, die freilich auch niemanden erfreute.

Dank der Aktion „Unwort des Jahres“ hat sich eine der Nuancen des Begriffs Unwort derart vorgedrängt, dass sie heute als die einzige verstanden wird: das Unwort als böses Wort und also auch Ausdruck einer bösen Gesinnung. Es steht im grellen Scheinwerfer-Licht der Moral, alle anderen Bedeutungen verbergen sich im Schatten dahinter. Justus Georg Schottelius zum Beispiel verwendet den Terminus Unwort für ein neues Wort, das „auch für Gold und Geld“ nicht erkauft werden könne. Justinus Kerner berichtet im „Bilderbuch aus meiner Kindheit“ von einer Irren, die außer „Ririroldidi“ nichts hervorbringt und „dieses Unwort immerwährend in gleicher Modulation“ singt. Rudolf Hildebrand schließlich bezeichnet in dem Traktat „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule“ von 1868 das Wort Kleinkinderbewahranstalt als Unwort, aber nicht aus pädagogisch-moralischen Erwägungen, sondern weil es nie erfunden worden wäre, wenn es der, der es in die Welt setzte, vorher nur einmal ausgesprochen hätte.

Es überrascht nicht, dass sich auch Arthur Schopenhauer des Unworts mit Ingrimm angenommen hat. In der Abhandlung „Ueber die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der Deutschen Sprache“ berichtet Schopenhauer, dass er das Wort Uebervortheilung durch Vervortheilung ersetzt gesehen habe. Hier seine Tirade dazu: „Also schafft der Sudler ein Unwort, um einen Buchstaben zu lukriren: so weit geht der Wahnsinn! Die deutsche Sprache ist in Gefahr: ich thue was ich kann, sie zu retten; bin mir aber dabei bewußt, daß ich allein stehe, einer Armee von 10,000 Narren gegenüber.“

Mit dem Verb lukrieren (gewinnen) hätte Schopenhauer heutzutage gute Aussichten, zum „Sprachpanscher des Jahres“ ernannt zu werden. Es ist dies eine der vielen Konkurrenzen, die auf dem Feld der Sprache seit Jahren reiche, oft auch seltsame Ernten bringen. Der „Sprachpanscher“ ist unüberhörbar ein Negativpreis, vergleichbar dem „Goldenen Windbeutel“, den der Verein Foodwatch an Lebensmittelhersteller vergibt, bei denen zwischen Qualitätsversprechen und tatsächlicher Qualität ein allzu tiefer Graben verläuft. Als positiv gelten, mögen sie gleich unter der Hand von Sprachfreunden der strengen Observanz verlacht werden, Preise wie der für das „Jugendwort des Jahres“, der in Babo, Yolo oder Swag Beispiele sprachlicher Kreativität und Originalität sieht.

In die Welt dessen, was man neuerdings unter der Rubrik „gefühlt“ ablegt, führte 2004 der Wettbewerb „Das schönste deutsche Wort“. Sieger wurden die Habseligkeiten, und zwar wegen der darin vermuteten Seligkeit. Das löste einigen Spott aus, weil die Jury nicht gewusst zu haben schien, dass hinter den Habseligkeiten das versunkene Wort Habsal steckt, das an Labsal sowie, fatal genug, an Trübsal erinnert. Da man schon einmal so weit war, brach man auch noch ein Ringen um das schönste bedrohte Wort vom Zaun. Sieger wurden die Wörter Kleinod, blümerant und Dreikäsehoch, als ersten Preis gab es einen von der Künstlerin Laura Kikauka (Ontario/Berlin) als Unikat gestalteten Käseigel. Und wieso Käseigel? Nun, er gehört zusammen mit dem Augenstern, dem Schlüpfer oder dem Schabernack zu den schönen, aber vom Aussterben bedrohten Wörtern.

Das „Unwort des Jahres“ wurde 1991 von dem Frankfurter Germanisten Horst Dieter Schlosser begründet und war organisatorisch zunächst bei der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) beheimatet. 1994 wurde die Aktion „institutionell unabhängig“. Das hört sich schön an, verdeckt aber einen unschönen Knatsch. 1993 wurde Überfremdung zum Unwort des Jahres gewählt, auf dem zweiten Platz landete der Kollektive Freizeitpark, ein Wort Helmut Kohls, das allgemein als Vorwurf kollektiver Drückebergerei aufgefasst und von der Jury als „unangemessene Pauschalierung der sozialen Situation“ gewertet worden war. Der GfdS wurde daraufhin aus dem Kanzleramt zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht so deutlich in den Dienst der Linken stellen solle, ein Wink, den man bei einer finanziell vom Bund abhängigen Institution nicht ignorieren konnte. Die GfdS ließ zwar wissen, dass keinerlei Druck ausgeübt worden sei, war aber auch nicht böse, als Schlosser sein Sprachbesteck einpackte und sich selbständig machte. Bis 2010 war er Sprecher der Aktion; deren Geschäfte führt seither die Germanistin Nina Janich von der TU Darmstadt.

Wer sich weit aus dem Fenster hängt, bekommt Wind von vorn. Die Unwort-Jury hat dies oft erfahren. Als sie die Ich-AG zum Unwort 2002 kürte, musste sie sich von der Zeit sagen lassen, sie prügle den Esel der Sprache, damit sie den Sack, den dieser trägt, unaufgeschnürt lassen könne – als ob das Aufschnüren sozialpolitisch verdächtiger Säcke Sache eines der Sprachsensibilität verpflichteten Gremiums sei. Ein vertracktes Lob spendete die Welt. Sprachkritiker, schrieb Peter Dittmar, seien eine besondere Spezies: „Sie schonen ihren eigenen Daumen nicht, wenn sie mit dem Hammer ihrer Sprachwut den Nagel ihres Unmuts zu treffen trachten.“

Der Verband für Sozialtourismus hat sich vor Jahren in „Sotour Austria“ umbenannt. Ob er den Hammer der Sprachwut auf sich zukommen gesehen hat?

Die Scheinheiligen

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Sozial Benachteiligten helfen, dafür aber Gewinne einstreichen. Ist das moralisch verwerflich?

Das Leben genießen und gleichzeitig die Welt verbessern, wäre das nicht großartig? Bier trinken und die Umwelt schützen zum Beispiel. Was spricht denn schon dagegen, sich einen Kasten Bier von einer Brauerei zu kaufen, die einen Teil des Erlöses zum Schutz des Regenwaldes weiterreicht? Ein Feierabendbier für den guten Zweck, da ist doch allen geholfen, dem Biertrinker, der Brauerei, dem Regenwald. Und was ist verwerflich daran, bei einer riesigen Bekleidungskette ein paar schöne und günstige Stücke zu erwerben, wenn die Firma die Hälfte des erzielten Gewinnens für soziale Zwecke investiert? Auch von diesem Arrangement profitieren alle Beteiligten.

Doch so einfach ist die Sache nicht, denn unter gewissen Umständen provozieren derartige Angebote heftige Ablehnung. Dann ist die Rede von moralischem Ablasshandel, von Augenwischerei oder von perfiden Versuchen der Firmen, sich zum Schein von Verfehlungen reinzuwaschen.

Menschen urteilen gnadenlos. Wer eine gute Tat vollbringt und gleichzeitig selbst davon profitiert, steht manchmal ziemlich schlecht da. Schlechter zum Beispiel als jemand, der nur aus Eigennutz handelt und niemandem etwas Gutes tut. An Helfer stellen Menschen die höchsten Ansprüche, sie haben Heilige ohne Fehl und Tadel zu sein. Spielt aber Eigennutz eine Rolle, entwertet das die sonst unbestreitbar positiven Konsequenzen einer Handlung. „Besudelter Altruismus“ taufen George Newman und Daylian Cain von der Yale University diesen Umstand, den sie im Fachblatt Psychological Science (online) beschreiben.

Die Wissenschaftler beobachteten den Effekt in mehreren Versuchen, in denen sie ihre Probanden jeweils verschiedene Szenarien bewerten ließen. Zum Beispiel dieses: Ein Mann hat sich in eine Frau verliebt. Um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, leistet er einige Stunden freiwillige Hilfe an ihrer Arbeitsstätte. In einer Version arbeitet die Angebetete in einem Café, in der anderen in einem Obdachlosenheim. Die Psychologen betonten in beiden Fällen, dass der Mann aus eigennützigen Motiven handelte, er wollte die Aufmerksamkeit der Frau gewinnen. Die Probanden in der Studie von Newman und Cain urteilten unerbittlich: In einem Obdachlosenheim zu helfen, um sich an eine Frau ranzuwanzen, sei verwerflich und auf jeden Fall moralisch fragwürdiger, als in gleicher Absicht ohne Lohn in einem Café zu arbeiten. Dass in einem Fall Obdachlose vom Werben des verliebten Mannes profitieren und in dem anderen nicht? Geschenkt, das ignorierten die Probanden.

Sind das womöglich nur abstrakte Studien, die fern dem Leben an irgendwelchen Universitäten virtuelle Welten erkunden? Der Einwand liegt auf der Hand, greift in diesem Fall aber nicht: Die Forscher ließen auch reale Szenarien bewerten. In den USA geriet zum Beispiel vor einigen Jahren ein Mann namens Daniel Pallotta ins Fadenkreuz der öffentlichen Empörung. Pallotta organisierte Wohltätigkeitsveranstaltungen. Bei diesen Ereignissen wurde zum Beispiel Geld für die Erforschung von Aids und anderen Krankheiten sowie für die Entwicklung neuer Brustkrebstherapien gesammelt. Auch andere soziale Initiativen wurden unterstützt. Binnen neun Jahren beschaffte Daniel Pallotta auf diese Weise 305 Millionen Dollar für gute Zwecke. Als sich jedoch die Aufmerksamkeit darauf richtete, dass Pallottas Firma profitorientiert arbeitete und er selbst ein Jahresgehalt von 400000 Dollar bezog, entlud sich ein Sturm der Entrüstung. Die Firma ging pleite, und viele der wohltätigen Organisationen, für die Pallotta gearbeitet hatte, mussten in der Folge ihre Budgets erheblich kürzen.

Von wegen Win-win-Situation: „Menschen verurteilen schon den Versuch, von wohltätigen Aktionen zu profitieren“, schreiben Newman und Cain. Logisch betrachtet ist das absurd. Doch als die Probanden der Psychologen Szenarien bewerteten, die dem Handeln von Daniel Pallotta nachempfunden waren, äußerte die Mehrheit moralische Entrüstung. Vor die Wahl gestellt, befürworteten viele lieber eine kleinere Spendensumme, wenn nur die Belohnung einer Figur wie dem Charity-Organisator Pallotta geringer ausfiel.

Aber warum? Mehr Geld für einen guten Zweck ermöglicht doch mehr Hilfe, egal wer sonst profitiert? Der Effekt ergebe sich aus den Vorstellungen, die bei Menschen aktiviert werden, argumentieren die Psychologen. Wer ein rein eigennütziges Ziel verfolgt, lenkt die Aufmerksamkeit gar nicht erst darauf, dass er auch Gutes tun könnte. Wer aber aus Eigennutz Hilfe leistet, aktiviere bei Beobachtern die Frage, ob er auch ohne persönliche Motive geholfen hätte, so die Psychologen. Und die meisten Menschen haben daran ernste Zweifel. Wenn also eine Firma 100 Prozent ihres Gewinnes einstreicht, findet niemand etwas daran. Spendet sie aber die Hälfte des Profits, dann könnte das die Frage provozieren, warum sie die anderen 50 Prozent behält. Ist die Firma gierig? Will sie sich reinwaschen? Menschen urteilen ungnädig, und Hilfe aus falschen Motiven ist unerwünscht.

Ein Netz für alles

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Das Smartphone spielt den Weckruf schon um 5.30 Uhr statt wie sonst erst um 6. Denn auf der Autobahn hat es einen Unfall gegeben, alles staut sich auf dem Weg zur Arbeit. Der Kaffee ist trotzdem schon fertig und duftet ins Bad hinüber. Und just in dem Moment, in dem man die Küche betritt, kommt der Morgentoast – nicht zu hell, nicht zu dunkel – aus dem Toasterschlitz.

