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Spontane Plätzchenorgie

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Diese Woche hat sich jetzt-Userin schatzerl die Mütze des Kosmoskochs aufgesetzt. 

Montag:



Schon das ganze Wochenende gelüstete es mich nach Vietnamesisch, und da ich kränkelig und faul bin, wird auswärts gegessen. Mit einem Freund treffe ich mich in Nguyens Pho House im 7. Bezirk. Vorweg teile ich mir mit meiner Begleitung Sommerrollen mit Garnelen und Schwein.




A
nschließend gibt es Bun Bo. Reisnudeln, Rindfleisch, Kräuter, Erdnüsse, knusprige Frühlingsrollen. Dazu gibt es Jasmintee und Fritz Limo Zitrone. Gelüste befriedigt – es war köstlich!  

Dienstag:




Ich komme leicht entnervt aus der vorweihnachtlichen Innenstadt und muss feststellen, dass ich einen Teil der Einkäufe in der Straßenbahn stehen lassen hab. Klopapier braucht kein Mensch, Abendessen aber umso mehr! Es gibt einen Familienklassiker, den schon meine Oma gerne auf den Tisch brachte. Endiviensalat mit warmen Kartoffeln vermatscht, dazu ein simples Dressing aus Brühe, Weißweinessig und Rapsöl. Ich ergänze noch um gebratene, karamellisierte Rote Bete und Feta-Krümel. Der Oma wär’s wohl zu fancy, aber die Kombination der Aromen, Konsistenzen und Temperaturen schmeckt ziemlich lecker. Dazu gibt’s schwarzen Tee mit Orangensaft und ein Skype-Date nach Frankreich.  

Mittwoch:




Da ich beschlossen habe, heute nicht auszugehen, steht Knoblauch auf dem Speiseplan. Zu der Knolle gesellen sich Scampi, Kirschtomaten, Zitrone und ein Berg Petersilie. Untendrunter schicke Sepia-Nudeln, welche der Discounter meines Vertrauens derzeit im Sortiment hat. Scampis entdarmen nominiere ich aus gegebenem Anlass zur absolut nervigsten Küchenaufgabe. Dazu ein Glas Rotwein. Vielleicht geh ich nämlich doch noch aus.  

Donnerstag:




Ich werde 1,5 Stunden früher als geplant aus dem Seminar entlassen, habe also unverhofft noch Zeit einzukaufen, und außerdem war in meinem Adventskalender heute eine sternförmige Plätzchenausstechform. Schicksalswink genug, sich endlich der Weihnachtsbäckerei hinzugeben. Es wird ein Plätzchen-Klassiker: Zimtsterne nach einem Rezept der k. u. k. Hofzuckerbäckerei Demel, die offiziellen Erfinder der Sachertorte. Sie schmecken ganz fein, aber da ich mit Süßkram nicht so zu begeistern bin, wird der Großteil wohl verschenkt. 




Und da der Ofen schon einmal vorgeheizt ist und ich nun ganz dringend etwas Herzhaftes brauche, schiebe ich einen Feta-Tomaten-Petersilien-Blätterteig-Strudel hinterher. Dazu ein Joghurt-Dip mit Kreuzkümmel und Minze. Geht immer!

Freitag:




Heute habe ich Spätschicht, dennoch sitze ich kulinarisch an der Quelle, denn ich arbeite in einem wirklich tollen Restaurant. Das Hansen ist im 1. Bezirk im Börsegebäude gelegen und kann sich mit einer Gault-Millau-Haube schmücken. Für uns Mitarbeiter gibt es zu später Stunde Ricotta-Ravioli mit einer Art Ratatouille-Gemüse. Die Ravioli sind hausgemacht, und das schmeckt man auch – sehr lecker!  

Samstag:




In meinem Kühlschrank wartet ein Kürbis auf seine Verarbeitung. Wegen solch tollem Gemüse hat der Winter zumindest ein kleines bisschen Daseinsberechtigung. Ich beschließe Kürbisgnocchi zu machen. Die Zubereitung in einem Wort: katastrophal! Ich muss gefühlt drei Kilo Mehl zur Kürbis-Kartoffel-Pampe geben, bis sich der Teig auch nur ansatzweise formen lässt. Die Nocken werden ziemlich klobig, aber nachdem ich sie gekocht und in etwas Salbeibutter rausgebraten habe, sehen sie fast ansehnlich aus. Dazu mache ich eine schnelle Weißweinsoße mit allerlei Gemüseresten, die sich im Kühlschrank so finden. Lecker, aber meiner Meinung nach den Aufwand und die Flucherei nicht wert.  

Sonntag:




Normalerweise bin ich nicht die große Frühstückerin, doch sonntags darf es gerne ein bisschen ausgiebiger sein. Es gibt Schinkenbrot mit Champignons, dazu Spiegelei in Paprika, hihi! Dazu einen Pott Kaffee.




Abends soll es nach dem Gnocchi-Desaster gestern einfach, schnell und glücklichmachend werden. Es gibt Kohlrabi, Kartoffeln und Karotten. Schön klassisch mit Mehlschwitze und Sahne. Abgeschmeckt wird mit Zitronenschale und -saft sowie Muskatnuss. Drei Minuten nicht hingeschaut und es brennt mir an, Sonntage kann ich zu Recht nicht leiden. Und so geht eine kohlenhyratreiche Woche zu Ende.
 

Auf der nächsten Seite liest du schatzerlsAntworten auf den Fragebogen zur Kochwoche.   


[seitenumbruch]

Welchen Stellenwert hat Essen in deinem Leben? 
Einen hohen! Ich koche mit Leidenschaft, und was bei mir auf dem Teller landet, sagt viel über meinen Gemütszustand aus.    

Was ist dir beim Essen und Einkaufen besonders wichtig? 

Klar, the bio the better. Kann ich mir leider nicht immer leisten. Trotzdem achte ich im Supermarkt darauf, woher Obst und Gemüse kommen. Weil mir das 1,5-kg-Zucchini-Netz aus dem Discounter als Single-Haushalt oft nichts bringt, gehe ich gerne auf den Brunnen-Markt im 16. Bezirk. Sicher nicht unbedingt Bio, allerdings superfrisch, unschlagbar günstig und man fühlt sich wie in Little Istanbul. Außerdem bin ich ein Verpackungs-Ästhet. Die Kaufwahrscheinlichkeit steigt, wenn Produkte gar nicht, in Papier oder Glas verpackt sind. Sollte trotzdem unnötiges Plastik drumrum sein, fülle ich es daheim prompt in Schüsseln und Gläser um.  

Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal für dich selbst gekocht hast und wer dir das Kochen beigebracht hat? 
Ich war in der zweiten Klasse nach der Schule oft ein paar Stunden allein daheim, da hab ich mir sicher mal ein Spiegelei gemacht oder etwas aufgewärmt. Von meinem ersten Taschengeld habe ich mir Kinderkochbücher gekauft, das Kochen wurde dann ein wenig systematischer. Daheim ist ganz klar der Papa der Koch. Von ihm habe ich die Leidenschaft für Lebensmittel vererbt bekommen und konnte mir viel abschauen.    

Was war dein Lieblingsessen als Kind? 

Schleifchennudeln mit Sahnesoße, Grießnockerlsuppe und Rouladen von der Oma. Diese dunkle Soße, woah!  

Was ist dein aktuelles Lieblingsessen?

Ganz oben steht zur Zeit die Vietnamesische Küche. Was ich immer essen kann, sind griechische und türkische Vorspeisen. Außerdem liebe ich alles, wozu man einen Joghurtdip essen kann. Also alles.   

Was magst du gar nicht?

Ich bin ein Allesesser. Komischerweise bin ich großer Fan von allen Dingen, die normalerweise ein „Ih“ auslösen, also Rosenkohl, Rote Bete, Muscheln...Nur bei Leber hört’s leider auf, obwohl ich es immer wieder probiere.  

Mittags warm und abends kalt oder andersrum?
Bitte so oft wie möglich warm.  

Wo isst du am liebsten, am Tisch oder auf dem Sofa?

Ich wohne alleine und muss zugeben, dass ich viele meiner Mahlzeiten auf der Couch vor dem Fernseher zu mir nehme. Sobald ich allerdings Gäste habe, immer am Tisch!  

Was trinkst du zum Essen?

Daheim meistens nichts oder Leitungswasser. Auswärts gerne Wein.  

Wie oft gehst du auswärts essen und hast du ein Lieblingsrestaurant? 

Kommt ein wenig auf die Finanzsituation an. Auswärts essen ist ein Luxus, auf den ich als erstes verzichte, wenn es ein bisschen eng im Geldbeutel ist. Sobald ich aber Geld habe, sofort für Essen verpulvern! Gerne gehe ich dann ins Il Sestante im 8. Bezirk. Im Sommer sitzt man dort sehr idyllisch auf einem Platz vor einer Kirche. Dazu die riesige Holzofen-Pizza und das Florenz-Feeling ist perfekt.  

Was isst du, wenn es schnell gehen muss?

Meistens habe ich irgendwelche Reste im Kühlschrank. Ansonsten Käsebrot oder Rührei/Spiegelei/Omelette. Außerdem ist immer ein Glas (selbstgemachtes) Pesto im Kühlschrank.  

Was war das aufwändigste Gericht deines Lebens?
 
Aufwändig finde ich Gerichte immer nur, wenn sie nicht so gelingen, wie man sich das vorgestellt hat. Deshalb rangieren die Gnocchi vom Samstag unverhofft sehr weit oben auf der Liste.  

Hast du ein Standard-Gericht, wenn Eltern oder Freunde zu Besuch kommen? 

Wenn meine Eltern zu Besuch kommen, mache ich immer ein ganzes Huhn. Dieses fülle ich mit vielen Kräutern, Zitrone und Knoblauch. Tipp dabei: Butter unter die Haut schmieren, so wird es schön knusprig! Wenn Freunde kommen, probiere ich immer Neues, am liebsten etwas, das sich gut vorbereiten lässt.  

Welchen jetzt-User oder -Redakteur möchtest du als Kosmoskoch sehen?   
Ich bin nicht so aktiv im Kosmos. Aber gerne sehen möchte ich die „schreiberin“, wir haben fast zwei Jahre zusammen gewohnt und ich würde gerne ihre Essgewohnheiten sehen, jetzt wo sie alleine wohnt und im Arbeitsalltag angekommen ist.




















Das Duschbier

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Es liegt natürlich näher, das ganze doof zu finden, als es zu mögen. Bier in der Dusche, da brüllen einem die Gegenargumente ja nur so durch den Kopf: Spritzwasser im Bier! Shampoo im Bier! Sturzgefahr! Wasserverschwendung!

Das Duschbier ist eine offensichtlich schlechte Idee. Es wirkt dekadent, irgendwie prollig, erinnert an College-Parties, Druckbetankung mit Bierbong und Sauna mit Wodka-Aufguss. Es sind aber vermutlich genau diese Punkte, die den Erfolg des Duschbieres erklären: Etwas offensichtlich dämliches zur besten Sache der Welt zu erklären, macht Spaß und funktioniert gerade im Internet hervorragend.  

Auf Reddit, dem Durchlauferhitzer für kuriose Meldungen, Fotos und Meme aller Art, folgen mittlerweile mehr als 18.000 Leser der Gruppe "Showerbeer". Seit ein paar amerikanische Blogs (teils mit beeindruckendem archivarischem Ehrgeiz) über das Phänomen berichtethaben, stellen Nutzer fast im Stundentakt Fotos ein. Sie halten nackt und mit nassen Haaren Bierdosen in die Kamera, alleine oder mit Freunden, eingerahmt von Duschvorhängen und Shampooflaschen. Zwei Jahre nach dem Planking, ein Jahr nach dem Harlem Shake, sieht es aus, als habe das Internet seinen nächsten großen Mitmach-Mem gefunden.  

[plugin bildergalerie Bild1="Ein Paar beim Duschbier mit Elchgeweih" Bild2="Ein Duschbier alleine" Bild3="Ein Duschbier mit dem Sohn" Bild4="Geschmackssache: Ein Double-Stout"]

Das Duschbier und seine merkwürdige Beliebtheit sind ein Beispiel dafür, wie das Internet dämliche Ideen aufnimmt, sie mit spielerischer Begeisterung weiterspinnt und allmählich eine Ideologie drumherum packt. Das Duschbier ist, wie das Planking, in erster Linie eine absurde Bildidee - und komisch genug, um einen Sog zu entwickeln.

Noch steht es am Anfang seiner Mem-Karriere, aber es dürfte keine schlechten Chancen haben. Es bedient gleich mehrere Trends, Selfie-Exhibitionismus auf der einen, Voyeurismus auf der anderen Seite. Gleichzeitig liefert es eine hübsche lebenspraktische Komponente: Denn bei aller Albernheit ist das Duschbier im Kern ein durchaus anwendbarer Vorschlag, wie sich vormals tote Zeit angenehm nutzen lässt.

In den Foren geben Conaisseure des Duschbiers schon jetzt Tipps im Ton von Gault-Millaut-Kritikern. Etwa der User, der angeblich "die Kunst des Duschbieres schon seit 1985 mit Bedacht ausübt" und zur Optimierung des Duschbier-Erlebnisses folgendes empfiehlt:

  • Das Bier sollte so kalt wie physikalisch möglich sein, das Wasser so heiß, wie es das Schmerzempfinden zulässt – was zählt, ist der Kontrast!

  • Keine Glasflaschen, nur Dosen!

  • Bei der Hälfte der Dusche sollte ein leichter Rausch spürbar sein!

  • Falls nötig, möge man zu diesem Zwecke ein Reservebier im Waschbecken bereit halten! (Möglichst mit Eis, siehe Punkt eins)

  • Klare Indikatoren für ein Duschbier sind zum Beispiel: Das Ende eines langen Tags in der Sonne / Die Hochzeit eines Freundes / Der erste Besuch in Las Vegas oder New Orleans.  


Und am Mythos wird weiter gestrickt. Man findet mittlerweile Vorschläge für die beste Musik zur Untermalung eines Duschbiers (der Trend geht zu Ska-Punk) und leidenschaftliche Diskussionen um die Frage: Lager oder Pils, vielleicht gar ein Ale? Junge Väter geben die Tradition schon jetzt an ihre Kleinkinder weiter, man gedenkt toten Duschbier-Aficionados mit - na klar - einem Duschbier, Paare fotografieren sich beim Duschbier vor, während und unmittelbar nach dem Sex.

Vielleicht wird das Duschbier durch seine vergleichsweise gute praktische Anwendbarkeit in ein paar Jahren tatsächlich den Sprung in den Alltag geschafft haben. Wir wollen uns mit Prognosen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber der "Zigarette danach" im Bett dürfte es vor Jahrzehnten ähnlich gegangen sein. 

Welche Weihnachtstraditionen gibt es bei dir?

