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Klassenkampf beim 'Spiegel'

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Jede gute Zeitung und jedes gute Magazin ist auch ein Biotop mit Journalisten, die einander schätzen oder nicht. Denkt beispielsweise der Spiegel-Redakteur an Deutschland in der Nacht, dann denkt er an die Großressorts Deutschland I und Deutschland II.




Die meisten Blätter haben auch einen Hausbrauch, in dem eben das geregelt wird, was in einem Haus zu regeln ist; der Spiegel hatte zwei: Der eine handelte vom Geist des Hauses, dem Selbstverständnis, mit dem man dort seinem Beruf nachgeht und am besten hat ein Geschäftsführer des Magazins diesen Hausbrauch I mal zusammengefasst: 'Wir sind wir, und der Rest sind Friseure'. Gemeint war, dass man ziemlich einzig war, das aber nicht besonders betonen sollte. 'Die meisten der Besten' seien beim Spiegel, hat ein Ex-Chefredakteur des Blattes mal gesagt.

Der andere Hausbrauch ist der normale Hausbrauch für angestellte Journalisten, den es auch beim Spiegel gibt, nur ein bisschen üppiger. Und dieser Hausbrauch II soll jetzt, wie der Betriebsrat den Mitarbeitern mitteilt, für Neueintritte nach dem 28. Februar 2014 'komplett gekündigt' werden. Das hätten, so der Betriebsrat, 'mit einer knappen Mitteilung' der Geschäftsführer Ove Saffe und der Verlagsleiter Personal angekündigt. Der Betriebsrat jedenfalls werde sich 'mit aller Macht gegen einen solchen Kahlschlag für neuere Mitarbeiter wehren'.

Der Begriff 'neuere Mitarbeiter' ist fast so bemerkenswert wie der Katalog an Leistungen, der laut Betriebsrat zusammengestrichen werden soll: 'Jährliche Gehaltsrunde, Jahresschlussvergütung, Heirats - und Geburtsbeihilfen, Treueprämie, erweiterte Lohn-und Gehaltszahlung im Krankheitsfall über die sechste Woche hinaus, zusätzlicher Urlaub für Redakteure und journalistische Mitarbeiter als Mehrarbeitsausgleich, zusätzlicher Jahresurlaub für ältere Redakteure, Reduktion des Weihnachtsgeldes, Reduzierung der Fahrgelderstattung, Reduzierung der Sonderurlaube bei Umzug, Heirat und Todesfällen in der Familie'. Auch die etwas kompliziertere 'Nichtanrechnung von Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen' stehe zur Disposition.

Eine Spiegel-Sprecherin erklärt auf Anfrage: Die Kündigung des Hausbrauchs diene dem Zweck, ihn neu verhandeln zu können: Die 'Anpassung' sei 'eine von mehreren Maßnahmen, um die Bereichskosten... mittelfristig zu senken'. Zuschuss zum Essensgeld oder zu den Fahrtkosten solle es weiter geben. Anderes, wie das 14. Gehalt nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit, müsse 'auf den Prüfstand'. Über solche Dinge streitet man beim Spiegel.

Das Wochenblatt, immer noch das wichtigste Magazin der Republik mit vielen der Besten, wird von der ökonomischen Realität der Branche eingeholt. Es muss gespart werden. Gewissermaßen wird das Blatt normal. Um ähnliche Punkte wie jetzt beim Spiegel, darunter auch wichtige, geht es auch in den Verhandlungen zum Manteltarifvertrag bei Tageszeitungen.

Der Ton in Hamburg war früher distanziert, jetzt ist er ruppig. Da werde 'nicht mehr miteinander gesprochen oder verhandelt, es wird durchgezogen, was nur halbwegs juristisch machbar erscheint' behauptet der Betriebsrat. Die Absetzung von Chefredakteuren, die Abläufe bei der Einsetzung eines neuen Chefredakteurs, die Frage, ob ein Mann von Bild Mitglied der Chefredaktion beim Spiegel sein darf - all das zeugt auch von Unsicherheit.