So könnte sie aussehen, die neue, vernetzte Welt, das Internet der Dinge. Eine Welt, in der Haushaltsgeräte, das Smartphone und das Auto miteinander kommunizieren. Das Internet der Dinge soll dem Menschen das Leben leichter machen. Aber es birgt – das ist die Kehrseite – auch die Gefahr, dass der Mensch noch mehr Spuren hinterlässt und diese legal gesammelt oder illegal abgefischt werden.

Noch steht diese umfassende Vernetzung erst am Anfang, doch kleine Start-up-Firmen genauso wie die Branchenriesen Cisco oder Intel tun alles, um vorne dabei zu sein. Der Datenriese Google tut es auch: Der Internetkonzern will, nachdem er den Einstieg in die sozialen Netzwerke verschlafen hat, nicht noch einen zweiten großen Trend verpassen, und deshalb hat Larry Page, der Mitgründer und Vorstandsvorsitzende, nun die stolze Summe von 3,2 Milliarden Dollar für eine Start-up-Firma namens Nest hingelegt – für ein Unternehmen also, das vernetzte Heizkörperthermostate und Rauchmelder entwickelt.

Was, bitte schön, will Google mit einer Firma, die solch profane Dinge herstellt?

Nest wurde vor gut drei Jahren von zwei ehemaligen Apple-Führungskräften gegründet: Tony Fadell und Matt Rogers gehören zu den Vätern des iPods, jenes transportablen Musikspielers, der das Genre zwar nicht erfand, aber den Maßstab setzte und somit zum Inbegriff der gesamten Gerätekategorie wurde. Nest Labs zählt zu jenen Unternehmen, die daran arbeiten, dass nicht nur Computer und Telefone permanent mit dem Internet verbunden sind, sondern auch Alltagsgegenstände bis hin zum Feuermelder.



Google übernimmt Nest, eine Firma, die digitale Thermostate herstellt. Der Internetriese plant immer mehr Haushaltsgeräte miteinander zu vernetzen.


Der jüngste Wurf der beiden Firmengründer hat durchaus das Zeug dazu, in die Fußstapfen des Musikspielers zu treten. Denn das Thermostat verfügt wie das iPod über ein bemerkenswert einfaches Nutzungskonzept, und es ist zudem in ein hübsches Gehäuse verpackt.

Die Idee dafür kam Fadell beim Versuch, sich am Gebirgssee Lake Tahoe im Grenzgebiet zwischen Kalifornien und Nevada ein energiesparendes Zuhause einzurichten. Er wunderte sich über das magere Angebot an Thermostaten. Dabei käme, so seine Meinung, den Temperaturreglern im Haushalt eine Schlüsselrolle zu, zumal in einer Zeit, in der Energie immer teurer wird. Deshalb entwickelte Fadell mit Rogers ein eigenes Thermostat.

Heraus kam ein intelligentes Ding, das selbst weiß, wann es die Temperatur senken muss, weil der Besitzer gerade nicht zu Hause ist oder schläft. Das etwa 250 Dollar teure Gerät lernt jedes Mal dazu, wenn man es von Hand einstellt. Nach gut einer Woche regelt es die Sache alleine und lernt auch künftig weiter dazu, auch übers Netz. Denn das Thermostat lässt sich auch per Smartphone steuern und ist permanent an das Internet angeschlossen.

Angesichts des Designs und der leichten Bedienbarkeit fragt sich nicht bloß der amerikanische Technik-Blogger Om Malik, warum eigentlich Apple die verlorenen Söhne Fadell und Rogers nicht heimgeholt hat. Dass stattdessen Page und Google den Zuschlag erhielten, kann man daher auch als Coup gegen den Erzrivalen Apple sehen.Schließlich hat Apple stets der Philosophie gehuldigt, dass Hard- und Software am besten zusammenpassen, wenn sie aus einem Unternehmen kommen.

Diese Philosophie steckt nun auch hinter Googles Vorstoß. Als der Konzern die Mobilfunksparte von Motorola übernahm, vermuteten noch viele, Google sei es vor allem um die zahlreichen Patente gegangen, die der Mobilfunk-Pionier hortet. Das spielte sicher auch eine Rolle. Aber wie sich jetzt zeigt, sieht sich auch Google längst nicht mehr als reines Software-Unternehmen. Dieselbe Entwicklung macht gerade auch Microsoft durch. Der gewaltige Konzernumbau, den der scheidende Vorstandsvorsitzende Steve Ballmer angestoßen hat, hat auch mit der Wandlung von Microsoft zu einem Hersteller von Soft- und Hardware zu tun.

Während Microsoft und Apple ihre Produktlinien aber nur erweitern, expandiert Google in eine Vielzahl von Gebieten. Erst Mitte Dezember erwarb man die Roboterfirma Boston Dynamics; die Ausgründung aus einem Projekt des Massachusetts Institute of Technology war bereits die achte Firma aus diesem Bereich, die ins Google-Imperium eingegliedert wurde. Weit vorne ist der Konzern auch bei selbst fahrenden Autos. In einigen US-Bundesstaaten dürfen die Google-Cars bereits das normale Straßennetz benutzen.

Solche Ideen, die man als Internet der Dinge bezeichnet, sind keineswegs neu. Neu ist aber, wie sich zum Beispiel auf der kürzlich zu Ende gegangenen Technikmesse CES in Las Vegas gezeigt hat, dass dieser Prozess der umfassenden Vernetzung nun Gestalt annimmt. Autohersteller sind auf der CES mittlerweile wie selbstverständlich vertreten, vernetzte Geräte zur Überwachung von Körperdaten und Fitness füllten schon fast eine gesamte Halle.

Dabei wurde über vieles diskutiert, über eines aber erstaunlich wenig: Was es bedeutet, wenn immer mehr Geräte ihre Datenspuren hinterlassen und viele davon bei einer einzigen Firma wie etwa Google zusammenlaufen. Schon mit den Informationen, die man heute beim Surfen im Internet hinterlässt, lassen sich aussagekräftige Personenprofile erstellen. Je mehr Daten aber dazukommen, umso detaillierter wird unser digitales Abbild – und auch das Abbild unseres Zuhauses.

Mit jetzt.de zu Marteria

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Es kann wehtun, wenn die Freunde nicht nur volljährig, sondern plötzlich auch demonstrativ erwachsen sind. „Alle haben ’nen Job, ich hab Langeweile – keiner hat mehr Bock, auf Kiffen, Saufen, Feiern.“ Marten Laciny alias Materia ist mit 31 jetzt genau in dem Alter, in dem sich diese Verwerfungen für gewöhnlich zum ersten Mal auftun: Zwischen denen, die plötzlich leben wie Erwachsene und denen, die darüber traurig sind. Marterias Single „Kids“ handelt genau davon. Es ist der erste und sehr vielversprechende Vorgeschmack auf das neue Album, das Ende des Monats erscheint.

Bevor er dann auf große Deutschland-Tour geht, kommt er für ein Minikonzert nach München: am 22. Januar spielt er exklusiv vor 150 Gästen im Strøm. Und weil er für die Aufnahmen seines Albums ganz schön auf der Welt rumgekommen ist, zeigt er auch noch private Fotos und Videos von seiner Reise. Präsentiert wird der Auftritt von EgoFM, die Karten gibt es nirgends zu kaufen. Wir verlosen aber zwei mal zwei Tickets: Schicke einfach eine Mail mit deinem Namen, deinem Alter und deiner Telefonnummer an muenchen@jetzt.de. Teilnehmer müssen mindestens 18 Jahre alt sein.

Die Dorfschönheit

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Der Aushängedrink heißt „Ficken“, er kostet einen Euro und dass er zu wenig getrunken wird, liegt am wenigsten an seinem Namen. Es fehlt vor allem an Gästen. Die Olydisco, in der er ausgeschenkt wird, kämpft. Sie hat Geldsorgen. Und wohl auch abseits der Getränkeauswahl ein Imageproblem.
 



Im Lebenszyklus eines Clubs gibt es ziemlich genau drei Arten von Schwierigkeiten: hausgemachte, von außen herangetragene und solche, die sich dem Zeitgeist verdanken. Die Institution im Olympiadorf leidet unter allen drei. Weil sie ein Relikt ist aus einer Zeit, die schon länger vorbei ist. So ließe sich diese Geschichte jedenfalls erzählen. Aber es gäbe auch eine Alternativversion, die in etwa so geht: Die Olydisco war schon totgesagt und hat jetzt alle Chancen, länger zu leben. Weil sie ein Ort der Gemeinschaft in einer Zeit von Individualisten ist – und darin ein Sinnbild für das gesamte studentische Leben im Olympiadorf.
 
Das Studentenwohnheim dort ist eine kleine Stadt in der Stadt. In den 1052 Einzimmer-Bungalows und in beinahe noch einmal so vielen Einzimmer-Apartments im Studentenhochhaus wohnen seit gut 40 Jahren mehr als 2000 Studenten. Sie gestalten hier fast alles in kompletter Eigenregie. Der Verein der Studenten im Olympiadorf gilt als die größte studentische Selbstverwaltung Europas. Im Sommer steht hier in jeder Gasse ein Grill, Ameisenstraßen aus Studenten führen durch das Dorf und tragen Fleisch und Bier hin und her. Auf dem Marienplatz genannten Dorfplatz trifft man sich zu Fußballübertragungen oder Open-Air-Kino-Nächten.
 
Es gibt eine Töpferwerkstatt, einen Fotoclub, eine Dorfzeitung namens Dorfbladl, eine Holz- und eine Metallwerkstatt mit Werkzeugausleihe für die Studenten. Den „Grasauschuss“ genannten Grünanlagenausschuss, der im Frühling Blumenzwiebeln verteilt und Bepflanzungstipps gibt, aber auch Pflanzensitting anbietet, wenn jemand im Urlaub ist. Es gibt die Bierstube mit dem schönen gelben Leuchtschild aus den Siebzigerjahren. Ihre holzvertäfelten Wände strahlen Skihüttengemütlichkeit aus. Es riecht nach Schweiß, Braten und Knödelwasser und in der Ecke steht ein Kicker. Es gibt Musikproberäume und eine Kita.
 
Und es gibt Probleme. Vor allem mit der Olydisco. Einst stand sie für ausartende Studentenpartys, Weiterfeiern, wenn woanders längst Sperrstunde war, und war Kult. Zuletzt kannte man sie nur noch für den jährlichen Studentenfasching „Olympialust“. 2010 musste sie saniert werden und deshalb für zwei Jahre schließen. Im vergangenen Sommer veröffentlichte der Verein der Studenten im Olympiadorf, der auch die Disco betreibt, eine Pressemitteilung: Vom drohenden Ende des gesamten Vereins war darin die Rede. Man sei pleite, eine horrende Nebenkostennachzahlung für die sanierten Flächen der Bierstube und der Disco sei für den Verein nicht zu stemmen und das Studentenwerk wolle einem partout nicht unter die Arme greifen. Das wären also die Probleme, die von außen kommen.
 
Vielleicht auch die hausgemachten. Denn es soll sich bei ihnen vor allem um eine Menge Missverständnisse auf beiden Seiten gehandelt haben. Zumindest sagt man das heute offiziell so. Ende September fanden Neuwahlen des Vereinsvorstands statt, und bei Gesprächen mit dem Studentenwerk legte man sich auf eine für alle Seiten machbare Schuldenverteilung und neue Vorauszahlungen fest. Die neuen Verträge sind noch nicht unterschrieben. Aber dass die Olydisco oder gar der ganze Verein vor dem Ende stehe oder die Gemeinschaftsräume des Olympiadorfes in Gefahr seien, davon könne zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede mehr sein, erzählt Johanna Hansmann, Leiterin der Abteilung Studentisches Wohnen des Studentenwerks München. Jakob Lenz aus dem Vereinsvorstand ist da schon etwas kritischer: „Na ja, im Moment sind wir safe und hoffen alle das Beste, aber der Winter ist auch umsatzstärker als der Sommer, in dem viele auf Reisen sind. Ob wir es wirklich schaffen, wird sich erst im kommenden Jahr zeigen.“
 



Was „schaffen“ bedeutet, kann besser beantworten, wer sich schon länger im Verein engagiert: Domi, 25, Student der Tiermedizin etwa, oder Sebastian, 28, Maschinenbau-Student. Beide sind seit Jahren im Verein aktiv. Auch sie erzählen bei einem Bier in der an diesem Abend geschlossenen Olydisco eine Geschichte, die weniger mit dem bösem Willen des Studentenwerks zu tun hat als mit einem Sinneswandel im Studentenleben: „Was die vom Studentenwerk wollen, ist vor allem ein ordentliches Konzept und verlässliche Vereinsmitglieder“, sagt Domi. Genau damit aber sei es seit einigen Jahren immer schwieriger geworden.
 