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Der Brief von meinem Großvater ist gefürchtet: Jedes Jahr finden meine Familie, aber auch seine Freunde und ehemalige Arbeitskollegen einen schreibmaschinengetippten Brief in ihrem Postkasten, in dem die Ereignisse des vergangenen Jahres abgehandelt werden. Das wäre soweit in Ordnung - hätte nicht vor Jahren jemand meinem Großvater gesagt, dass wir, seine Familie, in diesem Brief doch alle verdammt gut wegkämen.

Seitdem gibt er sich also Mühe, nicht nur lobhudelnd über unsere Zeugnisnoten und den Berufsstand zu schreiben, sondern plaudert auch mal Privates aus. Auf einmal weiß jeder von der 80-jährigen Tante bis zum früheren Bürokollegen, ob meine Beziehung vorangeht, wer zu selten bei meinen Großeltern vorbeischaut und wie mein Großvater unsere Berufsentscheidungen bewertet. Das ist zum Teil sehr herzerwärmend - aber halt auch nur, wenn man gut dabei wegkommt. Wenn Opa hingegen zum zweiten Mal hintereinander schreibt, dass es schulisch ja besser laufen könne oder auffällig sei, dass X und Y immer noch nicht geheiratet haben, wird's unangenehm. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass viele von Opas und Omas Freunden diese Briefe seit Jahren sammeln und abheften. "Die freuen sich da das ganze Jahr drauf", erzählt dann meine Großmutter stolz. Bei dem Gedanken, dass viele Menschen, die ich noch nie gesehen habe, so mein gesamtes Leben, von der Einschulung bis zum Studienabschluss verfolgt haben, wird mir ganz anders. Und da sagt nochmal jemand, unsere Generation würde bei Facebook zu viel Privates preisgeben.



In solchen Momenten tröstet mich, dass viele Familien eigenartige Traditionen pflegen. Manche kaufen sich aus Prinzip keinen Weihnachtsbaum, um dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion noch kurz vor der Bescherung einen zu klauen, so als gemeinsame Vater-Sohn-Aktion. Andere bauen bombastische Krippen, deren Figuren bis zum Dreikönigsfest am 6. Januar je nach aktuellem Stand der Weihnachtsgeschichte bewegt werden. Und wieder andere machen es zum Ritual, an Weihnachten Gesellschaftsspiele wie "Trivial Pursuit" zu spielen, obwohl sie doch genau wissen, dass sich danach alle hassen.

Was für kuriose Familientraditionen werden an Weihnachten bei dir ausgepackt? Singt ihr alle gemeinsam Karaoke? Stellt selber Weißwürste her oder battelt euch beim Bauen des größten Lebkuchenhauses? Erzähl es dem Kosmos!

Staffelläufer des Heiligen Kriegs

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Er selbst ist jetzt zu alt für den Heiligen Krieg, aber sein Lebensweg bleibt beispielhaft: Nasr al-Bahri hat in Bosnien gekämpft, in Afghanistan, Tschetschenien, Somalia – ein Staffelläufer im weltweiten Dschihad. Er war Leibwächter von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden, von dessen Lehre er sich zwar nach außen hin inzwischen abgewandt hat. In seinem Herzen wird er das, was er getan hat, aber weiter für richtig halten: Der Heilige Krieg ist, so sagen die Orthodoxen und Radikalen unter den Muslimen, die Pflicht eines Gläubigen. Und auch wenn Bin Laden inzwischen tot ist, sind Tausende junge Männer weiter bereit, für die „Befreiung“ eines islamischen Landes zu sterben – diesmal in Syrien.



Laut der ICSR-Studie kommen immer mehr Aufständische in Syrien aus dem Auslaund. Der Anstieg europäischer Gotteskrieger ist dabei besonders auffällig.

Und die Ausländer kommen in immer größerer Zahl. Auch aus Europa, auch aus Deutschland. In der Levante sollen inzwischen mehr muslimische Internationalisten kämpfen als in den Achtzigerjahren in Afghanistan, dem ersten großen Dschihad der jüngeren Zeit. Experten vom International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) gehen in einer aktuellen Studie, die der Süddeutschen Zeitung exklusiv vorab vorliegt, von bis zu 11000 ausländischen Kämpfern in Syrien aus. Die ICSR-Studie analysiert, dass mittlerweile ein Zehntel der circa 100000 Aufständischen, die gegen das Assad-Regime kämpfen, keine Syrer sind. Es sind Männer aus mehr als 70 verschiedenen Ländern: aus der islamischen Welt, aus Saudi-Arabien, Jordanien, Jemen, Ägypten, Nordafrika, der Türkei, aus dem Kaukasus. An ihrer Seite stehen Muslime aus Südostasien, aber eben immer häufiger auch aus den USA, England, Frankreich, Belgien.

Der Anstieg europäischer Gotteskrieger ist besonders auffällig: Die Zahl der Westeuropäer hat sich gegenüber früheren Untersuchungen verdreifacht. Etwa 240 Dschihadisten aus Deutschland sollen unter den bis zu 1800 Europäern sein, die in den vergangenen drei Jahren in der Levante gekämpft haben oder dort gestorben sind. Bei Muslimen aus den arabischen Staaten kann die Attraktivität des syrischen Dschihad wenig verwundern. Wie Bin Ladens früherer Leibwächter sind sie der Meinung, dass den Palästinensern und den Muslimen historisches Unrecht geschehen ist durch die Gründung Israels, durch den US-Einmarsch im Irak, durch die internationale Koalition in Afghanistan, durch den Krieg der Russen im Kaukasus. In der gesamten muslimischen Welt ist diese Sicht der Dinge mehrheitsfähig.

Nicht umsonst kommt die größte Gruppe der Dschihadis in Syrien aus dem Nachbarland Jordanien. In den Flüchtlingslagern an der Grenze sehen und hören sie, was Assads Krieg mit den Menschen macht. Die, die das syrische Gemetzel nicht aus der Nähe verfolgen, finden ihr ideologisches Futter im Internet, auf Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch. Auf Dschihadisten-Webseiten und in Chaträumen radikalisieren Anwerber gezielt junge Männer und Frauen mit einer gefälligen Mischung aus Religion, Moral und Politik.
Auch die Kontakte für die Reise ins Kriegsgebiet sind dort zu finden. Der Jemenit Bahri hatte seinerzeit Politologie studiert. Doch die Worte Bin Ladens hatten höheres Gewicht bei der Formung seines Weltbildes: „In drei Tagen erklärte der Scheich mir die Welt.“

Warum Syrien? Der Bürgerkrieg wird zunehmend religiös geprägt: Auf der Seite des Regimes kämpfen Schiiten, seien es die Alawiten der Assad-Familie oder die von ihm angeheuerten Kämpfer der libanesischen Hisbollah, der iranischen Revolutionsgraden oder der Schiiten-Miliz aus dem Irak. Die Rebellen hingegen sind Sunniten, sie geraten ins Hintertreffen: „Das könnte Auslöser dafür sein, dass Sunniten den Konflikt zunehmend als einen Krieg der Religionsgruppen betrachten, in dem die Sunniten zusammenstehen müssen, um den Vormarsch der Schiiten aufzuhalten“, heißt es in der aktuellen ICSR-Studie.

Solidarität mit den bedrohten Glaubensbrüdern im jahrhundertealten Streit der beiden islamischen Glaubensgruppen, das ist nach Meinung der ICSR-Experten der Grund dafür, dass der Kampf in Syrien für Sunniten aus aller Welt attraktiv ist. Das passt zur Ideologie der radikalen Sunniten-Prediger im Internet, für die Schiiten Ketzer sind, die den Tod verdienen. Dabei stärken die Internationalisten die Radikalsten unter den Radikalen in Syrien selbst: ICSR-Direktor Peter Neumann sagt, dass die ausländischen Militanten sich fast automatisch den ultra-orthodoxen Gruppen unter den Rebellen anschließen, der al-Qaida nahestehenden Al-Nusra-Front oder dem „Islamischen Staat im Irak und in al-Sham“ (ISIS). Diese kämpfen nicht nur gegen Assad, sie schießen auch für die Gründung eines Kalifatstaats in Syrien.

Großsyrien war in der frühen Phase des Islam Sitz der Omaijaden. Die frühmittelalterliche Dynastie hat eine der erfolgreichsten Phasen des islamischen Weltreichs geprägt. Damals war die Religion des Propheten Mohammed auf dem Vormarsch, eroberte den Nahen Osten und Nordafrika. Für die heutigen Islamisten hat dies Vorbildcharakter. Neben der Ideologie gibt es einen weiteren, praktischen Grund für die Anziehungskraft der radikalen Gruppen: „Sie haben die beste Reputation und die größte Kampfkraft. Und sie behandeln ihre Rekruten am besten“, so das ICSR. Wenn die ausländischen Militanten ihren Dschihad überleben, bringen sie neben ihrer Ideologie jede Menge Erfahrung im Schießen und Bombenlegen sowie Kontakte zu anderen Militanten mit nach Hause. So werden die Netzwerke in den Heimatstaaten zwangsläufig enger, es steigt also die Gefahr von Terrorangriffen in anderen Teilen der Welt.

Sanfte Revolutionärin

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Am Ende war ihre Rückkehr an Chiles Staatsspitze eher eine Pflichtübung. Bereits den ersten Wahlgang Mitte November hatte Michelle Bachelet überlegen gewonnen und nur die absolute Mehrheit knapp verfehlt, die bekam sie nun in der Stichwahl gegen Evelyn Matthei. 62,15 Prozent der Stimmen sammelte die milde Sozialistin und zieht am 11. März 2014 ein zweites Mal in den Präsidentschaftspalast La Moneda ein, wo sie bereits zwischen 2006 und 2010 regiert hatte. Damals war die frühere Kinderärztin die erste Staatschefin des südamerikanischen Landes gewesen, jetzt hat sie ihre rechten Rivalen deklassiert.



Michelle Bachelet gewinnt die Präsidentenwahl in Chile und will das Erbe Pinochets überwinden.

Das Comeback allerdings wird kompliziert. Denn Frau Bachelet will endlich Pinochets Erbe überwinden. Nach ihrem Triumph am Sonntagabend wiederholte die Siegerin ihr Versprechen, im Gesicht mit der randlosen Brille ihr beliebtes Lächeln. „Chile hat beschlossen, dass dies der Moment für tief greifende Veränderungen ist“, sagt sie. „Wir, die wir den Wandel wollen, sind eine weitreichende Mehrheit.“ 60 Prozent der Chilenen blieben der Wahl allerdings fern, ein demokratisches Drama. Bachelets Parteienbündnis Nueva Mayoría, Neue Mehrheit, reicht von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten. Dieses Fortsetzung des vormaligen Paktes Concertación ist seit dem Ende der Diktatur 1990 nur einmal in der Opposition gewesen, nämlich in der Regierungszeit des rechtsgerichteten Präsidenten und Milliardärs Sebastián Piñera, die nun endet.

Michelle Bachelet gilt mit 61 Jahren als Symbol der Wende. Sie ist wesentlich geschickter als Amtsinhaber Piñera und hat moralische Vorteile. Ihr Vater war der unter Pinochet zu Tode gefolterte General Alberto Bachelet, ein Vertrauter des 1973 hinweg geputschten Sozialisten Salvador Allende. Sie wurde verhaftet, flüchtete ins Exil, wurde später Ministerin und Präsidentin und zuletzt Frauen-Beauftragte der UN in New York. Sie ist geschieden und zog ihre Kinder alleine groß. Ihre Vita steht in einigem Kontrast zu ihrer reaktionären Gegnerin und Jugendfreundin Matthei, Tochter eines Junta-Mitglieds. Beide vertreten zwei entgegengesetzte Lager, 40 Jahre nach dem Staatsstreich gegen Allende.

Doch Michelle Bachelet versucht sich als Kompromissfigur, als eine Art Angela Merkel Chiles. Sie verkündet eine ebenso sanfte wie entschiedene Revolution. Bei orthodoxen Ökonomen genießt Chile den Ruf einer Modellnation. Das machen stabile Wachstumsraten, üppige Staatseinkommen durch Kupferexport und weitere Produkte wie Holz, Lachs, Wein sowie schicke Autobahnen und wahnwitzige Bauwerke. Im erdbebengefährdeten Santiago entstand das Einkaufs- und Bürozentrum Costanera Center des Unternehmers Horst Paulmann, sein Turm ragt 300 Meter hoch in den oft von Smog verhangenen Himmel.
Scharen von Kunden füllen solche Tempel des Konsums, doch gleichzeitig ist das OECD-Mitglied Chile eines der Länder mit der ungerechtesten Verteilung der Einkommen und der einseitigsten Gesetzgebung.

Jeder zweite chilenische Arbeiter verdient umgerechnet weniger als 345 Euro im Monat. Laut einer Studie der Universidad de Chile vereint ein Prozent der reichsten Chilenen so viel Geld wie 31 Prozent der übrigen 17,5 Millionen Einwohner auf sich – das Missverhältnis ist deutlich krasser als in den USA und in Deutschland. Selbst Ausbildung und Wasserversorgung sind im neoliberalen Musterstaat privatisiert, Pinochets Verfassung von 1980 gilt in weiten Teilen bis heute. Während ihres ersten Mandats hat Michelle Bachelet trotz sozialistischen Parteibuchs kaum an dem Turbokapitalismus gerüttelt. Im zweiten Versuch will sie es wagen.

Zu ihren Unterstützern gehören die meisten Schüler und Studenten, die seit Jahren gegen abstruse Erziehungskosten protestieren. Chiles Schulen und Universitäten gehören zu den teuersten der Welt. Michelle Bachelet kündigt deutlich billigeren bis kostenlosen Zugang zu Klassenzimmern und Hörsälen an. Bildung sei keine Ware. Dafür sollen Firmen steuerlich höher belastet werden. Auch will die frühere Ärztin durchsetzen, dass Schwangere im Falle gesundheitlicher Gefahren abtreiben dürfen. Bisher ist der Schwangerschaftsabbruch im erzkatholischen Chile selbst nach Vergewaltigung Minderjähriger verboten.

Für einfache Reformen hat die Neue genügend Sitze im Parlament. Für den geplanten Umbau der Verfassung dagegen bräuchte Bachelet eine Zweidrittel-Mehrheit, die ihr fehlt. Ihre kommunistischen Verbündeten mit der vormaligen Studentenführerin Camila Vallejo werden drängen. Ihre christdemokratischen Helfer werden bremsen, rechte Widersacher noch mehr.

„Bringt Tee und Freunde mit“

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Einer muss ja den Anfang machen, so wie es immer einen ersten Eiskristall gibt, der sich löst, andere mitzieht und die Lawine ins Tal donnern lässt. In der Ukraine war es Mustafa Nayyem. Als am 21. November Präsident Viktor Janukowitsch verkündete, dass die Ukraine die Arbeit am Abkommen mit der EU gestoppt habe, da saß Nayyem an seinem Computer und postete spontan eine Kleinigkeit. „Lasst uns um 22.30 Uhr unter dem Unabhängigkeitsdenkmal zusammenkommen. Zieht euch warm an, bringt Regenschirme mit, Tee, Kaffee und Freunde.“ Und er erhielt Antworten, kurze wie „ich werde kommen“, „ich komme auch“. Es waren viele. So rollte er an, der ukrainische Dauerprotest.