Warum aber Einschnitte beim Hausbrauch II mit dem Hausbrauch I schwer vereinbar sind, hat etwas mit der Geschichte des Blattes zu tun. Ursprünglich war es eine Art Orden, dessen Mitglieder nicht viel Getue um die eigene Großartigkeit machen mussten, weil sie großartig waren oder sich so fühlten. Und man verdiente ungewöhnlich gut. Der erste Verlagsdirektor, der legendäre Hans Detlev Becker, fuhr einen Jaguar Mark 10, er hatte einen ordentlich gekleideten Fahrer mit strammer Mütze und Becker allein war schon eine journalistische Großmacht.

Es gehörte ganz früher zum ungeschriebenen aber verbindlichen Hausbrauch, dass Spitzenleute innerhalb des Verlagsgebäudes nicht zu grüßen seien: 'Geübte Spiegel-Redakteure' würden 'häufig frontale Liebenswürdigkeit zuallererst mit verengter Pupille und unter dem Gesichtspunkt betrachten: Warum so freundlich, alter Halunke?', schrieb Peter Brügge alias Ernst Hess, der mehr als drei Jahrzehnte Spiegel-Reporter war, in einem Aufsatz über den Spiegel und den Hausbrauch.

Später gab es dann an der Brandstwiete das hauseigene Schwimmbad, eine Kantine, die heute im Museum steht, und andere Volkstümlichkeiten mehr, man schrieb nicht mehr anonym wie in den Anfangszeiten und fand seinen Namen unter Geschichten, was auch eine Last sein kann.

Die Bezahlung war nicht Ordensgemäß, teilweise ist sie bis heute außergewöhnlich gut. Ein tüchtiger Ressortleiter des Blattes verdient immer noch mehr als ein Chefredakteur einer großen Tageszeitung. Ende des Jahres kann es besondere Vergütungen geben, weil man gearbeitet hat. Weil Rudolf Augstein den halben Laden seinen Mitarbeitern vermacht hat, sind die Mitarbeiter auch Gesellschafter und bekommen im Frühsommer einen Gewinn-Anteil, den man nicht einkalkulieren soll, der aber oft in die Lebensplanung einkalkuliert wird. Dem Spiegel geht es noch vergleichsweise gut, aber manchmal, das meint nicht nur die Geschäftsleitung, wäre es besser gewesen, über die Jahres einen Großteil des Gewinns nicht auszuschütten, sondern zu sparen, weil Anzeigen wegbrechen und die Lage unübersichtlich ist.

Der Betriebsrat will Hinweise dafür haben, dass 'vor allem die Mitarbeiter mit geringen Gehältern beim Sparen herangezogen werden, während Besserverdienende weiterhin und außer der Reihe mit zum Teil fünfstelligen Summen bedient werden'. Das 'fünfstellig' meint: oben drauf.

Andererseits: Wäre es nicht auch ein gutes Zeichen, dass zumindest der Spiegel da oben der Spiegel bleibt?

Leben in Trümmern

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Singapur - Wer durch Leyte reist, sieht seltsame Gebilde überall. Blitzendes Wellblech, abenteuerlich verbogen vom Taifun. Manche Stücke sehen so bizarr aus, dass sie bestens in eine Kunstgalerie passen würden. Wer allerdings mit Notärzten spricht, sieht die Teile in anderem Licht. Denn tatsächlich werden die Bleche bei Windgeschwindigkeiten von 200 bis 300Stundenkilometern zu Killern. Der Sturm hat sie überall von den Häusern gerissen und wie scharfe Waffen durch die Luft gewirbelt. Wehe dem, der nicht mehr rechtzeitig in Deckung gehen konnte.