In einer Zeit der Individualisierung, des wirtschaftsgetriebenen Bachelor- und Master-Systems und des Lebenslaufpflichtpunkts „Auslandsaufenthalt“ scheint der Gemeinschaftsgedanke unter Studenten plötzlich nicht mehr richtig zu funktionieren. Auslandssemester sind populärer denn je, die meisten Studenten bleiben längst nicht mehr drei Jahre am Stück in einer Stadt. Kaum ist jemand im Verein eingearbeitet, ist er auch schon wieder weg.
 
Und viele sind gar nicht erst bereit, sich überhaupt zu engagieren, erzählt Jakob Lenz: „In den Diplomstudiengängen war das noch anders, da haben sich die Leute einfach mal ein Semester frei genommen, um ehrenamtlich den Faschingspartyausschuss zu leiten oder in den Vorstand zu gehen. Im neuen System macht das kaum noch jemand. Keiner will mehr Zeit verlieren und es kann sich vor lauter Pflichtseminaren und der kurzen Studienzeit oft auch keiner mehr leisten.“
 
Das wären also die Probleme, die sich dem Zeitgeist verdanken. Vor allem die Disco leidet unter diesem Wandel. Ihr gehen die Besucher aus. Die urige Bierstube lieben die Dorfbewohner nach wie vor. Aber zum Feiern fahren sie seit geraumer Zeit lieber in die Stadt. „Ein Feierabendbier trinkt man halt am liebsten um die Ecke“, erklärt Sebi. „Dafür muss man nicht in die Stadt fahren, das schmeckt im Fraunhofer nicht besser als hier. Bei einer Clubnacht ist das anders.“
 
Die Disco sollte den Dorfbewohnern eine bequeme und günstige Feiermöglichkeit direkt vor der Tür sein, etwas ganz Eigenes, Studenten unter Studenten. Wie die Bierstube eben der Ort für das spontane Feierabendbier im eigenen Dorf ist, sollte die Disco der Ort für den spontanen Tanz im eigenen Dorf sein. Und in den Siebzigern und Achtzigern hat das vor allem auch deshalb funktioniert, weil es da noch ein kleineres Ausgehangebot in der Stadt gab. Und eine Sperrstunde. Schlossen überall anders um drei Uhr nachts die Türen, fuhr man raus in die Olydisco – wo keiner kontrollierte und man bis zum Morgengrauen weiterfeierte.
 



Diesen Vorteil hat sie längst verloren. Und sie kann auch nicht mit der Urigkeit oder Gemütlichkeit der Bierstube trumpfen. Die Bar des Clubs ist blau beleuchtet, um die Kasse ist ein Spritzschutz aus Plexiglas gebaut. Das Getränkeangebot wird auf Bildschirmen präsentiert. In der nebenan liegenden Lounge steht auf PVC-Boden und hinter Kunstledersofas und Yucca-Palmen eine Bar aus Bambusrohren. Die Wände sind mit einem Olydisco-Schriftzug bemalt, der ästhetisch an SMV-Zimmer einer Schule erinnert. Wer täglich im Netz mit den neuesten Trends aus der ganzen Welt konfrontiert wird, lässt sich eher nicht mehr mit improvisierter Baumarkt-Ästhetik abspeisen. Individualisierung züchtet Ansprüche. Ansprüche passen nicht gut hierher.
 
Fragt man die wenigen Gäste in der Disco, was sie hertreibt, sagen sie meistens: Zufall. Kannte ich vorher nicht, aber ein Freund von mir wohnt im Olydorf. Ein Mädchen sagt auf die Frage, was sie glaube, warum hier so wenig los sei: „Dieser JUZ-Style, das funktioniert nicht mehr.“
 
Das stimmt – zur Hälfte. Denn er kann sehr wohl funktionieren. Wenn man sich drauf einlässt. Das Bemerkenswerte ist zum Beispiel, dass immer jemand tanzt. Selbst wenn nur zwanzig Leute in der Disco sind, tanzen mindestens acht von ihnen. Und zwar ausladend. Sie machen Quatsch und lachen, werfen den Kopf in den Nacken und verrenken sich. Weil’s wurscht ist. Weil’s sich wahrscheinlich so anfühlt, als gucke überhaupt keiner zu. Ein Mädchen und ihr Kumpel führen auf der Tanzfläche gerade Choreografien auf, die man „Supermarkt“ nennt, oder „Discokugel“. Pantomimenartige Bewegungen. Eher ironisch. Laura, so heißt das Mädchen, kommt aus Nordengland. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt, aber Tom, der Junge, den sie hier besucht, wohnt in einem Bungalow. Sie landen derzeit recht oft in der Olydisco: Denn: „Hier ist so viel Platz zum Tanzen.“ Beim DJ kann man sich übrigens Lieder wünschen.
 
Nein, Avantgarde ist das nicht. Aber eben lustig. Entspannt. Was sicher auch mit dem kostenlosen Eintritt zu tun hat: Was für ein ungewohntes Gefühl, einfach mal reinspazieren zu können, ohne sich erst an der Tür beweisen zu müssen. Wo sonst Eintrittkassierer und Stempelmenschen sitzen, sind hier Studenten aus dem Disco-Auschuss und schenken einem ein nettes Lächeln und irgendwelches Knabberzeug – Chips, Salzstangen oder Gummibären. Man kann bei ihnen stehen bleiben und quatschen, ohne dass sich jemand wundert. Überhaupt wundert sich hier keiner über ein Gespräch, es dauert sowieso nur fünf Minuten, bis einen irgendwer anspricht. Und damit ist nicht Anbaggern gemeint. Wer Freunde für einen Abend sucht, findet sie hier sofort. Und zwar von überallher. Man hört viel Italienisch und Englisch, in allen Akzenten. Eine schöne Stimmung.
 



Damit die sich auch finanziell wieder trägt, soll ein neues Konzept den Laden wieder voller machen. Die Öffnungszeiten wurden bereits geändert. Samstags ist jetzt dicht, dafür ist am Mittwoch geöffnet. An diesem Tag verlassen weniger Studenten das Dorf und bleiben potenzielle Olydisco-Besucher. Der Verein zahlt jetzt keine Miete mehr für den ganzen Monat, sondern pachtet die Disco für bestimmte Tage. Nachdem man mit Themenabenden rumexperimentiert hat, etwa Metal-Partys, Hip-Hop-Veranstaltungen oder Electro-Nächten, hat man festgestellt, dass die Musikspezifierung nicht zieht. Sie spricht zu wenige Leute an. Der Verein will wieder zurück zum „Studentending“ – große, lustige Mainstreampartys machen, am besten mit einem Motto, bei dem es ums Verkleiden und Spaßhaben geht. Spaß, gemeint als Abkehr von Eitelkeit, Style-Diktat und andauernder Coolness: Das klingt nach einem echten Standortvorteil der Olydisco.
 
Und nach etwas, das schmerzlich vermisst würde, müsste der Laden tatsächlich schließen. Oder gar der ganze Verein. Es wäre das Ende einer Ära des Studentenlebens. Und darin sicherlich ein relativ natürlicher Tod. Einer, der dem Zeitgeist folgt. Vielen wäre es vermutlich egal. Und doch würde die Gemeinschaft fehlen. Die Mini-Spielstadt Olympiadorf, die doch genau das Richtige nach dem Auszug bei den Eltern ist: ein erstes Ausprobieren des echten Lebens, mit ziemlich viel Narrenfreiheit und ziemlich viel Sicherheit.
  „Der Verein ist wie die Familie des Dorfes, man setzt sich zusammen, überlegt sich etwas, trinkt etwas. Da kann man noch so viele Kontaktängste haben, hier findest du immer jemanden, sofort“, sagt Sebi und trinkt den letzten Schluck seines Biers aus. Kürzlich feierte ein Paar, das sich einst bei der Arbeit in der Bierstube kennengelernt hat, hier ihren 25. Hochzeitstag. „Man findet also nicht einfach nur Freunde.“ Sebi weiß, wovon er spricht. Auch er und seine Freundin haben sich hier kennengelernt und teilen sich mittlerweile einen Pärchenbungalow.

Wer wohnt wo?

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Ding der Woche: Der Lern-Galgen

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Gesünder als Ritalin ist es auf jeden Fall. Um nicht beim Lernen einzuschlafen, binden chinesische Schüler und Studenten ihre Haare mit Wäscheklammern an Mini-Wäschespinnen fest, die an der Decke befestigt sind. Wenn sie wegdösen und ihr Kopf vornüberkippt, soll der Schmerz sie wecken, so die Idee. Ganz ernst gemeint sind die Fotos, die in den vergangenen Tagen im Netz auftauchten, natürlich nicht, die ursprüngliche Absicht der Begründerin des Mems allerdings schon.  



Chen Tang

Chen Tang, 20, die an der Land- und Forstwirtschaftsuniversität in der Provinz Fujian studiert, hat, wenn sie bis spät nachts lernen muss, manchmal Probleme wach zu bleiben. Sie erinnerte sich an zwei berühmte chinesische Wissenschaftler, die der Legende nach schmerzhafte Mittel anwandten, um sich bei der Arbeit wachzuhalten: Einer stach sich immer, wenn er einzuschlafen drohte, selbst mit Nadeln, der andere band seine Haare an einem Balken fest. Nadeln waren Chen zu brutal, deswegen wollte sie das mit den Haaren versuchen. Weil sie keinen Balken zur Hand hatte, probierte sie es mit einer Mini-Wäschespinne.  

Ihre Mitbewohnerin fotografierte Chen dabei und veröffentlichte Bilder ihres „Clothes Hanger Hanging Hair“. „Das Lernen ist so langweilig, aber die Hanging-Hair-Technik macht es interessant und ich fühle mich wirklich viel dynamischer, wenn ich auf diese Art lerne“, sagte Chen der Daily Mail. Deswegen wolle sie den Trick ab sofort öfter anwenden.  

Mobile für durchgelernte Nächte  


Im Internet gibt es inzwischen eine ganze Reihe Fotos, auf denen Schüler und Studenten Chens Haar-Trick nachmachen. Auf den Bildern sieht man sie vor ihren Schreibtischen sitzen und lernen, schreiben oder rechnen – und dabei recht steif dasitzen, weil es bei zu viel Bewegung an ihren Haaren ziepen würde. Vermutlich nicht allzu fest. Die Wäschespinnenkonstruktionen, die aussehen wie Mobiles für Kinder, wirken nämlich nicht besonders robust. Vielleicht bindet eines der Mädchen deshalb gleich ihren ganzen Pferdeschwanz an die Decke.  

Gefährlicher sieht aus, wie Kurzhaarträger Chens Trick abwandeln:





Auf manchen Fotos legen Schüler und Studenten ihren Hals in Schlingen, die sie mit Schals und Tüchern von der Decke aus gezogen haben. Ein Junge hat noch eine andere Idee, um nicht einzuschlafen, die gesundheitlich unbedenklich, aber ziemlich eklig ist: Er schnuppert während er lernt immer wieder an einem Turnschuh.

Acht Stunden Schule, zwei bis vier Stunden Hausaufgaben  


Hinter dem offensichtlichen Witz steckt aber eine ernste Kritik. Besonders makaber ist das Galgenbild, an das die Tücher- und Schalkonstruktionen unvermeidlich erinnern. In China sind Acht-Stunden-Schultage normal. Plus vier Stunden Hausaufgaben. Immer wieder hört man von Schülern, die den enormen Druck nicht aushalten und Suizid begehen. Und von Ideen, irgendwie doch mit diesem Druck umzugehen.

Manche probieren Infusionen mit Kochsalzlösung, um mehr Energie fürs Lernen zu haben. 2012 wurden auf Facebook und Blogs Fotos von chinesischen Klassenzimmern geteilt, in denen Infusionsbeutel hängen. Während ihrer Abschlussprüfung soll Schülern intravenös Aminosäuren zugeführt worden sein. Das habe keine schädlichen Nebenwirkungen und wirke entspannend, zitiert Focus Online den Sprecher der Xiaogang-Oberschule in der Provinz Hubei.