Nayyem startete die Proteste in der Ukraine mit dem Aufruf sich unter dem Unabhängigeitsdenkmal zu treffen. Seine Blogeinträge und Kommentare zum Geschehen spielen eine einflussreiche Rolle.

Wie das so oft ist in diesen Zeiten: Nayyem ist ein bekannter Blogger, aber er ist auch ein bekannter ukrainischer Fernsehjournalist. Ein unbequemer. Aufsehen erregte er einmal, als er in einer großen Pressekonferenz Präsident Janukowitsch fragte, wie es sein könne, dass es diesem immer besser gehe und den Menschen in der Ukraine schlechter und schlechter.

Nayyem, 32 Jahre alt, glatzköpfig mit Kinnbart, spielt bei den Massenprotesten in der Ukraine nicht die entscheidende, aber eine einflussreiche Rolle. In hoher Frequenz spuckt er über seinen Blog kurze Kommentare aus, provoziert Debatten, protokolliert die ukrainisch-europäische Pendeldiplomatie, schreibt wie zuletzt über den Brüssel-Besuch des Sekretärs des Staatssicherheitsrates. Vor allem aber ist er Mitgründer des kritischen Internet-Fernsehsenders hromadske.tv, der von Beginn an die Bevölkerung mit Live-Bildern aus Kiew von den Demonstrationen auf dem Platz der Unabhängigkeit versorgte.

„Jung zu sein und nicht revolutionär, ist ein genetischer Widerspruch“, steht als Motto auf seinem Twitter-Account. Und so geht er auch mit der Opposition nicht allzu zimperlich um. Dem Spiegel sagte er neulich, „es ist das erste Mal, dass wir Ukrainer für etwas demonstrieren, nämlich für die Annäherung an die EU, nicht gegen irgendetwas. Aber ich habe ein total ungutes Gefühl: Die Opposition hat die Planke extrem hoch gelegt, sie ist zur Geisel der Straße geworden.“

Nayyem, der aus Afghanistan stammt, hat in der Ukraine schon eigene politische Fernsehsendungen moderiert, schreibt nun regelmäßig für die kritische Internet-Zeitung Ukrainska Prawda (Ukrainische Wahrheit). In einem Artikel forderte er einmal den Rauswurf eines Mitarbeiters der Sondereinheit Berkut, weil der ihn tags zuvor als „kaukasisches Gesicht“ beschrieben und kurzzeitig festgenommen hatte.

Im Frühjahr überwarf sich Mustafa Nayyem mit dem neuen Management eines Fernsehkanals, verließ den Sender mit ein paar Kollegen und gründete mit ihnen zusammen hromatske.tv. Täglich liefert der Sender seit drei Wochen Bilder von der Protestbewegung, streut die Atmosphäre des Kiewer Maidan in die Winkel des großen Flächenstaates, lässt kommentarlos die proeuropäischen Demonstranten sprechen. Er sieht darin ein Stück journalistischer Freiheit, ein Gegengewicht zu den großen ukrainischen Fernsehkanälen, die, wenn nicht dem Staat, reichen ukrainischen Unternehmern gehören. Und „bei denen sind die Interessen letztendlich recht schwer zu durchschauen“, sagt die ukrainische Online-Journalistin Oleksandra Krokhmal.

Das zweite Leben des Brian

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Er war so anders als all die anderen Hunde. Trank Martini, sprach vornehm, hörte Jazz, war Mitglied im Intelligenzbestienverein Mensa und als junger Köter Redakteur des New Yorker. Brian war eine der zentralen Figuren in Seth MacFarlanes Zeichentrickserie Family Guy, intellektueller Gegenpol zum irren Familienvater Peter Griffin, moralische Bremse von Baby Stewie, der im Hochstuhl plante, die Weltherrschaft mit Bombengewalt zu übernehmen.



Der macher der Serie "Family Guy" Seth MacFarlane lässt den beliebten Hund der Serie wieder auferstehen.

Vor drei Wochen schied Brian beim US-Sender Fox aus dem Leben, ausgerechnet eine E-Klasse überfuhr ihn, den überzeugten Prius-Fahrer. Zerschunden lag er auf dem Asphalt, erlag den Verletzungen.
Es war ein Sonntag, als Brian dem Publikum genommen wurde, und es war ein Sonntag, der zurückliegende, als es ihn zurückbekam. Sehr im Sinne Brians hatte ein basisdemokratischer Prozess ihm neues Leben eingehaucht. Fans wollten sich nicht mit seinem Tod abfinden und starteten auf der Plattform change.org eine Petition. Mehr als 150000 Unterschriften wurden gesammelt, es gab Facebook-Gruppen, Demonstrationen. Brian kam zurück.

Eine Zeitmaschine rettete Brian vor dem Unfalltod. „Nimm die, die du liebst, niemals als selbstverständlich hin, sie könnten in der nächsten Sekunden verschwunden sein“, twitterte sein Erfinder seltsam friedlich nach der Ausstrahlung. Man muss darauf gefasst sein, dass Mac Farlane, der für seinen sarkastischen Humor bekannt ist, Brian einfach noch einmal sterben lässt.

Aufstand gegen Amazon

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Pünktlich zur Zeit der Weihnachtsgeschenke also die Moralfrage: Darf ich bei Online-Händlern einkaufen und gerade bei diesem total bequemen Marktführer Amazon? Liegen dort doch zwischen Geschenkauswahl und -bestellung gefühlt nur zehn Sekunden - die "One-Click"-Funktion macht's möglich.



Die Mitarbeiter von Amazon streiken vor der Auslieferungshalle. Sie fordern einen flächendeckenden Tarifvertrag.

Aber zu welchem Preis, fragen jetzt Gewerkschaften und Kirchen? Am Montag begannen an deutschen Standorten und sogar vor der Amazon-Konzernzentrale in Seattle Protestaktionen, die teils bis Freitag andauern sollen. Seit Jahren schon kämpft vor allem die Gewerkschaft Verdi beim weltgrößten Internet-Versandhändler um höhere Löhne und tarifliche Regelungen, wie sie im Einzelhandel gelten.

Doch der Konzern des US-Milliardärs Jeff Bezos will es halten wie in den USA: Bezahlt wird nur, wie es in der vergleichsweise schlechter gestellten Logistikbranche üblich ist. Das bestellte Geschenk aus dem Hochregal ziehen, aufs Förderband legen, verpacken und abschicken Richtung Gabentisch, das ungefähr ist der Aufgabenumfang der Mitarbeiter. Und das habe nichts mit Beratung oder Einzelhandel zu tun, sondern eben nur mit Logistik, heißt es bei Amazon. Mit 9 Euro und 55 Cent als Einstiegslohn lägen die Amazon-Mitarbeiter zudem am oberen Ende der Verdienstskala der deutschen Logistik-Industrie.

Die Verdi-Vorstandsfrau Stefanie Nutzenberger sagt dagegen: "Das System Amazon ist geprägt von niedrigen Löhnen, permanentem Leistungsdruck und befristeten Arbeitsverhältnissen." Gut 1100 der 23 000 deutschen Amazon-Mitarbeiter beteiligten sich nach Angaben von Amazon am Montag an den Standorten Bad Hersfeld, Leipzig und erstmals auch in Graben bei Augsburg. Dorthin zum schwäbischen Lager war auch Diözesanpräses Erwin Helmer von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung gekommen. "An der Oberfläche hat sich bei Amazon manches verbessert, es gibt etwa höhere Löhne und ein kleines Weihnachtsgeld", sagte er, während im Hintergrund Trillerpfeifen zu hören waren. "Aber einen sicheren Tarifvertrag gibt es immer noch nicht, und der psychische Druck durch Vorgesetzte ist weiter enorm." Sobald ein Lagerarbeiter einige Minuten stehe, werde er angesprochen.

Alles werde gemessen und überwacht. Angesichts des Drucks sei die Teilnehmerzahl sehr ordentlich: "Es gibt viele, die den Mut gefasst haben, aber natürlich trauen sich etwa Alleinerziehende, die auf jeden Cent angewiesen sind, weniger Protest zu."

Vor dem Hauptquartier in Seattle spannten deutsche Gewerkschafter begleitet von US-Arbeitnehmervertretern am Montagvormittag (Ortszeit) ein Banner: "Work hard, make history: Tarifvertrag für Amazon!" Es war das erste Mal, dass Verdi im Ausland für ein deutsches Anliegen kämpft, das aber doch auch ein weltumspannendes ist, wie Philip Jennings, Generalsekretär des Gewerkschafts-Weltverbandes Uni Global Union erklärte: "Ihr seid nicht allein", sagte Jennings und nutzte den deutschen Vorstoß aus. Amazon müsse seine gewerkschaftsfeindliche Haltung überdenken - in den USA etwa scheiterten Arbeitnehmerproteste bei Amazon zuletzt: "Wir fordern das Unternehmen auf, ein weltweit gültiges Abkommen über Mitarbeiterrechte zu unterzeichnen."

Massive, unangenehme Vorwürfe für das Unternehmen, wenn es auch abwiegelt und eine weiter zuverlässige Zustellung verspricht: Ausländische Standorte würden aushelfen, und im Übrigen sei die große Mehrheit der Belegschaft zum Dienst erschienen. Aber es ist auch unangenehm für die Kunden, die trotz der Beschwichtigungen fürchten, das einige der liebevoll ausgewählten Versandhandelsgeschenke nicht rechtzeitig unter den Baum kommen. Und dann sind eben einige ins Nachdenken gekommen: Kann ich da noch einkaufen?

Von der Macht und Möglichkeit der Kunden ein Zeichen zu setzen, spricht Präses Helmer und die Gewerkschaft Verdi klingt ganz ähnlich. Die evangelische Pfarrerin und ehemalige Unternehmensberaterin Petra Bahr geht noch weiter: Sie hat vor zwei Jahren ihr Amazon-Konto gekündigt wegen all der Daten, die dort gesammelt wurden, wegen all der Mainstream-Produkte, die dort feilgeboten wurden.

Und wegen der Doppelmoral: "Im Bioladen einkaufen fürs Gewissen und dann bei Amazon eine Klassik-CD oder Weltliteratur zu bestellen, um dem Weihnachtsstress zu entkommen, das hat etwas Irritierendes", sagt Bahr, die auch Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. "Selbst der kultivierte Mittelstand denkt kaum noch an den Zustand in den gigantischen tristen Lagerhallen und an den Produktionsorten, oder sie haben intelligente Ausreden, etwa den 10-Stunden-Job in der Kanzlei oder Praxis." In Berlin-Mitte wohnt die Theologin mit ihrer Familie, die Gegend der Kulturbürger, die keine Zeit mehr haben fürs Shoppen. In Bahrs Flur stapeln sich die Pakete der Nachbarn - von Amazon, Zalando und all den anderen Versandkonzernen.

Wobei sie das nicht als generelle oder gar dogmatische Konsumkritik oder Internetkritik verstanden haben will: "Konsum macht den Menschen Spaß!" Und das Internet bringe auch ihr so viele Ideen, Modelabels etwa, die ihre selbst gefertigten Sachen auf eigenen Seiten anbieten. Oder das spezielle Bauteil für eine Brio-Eisenbahn, das von einem Ingenieur entwickelt und privat vertrieben wird.

Was fehle, sei eine Kultur im Umgehen mit den Digitaltechnologien. "Wenn sich Phantasie und Moral verbinden, wäre das schön, wenn wir überlegen, wie es möglichst vielen möglichst gut geht bei unserem Handeln, und wenn wir erkennen, dass wir eigene Spielräume haben, auch in der Welt, die von Konzernen beherrscht scheint." Wobei die Spielräume auch noch für Anhänger des bequemen Amazon-Weihnachts-Shoppings gegeben sind: Wer bis zum Freitag um 23.59 Uhr bei dem Händler bestellt, wird sein Geschenk angeblich rechtzeitig bekommen.

Allerdings haben zwei Standorte bereits mitgeteilt, weiter zu streiken: Bad Hersfeld bis Mittwoch. Und Leipzig gar bis Freitag.

Die zweite industrielle Revolution

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Der Fortschritt sieht ganz unspektakulär aus. Oberflächlich besteht er aus einer Glaskabine und einem Flachbildschirm. Wenn man die Kabine betritt, erscheint auf dem Monitor eine junge Frau. „Ich sitze ganz in Ihrer Nähe“, versichert sie. „Wo genau, darf ich Ihnen nicht sagen.“ Die Kabine steht im Demonstrationslabor auf dem Campus des Netzwerkausrüsters Cisco Systems in San José, einem der größten und traditionsreichsten Unternehmen des Silicon Valley. Das Entscheidende dabei sieht man gar nicht: Sie ist mit dem Internet verbunden; die junge Frau auf dem Monitor mag in einem Büro bei Cisco arbeiten, sie könnte auch am anderen Ende der Welt sitzen. Und darauf kom



Das "Internet of Everything" wird in Silicon Valley entwickelt. Dieses System soll kosten sparen und bürgernah sein.

Die Installation nennt sich „Telepräsenz-Kiosk“ und gehört zu dem Programm „Virtual Citizen’s Service“, mit dem Cisco Großstädte auf der ganzen Welt als Kunden gewinnen möchte. Der „Virtuelle Bürger-Service“ könnte, so die Idee, einer Stadtverwaltung dabei helfen, Kosten zu sparen und gleichzeitig bürgernah zu sein. Wenn Bürger einen Bauantrag stellen oder Umweltschäden melden wollen, dann gehen sie einfach zum nächsten Telepräsenz-Kiosk und können dort mit leibhaftigen Angestellten der Stadt reden. Die Stadt spart Geld, der Bürger Zeit. „Die Regierung kann auf kostengünstige Weise mit Bürgern kommunizieren, indem sie Telepräsenz-Kioske in Büros ohne Personal installiert“, verspricht Cisco.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt des „Internet of Everything“, des Internets von allem. Es ist der derzeit wichtigste Trend im Silicon Valley: Heute sind die Menschen über Laptop, iPad oder Smartphone vernetzt, schon am Ende dieses Jahrzehnts könnte die komplette physische Umwelt interaktiv sein: Autos, Fabriken, Krankenhäuser, Rathäuser. „Bisher war das Internet eine Sache zwischen Menschen und Maschinen, jetzt bringt es Maschinen mit anderen Maschinen zusammen“, sagt Guido Jouret. Der Ingenieur wurde Ende Oktober zum General Manager des Projekts „Internet of Everything“ ernannt. „Uns steht eine zweite industrielle Revolution bevor“, glaubt Jouret. „Heute sind nur vier Prozent aller Fabriken vernetzt, es könnten 96 Prozent sein.“ Das Ergebnis wäre ein enormer Effizienzsprung. John Chambers, der Starmanager, der seit 18 Jahren an der Spitze von Cisco steht, sagt voraus, dass Unternehmen einen Wert von 14,4 Billionen Dollar schaffen können, wenn sie die Möglichkeiten des Internets konsequent nutzen.