Der Arzt Tankred Stöbe hat gerade eine Frau mit einer tiefen Schnittwunde in der Hüfte behandelt. Sie hat das Blech überlebt. Er berichtet davon am Telefon, als die Nacht schon über Leyte hereingebrochen ist. Mit einem mobilen Ärzteteam fährt er tagsüber von der Hafenstadt Ormoc hinaus, jedes Mal in eine andere Ortschaft. 'Wohin wir bei unseren Fahrten auch kommen, wir hören stets, dass noch kein einziger Arzt da gewesen ist,' sagt Stöbe. Und er spricht nicht einmal von besonders abgelegenen Bergdörfern oder den Orten an fernen Stränden, die alle von der Flut weggespült wurden. Das gibt eine Vorstellung davon, wie viel Hilfe noch nötig ist in den Gebieten, die der Taifun verwüstet hat.

Stöbe ist Vorsitzender von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland und in Zeiten wie diesen auch selbst in Krisengebieten unterwegs. Fast zweihundert Mitarbeiter hat die Nothilfeorganisation von ihren verschiedenen nationalen Büros in die vom Sturm betroffenen Gebiete entsandt. Ihr Ziel ist es, auch in die entlegenen Ortschaften vorzustoßen, wo derzeit vor allem die Amerikaner mit Hubschraubern hinfliegen. Stöbe listete Ende der Woche noch immer acht Orte auf, in die bislang gar keine Hilfe gelangt war.

Die UN-Chefin für humanitäre Hilfe, Valerie Amos, beendete in dieser Woche ihre Reise durchs Katastrophengebiet, und nach anfänglichem Entsetzen über die allgemeine Lähmung der Hilfe schien sie nun doch zufriedener zu sein: 'Jetzt, da die Hilfe fließt, kommen die Menschen wieder auf die Füße.' Aber auch sie erwähnt Orte wie Guiuan, wo noch fast keine Lieferung angekommen ist.

Zwei Wochen nach dem Taifun lässt sich das Ausmaß der Katastrophe einigermaßen in Zahlen greifen. Der Sturm erfasste auf den Philippinen eine Fläche von 57000 Quadratkilometern, das entspricht etwa 80 Prozent der Fläche des Bundeslandes Bayern. Dort leben 18 Millionen Menschen, mehr als eine Million Häuser hat der Taifun zerstört, mindestens vier Millionen Bewohner sind obdachlos. Die Zahl der Toten bezifferten die Behörden am Sonntag auf mehr als 5200, mehr als tausend gelten noch immer als vermisst. Die Chancen, dass sie noch leben, sind verschwindend gering.

Während Ärzte Zehntausende Verwundete und Kranke erst noch erreichen müssen, graben sich professionelle Bergungsteams und Tausende Freiwillige durch die Trümmerberge, mancherorts bergen sie weitere Tote. Das ist eine sehr belastende Arbeit, nicht nur wegen des Geruchs. In Tacloban konnte man schon in den ersten Tagen die Helfer erschöpft am Straßenrand sitzen sehen, bleiche Gesichter hinter dem Mundschutz. Für seelischen Beistand, um verarbeiten, was man sah, war keiner da. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben auch Psychologen dabei. Sie beobachten bei den Philippinern eine große Zähigkeit, aber berichten auch von schweren Traumata, von Schlaflosigkeit und plötzlichen Weinattacken, die Überlebende zwischen den Trümmern plötzlich überfallen. Spurlos gehen die Zerstörungen an niemandem vorüber.

Dass die vielen Leichen nun Seuchen auslösen könnten, ist eine weitverbreitete Vorstellung, die sich in vielen Berichten über Naturkatastrophen hartnäckig hält. 'Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem Toten zu infizieren, äußerst gering', sagt Stöbe. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Überlebende in solchen Situationen ein viel höheres Ansteckungsrisiko bieten als die Gestorbenen. Gefährlich ist allerdings der Zusammenbruch der Wasserversorgung, Helfer können sie erst nach und nach wiederherstellen. Wegen des Mangels an sauberem Wasser leiden viele an Durchfall. Und weil kaum noch einer ein Dach über dem Kopf hat und es oft regnet, häufen sich Infektionen der Atemwege. Für geschwächte Menschen sind sie lebensbedrohlich.