Auch in Deutschland gibt es immer wieder Meldungen, dass Schüler und Studenten ihre Leistung mit künstlichen Hilfsmitteln steigern, zum Beispiel mit Ritalin, wobei die Wirkung – und die Nebenwirkungen sowieso – umstritten sind. In Amerika nimmt angeblich jeder vierte Student illegal das Medikament, das eigentlich für ADHS-Patienten bestimmt ist.  

Der Haar-Trick ist mit deutlich weniger Nebenwirkungen verbunden als das Doping mit Medikamenten und Infusionen. Und er hat noch einen zweiten Vorteil: Mit ihm lässt sich das Thema Leistungswahn ziemlich einprägsam bebildern. Der Antrieb, aus dem heraus man zu solchen Hilfsmitteln greift, ob zu Ritalin oder zur Wäschespinne, ist nämlich immer gleich schlimm.

Mama, Papa und die ewige Dankbarkeit

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Es ist mehr als 40 Jahre her, dass Vater und Sohn auseinandergegangen sind. Und jetzt soll der Sohn für den Vater 9000 Euro bezahlen. Und weigert sich.  

Könnte ein guter Filmplot sein, ist aber ein Fall, der diesen Mittwoch vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt wurde. 1971 verließ der Vater die Familie und brach den Kontakt so gut wie ab, gratulierte nicht zum Abitur des Sohnes, missbilligte seine Verlobung und enterbte ihn schließlich. Vor fünf Jahren bekam der Sohn Post vom Sozialamt, mit der Information, der Vater sei im Heim und er könne für die Kosten haftbar gemacht werden. Das ist jetzt, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, passiert. Der Sohn soll den Unterhalt nachzahlen. Das ist gar nicht so ungewöhnlich, denn Kinder können tatsächlich von der Sozialbehörde zur Kasse gebeten werden, wenn die Eltern mittellos im Heim leben (oder gelebt haben). Das Problem ist hier aber nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein moralisches, weil der Vater die Familie im Stich gelassen hat. Ist der Sohn dann trotzdem verpflichtet, zu zahlen?  





Der Paragraf 1611 des Bürgerlichen Gesetzbuches versucht, auch das zu regeln. Wenn der Unterhaltsberechtigte, also der Vater „seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht“ hat, muss der Sohn keinen Unterhalt für ihn zahlen. Ob das nun der Fall ist, muss der BGH entscheiden.  

Aber wie auch immer diese Verhandlung ausgeht, generell sagt das Gesetz erst einmal: Kinder sind verpflichtet, finanziell für ihre Eltern aufzukommen, wenn sie ihren Unterhalt nicht selbst bestreiten können. Andersherum scheint das logisch: Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder zu versorgen. Oft haben sie sich das ja sogar so ausgesucht. Aber Kinder haben sich niemals ausgesucht, auf die Welt zu kommen, und sie haben sich auch nicht für ihre Eltern entschieden. Andererseits sind auch ihre Eltern ebensolche Kinder, die sich nie entschieden haben, auf die Welt zu kommen. Wenn man das immer weiterdenkt, bekommt man einen Knoten in die Gehirnwindungen, durch den dann Gedanken über Familie und die Verpflichtungen, die mit ihr einhergehen, kreisen und kreisen und kreisen. Denn in Zeiten, in denen die traditionelle Familie immer mehr an Bedeutung verliert, sind diese Verpflichtungen nicht mehr so einfach zu bewerten wie früher, als man einfach kurz in den Zehn Geboten nachgelesen hat, um alle Zweifel zu beseitigen: Mutter ehren, Vater ehren, alles klar!  

Wie viel ist man seinen Eltern also schuldig? Klar, wenn man aus einer intakten Familie kommt, wird man sie allein aus Liebe und Zuneigung nicht im Stich lassen wollen. Aber denkt man da auch den Aspekt „Immerhin haben sie meine Klamotten und mein Essen bezahlt“ mit? Und wie ist es, wenn man eigentlich der Meinung ist, dass sie ihren Job gar nicht so besonders gut gemacht haben? Wenn sie zum Beispiel nur die Klamotten und das Essen bezahlt haben, aber es mit der Zuneigung nicht weit her war? Oder wenn sie einen gar ganz im Stich gelassen haben – muss man dann trotzdem für sie aufkommen? Finanziell? Oder sogar aktiv pflegend? Was denkst du?

Woodys letzte Reise

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Bruce Dern (li.) ist auf dem Weg, eine Million Dollar abzuholen, die ihm zustehen.

Breite Ausfallstraßen, riesige leere Parkplätze, auf Shoppingquader folgen Motelquader, auf Motelquader folgen Industriequader. Ein Billboard lockt: „Fragen Sie uns nach Immobilienkrediten!“ Allerdings fehlen ein paar Buchstaben darin, wahrscheinlich gibt es die Kredite und auch die Bank nicht mehr, und das Schild wurde einfach vergessen. Zu allem Überfluss muss man sich das, bitteschön, in Schwarzweiß vorstellen.

Es ist also bald keine Frage mehr, wohin die Reise hier geht. Wir sind im Land der Americana. Ein mythisches Land natürlich, das starke geografische Überlappungen mit den USA aufweist, mit diesen aber nicht identisch ist. Dies ist das Land der „Last Picture Show“, wo das Alte gerade stirbt und das Neue längst anderswo sein Glück sucht. Oder das Land der „Telegraph Road“, wo das Radio gerade Nachtfrost angekündigt hat. Oder das Land von Bruce Springsteen, der ja tatsächlich ein hochangesehenes No-Future-Album namens „Nebraska“ in seiner Diskografie hat. Genauso heißt jetzt dieser Film.

Die „dirty old tracks“, die durch die ehemalige, endlos flache Wildnis im Herzen Amerikas führen, sind nun allerdings auch schon reichlich ausgetreten. Jedes Mal, wenn Wirtschaftskrise herrscht, wandern neue Heerscharen von Künstlern und klagenden Troubadouren darauf entlang. Will man da also immer noch hin, um denselben alten, nostalgiegeschwängerten Song zu hören?

Das Erstaunliche ist: Man will. Und ganz besonders dann, wenn Alexander Payne der Wegbegleiter ist. In Filmen wie „About Schmidt“ und „Election“ hat dieser Sohn des Mittleren Westens bereits ein sanftes, untrügliches und auch sehr komisches Gespür für die Verlorenheit seiner Heimat gezeigt, die ja jederzeit in knallharte Vitalität umschlagen kann. Dorthin kehrt er jetzt – erstmals mit fremdem Drehbuch – zurück.

Ein alter Traum setzt das Geschehen in Gang: die Million Dollar, die eigentlich jedem rechtschaffenen Amerikaner zusteht. Bei Woody (Bruce Dern) liegt sie eines Tages einfach im Briefkasten, in seinem Haus in Billings, Montana. Eine Massendrucksache zwar, die aber doch eindeutig klarmacht: Er hat die Million gewonnen, jetzt muss er sie nur noch abholen. Und zwar in Lincoln, Nebraska, ungefähr 1500 Meilen entfernt. Woody geht auf die Achtzig zu, er spürt, dass ihm die Zeit davonläuft, aber dieses eine Mal in seinem Leben ist er wild entschlossen: Das zieht er noch durch. Schließlich möchte er seinen Kindern etwas hinterlassen.

Natürlich versuchen alle, ihm diesen Unsinn auszureden: Seine sehr resolute Ehefrau (June Squibb), die ohnehin immer sagt, was sie denkt. Seine beiden erwachsenen Söhne, die verzweifelt auf das Kleingedruckte verweisen und sagen, dass auf solchen Schwachsinn doch kein Mensch mehr hereinfällt. Es hilft aber nichts. Wahrscheinlich ist Woody geistig nicht mehr ganz auf der Höhe, ganz sicher hat er in seinem Leben zu viel getrunken – jedenfalls ist er von seinem Plan nicht mehr abzubringen. Und weil er den Führerschein schon vor Jahren verloren hat, zieht er immer wieder zu Fuß los. Als sein Sohn David ihn wieder einmal auflesen muss und ihm heftige Vorwürfe macht, stellt der Alte die naheliegende Frage: „Warum fährst du mich nicht einfach hin?“ Um dann noch verächtlich anzufügen, sehr Wichtiges könne David ja wohl nicht vorhaben, mit seinem miesen Job und ohne die Freundin, die ihn längst verlassen hat. Da hat Woody Recht – und also geht die Reise los.

Ein Roadtrip also, bei dem ganz zwangsläufig einige Erkenntnisse am Wegesrand liegen, anders kann es in diesem Genre ja gar nicht gehen. Es gibt eine kleine Familienzusammenkunft unterwegs, ein paar komische Verwicklungen, die mit Woodys angeblichem neuen Reichtum zusammenhängen, zwei stiernackige, halbkriminelle Neffen, kleine Enthüllungen aus der Vergangenheit, und so fort. Vor allem aber lernt David, der von dem „Saturday Night Live“-Komiker Will Forte pfeilgerade unauffällig und damit perfekt verkörpert wird, seinen Vater einmal richtig kennen.

Dabei sind nun ein paar große Momente für den schon immer hochrespektierten, aber nur selten wirklich geforderten Veteranen Bruce Dern drin. Mit wildzerzauster weißer Haarmähne, krachenden Hüftgelenken und ewigem Trotz im Blick spielt er einen Loser, der fast alles in seinem Leben eher halbarschig angepackt hat. So einer bleibt dann natürlich an der resolutesten Frau hängen, auch wenn die ihm das Leben zur Hölle macht, so einer senkt dann irgendwann nur noch den Blick, greift zur Flasche, wird eine Chiffre für – hier gewaltfreie – Impotenz.

Interessant ist aber, dass dieser Woody nicht die leiseste Nostalgie kennt. Gerührt steht sein Sohn irgendwann im halbverfallenen Geburtshaus des Vaters – dem aber bedeutet das überhaupt nichts. Er will nur noch dieses eine Ding durchziehen, das er jetzt, einmal im Leben, ganz für sich selber macht – so schwachsinnig es am Ende auch sein mag. Alles andere interessiert ihn nicht. So widersetzt sich der Alte nicht nur allen vernünftigen Argumenten, sondern auch dem großen Nostalgie-Imperativ des mythischen Amerika. Nie würde er auf die Idee kommen, dass früher alles besser war. Mit dieser Vorstellung kämpft eher der Sohn, der sich dabei auch fragen muss, ob er selbst schon unwiderruflich auf den großen Highway zur Impotenz eingebogen ist.

Die Empfangsdame in Nebraska, die sie bei der Absenderfirma der Massendrucksache schließlich dingfest machen, hat natürlich keine Million zu vergeben. „Hat er Alzheimer?“, fragt sie den Sohn mit Blick auf Woody. „Nein“, sagt David. „Er glaubt einfach, was die Menschen ihm sagen.“ Und die Antwort, die ihr dazu einfällt, lautet nur: „Oh, das ist blöd.“

Polen, Rumänen, Ungarn

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Auf einen der täglichen Linienbusse nach Rumänien warten Männer, Frauen und Kinder am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main. Viele, die hier einsteigen, pendeln regelmässig zwischen ihrer Heimat und einer Arbeitsstelle in Deutschland.

Der typische Zuwanderer war einst ein Türke, der bevorzugt ins Ruhrgebiet einwanderte, so wurde das zumindest wahrgenommen. In den 90er-Jahren fielen mehr und mehr Russisch sprechende Menschen in den Großstädten auf, die als Aussiedler kamen, während zuletzt eher die wachsende Zahl von Asylbewerbern aus Syrien, Afghanistan und Roma aus Serbien das Bild prägte. Tatsächlich müsste mittlerweile aber der Pole als Vorzeige-Einwanderer gelten. Jeder sechste Migrant stammt aus dem Land, polnische Handwerker, Spezialisten oder Pflegerinnen geben der Einwanderung nach Deutschland ein neues Gesicht. Zusammen mit Rumänen und Bulgaren. Deutschlands Zuwanderer werden immer europäischer.