Cisco Systems setzt wie kaum eine andere Firma auf das „Internet of Everything“. Es ist eine Sache der schieren Notwendigkeit. Cisco – der Name leitet sich aus den fünf letzten Buchstaben von San Francisco ab – wurde 1984 gegründet und wuchs mit Produkten, die Computer untereinander vernetzten. Mit seinen Routern und Vernetzungen gehörte Cisco zu den Hauptgewinnern des Internetbooms der Neunzigerjahre. Kurz bevor die Spekulationsblase platzte, Anfang 2000, war Cisco mit mehr als 500 Milliarden Dollar Börsenwert kurzzeitig das teuerste Unternehmen der Welt.

Heute kostet Cisco nur noch 109 Milliarden Dollar und ringt um seine Zukunft. Ein typisches Silicon-Valley-Schicksal: Das Internet hat Cisco groß gemacht, jetzt droht es der Firma die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Cisco muss sein Geschäftsmodell erneuern, betonte Konzernchef John Chambers in der vergangenen Woche vor Analysten. Gleichzeitig strich er seine Prognose für den Umsatz der kommenden drei bis fünf Jahre zusammen. Bereits im August hatte Cisco angekündigt, 4000 Jobs abbauen zu wollen – fünf Prozent der Belegschaft.

Deshalb ist das „Internet of Everything“ so wichtig. Der Begriff gründet sich auf das „Internet der Dinge“ („Internet of Things“), das der britische Techniker Kevin Ashton 1999 erfunden hatte, um die Verbindung von virtueller und physischer Welt zu beschreiben: „Wenn wir Computer hätten, die alles wissen, was man über Dinge wissen kann, und dabei Daten ohne unser Zutun sammeln, dann wären wir in der Lage, alles zu verfolgen und zu messen und in großem Umfang Abfall, Verluste und Kosten vermeiden“, schrieb Ashton damals. Es war eine Vision vor ihrer Zeit – ein Jahr später platzte die Internetblase.

Der Fortschritt ist seither nicht stehen geblieben. Peter Middleton von der Analysefirma Gartner sagt: „Bis 2020 werden die Kosten von Komponenten so gesunken sein, dass Konnektivität eine Standardeigenschaft sein wird. Das eröffnet die Möglichkeit, fast alles miteinander zu verbinden, vom sehr Einfachen bis zum sehr Komplexen, und dafür Fernsteuerung, Überwachung und Messung anzubieten.“

Tatsächlich kann man das Internet der Dinge heute schon besichtigen. Zum Beispiel in Barcelona. Dort hat die Stadtverwaltung Straßenlampen installiert, die mit Sensoren ausgestattet sind. Sie schalten sich nur dann ein, wenn sie gebraucht werden, wenn also Passanten unterwegs sind. Zwischen 40 und 60 Prozent Strom kann so gespart werden, glauben die Experten der Stadt. Am Union Square in Manhattan hat die Stadt New York in Zusammenarbeit mit Cisco zwei alte Telefonzellen mit modernen, 80 Zentimeter hohen Bildschirmen ausgestattet. Die sind mit dem Internet verbunden, wodurch Touristen und Anwohner dort alles über Restaurants im Viertel, das Wetter oder Störungen der U-Bahn erfahren können. Irgendwann soll auch eine Kamera installiert werden: Erkennt das System einen Blindenhund, dann schaltet es auf Sprachbedienung.

Wenn alles mit Kameras und Sensoren ausgestattet ist, dann hat dies eine unvermeidbare Konsequenz: Es fällt eine kaum fassbare Menge an Daten an. Die Daten können genutzt, aber eben auch missbraucht werden. „Das Internet der Dinge hat auch eine dunkle Seite“, räumt Guido Jouret ein, und er schließt daraus: „Sicherheit und Datenschutz werden zentrale Themen sein“, was das Problem beschreibt, aber noch keine Lösung erkennen lässt.

Wie brisant die Sache mit der Datensicherheit ist, hat Cisco gerade erst erfahren. Im laufenden Quartal werden die Umsätze aus den Schwellenländern vermutlich um zwölf Prozent zurückgehen. In Brasilien verkauft Cisco 25 Prozent weniger, in Russland 30 Prozent und in China 18 Prozent weniger. Finanzchef Frank Calderoni räumte ein, dass die Unklarheiten nach den Enthüllungen des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden viele Menschen ins Grübeln brachten – und Unternehmen zögern, wie sie das IT-Budget einsetzen.

Möglicherweise erzwingt jedoch gerade der wirtschaftliche Druck des „Internet of Everything“ Fortschritte beim Datenschutz. Dave Evans, der sich „Chef-Zukunftsforscher“ von Cisco nennt, fordert in einem Blog nichts weniger als eine „Bill of Rights“ des Datenschutzes, was in Amerika einen besonderen Klang hat: In der „Bill of Rights“ sind die verfassungsmäßigen Freiheiten der Bürger zusammengefasst. Persönliche Daten sollten „wie Geld“ werden und durch das Eigentumsprivileg geschützt werden, schreibt Evans. Er räumt ein, dass das sehr ehrgeizig ist, aber im Silicon Valley ist eben Optimismus angesagt: „Es liegt an uns sicherzustellen, dass, wenn das Internet der Dinge sich entwickelt, das Internet weiterhin eine machtvolle Quelle bleibt, um das Leben der Menschen zu verbessern.“

"Wir sind im Grunde alle längst Cyborgs"

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Natürlich ist da der Science-Fiction-Impuls: Star Trek, Terminator - Zukunftsmusik, Spinnereien, Angstszenarien. Aber der Impuls ist falsch. Die technologische Erweiterung des Menschen ist alt. Prothesen gibt es seit Jahrtausenden. Eine Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule hat dem heutigen Stand im Cyborgism jüngst ein faszinierendes Abschlussmagazin gewidmet. Dazu gibt es durchdachte Theorien, denen zufolge schon Smartphones uns zu Cyborgs machen. In Berlin hat sich jüngst der "Cyborgs e.V." gegründet, Deutschlands erster Verein für Menschen, die sich Technik in ihre Körper implantieren lassen wollen. Ein Gespräch mit Gründungsmitglied und Vorstand Enno Park über rechtliche Hürden, ethische Bedenken und den Wunsch, zu hören wie eine Fledermaus.




jetzt.de: Was ist im echten Leben denn ein Cyborg?

Enno Park: Cyborgs sind Menschen, die mit Technologien verbunden werden oder Technologien in oder an ihrem Körper tragen. Und das ist überhaupt nichts Neues. Schon die alten Ägypter kannten Holzbeine.  

Es geht aber nicht ausschließlich drum, aus medizinischen Gründen etwas auszugleichen.
Nein, es geht auch drum, bei gesunden Menschen bestimmte Fähigkeiten zu steigern. Ich selbst bewege mich da an einer Grenze, weil ich eine Hörprothese trage, ein Cochleaimplantat, das fest in meiner Hörschnecke sitzt. Das steht dem echten Hören in einigen Dingen nach, hat aber auch ein paar Gimmicks, die dem normalen Gehör fehlen.  

Nämlich?
Ich kann beispielsweise die Umgebungsgeräusche dimmen, was mir hilft, mich mehr auf meinen Gesprächspartner zu konzentrieren. Gerade in lauten Umgebungen verschafft mir das durchaus einen Hörvorteil.  

Zweck eures Vereins ist laut Satzung „Förderung, Erforschung, Anwendung und kritische Bewertung von Technologien wie Prothetik, Robotik und Bionik“. Was heißt das?
Wir wollen beispielsweise Geräte wie mein Cochleaimplantat analysieren: Wo sind Fehler und Schwachstellen, wo Sicherheitslücken. Ein gutes Beispiel ist die Beinprothese eines Bekannten von mir. Die ist von einem Motor unterstützt, hat dafür allerdings eine Bluetooth-Schnittstelle und ist ständig auf Empfang. Und das stört ihn. Er fragt sich also: „Warum muss das sein?“ Und fühlt sich zwischen Krankenkasse und Hersteller alleingelassen. Wir schauen uns das Gerät an, ob es sich hacken lässt. Das würde ihm ein Leben ermöglichen, bei dem er nicht für jede Modifikation zum Arzt rennen muss. Wir müssen aber nicht unbedingt in diese Spezialgebiete gehen, um die Bedeutung des Vereins zu erkennen.  

Sondern?

Es reicht doch völlig, sich Smartphones anzusehen und zu fragen: Was erlaubt mir der Hersteller, kann ich damit machen, was ich will? Darf Amazon Bücher von meinem Kindle löschen? Wer hat die Kontrolle über die Geräte, denen wir uns so sehr ausliefern?

Moment, ein Smartphone macht uns schon zu Cyborgs?
Eine für mich sehr schlüssige Theorie besagt: Wir sind im Grunde alle längst Cyborgs, ohne es gemerkt zu haben. Das Smartphone ist bei vielen das Erste, das sie morgens in die Hand nehmen, und das Letzte, das sie vorm Schlafen weglegen. Vielen fehlt etwas, wenn das Gerät nicht da ist. Der Begriff „Sucht“ beschreibt dieses Phänomen aber nur sehr mangelhaft. Schon jetzt stellt derartige Technik eine Art von Sinneserweiterung dar, indem sie etwa das unsichtbare Internet, das wir über die Welt gelegt haben, sichtbar macht. Dazu wächst die Technik immer näher an uns heran.  

Wie?

Der Trend geht vorerst in Richtung Wearables: Kleidung, die intelligenter wird, Google-Glasses und Ähnliches. Das sind alles Beispiele, bei denen wir mit der Technik heute schon verschmelzen, ohne uns etwas einzupflanzen.  

Woher nehmt ihr die Kompetenz, um an der Diskussion teilzunehmen?

Die kommt von sehr unterschiedlichen Seiten. Ich bin zum Beispiel einfach ein Betroffener, der sich mit dem Thema aus gegebenem Anlass sehr intensiv beschäftigt hat. Darüber bin ich wohl zum Experten geworden. Andere Mitglieder sind einfach Hacker und haben sich durch eine grundlegende Neugier großes Wissen erarbeitet. Eines wohl, über das Akademiker die Nase rümpfen, aber einige von uns sind auch Wissenschaftler, die an verschiedenen Instituten forschen.  

Wir reden von Hacker im ursprünglichen Wortsinn – also nicht nur Menschen, die in Computersysteme eindringen, sondern die Alltägliches auseinandernehmen, analysieren und verstehen wollen?
Genau. Und dabei am besten auch noch herausbekommen, was für Schabernack man mit dem Gerät sonst noch treiben kann. Für mich ganz konkret ist ein Langzeitprojekt, mein Implantat so umprogrammieren zu können, dass ich Ultraschall damit hören kann.  

Fledermäuse?

Vögel können wir doch jetzt auch schon hören.  

In eurer Satzung heißt es außerdem, dass ihr die ethischen, rechtlichen, kulturellen und politischen Dimensionen des Themas diskutieren wollt. Was heißt das?
Eine zentrale Aussage ist: Die Technologie wird kommen, ob wir wollen oder nicht. Sobald es die Möglichkeiten gibt, wird der Mensch jeden erdenklichen Quatsch damit anstellen. Also ist es dringend an der Zeit, klare Positionen bei wichtigen Fragen zu finden.  

Welche Fragen sind das?

Was bedeutet es, wenn dein Mobilfunkanbieter Bewegungsprofile von dir hat? Was bedeutet es, wenn die NSA und andere Geheimdienste unsere komplette Kommunikation abhören? Was bedeutet es, dass wir uns im täglichen Leben längst von Computern abhängig gemacht haben? Ist es da wirklich noch eine geltende Grenze, uns Dinge in den Körper einpflanzen zu lassen? In was für einer Gesellschaft landen wir, wenn wir unsere Körper selbst modifizieren? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn einige Menschen aus ökonomischen Gründen keinen Zugang zu diesen Technologien haben oder sie ideell ablehnen? Das ließe sich unendlich fortsetzen.  

Und woher nehmt ihr eure Positionen in diesen Fragen?
Das Cyborg-Manifest, das die Feministin Donna Haraway 1985 veröffentlicht hat, ist eine unserer Grundlagen. Darin wurde das Thema erstmals philosophisch beleuchtet. Schon Haraway ging davon aus, dass wir im Grunde längst Cyborgs sind, weil wir uns und unsere Umwelt nach unseren Bedürfnissen gestalten. Sie postulierte, dass wir darin auch absolut frei sind. Viele Positionen resultieren aber auch aus dem Gedankenaustausch unter den Mitgliedern. Eigentlich sollte zur Gründung ein eigenes Manifest fertig sein. Wir haben aber gemerkt, dass der Diskussionsbedarf derart hoch ist, dass das noch etwas warten muss.  

Mit welchem Ziel nehmt ihr an der Diskussion teil?
Wir sagen: Wir haben fantastische neue Möglichkeiten, Technik erlaubt eine Weiterentwicklung unserer Zivilisation, aber wir müssen auch zusehen, dass wir ein paar Probleme gelöst bekommen: Wir dürfen keine Menschen von der Nutzung von Technik ausschließen und andererseits natürlich auch niemanden zur Nutzung zwingen. Wir wollen also eine ethische Linie finden, die einerseits nicht zu einem Totalverbot führt, den eigenen Körper zu modifizieren, und andererseits nicht irgendwann zum Ausschluss derjenigen, die das nicht möchten. Und wir wollen die Regularien ändern: Wenn man sich auch nur kleine Sachen implantieren lassen will, muss man heute zum Piercer. Das ist problematisch, weil die Standards in der Szene sehr unterschiedlich sind. Es gibt da auch Pfuscher. Mir wäre es lieber, wenn das Ärzte täten. Die wiederum lehnen aber viele Eingriffe ab, weil es nicht ihrem Berufsethos entspricht. Das führt zu niedrigeren Standards.  

Ist das Berufsethos nicht eine sehr sinnvolle Sache?
Nun ja, Brustvergrößerungen sind ja auch kein Problem, obwohl der Körper massiv verändert wird. Wenn ich mir hingegen einen Magneten in die Fingerkuppe einsetzen lassen will, ist die Aufregung groß. Obwohl wir über einen winzigen Eingriff reden, bei dem etwas von der Größe eines Reiskorns eingesetzt wird. Das sind Lebenslügen, bei denen ich gerne ein paar Dinge vom Kopf auf die Füße stellen würde.  

Wo ziehst du selbst die Grenze?

Für mich sind alle Eingriffe in Ordnung, bei denen die Körperfunktionen sich nicht verschlechtern.  

Alles, was den Körper besser macht, ist in Ordnung?
Ja, natürlich.  