Endlich wieder ein Dach über dem Kopf - danach sehnen sich jetzt alle, bevor sie überhaupt daran denken können, wie sie künftig ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Das hört auch Birgit Zeitler überall. Sie ist für die Welthungerhilfe in den Philippinen unterwegs und hat sich vor allem Zerstörungen auf der Insel Panay angesehen.

Jenseits der Städte leben die Menschen meist als Bauern, sie haben Kokosplantagen und Bananen angepflanzt, und sie bestellen ihre Reisfelder. Zwar waren in Panay im Westen die Wellen etwas kleiner als auf Samar und Leyte im Osten, dennoch haben die Fluten überall Reisfelder der Bauern zerstört, sie sind vom Meerwasser versalzen. 'Die muss man nun erst ausschöpfen und mit Frischwasser fluten, bevor man sie wieder nutzen kann', sagt die Agraringenieurin Zeitler. Das ist mühsam und zeitraubend. Vor allem dort, wo die Wasserleitungen defekt sind und neu verlegt werden müssen.

Geerntet haben die Bauern meist schon vor dem Sturm, was ein Glück war, wenn sie den Reis schon verkauft haben. Wer ihn lagerte, hat jetzt nichts mehr, und auch das Saatgut für den nächsten Anbau ist meist verloren. 'Die meisten dieser Menschen haben kaum Rücklagen,' sagt Zeitler. Wenn sie nun das knappe Geld ausgeben, um ihre Hütten aufzubauen, fehlt es für das Saatgut oder Werkzeug. Es kommt also jetzt nicht nur auf die akute Nothilfe an, sondern auch auf Mittel und Wege, wie man die zerstörte Landwirtschaft wieder in Gang bekommt.

Wer nach dem Taifun über die Inseln fuhr, sah nichts als abrasierte Kokosplantagen, geknickte Bananenstauden und entwurzelte Baumriesen, die Häuser erdrückten. Es dauert Monate, bis wieder Mauern stehen und Dächer aufgesetzt sind. Bis neue Kokospalmen in den Himmel wachsen, vergehen viele Jahre.

Grünphase für die Kunst

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Erst mal stehe für ihn ein Ortsbesuch an. Wobei es nicht Fridericianum oder Karlsauen sind, die den frisch berufenen künstlerischen Leiter der vierzehnten Ausgabe der Documenta interessieren. 'Dreißig Kilometer von der Stadt entfernt verlief die Grenze zur ehemaligen DDR', sagt Adam Szymczyk, die mit Scharfschützen gesicherten Zaunanlagen und Hundegräben, an denen sich viele Jahrzehnte lang die Blockmächte gegenüber standen. Und die Kassel als Zonenrandlage markierten. Wer sich fragt, warum die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst ausgerechnet dort entstehen konnte, der findet hier die Antwort: Schon Documenta-Gründer Arnold Bode wies auf 'die gefährdete, vorgeschobenene Grenzposition' hin, als er Anfang der Fünfzigerjahre beim 'Verteilungsausschuß der Funklotterie Glück aus dem Äther' um Förderung bat, bevor er sein Projekt erklärte, 'einen Überblick' über Malerei, Bildhauerei und Architektur zu geben, wie er 'bis jetzt weder im In- noch im Ausland gegeben' wurde.