Dies geht aus dem Migrationsbericht 2012 hervor, den am Mittwoch das Bundeskabinett verabschiedete. Demnach verzeichnete Deutschland 2012 eine Rekordzuwanderung von fast 1,1 Millionen Menschen – so viele wie seit fast 20 Jahren nicht mehr. Zieht man die Fortziehenden davon ab, so bleiben immer noch fast 370000 Zuwanderer übrig, auch das der höchste Wert seit 1995. Die Entwicklung angestoßen hat die Erweiterung der Europäischen Union um die Nachbarstaaten im Osten 2004 sowie um Rumänien und Bulgarien 2007. Viele nutzten die Freizügigkeit, um ihr Glück im Westen zu suchen. Das Reservoir an Arbeitskräften, das deutsche Firmen nun anzapfen können, scheint riesig zu sein. Seit dem EU-Beitritt der acht Nachbarländer 2004 (darunter Polen und Ungarn) ziehen jedes Jahr mehr EU-Bürger in die Bundesrepublik, zuletzt fast 700000. Trotz des jahrelang guten Wirtschaftswachstums in Osteuropa klaffen die Löhne weiter auseinander, wenn man in Bratislava oder Bukarest überhaupt einen Job bekommt.

Die Wirtschaftskrise treibt die Entwicklung zusätzlich an. Immer mehr Menschen kommen aus Krisenstaaten wie Spanien und Griechenland, wo etwa die Hälfte der jungen Leute arbeitslos ist. Dieser Trend hat sich laut Migrationsbericht fortgesetzt, es gab von 2011 auf 2012 einen enormen Zuwachs von Migranten aus Griechenland (plus 41,7 Prozent), Italien (37,2 Prozent) und Spanien (33,9 Prozent). Überholt haben die Südeuropäer die Ost- und Mitteleuropäer allerdings nicht.

Ein weiterer Faktor ist die steigende Zahl der Asylbewerber, 64500 registrierte man 2012. Die meisten Antragsteller kamen aus Serbien, gefolgt von Afghanistan, und Syrien. Das erklärt die vergleichsweise hohen Zuzugszahlen aus diesen Ländern. Inzwischen ist die Zahl nochmals deutlich gestiegen auf fast 110000 neue Asylbewerber im vergangenen Jahr.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) lenkte den Blick bei der Vorlage des Migrationsberichts allerdings auf die vielen Fachkräfte, die kommen. Der Bericht zeige, „dass die Weichen für den Zuzug von Fachkräften aus Drittstaaten richtig gestellt sind“. Deutschland sei für Zuwanderer attraktiv. Dreh- und Angelpunkt für Zuwanderung sei „die Integration der Menschen, die zu uns kommen“, erklärte de Maizière, wohl auch mit Blick auf die aktuelle Debatte um Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Für die gibt der Zuwanderungsbericht allerdings wenig her, er bestätigt nur bekannte Fakten: Unter Rumänen und Bulgaren sind Bitterarme nicht die Regel, allein 2012 kamen fast 46000 Rumänen, während insgesamt 13000 rumänische Bürger in Deutschland Hartz-IV-Leistungen bezogen. Die niedrige Zahl ändert allerdings auch nichts daran, dass diese Zuwanderergruppe eine Reihe von Kommunen und Stadtviertel vor Probleme stellt.

Trotz der offensichtlichen Attraktivität Deutschlands verlassen viele Menschen das Land. Deutsche ziehen bevorzugt in die Schweiz oder nach Österreich. Und der Treck aus der Türkei hat die Richtung gewechselt: 2012 zogen erneut mehr Menschen in die Türkei (gut 4000) als aus dem Land kamen. Der Türke, er ist das neue Gesicht des Auswanderers.

Flucht nach vorn

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François Hollande wirkt nach seiner Pressekonferenz im Élysée-Palast erleichtert.

François Hollande mag nicht von einer „Wende“ sprechen. Der Sozialist nennt seine politische Volte nach rechts, die Frankreichs Unternehmen nun neue Entlastungen in Höhe von mindestens 15 Milliarden Euro im Tausch gegen mehr Jobs verheißt, lieber eine „Beschleunigung“ seines bisherigen Kurses. Was zumindest in einer Hinsicht stimmt: Dem Präsidenten ist, nach Monaten in der Defensive, eine Flucht nach vorn gelungen. Konservative Opposition wie linke Gegner reagieren widersprüchlich und bisweilen verwirrt auf Hollandes Idee eines „Paktes der Verantwortung“ für mehr Beschäftigung. Aus Europa und Deutschland erntet der Präsident derweil wohlwollendes Lob.

Hollande hatte sich am Dienstagabend in einer Pressekonferenz im Élysée-Palast klarer denn je zu einem sozialdemokratischen Kurs bekannt. „Ich bin Realist, Reformer – aber vor allem Patriot“, erklärte der Präsident. Er rief alle Parteien, Arbeitgeberverbände sowie Gewerkschaften auf, eigene Interessen zurückzustellen und sich auf „einen großen sozialen Kompromiss“ einzulassen.

Konkret versprach Hollande, bis zum Jahr 2017 die geplanten Staatsausgaben um 50 Milliarden senken. Auf diese Weise hofft er Spielräume für Steuersenkungen unmittelbar vor der nächsten Präsidentenwahl zu gewinnen. Zudem stellte er den Unternehmen in Aussicht, deren Pflichtbeiträge in die öffentliche Familienkasse (jährlich etwa 35 Milliarden Euro) abzuschaffen. Um weiterhin das Kindergeld zu finanzieren, muss also die Regierung anderswo sparen – und offenbar will der Sozialist diese neue Entlastung mit einem bereits 2012 gewährten Steuernachlass zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit (20 Milliarden Euro) verrechnen. Den Arbeitgebern bliebe demnach eine Netto-Entlastung von nur 15 Milliarden Euro.

Während gemäßigte Politiker wie Jean-Louis Borloo, der Chef der zentristischen Oppositionspartei UDI, Hollande ihre Unterstützung anboten, reagierten prominente Vertreter der konservativen UMP überaus unterschiedlich. Jean-Francois Copé, der Vorsitzende der größten, innerlich jedoch zerstritten Oppositionspartei, tat Hollandes „Pakt der Verantwortung“ als „heiße Luft“ ab. Hingegen lobte der frühere Premier Jean-Pierre Raffarin die „Wende“ Hollandes: „Man muss anerkennen, dass sich sein Reden verändert hat – das ist ein sehr wichtiger Lernerfolg.“ Allerdings deutete Raffarin Zweifel an, dass die regierenden Sozialisten (PS) Hollandes Politik geschlossen umsetzen werden. Angehörige des linken Parteiflügels äußerten zwar Bedenken. Hollande mache den Arbeitgebern „sehr präzise Zugeständnisse“, während deren Gegenleistung – mehr Arbeitsplätze – „nur sehr vage“ seien. Die meisten PS-Abgeordneten und auch die Grünen stellten sich jedoch hinter den Präsidenten.

Premier Jean-Marc Ayrault plant offenbar, eine spätere Abstimmung über den „Pakt der Verantwortung“ mit der Vertrauensfrage für seine Regierung zu verknüpfen. Ätzende Kritik kam am Mittwoch von der extremen Linken. „Dies ist eine brutale Kehrtwendung nach rechts“, schimpfte Jean-Luc Melanchon. Der Ko-Präsident der „Parti de Guache“ hatte schon während Hollandes Auftritt per Twitter linke PS-Abgeordnete und die Gewerkschaften zum Bruch mit dem Präsidenten und zu Demonstrationen gegen dessen „Geschenke ohne Gegenleistung an die Unternehmer“ aufgerufen. Zwei linke Gewerkschaften kündigten Proteste an, während die gemäßigte CFDT an den Verhandlungen über den Pakt teilnehmen will.

Hollande hat angekündigt, er wolle im Rahmen seines Paktes exakte Ziele über die Zahl neuer Jobs und die Neueinstellungen etwa von Jugendlichen und Senioren festschreiben. Dies stieß bei den Arbeitgebern am Mittwoch auf Skepsis. „Man kann so etwas nicht juristisch festschreiben“, bemängelte der Chef des Arbeitgeberverbandes Medef, Pierre Gattaz. Vorige Woche hatte Gattaz erklärt, Frankreichs Unternehmer könnten „eine Million zusätzliche Arbeitsplätze“ schaffen – falls Hollande Steuern und Abgaben um jährlich 20 Milliarden senke. Am Mittwoch zeigte sich der Medef-Chef hingegen enttäuscht, dass Hollande die versprochenen Nachlässe bei der Familienkasse durch die Abschaffung von Steuerrabatten gegenfinanzieren will.

Ein positives Echo erntete Hollande aus dem Ausland. Ein Sprecher der EU-Kommission lobte Hollandes Pläne ebenso wie Außenminister Franz-Walter Steinmeier (SPD). Diese Reaktionen waren wiederum Wasser auf die Mühlen von Marine Le Pen, der Vorsitzenden des rechtsextremen Front National. Hollandes Kurs komme „einer Unterwerfung gegenüber Deutschland und Europa“ gleich.

Alle Welt im Klassenzimmer

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Der Junge mit der blauen Mütze startet die Stoppuhr. „You have fifty seconds“, ruft er seiner Mitschülerin zu. Gespannt sieht das Mädchen mit den braunen Locken ihren Lehrer an. „School uniform“ lautet der Begriff, den er ihr nennt und den sie nun auf Englisch erklären muss – bis die Zeit um ist. Wiederholungen, Räuspern oder Zögern sind nicht erlaubt. Es ist die letzte Woche vor den Ferien, und im Englischunterricht werden Spiele gespielt. Ein Stockwerk höher im Physikunterricht behandelt die Lehrerin mit ihrer Klasse die Atomkatastrophe von Fukushima – ebenfalls auf Englisch. Auch auf dem Pausenhof sind überall englische Wortfetzen zu hören. Doch das große Schulgebäude mit den roten Eingangstüren steht nicht etwa in Großbritannien oder den USA, sondern im Berliner Ortsteil Wilmersdorf.

Die Nelson-Mandela-Schule ist eine bilinguale Schule, die neben dem deutschen Abitur, das zum Teil in englischer Sprache absolviert wird, auch das englischsprachige „International Baccalaureate“ – eine Art internationales Abitur – anbietet. 1300 Schüler aus 53 verschiedenen Ländern lernen hier gemeinsam. Viele von ihnen sind Söhne und Töchter von Botschaftsangehörigen, Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und Wissenschaftlern oder haben Eltern, die für ihren Job in der Wirtschaft immer wieder den Standort wechseln. „Hochmobil“ ist das Wort, das Schulleiter Christian Nitschke für diese Familien verwendet. Ihre Kinder gehören einer von der Berliner Senatsverwaltung festgelegten „Prioritätengruppe“ an und werden bei der Aufnahme bevorzugt behandelt. Trotzdem will Nitschke den Eindruck einer Diplomaten- oder Eliteschule vermeiden: „Natürlich sind wohlhabende Eltern darunter, aber eben auch die alleinerziehende Mutter, die Hartz IV bezieht“, sagt er. Vielmehr betonen Lehrer, Eltern und Schüler die Vielfalt, die in der Einrichtung herrscht: „Wir sind eine Bindestrich-Schule. Viele hier haben gemischt-nationale Eltern und mindestens zwei Pässe“, erklärt Lutz Mannes, der pädagogische Koordinator.

Da ist zum Beispiel Sabrina Little. Die 17-Jährige wurde in Jakarta geboren, lebte acht Jahre in Kambodscha, kam 2005 nach Berlin. Bei ihrer Ankunft sprach das Mädchen mit den langen braunen Haaren Indonesisch und Französisch, wenig Englisch und kein Deutsch. „Die ersten drei Monate waren schwer, ich habe nichts verstanden“, erzählt sie. Heute würde man im Gespräch mit ihr nicht auf die Idee kommen, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. „Es war erstaunlich, wie schnell man hier Anschluss findet. Alle sind sehr offen, und keiner wird ausgeschlossen“, sagt sie. Ihre Klassenkameradin Kaja Glinska, die nach einem Austauschjahr in den USA an die Schule gewechselt ist, ergänzt: „Es ist faszinierend, dass alle hier so verschieden sind. Man lernt viel voneinander.“



Wer die Nelson-Mandela-Schule besucht, ist häufig daran gewöhnt, ein paar Jahre in einem und danach einige Jahre in einem anderen Land zu leben.