Muss man Atheist sein, um das so klar sagen zu können?
(überlegt lange) Schwer zu sagen. Ich würde mich nicht als Atheist bezeichnen. Ich habe für mich durchaus eine Gottesvorstellung. Aber beispielsweise mit der christlichen Sicht ist es natürlich vordergründig schwer zu vereinbaren. Andererseits: Als der Mensch in der Steinzeit anfing, Werkzeuge zu benutzen, als er Bildung weitergab, als sich Kultur und Gesellschaft entwickelte, war das auch schon eine Form der Selbstmodifikation. Bildung ist auch jetzt noch ein Sich-selbst-verbessern. Dass wir das noch nicht technologisch gemacht haben, liegt für mich an dem Umstand, dass die Technik bislang noch zu rudimentär war.  

Klingt nach einer Position, für die du viel Gegenwind bekommst.

Bislang tatsächlich weniger, als man erwarten würde.

Bildervergleich: Die Männer von 50 Jahren

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Kann gut mit Kindern




So super sah er in den Neunzigern aus



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Mit Bull(y)




Mit Lanz(e)





Mit Jenny



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Da kommen die Vorfahren her




Damit hielt er sich über Wasser, bevor der Durchbruch kam


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Seine Verbindung zu Lara Croft




Wenn er älter wird

Oh du schöne Passivität

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Vergangene Woche saß vor mir im Zug ein Mann, der „Dungeon Hunter“ spielte. Sein iPad stand auf dem Tisch, ich konnte die Kampfhandlungen durch den Schlitz zwischen den Sitzen verfolgen. Ich beobachtete, wie er „verdorbene Soldaten“ und „Todesritter“ schlug, war immer sehr traurig, wenn plötzlich „Du bist tot!“ auf dem Bilschirm stand und sehr aufgeregt, wenn er am „Rad des Schicksals“ drehte. Dann musste ich umsteigen.  



Man muss gar nicht immer selbst spielen, zugucken kann auch schön sein.

Ich muss bei Computerspielen immer hinsehen. Ich habe keine Lust sie selbst zu spielen, ich will sie nur beobachten. Das beruhigt mich. Denn im besten Fall ist das so als würde derjenige, der spielt, mir eine Geschichte erzählen. Mich mitnehmen in eine Fantasiewelt, in der ich aber nur gucken muss und in der mir nichts passieren kann, weil ich ja nicht die Verantwortung trage. Als mein Freund eine „Roller Coaster Tycoon“-Phase hatte, habe ich das Gewusel im Freizeitpark beobachtet, bis ich eingeschlafen bin, und danach von Achterbahnen geträumt. Als ich viel Stress hatte, habe ich gerne bei seinem damaligen Mitbewohner auf dem Wippsessel gesessen und ihm dabei zugeschaut, wie er auf der Playstation Golf spielte, das ist nämlich ungemein entspannend. Meine Spiele-Favoriten in Sachen Zugucken sind allerdings: „Final Fantasy“ und „Batman: Arkham Asylum“. 

Manche Sachen sind beim Zuschauen eben besser als beim Selbermachen. Für viele Menschen ist das mit Sport so: Fußball/Tennis/Reiten gucken, ja; selbst zum Fußball/Tennis/Reiten gehen nein. Und Kochshows zeigen, dass viele sich auch gerne anschauen, wie andere am Herd etwas zubereiten. Ich kann das gut verstehen, ich sehe anderen auch gerne auf die Finger, wenn sie Gemüse schneiden, rühren und würzen. Oder noch lieber: Wenn sie Brote schmieren. Ästhetische Broteschmierer sind eine Wonne für die Augen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass jemand gerne sieht wie jemand anders strickt oder näht, läuft oder Holz hackt, bügelt oder malt.  

Bei was siehst du gerne zu, obwohl oder gerade weil du es vielleicht gar nicht so gerne selbst machst? Wann wirst du passiv, lehnst dich zurück und sagst: „Mach du mal, ich guck zu“?

Marsch der Elenden

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Es ist ein Marsch der Elenden und Geschundenen. Mit Sandalen an den Füßen sind sie losgezogen, mit leichten Jacken in diesem eiskalten israelischen Jahrhundertwinter, und als sie die Zäune ihres Lagers hinter sich hatten, da gab es für 150 afrikanische Flüchtlinge nur noch ein Ziel: Jerusalem.



Die afrikanischen Flüchtlinge protestieren in Jerusalem für ihre Freiheit und Sicherheit. Jetzt droht einigen von ihnen genau das Gegenteil.

Jerusalem war ihre Hoffnung, doch von Beginn an ist es ein Wettlauf gegen die Zeit gewesen. 48 Stunden nur ist die Frist der Freiheit – so lange dürfen sie sich laut Gesetz ungestraft aus ihrem Lager entfernen, danach droht die Verhaftung. Doch in diesen zwei Tagen wollten sie wenigstens die Chance nutzen, das Land auf ihre Misere aufmerksam zu machen. Ihr Protestmarsch war begleitet vom Ruf nach „Freiheit“ und nach „Menschlichkeit“, und als sie am Dienstag endlich ihr Ziel erreichten, da schwenkten sie große Banner vor dem Amtssitz des Premierministers. „Wir sind nicht gefährlich, sondern in Gefahr“, stand auf einem geschrieben, und auf einem anderen „wir sind nicht freiwillig zu Flüchtlingen geworden“.

Die hier demonstrieren, das sind die Ärmsten der Armen. Sie komme aus Sudan und Eritrea, und auf dem Weg ins vermeintlich gelobte Land sind viele durch die Hölle gegangen. Diese Hölle ist der ägyptische Sinai, wo beduinische Schlepperbanden sich an den Flüchtlingen vergehen. Viele von ihnen berichten von Vergewaltigungen, Folter und Geiselnahmen. Doch wer es über die Grenze schafft nach Israel, ist hier alles andere als willkommen.

Im jüdischen Staat werden die Leidgeplagten als Bedrohung wahrgenommen – und die Angst vor großen Flüchtlingsströmen ist nachvollziehbar. Schließlich ist Israel das einzige westliche Land, das von den Armen aus Afrika zu Fuß erreichbar ist. Stetig waren daher in den letzten Jahren die Flüchtlingszahlen angestiegen, bis sich die Regierung mit aller Macht des Themas annahm. Von Flüchtlingen spricht seither kaum noch einer – Mistanenim ist der offizielle Terminus, auf Deutsch heißt das „Eindringlinge“. Premierminister Benjamin Netanjahu warnte gar, dass sie „den jüdischen Charakter Israels“ in Gefahr brächten, andere nannten sie eine „nationale Plage“ oder ein „Krebsgeschwür“.

Mittlerweile ist die 270 Kilometer lange Grenze zu Ägypten fast vollständig mit einem neuen Zaun gesichert, nur noch vereinzelt kommen Flüchtlinge ins Land. Doch die mehr als 50000, die bereits in Israel leben, stehen immer noch im Mittelpunkt hitziger Debatten. Ein Bleiberecht existiert in Israel de facto nicht, seit der Staatsgründung 1948 wurde insgesamt nicht einmal 200 Menschen Asyl gewährt. Die „Eindringlinge“ sind also illegal im Land, sie dürfen nicht arbeiten und bekommen keinerlei öffentliche Unterstützung. Der Staat setzt auf Abschreckung, und vor einer Woche wurde im zweiten Anlauf ein Gesetz verabschiedet, dass die Internierung von Flüchtlingen in einem geschlossenen Lager für ein Jahr erlaubt, danach können sie auf unbestimmte Zeit in ein sogenanntes „offenes Lager“ eingewiesen werden. Zunächst war eine feste Internierung für drei Jahre geplant, doch das hatte der Oberste Gerichtshof gestoppt.

Am vorigen Donnerstag nun waren die ersten knapp 500 Flüchtlinge in ein solches offenes Lager eingewiesen worden. Sie kamen per Bus direkt aus dem Gefängnis, wo die meisten von ihnen nach ihrem illegalen Grenzübertritt bereits für eineinhalb bis zwei Jahre eingesessen hatten. Ihre neue Bleibe trägt den Namen „Holot“, die Dünen. Klingt wie ein Ferienparadies am Strand, liegt aber einsam mitten in der Wüste. Fünf Mann teilen sich ein Zimmer, tagsüber sind die Tore offen, doch morgens, mittags und abends müssen die Insassen zum Zählappell erscheinen. Um zehn Uhr abends wird abgeschlossen bis zum nächsten Morgen. Für Anat Ovadia, Sprecherin einer Hilfsorganisation namens Hotline für Flüchtlinge und Migranten, ist das Dünen-Camp nichts anderes als „ein Gefängnis“. Es sei „grausam, ohne etwas an dem Problem zu lösen“, schimpft sie. Zusammen mit anderen Menschenrechtsgruppen hat ihre „Hotline“ sich deshalb wieder ans Oberste Gericht gewandt. Doch bis zu einer Entscheidung, sagt sie, könne es anderthalb Jahre dauern.

Darauf wollten die Flüchtlinge in Holot nicht warten. Am Sonntagnachmittag erschienen die meisten von ihnen nicht mehr zum Appell, und 150 machten sich zu Fuß auf den Weg nach Norden. Die erste Nacht verbrachten sie im Busbahnhof der Wüstenstadt Beerscheba, die zweite in einem Kibbuz südlich von Jerusalem, wo sie von Bewohnern mit heißem Tee, Essen und Kleidung versorgt wurden. Aktivisten haben sich ihnen angeschlossen, ein paar Politiker aus dem linken Spektrum und ein Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der sich „besorgt“ zeigte und heftige Kritik übte an Israels Flüchtlingspolitik. Und auch die Polizei war schon zu sehen, doch eingreifen durften die Beamten noch nicht, weil das Gesetz ja eine Verhaftung erst nach 48 Stunden vorsieht.

Mit Bussen hat der Tross am Dienstagmorgen schließlich Jerusalem erreicht, der erste Halt war Netanjahus Amtssitz, danach ging es weiter zur Knesset, dem israelischen Parlament. Der Premier gab ihnen noch mit auf den Weg, dass er den Protestmarsch nicht dulden werde. „Das Gesetz gilt für jeden“ erklärte er, „die Eindringlinge können entweder in die spezielle Einrichtung zurückgehen, in die sie gebracht wurden – oder in ihr Land.“

Die Polizei ließ den markigen Worten Netanjahus schnell Taten folgen. Vor der Knesset wurden die Flüchtlinge festgenommen und in Bussen abtransportiert. Laut Gesetz droht ihnen nun als Strafe für ihren Ruf nach Freiheit eine erneute Unterbringung im Gefängnis.

Das neunte Jahr

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Angela Merkel ist am Dienstag zum dritten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt worden. In der geheimen Abstimmung erhielt die CDU-Vorsitzende 462 Stimmen. 150 Abgeordnete votierten mit Nein, neun enthielten sich, zehn gaben keine Stimme ab. Die Koalition aus Union und SPD stellt 504 Abgeordnete, Merkel fehlten also 42 Stimmen aus dem eigenen Lager. Das Ergebnis wurde angesichts der großen Mehrheit der neuen Regierung jedoch nur als Schönheitsfehler gewertet. Bei der ersten Wahl Merkels zur Kanzlerin einer großen Koalition hatten ihr sogar 51 Stimmen gefehlt. In der Geschichte der Bundesrepublik gelang es bisher nur einem Kanzler, das ganze Regierungslager auf sich zu vereinen: Gerhard Schröder bekam 1998 sogar sechs Stimmen mehr, als SPD und Grüne damals hatten.



Zum dritten Mal ist Merkel zur Kanzelrin gewählt worden. Sie gehört damit zu den erfahrensten Politikern Europas.

Merkel ist bereits seit acht Jahren Kanzlerin. Im April kommenden Jahres wird sie länger im Amt sein, als es Helmut Schmidt (SPD) war. Lediglich Konrad Adenauer und Helmut Kohl (beide CDU) gelang es, noch länger Regierungschef zu sein.

Nach ihrer Wahl zur Kanzlerin im Bundestag fuhr Merkel ins Schloss Bellevue, um sich von Bundespräsident Joachim Gauck ernennen zu lassen. Eine weitere Stunde später legte sie vor Bundestagspräsident Norbert Lammert den Amtseid ab. Anschließend wurden auch die 15Bundesminister ernannt. Bei der Vereidigung benutzten die Ressortchefs ausnahmslos die Formel „So wahr mir Gott helfe“.

Bundespräsident Gauck sagte bei der Ernennung der Minister, die große Koalition sei keine Selbstverständlichkeit: „Denn so zutreffend der Lehrsatz ist, dass alle demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit in der Lage sein sollen, so schwierig kann es in der Praxis sein, aus politischen Konkurrenten Koalitionspartner zu formen.“ Die Kompromissfähigkeit von Union und SPD verdiene deshalb „Anerkennung und Respekt“. Gauck forderte die neue Regierung auf, ihre große Mehrheit zu nutzen, um auch „schwierige Probleme anzugehen“. Gleichzeitig verwies der Bundespräsident aber auch auf die besondere Bedeutung der Opposition, diese gehöre „zu den Essentialia unseres parlamentarischen Systems“.

Der neuen Regierung gehören je sechs Minister der CDU und der SPD an. Drei Ressortchefs stellt die CSU. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Ernennung Ursula von der Leyens zur Verteidigungsministerin. Die CDU-Politikerin ist die erste Frau an der Spitze des Ressorts. SPD-Chef Sigmar Gabriel wurde Minister für Wirtschaft und Energie. Er ist auch Vizekanzler.

Der neue Bundestag war bereits am 22.September gewählt worden. Wegen der langwierigen Sondierungen der Union mit SPD und Grünen und den anschließenden Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten konnte Merkel erst jetzt im Amt bestätigt werden. Die Regierungsbildung war damit die längste der Nachkriegsgeschichte.

Merkel gehört inzwischen zu den erfahrensten Politikern Europas. Im Europäischen Rat sind nur noch zwei Staats- und Regierungschefs länger im Amt als sie: Traian Basescu wurde bereits 2004 zum Präsidenten Rumäniens gewählt. Andrus Ansip ist seit April 2005 Estlands Ministerpräsident.

Junge, Junge

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Alles habe, so heißt es gemeinhin über Brad Pitts Aufstieg zum Filmstar, mit „Thelma & Louise“ angefangen; mit seiner Rolle als verführerischer Kleinkrimineller J.D. Man kann im Nachhinein darüber streiten, ob diese Rolle wirklich so wichtig war. Technisch betrachtet lag der Karriereanfang damals, 1991, sowieso schon vier Jahre zurück, was nur hartgesottene Fans der Fernsehserie „Dallas“ so richtig bemerkt hatten: Pitt war dort, mit einer fürchterlichen Achtziger-Jahre-Föhnfrisur und der Anmutung eines Teenagers, für vier Folgen als Love-Interest verpflichtet worden. Seinen ersten großen Auftritt hatte er dann tatsächlich erst als J.D., der Thelma den Kopf verdreht. Aber genaugenommen brennt er anschließend mit dem Geld der beiden Frauen durch – und das ist nicht wirklich eine solide Basis für eine Karriere als Sexsymbol.