Weil aber Internationalität modern ist und die englische Sprache immer wichtiger wird, haben mehr und mehr Eltern den Wunsch, ihr Kind hier in den Unterricht zu schicken. „Schon bei den Schulanfängern übersteigen die Bewerberzahlen die vorhandenen Plätze bei Weitem“, sagt Schulleiter Nitschke. Um aufgenommen zu werden, müssen die Kinder einen Test durchlaufen, in dem ihre Englischkenntnisse bewertet werden. Schüler, die in eine höhere Klasse einsteigen wollen, sollen auch ihre akademischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Die Klassen sind meist schnell gefüllt – bis auf ein paar Plätze, die für Schüler aus den Prioritätengruppen freigehalten werden.

Wer einen der begehrten Plätze ergattert hat, weiß das durchaus zu schätzen. „Was mir vor allem gefällt, ist, dass es keinen Rassismus gibt“, erzählt der 15-jährige Hisham Nöhren aus Kenia. „Es wird einfach niemand gemobbt, weil jeder anders ist.“ Ein wenig traurig machen den Neuntklässler nur die Abschiede, die in der Schule regelmäßig auf dem Programm stehen. „Wenn die Eltern von einem Freund im Auswärtigen Amt arbeiten, muss der nach ein paar Jahren oft schon wieder gehen.“ Auch für die Lehrer, die ebenfalls aus allen Teilen der Welt stammen, birgt die Internationalität der Schule Herausforderungen. Denn wenn Schüler mitten im Schuljahr einsteigen oder aus einem anderen Schulsystem kommen, bringen sie sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit – sowohl sprachlich als auch akademisch. Einige Schüler, die nur eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben, haben teilweise kein großes Interesse daran, die Sprache überhaupt zu lernen. Um das aufzufangen, gibt es für jedes Fach „Teaching-Teams“ aus einem deutschsprachigen und einem eng-lischsprachigen Lehrer sowie einer Erzieherin, die zum Teil auch zu dritt im Unterricht anwesend sind. Die Hälfte der Fächer wird auf Englisch gelehrt, die andere Hälfte auf Deutsch. Nach der zehnten Klasse können sich die Schüler entscheiden, ob sie das deutsche Abitur machen – oder in das „International Baccalaureate“-Programm einsteigen, das hauptsächlich auf Englisch abgehalten wird. „Wir sind ein Schulversuch, ein Gedankenexperiment in Realität umgesetzt“, sagt Nitschke.

Dieses Experiment geht bereits in der ersten Klasse los. Einige Hundert Meter vom Hauptgebäude entfernt steht die Grundschule der Nelson-Mandela-Schule. Im ersten Stock sitzen die Erst- und Zweitklässler gemeinsam an Computern. In die Mäuler von bunten Haifischen müssen sie kurze Wörter auf Englisch eintippen. Auch hier zeigt sich, warum sich die Nelson-Mandela-Schule als eine Art „Vereinte Nationen im Kleinen“ bezeichnet: Ein Junge aus Indien schaut konzentriert auf seinen Bildschirm, sein Sitznachbar kommt aus Neuseeland, und das kleine Mädchen im rosa Pulli hat einen jüdisch-russischen Hintergrund, wie Lehrerin Annemieke Akkermans lächelnd erzählt. „Die Unterschiede spielen gar keine Rolle“, sagt sie. Währenddessen hat im Hauptgebäude der Schule bereits die Mittagspause begonnen. Im hellen Foyer hängen dieser Tage Zeitungsartikel und kleine bunte Zettel mit Botschaften an den erst vor wenigen Wochen verstorbenen Namensgeber der Schule. Daran vorbei strömen die Schüler auf den Hof – sie tragen etwas von Mandelas Idee hinaus in die Welt.

“Das Problem ist nicht der Holocaust-Witz”

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jetzt.de:In deinem Buch und auch in einem Artikel in der  New York Times schreibst du, warum du dich in Deutschland nicht mehr wohl gefühlt hast. War es wirklich so schlimm?
Yascha Mounk:
Schlimm war es sicher nicht. In meinem Buch beschreibe ich, wie ich in Deutschland aufgewachsen bin. Ich hatte Familie, Freunde und eine schöne Jugend. Aber je älter ich geworden bin, desto mehr habe ich gemerkt, dass ich nicht so ganz dazugehöre. Wenn ich erwähnt habe, dass ich Jude bin, war das für viele Deutsche das Wichtigste an mir. Das wurde auf Dauer anstrengend.

Warum ist es den Deutschen denn wichtig, dass du Jude bist?  
Dass ich Jude bin, prägt ihre Wahrnehmung von mir. Dabei hatte das für mich selbst nie eine besondere Bedeutung. Als ich dann vor acht Jahren nach New York gezogen bin, konnte ich Bekannten gegenüber erwähnen, dass ich Jude bin, und es war ihnen einfach egal. Das war sehr befreiend.  

Sind deine Erlebnisse in Deutschland denn so negativ?
 
Das hat nicht unbedingt etwas mit negativ oder positiv zu tun. Der Umgang zwischen Juden und Nichtjuden ist einfach noch immer ziemlich befangen. Wenn ich Leute zum ersten Mal treffe, bin ich für die ein ganz normaler Deutscher: Ich sehe deutsch aus und spreche ohne Akzent, also gehöre ich dazu. Dann kommt irgendwann zufällig raus, dass ich Jude bin und sofort entsteht eine unheimliche Distanz. Plötzlich bin ich eben kein normaler Deutscher mehr, sondern vor Allem: Jude.  




Und darauf reagieren die Leute anders?
 
Viele sind einfach neugierig weil es ja tatsächlich wenige Juden in Deutschland gibt. Fragen nach der Religion, nach der Geschichte etc. Das finde ich natürlich völlig in Ordnung.    

Aber du meinst, es gibt auch oft offenen Antisemitismus? 
Ach, hin und wieder gibt es den auch. Aber seltsamerweise finde ich es einfach, damit umzugehen. Einem echten Antisemiten kann ich stolz sagen: Ich bin Jude. Mach doch damit, was du willst. Schwieriger sind die Philosemiten – also Leute, die besonders nett zu einem sein wollen.    

"Mit Philosemiten umzugehen, ist viel schwieriger als mit Antisemiten."


Wo liegt da das Problem? 
Das Problem ist, dass dieser ganze gute Willen trotzdem fehlgerichtet ist. Wenn mir jemand erzählt, wie schön die hebräische Sprache ist, oder was für tolle Filme Woody Allen macht, ist das natürlich nett gemeint. Trotzdem fühle ich mich dann doch wieder wie einer, der nicht dazugehört. Und mit solchen Philosemiten umzugehen, ist viel schwieriger. Die wollen mir ja nichts Böses – da kann ich nicht sagen: Hey, du Arschloch, jetzt hör mal damit auf, mich wie einen Außerirdischen zu behandeln!  

Da spricht eben noch immer ein Schuldgefühl aus den Leuten ...
 
Bestimmt. Und das führt dann zum nächsten Problem: Genau dagegen rebellieren nämlich jetzt viele junge Menschen. Die wollen sich nicht mehr schuldig fühlen und verstehen auch nicht, warum ihre Eltern so herumdrucksen, sobald es um irgendein jüdisches Thema geht.  

Aber das ist doch genau, was du willst? Normal behandelt werden.

Der Impuls ist ja auch nicht falsch. Aber wenn Leute davon reden, dass wir endlich mal einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen müssten, schleicht sich leider oft eine gehörige Portion Aggressivität rein. Viele vergessen die Vergangenheit nicht wirklich – sondern bestehen nur laut darauf, dass wir die Vergangenheit jetzt endlich mal vergessen müssten. Das ist ein großer Unterschied. Und das kann dann schnell sehr unangenehm werden, gerade auch im persönlichen Umgang miteinander.  
[seitenumbruch]

"Für mich muss ein Witz erstmal gut sein."


Ist es denn öfter unangenehm für dich geworden? 
Manchmal schon. Vor einigen Jahren war ich mit Freunden auf der Wiesn. Stephanie, eine Bekannte von mir, wollte einen Witz erzählen: „Wie kriegt man 200 Juden in einen VW-Käfer?“ Ein anderer Bekannter hat gesagt: “Lass mal…”. Das hat Stephanie dann wütend gemacht: „Ich soll die Klappe halten, weil du mir das sagst? Komm schon, ist doch nur ein Witz. Der Holocaust ist 60 Jahre her. Ich halt nicht mehr die Klappe. Wir Deutschen sollten wieder Witze über Juden machen dürfen!“    

Und wie ging der Streit am Schluss aus?
 
Mit der Pointe: „Vergasen, verbrennen und in den Aschenbecher.“ Für mich muss ein Witz erst einmal gut sein. Dieser hier war einfach grottenschlecht.  

Das ist alles, was dich an dem Witz stört? 
Das Problem ist nicht der Holocaust-Witz an sich. In den USA und in England werden dauernd Witze über Juden, und sogar über den Holocaust, gemacht. Schau dir mal Family Guy oder South Park an. Das Problem in Deutschland ist, dass hinter solchen Witzen oft eine Wut steckt. Leute wie Stephanie sind wütend auf „die Andern“, die ihnen angeblich vorschreiben, was sie zu denken haben. Wer auch immer die anderen sein mögen – die Gutmenschen, die Ausländer, die Juden ... Ich weiß es nicht. Um dieser Wut freien Lauf zu lassen, erzählen sie dann miese Witze. Die haben eine solche Freude daran, jetzt endlich einen Witz über den Holocaust zu erzählen, dass der nicht einmal lustig sein muss. Das ist an sich schon entlarvend.  




Im Grunde ist der Wunsch nach dem Schlussstrich also in Wirklichkeit ein klassischer Spruch Marke Thilo Sarrazin: „Das muss man doch mal sagen dürfen“
 
Und die Motivation dahinter verstehe ich durchaus. Es gab ja wirklich mal eine Zeit, als diese ernste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seltsame Blüten trug. Als es zum guten Ton gehörte, sich lautstark für Taten zu schämen, die man selber nicht begangen hat. Davon wollen sich viele, die nach einem Schlussstrich rufen, befreien. Da steckt also nicht unbedingt eine böse Absicht dahinter. Aber eine Lösung ist diese Art des „Wir begehren jetzt gegen die Anderen auf“-Denkens trotzdem nicht. Im Gegenteil, sie birgt Gefahren.  

Inwiefern?
 
Zum Beispiel weitet sich diese Art zu denken auch schnell auf Migranten in Deutschland aus. Dann wird daraus: „Den Türken gegenüber sind wir viel zu nett gewesen. Jetzt sagen wir denen endlich mal, wo’s langgeht – und wie die sich zu verhalten haben.“ Und das ist ungerecht, denn natürlich sollte jeder das Recht haben zu Hause die eigene Sprache zu sprechen, oder ein Gotteshaus zu bauen, wo er will. Insofern kann dieses Schlussstrich-Denken durchaus echte Konsequenzen für das Miteinander verschiedener Gruppen hier in Deutschland haben.  

Aber das ganze ist doch trotz allem im Grunde nur eine theoretische Debatte... 
Na ja, diese Wut kann sich auch steigern. In meiner Schulzeit haben mir mal ein paar Jungs nach dem Unterricht aufgelauert. Sie haben mich festgehalten, einen elektrischen Rasierapparat aus der Tasche gezogen, und versucht, mir die Haare kahl zu rasieren. Einer hat gesagt: „Ihr habt uns lang genug herumgebosst. Jetzt zeigen wir euch mal, wer hier in Deutschland das Sagen hat.“ Das war dann eben ein ganz konkreter Versuch, einen Schlussstrich zu ziehen – und dass der Versuch ausgerechnet darin bestand, gewisse Szenen aus der deutschen Geschichte nachzuspielen, ist natürlich kein Zufall.

Heißt das, wir können nie darauf hoffen, dass die Beziehung zwischen Deutschen und Juden endlich normal wird?
 
Eine einfache Lösung gibt es leider nicht. Bei allem guten Willen lässt sich der lange Schatten der Geschichte nicht einfach abschaffen. Eine echte Normalität im Umgang miteinander kann man nicht anordnen. Ein Anfang wäre aber gemacht, wenn wir begreifen würden, dass es Missverständnisse geben kann, ohne dass deshalb jemand schuld sein muss. Die Schwierigkeiten liegen weder daran, dass die Deutschen immer noch nicht gelernt haben, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen sollen – noch daran, dass Juden immer nur in die Opferrolle schlüpfen wollen. Solange wir einen Schuldigen suchen, rückt eine echte Normalität nur in immer weitere Ferne.