Das Sexsymbol Brad Pitt feiert seinen 50. Geburtstag.

Wurde er dann aber doch, für eine ganze Generation von Frauen – und vielleicht sogar noch für eine zweite. Brad Pitt wird an diesem Mittwoch immerhin 50 Jahre alt, und einstweilen gilt sein Privatleben immer noch als Attraktion, und ja, seine Filme sind auch immer noch erfolgreich. Als Zombiejäger in „World War Z“ war er im Sommer zu sehen, ein Mann, der alles tut, um seine Familie zu retten vor einer Seuche, die gerade die Menschheit dahinrafft. Schon besser. Eigentlich ist der Mann ja nicht deswegen so viel Begeisterung wert, weil er blaue Augen hat und auch als Model durchs Leben gekommen wäre. Sondern weil er zum romantischen Helden taugte.

Eigentlich ist Brad Pitt dann wohl auch nicht als J.D. zu legendärem Ruhm gekommen, sondern ein Jahr später, als junger Verdammter, der nicht anders kann, als immer seinem Herzen zu folgen: Er spielte Paul MacLean, den Sohn eines Priesters im Montana der Großen Depression, der das Fliegenfischen zu einer Kunstform erhebt, eine Indianerin liebt und sich keiner Konvention unterordnen kann in „In der Mitte entspringt ein Fluss“. Das Alter Ego von Robert Redford, der bei dem Film Regie führte, sei er als Paul MacLean gewesen, hieß es damals. Wie auch immer: Er spielte einen Mann, den man unbedingt retten möchte, obwohl ihm nicht zu helfen ist.

Es sind in den mehr als zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, noch ein paar romantische Helden dazugekommen. Der traurige Louis de Pointe du Lac, der in „Interview with the Vampire“ (1994) als Untoter unendlich leidet, weil er nach und nach seine Menschlichkeit verliert. Oder Tom Bishop, der in „Spy Game“ (2001) als CIA-Agent sich selbst den Chinesen zum Fraß vorwirft, um die Liebe seines Lebens zu retten. Oder „Benjamin Button“, der als alter Mann zur Welt kommt und dann immer jünger wird – noch so einer, der nicht zu retten ist.

Na gut, dazwischen gab es, auch das mag dann manchmal sexy gewesen sein, ein paar harte Typen, Cops wie in „7“, Gangster wie in „The Mexican“ und, der Film läuft gerade bei uns in den Kinos, in „The Counselor“. Und natürlich George Clooney Nummer 2, der ungeheuer coole Rusty in den „Ocean’s“-Filmen, der sehr merkwürdige Hemden trägt und wahnsinnig gern isst – wobei Letzterer zwar Spezialist dafür ist, Casino-Betreiber um ihre Einnahmen zu bringen, aber eben doch das Herz am rechten Fleck hat. Im letzten Teil, „Ocean’s Thirteen“, gibt es die herzzerreißende Szene, in der Clooney und Pitt sich eine Oprah-Winfrey-Show im Fernsehen ansehen, und dann ein wenig weinen, vor Rührung, weil eine obdachlose Familie ein neues Haus bekommt.

Männliche Sexsymbole müssen eben meist ein wenig mehr abliefern als nur ihr Gesicht und ein wenig Charme, bei den meisten ist es Teil der Anziehungskraft, dass sie für noch ein wenig mehr stehen, soziales und politisches Engagement. Pitt setzt sich für Öko-Architektur ein, hat zusammen mit seiner Lebensgefährtin Angelina Jolie die Jolie-Pitt-Stiftung gegründet, mehrere Kinder adoptiert, Häuser gebaut im von Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans und er setzt sich für die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Und das ist für einen echten romantischen Helden doch eigentlich genug.

Spiele der Wahrheit

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Ein Moment an der Ampel, damit geht alles los. Adèle, siebzehn Jahre alt, träumt in den Tag hinein. Mit offenen Augen und offenem Schmollmund, die Frisur leicht aufgelöst, bereit für das Leben, das man ihr versprochen hat. Und eines Tages sieht sie, auf der anderen Straßenseite, das Mädchen mit den blauen Haaren.

So präsent. So siegessicher. Den Arm voll Besitzerstolz um die Freundin gelegt. Helles Lachen, ein bisschen dreckig. Dann gehen sie aneinander vorbei, ihre Blicke treffen sich, versenken sich ineinander – und Adèle muss stehenbleiben. Autos hupen. Etwas ist mit ihr geschehen.



Der Film "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche startet in den deutschen Kinos. Die Sexszenen fallen in den USA unter Pornoverdacht.

Dieser Moment an der Ampel, damit ging auch der Dreh von „La vie d’Adèle“ los, der nun endlich in unsere Kinos kommt, unter dem Titel „Blau ist eine warme Farbe“. Abdellatif Kechiche, der französisch-tunesische Regisseur, ließ die Szene gleich einhundert Mal drehen, manisch, insistierend, am Ende brüllend. Das weiß man inzwischen, weil seine beiden Hauptdarstellerinnen es erzählt haben, noch immer ein bisschen fassungslos: wie Überlebende einer Expedition ins Innere, die weit über ihre Grenzen hinausging.

Und man kann nicht sagen, dass ihre Qualen umsonst waren, oder dass man diese Intensität nicht spürt. Der Film ist ein Trip, drei Stunden lang und doch beinah atemlos, aufgeladen in jeder Sekunde. Zwei Körper, zwei Seelen im Vollkontakt, die erste große Liebe für Adèle, der erste gewaltige Sex, der erste Verlust, das erste Mal sterben wollen und doch weitergehen, hinein in das endlose Niemandsland, das man Erwachsensein nennt.

Man kann nun nicht sagen, die Teilnehmer dieser Expedition wären nicht belohnt worden. Im Mai in Cannes, wo der Film wie eine Bombe einschlug, haben sie alle drei zusammen die Goldene Palme gewonnen: Adèle Exarchopoulos als Adèle, damals gerade 19 Jahre alt, noch fast unbekannt; Léa Seydoux als Emma, das Mädchen mit den blauen Haaren, schon berühmt und viel erfahrener; und eben Abdel Kechiche, der zuvor etwa „Couscous mit Fisch“ gemacht hat, Immigrantenkino, das zugleich die Kulturnation Frankreich zu feiern wusste. Auch hier ist er wieder geleitet von einem Klassiker, Marivaux’ „La vie de Marianne“. Die Jury um Steven Spielberg vergab den Hauptpreis an ein Trio – bisher einmalig in der Geschichte des Festivals.
Blut, Schweiß, Tränen, Triumph. Und dann die Erleichterung, dass diese unglaubliche Entblößung und Selbstentblößung nicht gleich zurückgewiesen, nicht sofort als spekulativ verdammt, nicht total seziert wurde. Das war das Glück von Cannes. Es sollte nicht halten.

Die beiden Schauspielerinnen, die fünf Monate lang bis zur Totalerschöpfung die Wahrheit ihrer Körper und Seelen erforscht hatten, wollten über diesen harten Prozess dann auch berichten. Wahrheitsgemäß. Auch was die Sexszenen betraf. Was, wenn man die entsprechenden Interviews liest, gar nicht wirklich ein Angriff war – eher ein Staunen darüber, welch weiten Weg sie zurückgelegt hatten. Der Regisseur aber, der für das alles ebenfalls Kopf und Kragen riskiert hatte, von der endlosen Überziehung seiner Drehzeit bis hin zum lebenslangen Hass der Konservativen in Tunesien, seinem Geburtsland, sah sich als Monster hingestellt, seinen Film beschmutzt, seine Ehre verletzt. Nur die Goldene Palme, erklärte er, habe ihn vor dem professionellen Ruin gerettet.

Er schlug öffentlich zurück, nannte vor allem Léa Seydoux privilegiert, mimosenhaft, karrierebesessen. Nun herrscht erbitterte Feindschaft. Und im Fokus der Welt stehen die ziemlich langen, ziemlich expliziten lesbischen Bettszenen, die auch die amerikanische Filmkritik – Pornoverdacht ! – umtreiben wie schon lange nichts mehr. Julie Maroh, die lesbische Autorin der Comicbuch-Vorlage, heizte die Debatte noch an, als sie berechtigte Repräsentationswünsche ihrer Minderheit ins Spiel brachte: „Was am Set offenbar fehlte, waren Lesben“, schrieb sie in ihrem Blog.

Obwohl es ein böser Fehler wäre, diesen dreistündigen Film auf zehn Minuten Sex zu reduzieren, soll doch kurz gesagt werden, dass all diese Debatten ganz folgerichtig sind. Es gibt eben nicht, wie gern behauptet wird, eine Art unüberwindliche Firewall zwischen Kino und Pornografie. Hier wie dort geht es, mitten in einer Wüste aus gefälschten Gefühlen, die beide Industrien am Laufen halten, um die seltenen Goldnuggets einer möglichen Wahrheit. Die suchen wir eben überall – im verstörend realen Zusammenbruch vor der Filmkamera genauso wie in der raren Pornoszene, in der wir echtes Begehren entdecken. Hier wie dort können wir uns täuschen – aber um genau diese Spiele der Wahrheit geht es ja.

„Blau ist eine warme Farbe“ ist nun ein Film mit gewaltigem Wahrheitsanspruch – wer 100 Takes für eine Szene dreht, gibt sich mit weniger gar nicht zufrieden. Auch die Sexszenen wollen dem standhalten, egal ob mit lesbischem, schwulen oder Heteroblick betrachtet – und wenn sie doch ein wenig abfallen, dann nur, weil alles andere eben noch überzeugender ist.

Sensationell zum Beispiel der Moment, wenn Léa Seydoux überlegt, ihre neue Bekanntschaft Adèle auf den Mund zu küssen, und dann doch auf die Wange ausweicht – was da alles in ihrem Blick passiert, zwischen Angriffslust und Entsagung, ist toll. Oder wenn Adèle Exarchopoulos eine Szene spielt, in der sie ihre große Liebe anlügen muss – während die Angst in ihrem Blick sie schon erschütternd verrät; schließlich die Sequenz, wo sie ohne rechten Grund, aus einer Eingeschnapptheit der Jugend heraus, mit einem Mann fremdgegangen ist und von Emma verstoßen wird – wie da die Tränen laufen und der Rotz aus der Nase fließt, das hat eine wirklich erschütternde Wucht. Am Ende des Films, der chronologisch gedreht wurde, sind die Gesichter von Emma und Adèle dann härter und illusionsloser geworden, als habe sich ein Stück Leben darin eingegraben – auch wenn es in Wahrheit wohl nur die Strapazen der Dreharbeiten gewesen sind.

Weil schon diese unmittelbarste Ebene des Films so packend ist, könnte man ihn nun leicht für eine naive, etwas brachiale Wahrheitssuche halten. Das Gegenteil ist der Fall: Wie schon sein „Vénus Noire“ bewiesen hat, ist der Männerblick, den Abdel Kechiche auf die Frauen wirft, höchst reflektiert, die Fallstricke sind ihm nur allzu bewusst. Es gibt wissende, vielleicht sogar höhnische zitierte Diskurse über Kunst, Voyeurismus und weibliche Lust. Zwischen den beiden Liebenden tut sich ein ganzer Abgrund an unterschiedlichen Ambitionen und Klassengegensätzen auf, den sie am Ende nicht überwinden können, und eine fast komische „Sexpolizei“ unter Adèles Mitschülerinnen reflektiert den sozialen Geständniszwang der Gegenwart genauso wie die noch immer politische Dimension des Lesbischseins.

Doch so interessant und klug das alles sein mag – man wird doch immer wieder fast magisch zu Emma und Adèle hingezogen, die diesen Film in zahllosen Großaufnahmen dominieren. Diskurse kann man schließlich überall haben. Aber solche Gesichter – die gehören dem Kino allein.

La vie d'Adèle, Chapitre 1 & 2 – Regie: Abdellatif Kechiche. Buch: Kechiche, Ghalia Lacroix. Kamera: Sofian El Fani. Mit Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos, Salim Kechiouche. Alamode, 180 Min.

Das Eim Alphabet

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Es gibt Trends, um die kommen Autobauer nicht drum herum, ob sie wollen oder nicht. Zum Beispiel die Sache mit den gemeinsamen Autos: Wenn sich mehrere Menschen ein Auto teilen statt sich selbst eins zu kaufen, nennt man das „Carsharing“, und wenn sich viele Mitarbeiter eines Unternehmens ein Auto teilen, dann heißt das auf Neudeutsch „Corporate Carsharing“. Beides kann für Autohersteller im Prinzip gefährlich werden, weil sie im schlimmsten Fall weniger Autos verkaufen, wenn nicht mehr jeder ein eigenes Auto oder zumindest einen eigenen Dienstwagen fahren will.

Ein anderer Trend, der vieles verändert im Leben eines Automanagers, ist die Elektromobilität: Weil die CO₂-Auflagen strenger werden und auf lange Sicht das Öl ausgeht, müssen sich die Autokonzerne Alternativen zum Benzinmotor einfallen lassen. Also bauen sie Elektroautos, deren Entwicklung Milliarden verschlingt, die Tausende von Euro teurer sind als vergleichbare Benziner und von denen die Konzerne immer noch nicht genau sagen können, ob es sich am Ende überhaupt lohnt.

Interessant aber wird es, wenn beides – Carsharing und Elektroauto – zusammenkommen. Denn eigentlich sind Elektroautos bei den täglichen Kosten um einiges günstiger als Benziner. Rund fünf Euro kosten 150 Kilometer; wer ein normales Auto fährt, gibt ein Vielfaches davon aus. Besonders kostspielig an den Stromern ist wegen der teuren Batterie eben vor allem die individuelle Anschaffung – und die entfällt ja beim Carsharing.



BMW entwickelt ein neues Elektro-Auto und erhofft sich einen Erfolg

Der Autokonzern BMW hat vor einigen Wochen sein Elektroauto i3 auf den Markt gebracht; einen Kleinwagen aus kohlefaserverstärktem Kunststoff für 35000 Euro, der natürlich weitaus mehr kostet, wenn man ihn mit den notwendigen Extras haben will. Milliarden haben die Münchner in den Wagen investiert und hoffen, dass man im nächsten Jahr bei fünfstelligen Verkaufszahlen liegt. Hoffen – denn genau weiß man das bei einem ganz neuen Auto nicht. Zumal die Stimmung schwankt: Mal ist von einer Elektroauto-Müdigkeit die Rede, mal von einer Elektroauto-Euphorie. Fakt ist: Zurzeit fahren nur ein paar Tausend Elektroautos auf deutschen Straßen. Das muss sich ändern, wenn BMW mit seinem i3 ein Geschäft machen will. Zuletzt lagen die Vorbestellungen bei 9000 Autos. Das kann man als Erfolg werten, aber auch als zögerlichen Start. Das Auto, finden viele Skeptiker, ist möglicherweise zu teuer, um derzeit schon ein Kassenschlager zu werden. Denn: Für Privatkunden ist das Stadtauto mit einer Reichweite von unter 200 Kilometern bei satten 35000 Euro aufwärts nicht gerade ein lukratives Schnäppchen.