Yascha Mounk, 31, ist als Sohn polnischer Einwanderer in Deutschland aufgewachsen. Bereits in der Schule stieß seine Antwort "jüdisch" auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit stets auf Sonderreaktionen. Entweder wurde er bevorzugt oder angefeindet. Für sein Studium zog er schließlich nach New York. Mounks Buch "Stranger in my own country: A jewish family in modern germany" ist Anfang Januar erschienen.

Raus aus der Wohnung, rein in die Welt

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Ich mag unsere neue Wohnung! Ich sitze am liebsten auf der großen Couch, auf der ich meine Füße ganz ausstrecken kann, arbeite am schönen Schreibtisch von Sebis Mutter und weil der Winter ausgefallen ist, hänge ich seit Januar die Wäsche wieder auf der sonnigen Terrasse auf. Aber zwei bis drei Wochen im Jahr gibt es, da will ich überall anders sein, nur nicht auf der Couch, am Schreibtisch oder auf der Terrasse. Dann will ich nämlich in den Urlaub!  

Es heißt ja immer, man soll erst mit seinem Partner zusammenziehen, wenn man mehrere Wochen mit ihm im Urlaub war – und nichts schief ging. Darüber habe ich mich immer gewundert, denn was genau sollte denn ausgerechnet in den zwei schönsten Wochen des Jahres in der Sonne am Strand schiefgehen? Okay, meine Flugangst hat sich seit einem verunglückten Landeanflug in Frankfurt-Hahn wieder verschärft und während der Pollenzeit muss ich nicht unbedingt Zelten gehen; aber ansonsten bin ich im Urlaub ganz pflegeleicht. Gerne Europa, auch Hostels sind bei einer Rundreise genehm, ich mag gerne Städte sehen, ich mag Inseln, Natur, Kultur und Radtour. Ich brauche keine Übersee-Trips, Backpacker-Gewaltmärsche und jeden Tag Action. Ich bin ein gemäßigter Urlaubs-Typ und hätte niemals erwartet, dass es ein Problem werden könnte, ein passendes Gegenstück zu finden.  




So vieles soll stimmen beim perfekten Partner: Verständnis, Charme und Einfühlsamkeit, Intelligenz, ein gutes Herz und ein sexy Hüftschwung im Großen; dichtes Haar, ein ehrenwerter Bürger sein und bitte nicht in der Dusche Zähneputzen im Kleinen. Im Lauf der Jahre stellte sich heraus, dass Sebi der qualifizierteste Bewerber für den Posten war. Großmütig wollte ich sogar schon über die Zahnbürste in der Dusche hinwegsehen, als ich erkannte, dass eine Kategorie, der ich nie größere Beachtung geschenkt hatte, bedenklich wackelte. Konnte es wahr sein? Hatte ich den einzigen ehrenwerten Bürger aufgegabelt, der zwar ständig von seinen bevorstehenden Marsmissionen sprach, aber keinerlei Interesse daran zeigte, in den Urlaub zu fahren?  

„Ach Quatsch!“ rief Sebi und ich atmete schon erleichtert auf, denn natürlich würde er mir jetzt erklären, dass er sehr wohl gerne in den Urlaub fuhr. Stattdessen ergänzte er: „Ich halte es für unmöglich, dass ich der einzige bin!“ Fünf Jahre und 863 Personenbefragungen später weiß Sebi: Doch, er ist der einzige! Gleichzeitig ist es mir durch Fleiß und Beharrlichkeit gelungen, den einzigen Urlaubsverweigerer bisher drei Mal in den Urlaub zu verfrachten.  

Bevor jetzt das große Aufstöhnen beginnt, dass nur eine Partnerin, die in den Kategorien „Freiheitsgewährung“ und „Egozentrismus“ auf ganz schlechte Werte kommt, zu einer solch herzlosen Tat fähig sein könnte, möchte ich an dieser Stelle entgegensetzen: Wären wir nie zusammen in den Urlaub gefahren, hätten wir auch nicht zusammen ziehen können. Ein herber Verlust, den keiner von uns beiden wollen konnte!  

Gleichzeitig gelang es mir nun durch das Zusammenwohnen, hinter das Geheimnis von Sebis Urlaubs-Desinteresse zu kommen. Bevor wir zusammengezogen sind, habe ich ihn ja immer nur am Treffpunkt zur Abreise getroffen und nach dem Heimflug schweren Herzens verabschiedet. Seitdem wir vor dem Urlaub aus derselben Wohnung losstarten und nach dem Urlaub in dieselbe Wohnung zurückkehren, bin ich live dabei und kann es deshalb genau beobachten: Die Urlaubs-Unlust verläuft bei Sebi in einer Sinuskurve, die ihren Höhepunkt am Tag vor der Abreise und ihren Tiefpunkt am letzten Urlaubstag erreicht.  

Während ihn in den Tagen vor dem Aufbruch nur die Tatsache, dass wir uns keine Reiserücktrittsversicherung leisten konnten, davon abhält, alles zu canceln, er in der letzten Nacht zu Hause mit dem Gedanken spielt, sich an unserer geschätzten Couch festzuketten und sich schließlich noch in der Schlange am Flughafen einredet, dass er ja zur Not wieder zurückfliegen könnte, erwacht seine Reiselust am Urlaubsort angekommen und wächst von da an Tag für Tag. Dann spazieren wir staunend durch Sarajevo, erkunden mit dem Roller die Küste von Kreta oder gehen in kroatischen Buchten tauchen. Wir verstehen uns super, essen lecker und Sebi ist so entspannt, wie er zu Hause auf der Couch nie sein könnte, weil dann immer jemand anruft oder doch noch ein Termin ansteht. Wie könnte ich es da übers Herz bringen, beim nächsten Mal allein oder mit Freunden loszuziehen und Sebi einfach zu Hause zu lassen?

Gegen Ende des Urlaubs fragt Sebi unsere neuen Urlaubs-Freunde nach deren Lieblingsreisezielen aus und spricht plötzlich von künftigen Reisen nach Island, Thailand oder Neuseeland. Ich nicke zwar fröhlich, kann mir aber schon denken: In einigen Wochen, wenn wir zurück in unserer Wohnung sind, steigt die Sinuskurve wieder an und dann will Sebi von Thailand nie was gehört haben. 

Ich muss es mir wahrscheinlich einfach mal am Ende der Reise schriftlich bestätigen lassen, dass er Urlaube doch total super findet. Oder aber ich warte, bis Reisen in Paralleluniversen möglich werden, wo ich dann einen Mann namens Schwebi treffe, der alle Eigenschaften von Sebi hat plus eine Begeisterung für gemäßigtes Reisen.  

Bis dahin behalte ich einfach meinen Sebi und er soll halt am Waschbecken Zähneputzen, damit sein Perfekter-Partner-Schnitt weiterhin so weit oben bleibt!

Auf der nächsten Seite: Warum Sebastian seit dem Zusammenziehen einen Vorteil hat, wenn er mal wieder nicht in Urlaub fahren will.
[seitenumbruch]Nadine und ich lebten für eine Zeit von fast zwei Jahren in einer Fernbeziehung. Das heißt, dass sich jemand in eine meist überbuchte Mitfahrgelegenheit quetschen musste, nur um 24 bis 48 Stunden später wieder in einer anderen engen Mitfahrgelegenheit durch die halbe Nation zu fahren. Und selbst in den vier Jahren, als wir noch beide in Köln lebten, kam es eigentlich nie vor, dass wir uns mehr als zwei Tage in Folge ertragen mussten. Die einzige Ausnahme bildete da der jährliche Urlaub. Ach, endlich mal die Seele baumeln lassen, nicht nach dem Frühstück das Weite suchen müssen und in Gemeinsamkeit verweilen! Der Traum eines jeden Romantikers.  

Und tatsächlich, für viele Paare in unserer Situation ist der alljährliche Sommerurlaub ja das große Highlight des Jahres. Ein Blick auf die herzfarbene Edding-Markierung im Kalender genügt, um die Mühsal des Alltags zu vergessen und in schwelgerische Vorfreude zu verfallen. Da werden ab Herbst eifrig Kataloge geblättert, Wetterdaten verglichen und Hotelbewertungen gelesen. Und spätestens ab Januar hört man sie dann auch, die Paare, die nicht müde werden, die Tage zu zählen, die sie jetzt noch trennen von der grenzenlosen Entspannung ihres Ferientrips.  

Gegen das alles habe ich nichts. Aber wenn dann mit steigender Urlaubsfreude auch die Gehirne ausgeschaltet werden, mache ich mir als ehrenwerter Bürger natürlich schon Sorgen um unser aller Wohlfahrt! Gäbe es Außerirdische und würden Sie uns durch ihre Alien-Teleskope beobachten, sie würden bei dem Anblick ihre tentakelbesetzten Köpfe schütteln: Wie wir uns händchenhaltend in Kolosse aus Aluminium und Carbon pressen, über den Wolken rumfliegen, überteuerte Mietwagen buchen, bei immergleichen Stadtführungen in die Luft gereckten Schirmen nachlaufen, Reiserücktrittsversicherungen abschließen, aufs Gramm genaue Koffer packen, Veranstalter auf "entgangene Urlaubsfreuden" verklagen und Postkarten mit hässlichen Motiven quer über den Globus zurückschicken, bloß um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass man sich gerade in einer Phase der absoluten Entspannung befindet.  

Ja, die Begeisterung für das Konzept "Urlaub" ist mir bislang weitgehend verborgen geblieben. Und während ja selbst für die absurdesten Meinungen (spätestens seit der Erfindung des Internets) jeder Pott noch einen Deckel findet, -  in der Ecke der Urlaubsverweigerer, ist man wirklich einsam. Da endet selbst Nadine sonst so grenzenloses Verständnis. Aber während sie meine Urlaubsverweigerung früher verwenden konnte, um mir vorzuwerfen, ich wollte keine Zeit mit ihr verbringen, ist nach dem Zusammenziehen meine Argumentationsposition erheblich gestärkt worden. 

Kommt sie mit einem voreiligen "Du willst keine Zeit mit mir verbringen!" um die Ecke, kann ich galant mit "Ich verbringe jeden Tag 24 Stunden mit Dir!" entgegnen. Versucht mich Nadine von den Vorzügen der Urlaubsentspannung zu überzeugen, deute ich nur müde auf unsere neue Couchlandschaft, auf der sie sich zu diesem Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit befindet. Und fällt das Argument der Bildung, die man fremden Ländern ja gemeinhin zuschreibt, blättere ich interessiert in einem Werk aus Nadines Adorno-Sammlung, die ich aus der Abteilung "kritische Theorie" unseres Kulturregals gezogen habe. Mir fällt kaum ein Grund ein, dieses neue schöne Heim schon wieder zu verlassen.  

Ja, ich gebe es zu. Wenn ich erstmal da bin, in urlaubigen Gefilden, dann gefällt es mir meistens auch. Dann fahre ich gerne mit dem Roller den Strand entlang, besuche eine Höhle voller Unterwasserspinnen und lasse mir den Meereswind um die Nase wehen. Ich fühle mich entspannt, gebildet und genieße die besondere Zeit mit Nadine.  

Aber Freunde, es ist Januar und würde mir zur jetzigen Zeit die Edding-Markierung auf dem Kalender keinen Schauer am Rücken verursachen - wo wäre die Herausforderung für Nadine geblieben? Und wenn Nadine eines mag, dann doch am Ende Recht zu haben und so werde ich mich auch dieses Jahr mit Klauen und Zähnefletschen wehren, nur um am Ende nachzugeben.

sebastian-hilger

"Das System hat die Street Art inhaliert"

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Man könnte meinen, der Begriff Gentrifizierung beziehe sich auf zwei Umstände. Erstens: Die soziale Umstrukturierung eines Stadtteils durch dessen Veredelung – zum Nachteil der einkommensschwachen Anwohner. Zweitens: Die Tatsache, dass spontane Kritzeleien und Tags immer mehr durchdachten und aufwendigen Wandmalereien weichen – zur Freude des Auges. Malereien und Zeichnungen auf Wänden hatten lange einen schlechten Ruf. Spätestens seit Street Art in die Galerien eingezogen ist, werden solche gemalte, gesprayte oder geklebte Werke im öffentlichen Raum neu bewertet. Prints von küssenden Polizisten verkaufen sich zwar gut, aber die eigentlichen Künstler profitieren selten direkt von den zahlreichen Fotos, die von ihren Werken geschossen werden. Wäre es nicht schön, wenn man einfach ein paar Euro für ein Kunstwerk zahlen könnte, das einem gefällt? So wie man einem Straßenmusiker Geld für eine schöne Melodie abtritt?