Da BMW nun aber eine eigene Fuhrparkmanagement-Tochter hat, lag die Idee nahe: Die Tochter Alphabet soll nun zu einer wichtigen Leasing-Plattform für den i3 werden. „Der i3 ist jetzt seit vier Wochen im Markt“, sagte Alphabet-Chef Marco Lessacher der SZ, „und wir können bereits ein großes Interesse unserer Kunden feststellen“. Über genaue Stückzahlen will der Manager nicht reden. Nur so viel: An die 55 Prozent aller 120000 Alphabet-Fahrzeuge stammen von BMW, an die 45 Prozent sind Fremdmarken.

Der Anteil von Elektroautos aus dem Hause BMW soll steigen – bei der E-Mobilität werde der i3 „das präferierte Fahrzeug“ sein, glaubt der Manager. Auch bei der Alphabet-Mutter BMW vermeidet man, über konkrete Absatzerwartungen zu sprechen – das Risiko, dass man am Ende komplett danebengelegen hat, will man vermeiden. Aber die Hoffnung, über Firmenflotten den Absatz anzukurbeln, ist groß. Denn gerade bei einem neuen Automodell ist es wichtig, den Wagen erst einmal auf die Straße zu bekommen. Je öfter er dort gesehen wird, desto schneller greifen auch Privatkunden zu – so zumindest das Kalkül.

Das Alphabet-Konzept ist einfach und geht weit über das hinaus, was Firmen früher mit ihren Autofuhrparks bieten konnten. Es beginnt damit, dass Mitarbeiter die Fahrzeuge nicht nur als Dienstautos nutzen können, sondern auch privat – zum Beispiel übers Wochenende. Gebucht und abgerechnet wird Online über eine Schnittstelle mit dem Computer des Fahrzeugs, der wiederum mit dem jeweiligen Unternehmen und Alphabet verbunden ist.

Die Leasing-Rate hänge von Ausstattung, zusätzlichen Services, Laufzeit und Laufleistung ab, heißt es bei Alphabet – im Schnitt könne man von einer „Leasingrate ab etwa 650 Euro“ ausgehen. Unternehmenschef Lessacher schnürt seinen Elektroauto-Kunden daher ein Gesamtpaket, um es für sie attraktiver zu machen. Neben dem Auto gibt es Ladesäulen, eine Versicherung für die Batterie, ein Fahrertraining. Der Manager spricht von einem „Rundum-Konzept“ aus Beratung, Infrastruktur, Service und einer 24-Stunden-Hotline.

Ob der Plan aufgeht, wird davon abhängen, wie die Kunden in den nächsten Jahren beides annehmen werden – Elektroautos und Carsharing. Zurzeit hat die BMW-Tochter schon einige prominente Großkunden, darunter den Versicherungskonzern Allianz, den Chiphersteller Infineon und die Heidenheimer Voith-Gruppe. Gesucht werden jetzt: Weitere Kunden. Wenn es geht, möglichst große.

Pleiten, Pech und Parkette

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Am Ende des großen Vorhabens stand nur eine dürre Erklärung: Ein „zufriedenstellender Abschluss“ sei nicht mehr möglich gewesen, deshalb habe man den Plan fallen lassen. Der Börsengang von Constantia Flexibles wurde am 25. November abgesagt, eine Stunde vor Ende der Zeichnungsfrist. Es gab nicht genug Interessenten für die Aktien des österreichischen Verpackungsherstellers, der in Frankfurt an die Börse gehen wollte.



Trotz des guten Aktiensjahres trauten sich 2013 nur wenige deutsche Unternehmen an die Börse.

Mindestens 450 Millionen Euro wollte der Eigentümer einnehmen, der Finanzinvestor One Equity Partners. Es sollte der zweitgrößte deutsche Börsengang in diesem Jahr werden, doch es wurde der größte Reinfall. Das passt zum missglückten Jahr 2013. Lediglich sechs Unternehmen wagten den Schritt aufs Parkett, so wenige wie seit dem Krisenjahr 2009 nicht. Und das, obwohl die Börse boomte und der Deutsche Aktienindex (Dax) um fast 20 Prozent zulegte.

In der Vergangenheit existierte stets ein eindeutiger Zusammenhang: War die Stimmung an der Börse gut, dann rief das auch Unternehmen auf den Plan, die ihre Aktien unters Volk bringen wollten. So war das auf dem Höhepunkt des Internet-Booms Ende des vergangenen Jahrtausends: Im Jahr 1999 gab es 146 Börsengänge, so viele wie niemals zuvor und auch nachher nicht wieder. Auch in den guten Börsen-Jahren vor Ausbruch der Finanzkrise – 2006 und 2007 – wagten sich immerhin noch 47 und 43 Firmen aufs Parkett.

Doch nun gibt es diesen Zusammenhang zumindest in Deutschland nicht mehr. Die Enttäuschung bei den Profis ist groß. „Die sechs Börsengänge liegen sicher unter dem, was man sich erwartet hatte“, sagt Jens Voss, der bei der Commerzbank das Aktiengeschäft leitet. Besonders in der zweiten Jahreshälfte sei die Entwicklung in Deutschland und in anderen Ländern Europas stark auseinander gelaufen. Nach Juni gab es hierzulande keinen einzigen größeren Börsengang mehr, während rundherum das Geschäft brummte: In England wagten mit großem Erfolg die Royal Mail und der Unterhaltungskonzern Merlin den Schritt auf das Parkett, in Frankreich der Kabelnetzbetreiber Numericable.

24 Milliarden Euro sammelten europäische Unternehmen in diesem Jahr an der Börse ein, fast dreimal so viel wie im Vorjahr. Aber nur ein Zehntel davon stammt aus der mit Abstand größten Volkswirtschaft, aus Deutschland. Auch weltweit legte die Zahl der Börsengänge 2013 deutlich zu, von 837 im Vorjahr auf 864 – und das, obwohl es in China in der ersten Jahreshälfte eine Zwangspause gegeben hatte, weil der Markt vorher überhitzt war und die Börsenaufsicht erst neue Regeln aufstellen musste.

Woran liegt es, dass deutsche Unternehmen nicht mehr an die Börse gehen? Ist es möglicherweise ein Krisensymptom? Schließlich gilt es gemeinhin als Zeichen einer intakten Wirtschaftskultur, wenn Eigentümer ihre Firmen an die Börse bringen und damit auf Interesse von professionellen und privaten Investoren stoßen. Experten sehen in der Börsen-Unlust deutscher Firmen nicht unbedingt ein Alarmzeichen. „Der Druck, an die Börse zu gehen, ist in Deutschland nicht so groß wie in anderen Ländern“, sagt Ralf Darpe, Vizechef für Deutschland bei der französischen Großbank Société Générale. Die traditionelle Form der Unternehmensfinanzierung über Kredite und Anleihen funktioniere noch sehr gut. Deshalb seien die wenigen Börsengänge 2013 nicht von Finanzierungsnot getrieben worden, sondern von Finanzinvestoren: Beim Gabelstaplerhersteller Kion, beim Chemiekonzern Evonik, bei den Immobilienkonzernen LEG und Deutsche Annington waren jeweils Firmenjäger im Spiel, die sich über die Börse von ihrer Beteiligung trennen wollten. Hinzu kamen zwei kleinere Börsengänge des 3D-Druckerunternehmens Voxeljet und des Buchverlags Bastei Lübbe.

Der Bedarf, sich über die Börse Geld zu beschaffen, ist in Deutschland gering. „Die meisten Unternehmen sind über Jahre solide durchfinanziert“, sagt Commerzbanker Voss. Sie hätten es derzeit sehr leicht, im großen Stil und zu günstigen Konditionen an Geld heranzukommen. Und das Geld wird in Europa auch auf absehbare Zeit billig bleiben.

In diesem Umfeld sehen viele nicht die Notwendigkeit, sich den Aktienmarkt zu erschließen. Zumal ein Börsengang aufwendig ist. „Die Vorbereitungen für die Rechnungslegung und die Pflege der Investoren nehmen schnell ein Jahr in Anspruch“, sagt Voss. Warum sollten langjährige Eigentümer also einen Teil der Kontrolle über das Unternehmen aufgeben, wenn sie es nicht zwingend müssen?

Pech war in diesem Jahr auch dabei. Kion und Deutsche Annington kamen im Juni an die Börse, dem einzigen Monat, in dem die Stimmung kritisch war, weil die US-Notenbank Fed das Ende der Geldschwemme in Aussicht gestellt hatte. Entsprechen gering war Nachfrage der Investoren: Kion startete schwach, Annington musste den Börsengang sogar abbrechen und den Preis herabsetzen. Zuvor war schon bei der Siemens-Tochter Osram ein klassischer Börsengang gescheitert, auch bei Evonik hakte es.

„In Einzelsituationen gab es Probleme, und zwar nicht, weil Investoren kein grundsätzliches Interesse gehabt hätten, sondern weil unterschiedliche Preisvorstellungen zwischen Verkäufern und Investoren bestanden“, sagt Voss von der Commerzbank. Manchmal wäre bei Volumen und Preis weniger mehr gewesen, gerade in dem unsicheren gesamtwirtschaftlichen Umfeld der letzten Jahre.

Da es bei den wenigen deutsche Börsengängen holperte, war es kein Wunder, dass sich mögliche weitere Kandidaten abschrecken ließen und im zweiten Halbjahr trotz der guten Börsenstimmung nichts mehr passierte. Die Pleite von Constantia Ende November gab nun offensichtlich den letzten Interessenten in Deutschland den Rest. Bis Ende des Jahres ist kein Börsengang mehr zu erwarten.

Und wie sieht es im nächsten Jahr aus? „Wir erwarten für Deutschland keine grundsätzlich Trendwende“, sagt Alexander Doll, Co-Chef von Barclays Deutschland – obwohl einige Unternehmen und Finanzinvestoren über Börsengänge oder Abspaltungen von Töchtern nachdächten. Société-Générale-Experte Darbe rechnet in Deutschland mit fünf bis sechs größeren Börsengängen und einigen kleineren. Für ganz Europa erwartet er eine Verdoppelung des Volumens auf bis zu 45 Milliarden Euro. In Deutschland dagegen wird es wohl auch 2014 wieder heißen: Same procedure as every year.

Papageienmänner und Dinopornos

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Papageienmänner und Hot-Dog-Männer



Die Dating-App „Tinder“ zieht viele Menschen an, auch solche, die Humor haben. Der Tumblr „Weird guys on tinder“ sammelt deswegen die lustigsten Fotos, mit denen Männer bei Tinder für sich werben. Männer mit Papageien. Männer, die bald vielleicht einen Kaninchen-Wrap mit lebendem Kaninchen drin essen. Männer, die ein Hot Dog sind. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Also schnell angucken.

Prüüüde!



Ach Facebook, was du immer gegen Brüste hast! Kürzlich wurde die ZDF-Fanpage gesperrt, weil dort über Brustimplantate berichtet wurde, inklusive Bebilderung. Wir in der jetzt-Redaktion hatten übrigens das gleiche Problem, als wir das Interview zu Sexismus im Skateboarding auf Facebook posteten. Wenn Facebook Brüste sieht, vergisst es leider immer, nach dem Kontext zu schauen.

Mode oder Porno?
Aha, eine verzückt dreinschauende Frau, das wird wohl ein Screenshot aus einem Porno sein! Oder doch Werbung für Unterwäsche? Weil man das sehr oft nicht so genau sagen kann, hat das NSS Mag „Fashion or Porn – the Game“ erfunden: Ein Rätselspiel, bei dem man erst nur den Ausschnitt eines Bildes sieht und tippen muss, ob der aus der Werbung oder einem Porno stammt; danach folgt die Auflösung in Form des ganzes Bildes. Warnung: Das Spiel ist absolut NSFW! Und es macht ganz fiese Geräusche, wenn man falsch liegt. Aber es macht eben auch ein bisschen Spaß.

Der feine Unterschied
Endlich mal wieder eine Studie, die sich mit einer wirklich wichtigen Frage beschäftigt: Was genau ist eigentlich der Unterschied zwischen „One-Night-Stand“, „Booty Call“ und „Friends with benefits“? Das wollten australische Wissenschaftler herausfinden und haben darum 124 Frauen und 68 Männer nach ihrer Definition gefragt. Das Ergebnis:
One-Night-Stand = zwei Menschen haben ein Mal miteinander Sex, ohne Emotionen; ihre Motivation ist der Sex an sich.
Booty Call = so ähnlich, mit dem Unterschied, dass man öfter miteinander Sex hat und ein bisschen mehr Emotionen.
Friends with benefits = auch so ähnlich, mit dem Unterschied, dass die Sexualpartner gleichzeitig miteinander befreundet sind (also: viel mehr Emotionen!). Außerdem sind beide füreinander Lückenfüller, weil sie auf was Besseres warten.
Gut, dass das geklärt ist.

Franklins MILFs
Was wir uns nie hätten träumen lassen: Dass Benjamin Franklin mal in einer Topsexliste auftaucht! Jetzt ist es soweit. Das Swarthmore College in Pennsylvania hat einen Brief Franklins entdeckt, in dem er erklärt, warum es viel, viel besser ist, alte statt junge Frauen zu daten. Unter anderem, weil die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft geringer ist, man sich das Drama um entjungferte Frauen spart, weil sie klüger und erfahrener und weniger sensibel sind. Kurz gesagt: „one hell of a MILF“, wie es das Magazin "Elite Daily" zusammenfasst. 

Pokémon ganz ohne Pikachu



Zugegeben, mit Pokémon kennen wir uns jetzt nicht sooo gut aus, aber wir wissen zumindest, dass es davon auch ein Sammelkartenspiel gibt. Und jetzt wissen wir auch, welche Karten darin eindeutig noch fehlen: die sexy Sexmove-Karten! Gut, dass sich das nun ändert. Wer keine Lust auf Kartenspielen hat, kann den „Lickitung“, den „Alakazam“ oder den „Electrode“ ja einfach mal so ausprobieren.

...und dann noch ein Jahresrückblick



...denn auch in einer Topsexliste muss es einen geben. Zum Glück müssen wir ihn aber nicht selbst zusammenstellen, sondern können uns auf die Huffington Post verlassen, die vor Kurzem „The Year in Bad Sex“ veröffentlicht hat. Viele Punkte sind allerdings einfach komische Sexpraktiken, die skurrile Menschen durchgeführt haben und dafür dann manchmal sogar ins Gefängnis kamen. Wirklich gefallen haben uns dafür der Roboter, der Handjobs geben kann, und die erotischen Dinosaurier-Geschichten. Ja, du hast richtig gelesen: erotische Dinosaurier-Geschichten! Kann man sich aufs Kindle laden. Zum Beispiel „Taken by the T-Rex“. Der eigentlich immer auf der Suche nach willigen Sexualpartnern ist, weil er halt so kurze Arme hat, dass er nicht selbst...naja, schöne Geschichten jedenfalls.