Die Seite www.streetartforbitcoin.com versucht, genau dies umsetzten. Die Macher haben eine Plattform entwickelt, die es ermöglicht, für ein Kunstwerk auf der Straße zu spenden. Das soll so funktionieren: Der Künstler fügt seiner Arbeit einen QR-Code bei, der auf sein Profil auf der Website verlinkt. Interessierte Passanten können den Code einscannen und direkt, ohne den Umweg über einen Mittelsmann gehen zu müssen, an den Street Artist spenden – und das via Bitcoin, eine virtuelle Währung, die nicht in einer Zentralbank geboren, sondern einzeln errechnet wird, indem Computer mathematische Aufgaben lösen.

Die Idee klingt gut, die Street-Art- und vor allem die Graffiti-Szene ist aber gespalten. Vielleicht will deshalb bislang kein Künstler mitmachen.

Bote der Demokratie oder Sell-Out?


„Bitcoins sind eine dezentrale Währung. Die gehört keinem. Demokratischer geht’s wohl nicht“, sagt etwa der Berliner Street-Art-Künstler, Blogger und Fotograf Just. „Da sitzt keine Bank dahinter und du hast direkten Kontakt zu dem Künstler. Die Idee der Bitcoins hat vielleicht schon etwas Antikapitalistisches.“ Kapitalismus, Konsumismus und Systemkritik sind seit der Entstehung der Street Art inhaltliche Schwerpunkte. Geld mit seinen Werken zu verdienen und die Integrität als Street Artist zu wahren, stehen für ihn jedoch nicht im Widerspruch: „Ich finde, dass jeder von dem, was er tut, leben können sollte.“

Nicht alle teilen diese Meinung. Carsten Janke vom „Graffiti Archiv“, einer Unterabteilung des Archivs für Jugendkulturen in Berlin erläutert: „Graffiti und Street Art leben doch davon, dass sie seit Jahrzehnten unbezahlte Kunst für alle bieten. Das Unentgeltliche ist wohl der Hauptunterschied zu allen anderen Kunstformen. Gewinn zu machen, widerspricht dem Grundgedanken.“

Raiko Schwalbe, dessen Agentur „Intoxicated Demons“ jährlich die „Stroke Art Fair“ glaubt nicht an einen Geldsegen für die Künstler. Er befürwortet zwar die Idee, Schöpfern den direkten Kontakt zum Publikum zu ermöglichen, und glaubt auch, "dass die Bereitschaft seriösen, schönen Arbeiten durch Spenden Respekt zu zollen" vorhanden sei. Aber die "Awareness", für etwas, das man umsonst bekommt, zu bezahlen, müsse noch aufgebaut werden. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das so viel für Künstler abwirft, die sonst keinen Zugang zum Markt haben. Es wird wohl nicht irgendjemand, der mit seinem Bananen-Stencil durch die Stadt läuft etwas daran verdienen.“

„Für diejenigen“, so Carsten Janke, „die wirklich noch auf der Straße Kunst machen, zählt das große Geld ohnehin nicht. Das System zu ficken ist nicht die Hauptmotivation. Ich denke, Respekt ist die Währung, die bei Graffiti und Street Art zählt, obwohl immer mehr Leute auf den Kapitalismus-Zug aufspringen. Das System hat die Street Art in diesem Sinne schon irgendwie inhaliert. Je mehr in die Galerien kam, desto weniger passierte auf der Straße.“ Bei Graffiti sei das anders, viel komplizierter. Rausgehen und einfach loslegen zu können, sei der eigentliche Antrieb. Auch der professionelle Straßenkünstler Just bestätigt diese Entwicklung: „Diese Haltung, dass Street Art subversiv sein muss, wird da eigentlich auch nur reininterpretiert. Das hat sich mittlerweile schon ausdifferenziert. Die meisten Leute wollen nicht zwingend gegen das Establishment kämpfen, sondern sich einfach ausdrücken. Andere machen Ad-Bustings, fahren die politische Schiene, wieder andere lassen sich ausstellen.“

Wie das Internet... duscht, ohne dass der Spiegel beschlägt

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Das Problem 

Morgens halb acht. Du bist das letzte Glied in der WG-Duschschlange. Dunst hat bereits den kompletten Badspiegel beschlagen. Und du siehst nichts. Der Versuch, die Fläche mit dem Handtuch trocken reiben zu wollen, hinterlässt nur Fusseln.  





Die Lösung 

Seife! Den Spiegel beim nächsten Putztag mit einem Stück Seife einreiben. Anschließend die Schlieren mit einem trockenen Tuch wegpolieren. Ein minimaler Film bleibt auf der Fläche und sorgt bis zu vier Wochen lang für Durchblick nach dem Duschen.

Und noch ein kleiner Tipp bis dahin: Einfach mit dem Fön kurz den Spiegel von unten nach oben anpusten, nach wenigen Sekunden hast du klare Sicht.

Profilbildprofi?

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Mit dem Profilbild ist es wie mit dem Menschsein an sich: Man kann nicht nicht kommunizieren. Es ist immer das erste, auf das man schaut, wenn man jemanden in einem sozialen Netzwerk oder Forum besucht. Nicht umsonst ist so oft ein Gesicht drauf – immerhin schaut man auch beim ersten persönlichen Treffen zunächst mal ins Gesicht. Man muss sich also entscheiden: Will ich eher als fröhlicher Typ (lachend), klug (ernst), seriös (Bewerbungsfoto), als Partyhengst (Partyfoto) oder als Globetrotter (Urlaubsfoto) rüberkommen? Und auch, wenn man sich entscheidet, gar keins hochzuladen und das voreingestellten Bild, etwa den Umriss eines männlichen oder weiblichen Körpers (Facebook) oder bunte Streifen (jetzt.de), das eigene Profil repräsentieren lässt, sagt man damit etwas aus und ist der lässige, etwas desinteressierte Mensch, der seine Zeit lieber mit etwas anderem verbringt. Sogar der Frequenz der Profilbildänderung ist ein Statement das von eitel und um Selbstdarstellung bemüht (jede Woche ein neues) über launisch (zwei, drei Bilder im Wechsel) bis hin zu „Mir wurscht“ (immer das gleiche) reicht.  



Auch hier bei uns braucht man ein Profilbild - oder man bleibt für immer ein "Streifenhörnchen".

Als wir bei jetzt.de vor einigen Monaten neue Profilbilder bekamen, schickte unser Fotograf Juri jedem eine Auswahl zu – und löste damit einen Profilbildauswahlmarathon voller emotionaler Hoch und Tiefs in der Redaktion aus. Jeder zeigte jedem seine Favoriten, manche waren ganz unglücklich mit dem eigenen Gesicht und zögerten den Moment des Austauschens gegen das alte Bild so lange es ging hinaus und die Gegenargumente, die jeder gegen sein eigenes Bild vorbrachte, waren vielfältig (Pullover zu bunt, Zähne zu groß, irgendwie dicker als in echt etc.).  

Und in diesem Fall hatte man ja immerhin schon eine begrenzte Auswahl. Noch schlimmer wird es, wenn man frei wählen kann. Freundin E. trug sich neulich mit dem Gedanken, wegen der neuen Frisur auch mal ein neues Bild bei Facebook hochzuladen. Aber welches bloß? Per Skype-Chat half ich bei der Auswahl, andersherum hat sie mir auch schon mal dabei geholfen. Denn wenn Freunde sagen „Siehste gut aus drauf“, kann’s ja schon mal nicht ganz verkehrt sein. Freund D. hat vor kurzem sein Profilbild ausgetauscht, es vorher aber sehr kritisch analysiert und dann sehr aufgeregt die Reaktionen beobachtet, die es hervorrief.  

Wie wählst du dein Profilbild aus – sowohl das in „Klarnamen-Netzwerken“ wie Facebook als auch das in „Nickname-Netzwerken“ wie jetzt.de? Wie willst du rüberkommen beziehungsweise was sagt das Bild, auf dem ein Bier/ein Geweih/Miley Cyrus zu sehen ist über dich? Tust du dich bei der Auswahl schwer oder leicht? Und wechselst du dein Profilbild häufig oder selten?

Ein Anruf bei ...

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Die Pausenglocke ist ein Beispiel für das völlig überholte Schulmodell.

Anders als in Deutschland verzichten immer mehr österreichische Schulen auf ein akustisches Signal zum Beginn und zum Ende des Unterrichts. Jüngstes Beispiel: das Gymnasium an der Maroltingergasse in Wien-Ottakring. Der Direktor, Magister Meinhard Trummer, erklärt, warum es auch ohne Pausenglocke geht.

Herr Magister Trummer, was ist denn da los mit Ihrem Gong?

Meinhard Trummer: Im Dezember gab es bei uns in der elektrischen Anlage eine Störung. Das hat zu einem mehrtägigen Defekt geführt, der allerdings eine Reihe positiver Rückmeldungen zur Folge hatte. Wir kamen zum Ergebnis, dass man eine Schulglocke eigentlich gar nicht braucht.

Um was für eine Schulglocke handelt es sich denn in Ihrem Fall? Um einen künstlich erzeugten Dreiklang?

Nein, um eine sehr schrille alte Schulglocke, die permanent alle aufschreckte. Ein nicht mehr zeitgemäßes strenges, militärisches Signal. Ohne diesen Ton leben wir an unserer Schule entspannter – und genießen die Möglichkeit gleitender Übergänge.

Der deutsche und speziell der bayerische Lehrbeamte würde an dieser Stelle höchstwahrscheinlich vor dem Einzug eines gewissen Schlendrians warnen.

Wir betrachten das Abschalten der Schulglocke eher unter dem Aspekt der Eigenverantwortung. Entsprechend haben wir auch unsere Hausordnung adaptiert. Alle 1100 Schüler der Schule haben die Pflicht, rechtzeitig zu Unterrichtsbeginn zu erscheinen. Die Ausrede „Ich hatte keine Uhr“ gilt im Handy-Zeitalter nicht mehr.

Aber Sie trauen sich da schon etwas. Dürfen Sie das denn? Müssen Sie nicht erst einmal beim zuständigen Ministerium nachfragen, bevor Sie was auch immer abschalten?

Nein, nein. Derlei darf bei uns der Schulstandort selber entscheiden. Ich habe Befragungen unter Schülern und Lehrern durchführen lassen. Die Ergebnisse waren eindeutig. Beim Lehrpersonal beispielsweise stimmten zwei Drittel für die Abschaltung. Zum Ende des Schuljahres planen wir eine abermalige Befragung.

Und wie lauten die Argumente der Abschaltungsgegner?

Tatsächlich fürchten die Gegner der Schulglocken-Abschaltung eine gewisse Unpünktlichkeit. Aber die gab’s auch schon, als es noch geklingelt hat. Das andere Argument ist ein typisch österreichisches: „Wieso muss man das verändern? Das war doch schon immer so.“ Ich fühle mich auf einem guten Weg. Ein Drittel der Wiener Gymnasien verzichtet bereits auf die Glocke. Bei den Volksschulen sind es noch viel mehr.

Könnte das Abschalten der Schulglocke auch ein Zeichen für einen Richtungswechsel sein? Etwa so: Künftig wollen wir den Kindern nicht mehr das beibringen, was irgendwelche Beamte für wichtig erachten, sondern nur noch das, was für ein glückliches Leben notwendig ist?

Sie haben recht! Es sollte in der Schule künftig wieder mehr um Fähigkeiten und Kompetenzen gehen, nicht um das bloße Hineinstopfen von Wissen. Der Lehrplan gehört ausgemistet! In Österreich und in Bayern ist man da allerdings noch nicht ganz so weit. Anders als zum Beispiel im Norden Deutschlands. Die Abschaltung der Schulglocke könnte ein kleiner Puzzle-Stein in einem großen Umbruch werden.

Das Interview führte Martin Zips.

Magister Meinhard Trummer, 53, ist Geschichtslehrer und Direktor des Gymnasiums in der Maroltingergasse. Auch er litt als Schüler in Wien unter einer schrillen Schulglocke. Allerdings musste er weniger auswendig lernen als heutige Schüler.
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