Doch noch nicht vorbei!
Ganz zum Schluss gibt's nämlich noch ein Video, das beweist, in welch verwirrenden Zeiten wir leben. Hier versuchen Frauen zu beurteilen, ob Dinge wie Twerking oder die Anti-Vergewaltigungs-Unterwäsche feministisch oder frauenfeindlich sind. Und sind sich oft nicht so richtig sicher. 
http://vimeo.com/81251942

Zombies im Hirschgarten

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Handys kapseln uns von der Welt ab? Wer nur noch auf Displays starrt, bekommt nicht mehr mit, was um ihn herum passiert, und verpasst das wahre Leben? Aufhören! Wir haben in München mal ein paar Apps ausprobiert, Miniprogramme also, die zum Rausgehen animieren – und uns die Stadt neu gezeigt haben. In echt.



 

Zombie-Apokalypse 2.0


Die Geschichte: Lauf-App mit Zombieinvasion – der nackte Kampf ums Überleben! Über Funk werde ich ab sofort „Runner 5“ genannt und bekomme lebensrettende Anweisungen, sowie die Aufgabe, Dinge zu sammeln, die ein Überleben ermöglichen. Also raus aus der gewohnten Umgebung und ab durch München: Im Hirschgarten vor Zombies flüchten, völlig durchgeschwitzt und außer Puste Schutz hinter einer großen Tanne suchen, im vom Winter ergrauten Schlosspark Nymphenburg die sabbernde Horde Untoter abhängen. Durchaus starker Tobak.
 
So funktioniert’s:Über die Kopfhörer wird die Horror-Szenerie akustisch aufgebaut. Zombies stöhnen und ächzen – und kommen immer näher. Das einzige, was hilft: Rennen! Je länger die zurückgelegte Strecke, desto mehr virtuelle Gegenstände können gesammelt werden. Aber auch die Zombies werden mehr und das Lechzen wird immer lauter. Kommen sie zu nah, heißt es, für eine Minute das Tempo zu erhöhen – gerne mit Zufallsrouten: Wer Zombies im Nacken hat, verlässt bereitwillig gewohnte Laufwege. Und landet dadurch in kleinen Gässchen, von denen man schwören könnte, dass sie gestern noch nicht da gewesen sind.
 
Das will die App mir beibringen: Mit Zombies ist eigentlich nicht zu spaßen. In dieser App aber schon. Die faule Ausrede, laufen sei zu langweilig, zählt ab sofort nicht mehr.
 
Nebeneffekt: Körperliche Fitness, verbunden allerdings mit leichter Angstblässe.
 
Das entdecke ich: Die Wirkung der lechzenden Zombies über Kopfhörer ist nicht zu unterschätzen. Die Soundkulisse hüllt die Umgebung in einen bedrohlich-aufregenden Schleier. Wer sich etwa in leerstehenden Häuser verbarrikadiert, kann kurz verschnaufen – und ganz neue Dinge in der Nachbarschaft erkunden. Letzte Zuflucht: Tiefgarage – wo kein Empfang, da auch keine Gefahr.
 
Die App gefällt ...:„The Walking Dead“- Fans und Menschen, die Laufen langweilig finden.
 
Typische Szene:„Ächz! Stöhn! Sabber! Runner 5, there’s only one thing you can do: RUN!“ (J.L.)
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Stolpersteine – Münchner Geschichte


Die Geschichte: ... ist leider nicht ausgedacht. Es geht um die Vertreibung und Ermordung unzähliger Menschen während der NS-Zeit. Dass man dabei allerdings kaum Einzelschicksale betrachtet und deshalb auch eigenartig wenig Bezug zu dem Thema hat, versucht das Projekt „Stolpersteine" zu ändern. In mehr als 500 Städten innerhalb und außerhalb von Deutschland wurden bereits kleine, goldene Pflastersteine an den Stellen in den Boden gelassen, an denen früher Juden wohnten, die dem Nazi-Regime zum Opfer gefallen sind. Nur nicht in München. Mit Hilfe der App kann man jedoch auch hier nachvollziehen, welche Gräueltaten begangen wurden.

So funktioniert's: Die App trackt das Handy per GPS und meldet ehemalige Wohnorte von Verfolgten, sobald man sich in der Nähe befindet. Ein Steckbrief gibt Informationen über die früheren Bewohner des Hauses: Fotos, Geburts- und Todestag, Lebensgeschichte und der Weg der Deportation.

Das will die App mir beibringen: Die Namen und Geschichten der Verfolgten und Toten. Wo sie gearbeitet haben und zur Schule gegangen sind, wann sie ihre Partner kennengelernt haben und wer ihre Freunde und Feinde waren. Und natürlich Mitgefühl.

Das entdecke ich: Den jungen Mann, der am Gärtnerplatz gelebt hat. Kaum älter als ich selbst, hat er mit seiner Frau und seinem kleinen Kind hier gewohnt, ist auf die Geburtstagsfeiern von Freunden gegangen, hat Kuchen in seinem Lieblings-Café gegessen. Er sieht aus wie jeder zweite in der U-Bahn, ist in München geboren, hat seine Kindheit in Haidhausen verbracht. Drei Monaten nach seiner Deportation wurde er als verstorben gemeldet.

Nebeneffekt: Neben all den Gesichtern und Geschichten, die immer wieder auftauchen und mitnehmen, fällt die Veränderung auf. In den Häusern sind inzwischen schicke Schmuckgeschäfte, Reisebüros oder Bio-Bäckereien. In manchen leben noch Menschen, andere sind längst abgerissen. Aber nichts deutet in der Realität auf das hin, was hier früher stattgefunden hat. Keine Gedenktafel, kein kleiner Stolperstein, nichts. Das kann betroffen machen – oder sehr wütend.

Typische Szene: Eigentlich will ich nur schnell Brot fürs Abendessen besorgen. Aber auf einmal vibriert das Handy. Zwei Straßen weiter hat ein altes jüdisches Ehepaar gelebt, das Anfang der Vierzigerjahre deportiert wurde. Ihre Söhne und deren Familien, die ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt gelebt haben, wurden auch verschleppt. Inzwischen sind sie alle tot bis auf eine Enkelin der Alten: Sie hat die Arbeitslager überlebt und befindet sich inzwischen in New York. Das Brot habe ich vergessen.

Die App gefällt ...: Menschen, denen Geschichte abstrakt nicht reicht. (J.D.)
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Derivé


Die Geschichte: Etwas finden, das man eigentlich gar nicht gesucht hat. Nach diesem, dem sogenannten Serendipity-Prinzip, funktioniert die App Dérive. So ergeben sich nicht nur interessante Situationen aus dem Blauen heraus, sondern man öffnet tatsächlich die Augen für das scheinbar Unwesentliche und entdeckt all die kleinen Details, die das eigene Viertel, die Unigegend, den Weg zur Arbeit so besonders machen (könnten), wenn man nur mal genauer hinschaute.

So funktioniert's: Dérive gibt einem Aufgaben: Schenke einem Fremden Blumen, zum Beispiel. Oder auch: Überquere jede grüne Ampel auf deinem Weg. Leider funktioniert die App nur auf Englisch.

Das will die App mir beibringen: Augen auf! Es gibt auch in altbekannten Stadtvierteln immer wieder Neues zu entdecken. Also genau hinschauen, einen Blick auf Mitmenschen und Umgebung riskieren und sich dabei auch mal trauen, die teils schrägen Ideen umzusetzen.

Das entdecke ich: Eine ganze Menge an Dingen, die ich in der Tat nicht gesucht habe: Auf dem 90 minütigen Weg durch Schwabing finde ich neben einem herrenlosen Stuhl und einer ehemaligen Kommilitonin während ihrer Mittagspause auch einen 24-Stunden-Apothekenautomaten. Ist mir bisher noch nie aufgefallen, dass sich direkt hinter der Uni diese Art von Notfallautomat mit Schnullern, Kondomen und Thermacare Umschlägen befindet. Außerdem stolpere ich über einen potentiellen Nebenjob und ein Restaurant, das ich schon seit Monaten immer mal wieder googeln und ausfindig machen wollte.

Das ist der Nebeneffekt: Schräge Blicke sind nicht ausgeschlossen. Das merke ich spätestens, als ich am Brunnen vor der LMU Gras ausrupfe und in die Luft werfe, um zu sehen, in welche Richtung ich mich als nächstes bewegen soll. Und bei einer Aufgabe, die mich dazu anhält, jede grüne Ampel zu überqueren, die mir begegnet, passiert es schon mal, dass man sich, einer grünen Welle sei Dank, plötzlich in der eigenen Stadt verliert und einen langen Rückweg bis zur nächsten U-Bahn Station riskiert. Irgendwie passend, denn so ein bisschen fühle ich mich während der ganzen Viertelbesichtigung ohnehin wie ein neugieriger Tourist mit glänzenden Augen.

Typische Szene:„Look for trash on the street, if it is moving, follow it." - so kann eine typische Aufgabe bei Derive lauten und dazu führen, dass man eine Plastiktüte im Wind durch die Straßen Münchens verfolgt. Für Fortgeschrittene: Stille finden - und das mitten in Schwabing. Schwer, gleichzeitig aber eine interessante neue Art, die Umgebung wahrzunehmen: einfach mal nur auf die Ohren verlasse. Auf der Suche nach Stille, nach keinem konkreten Ort sondern einfach nach einem geringeren Lärmpegel. Und umso schöner, es dann auch zu schaffen, inmitten des Zentrums Vogelgezwitscher wahrzunehmen, und Blättern beim Fallen zu lauschen.

Die App gefällt ...: Menschen, die gern mal ausprobieren wollen, wie es ist, ohne konkretes Ziel durch die Stadt zu flanieren und gleichzeitig noch Anreize zu bekommen, worauf sie achten könnten. (L.F)
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Inspector Tripton


Die Geschichte: Als Inspector Tripton ermittle ich im Mord an dem Journalisten Tom Keller, dessen Leiche in den frühen Morgenstunden im U-Bahnhof Marienplatz gefunden wurde. Während der normale Shopping-Alltag tobt, gilt es, virtuelle Verdächtige zu befragen, Beweismittel zu sammeln und neue Winkel der Münchner Innenstadt zu entdecken.
 
So funktioniert’s: Die App verknüpft das reale Umfeld mit einer virtuellen Welt. „Augmented Reality“ also. Am Tatort angekommen, vibriert auf einmal das Handy und die Kamera aktiviert sich automatisch. Offenbar ist das die Aufforderung, die Umgebung zu filmen. Kamera schwenken also – nach links, nach rechts. Zwischen den Leuten, die tatsächlich am Marienplatz rumstehen, tauchen plötzlich virtuelle Person auf, denen ich vorgegebene Fragen stellen kann, die auf dem Bildschirm erscheinen. Danach geht’s via GPS zu weiteren Schauplätzen und mehr Verdächtigen.
 
Das will die App mir beibringen: Die Stadt sieht durch die Augen eines Ermittlers anders aus.
 
Nebeneffekt: Gerade an hochfrequentierten Orten steht man den Leuten sehr im Weg. Trotzdem wird man gemieden: Wer laufend auf nicht anwesende Personen deutet, muss sehr seltsam wirken.
 
Das entdecke ich: Eigentlich bin ich genervt von den Menschenmassen in der Münchner Innenstadt. In der Rolle des Inspector Tripton fühle ich mich aber angenehm isoliert von dem Geschehen um mich herum. Die Ermittlungen führen zu bekannten Wahrzeichen von München und die Gespräche mit den virtuellen Verdächtigen fördern nicht nur Informationen über den Fall zu Tage, sondern auch über wichtige Gebäude der Stadt.
 
Die App gefällt ...: Fans der Ermittlerbande TKKG oder der Drei Fragezeichen. Wer sonst gern Batiæ und Leitmayr beim „Tatort“-Ermitteln zuschaut, könnte auch seine Freude haben.
 
Typische Szene:„Wo waren Sie gestern zwischen vier und sieben Uhr morgens?“ Die Frage geht an den Pfarrer vom Alten Peter. Er hat kein Alibi. Eine Schweißperle bildet sich auf seiner Stirn. (J.L.)
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Geo Empires – München erobern


Die Geschichte: Die Welt – und natürlich auch München – ist in Planquadrate von ein paar wenigen Straßenzügen aufgeteilt, die erobert werden müssen. Egal, ob das Viertel, in dem ich groß geworden bin, das Gebiet rund um die Uni oder der Weg zur Arbeit: All das kann mir gehören. Dieses Spiel ist der App-gewordene Sido-Song „Mein Block“. 

So funktioniert’s: Per GPS verfolgt die App den Weg durch die Stadt. Je mehr Strecke in den Quadraten zurückgelegt wird, desto mehr Loyalitätspunkte gibt es. Diese Punkte braucht es, um die Areale einzunehmen. Wenn der Besitzer schwach ist, geht das teilweise schon mit einem kleinen Spaziergang. Bei anderen ist harte Arbeit angesagt: Zwei Wochen lang immer wieder den gleichen, viel zu langen Weg zur Post zu nehmen, eine ausschweifende Extrarunde auf dem Heimweg. Sobald mir ein Gebiet gehört, müssen alle anderen Spieler, die es betreten, virtuellen Zoll zahlen. Mit dem verdienten Geld lassen sich unter anderem Mauern bauen, damit die Quadrate nicht so schnell von anderen Spielern eingenommen werden können. Abkürzung zum Reichtum: Schatztruhen sammeln.
 
Das will die App mir beibringen: Rausgehen, frische Luft schnappen und mein Viertel zu Fuß, auf dem Rad oder im Auto erkunden.
 
Das entdecke ich: Meine Heimat. Ich finde neue und alte Schleichwege, entdecke Baustellen und Abrisshäuser. Außerdem kenne ich mich nun überraschend gut in den Gärten meiner Nachbarn aus.
 
Nebeneffekt: Wenn meine Freunde sich mit dem Auto zum Wocheneinkauf aufmachen, bin ich nach Möglichkeit dabei – so gewinne ich viel schneller Loyalität in den Straßen von München. Für mich wird deswegen sogar eine Extrarunde auf dem Parkplatz gedreht.
 
Typische Szene: Digitale Schatztruhe auf dem Garagendach! Die Gier ist größer als die Achtung vor dem Privatgrund: Raufklettern also, gut einsehbar von allen Seiten, und laut jubeln über den gewonnenen Reichtum. Im Nachfassen: Peinlichkeit der Situation bemerken.
 
Die App gefällt ...: Platzhirschen. Egal ob Heimkehrer, Dagebliebener oder Zugezogener. München gehört dir. (J.D.)
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