Dass die Ausstellung im Beiprogramm der Bundesgartenschau im Jahr 1955 zur Sensation wurde, lag wohl vor allem an der Anmutung der im Krieg ausgebrannten Ruine des Fridericianums, die Bode, selbst Künstler, mit heller Plastikfolie verhängte, bevor er dort Bilder und Skulpturen zeigte, die im Nationalsozialismus verfemt und verboten waren. Um sein Publikum warb Bode mit Plakaten, die nur ein kleingeschriebenes, himmelblaues 'd' abbildeten, die Einladung daneben aber viersprachig druckten. Der Erfolg der Documenta, die inzwischen alle fünf Jahre stattfindet, resultierte immer schon aus dem Anspruch, gerade in der Randlage die aktuelle Kunst zu reflektieren. Was so überzeugend ausfiel, dass sie - wieder und wieder - als Referenz für eine Szene taugte, die inzwischen von New York bis Peking reicht. Wer hier als Künstler ausstellt, an dem kommt man nicht mehr vorbei.

Dass der im Jahr 1970 im polnischen Piotrkow geborene Adam Szymczyk, derzeit noch Direktor der Kunsthalle in Basel, auf Vorbilder angesprochen, die erste Documenta nennt und die von Catherine David kuratierte Documenta X, passt zu der Ankündigung der Ortsbegehung in den nordhessischen Mittelgebirgen. 'Catherine David war die erste Kuratorin, die auf die Wende reagiert und ihrer Ausstellung ganz andere Koordinaten und Bedingungen vorgegeben hat', sagt Szymczyk. 'Historische Umstände lassen Städte reisen. Kassel war Grenzposten, das ist sicher keine angenehme Position gewesen, aber eine prägnante, herausfordernde Lage. Dann ist es ein bisschen gereist - und jetzt liegt es ganz woanders. Mitten in Deutschland und mitten in Europa.'

Es ist mehr als ein Ablenkungsmanöver des neuen Documenta-Chefs, wenn er die Aufmerksamkeit auf den Ort lenkt, statt sich vorschnell auf Künstlernamen festzulegen. Für Adam Szymczyk war in seiner Arbeit der Ort häufig die entscheidende Größe. Dass eine seiner ersten Ausstellungen Hans Bellmer galt, kann man zwar in seiner Biografie nachlesen, es trifft allerdings nicht wirklich zu. Denn Ausgangspunkt der Betrachtung war Carlsruhe, wo der Puppen-bastelnde Künstler geboren wurde, ein schlesisches Städtchen bei Kattowitz, das sich, anders als das baden-württembergische Karlsruhe, mit C schreibt. Szymczyk: 'Es hat uns fasziniert, dass Bellmer so gar nichts mit Polen zu tun zu haben schien. Es galt also, sein Werk an seinen Geburtsort zurückbringen. Wir wollten im Schlesischen Museum in Kattowitz keine Retrospektive zeigen, sondern eine bestimmte Haltung reflektieren: Dass auch dieses Land Polen aus sehr verschiedenen Traditionen zusammen gesetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, das bekanntes Bild etwas komplizierter zu machen.'

So ähnlich hört es sich auch an, wenn Adam Szymczyk seinen Werdegang referiert. Schon das Museum, das er als Jugendlicher für sich entdeckte, trägt einen Namen, der den Inhalt eher camoufliert: Denn in Lodz war zwar das wohl einzige Museum in Polen beheimatet, das sich der zeitgenössischen Kunst verpflichtet fühlte - allerdings war es im Sozialismus undenkbar, ein Adjektiv wie 'modern' oder 'zeitgenössisch' über dessen Portikus zu schreiben. Trotzdem geriet der Vierzehnjährige hier auf einen offiziell gesperrten Seitenweg der Kultur. 1990 zog er dann nach Warschau, um Kunstgeschichte zu studieren. 'Doch seit meiner Matura im späten Frühling hatte eine Transformation stattgefunden, ein Systemwechsel. Die Sicherheit und Langeweile des alten Systems lagen in Scherben', erzählt Adam Szymczyk, der, auch wenn es um ihn selbst geht, nie vergisst, die Zeit und den Ort zu benennen. 'Demokratie war die angenehme Errungenschaft, Markwirtschaft war die nicht so angenehme Erfahrung, vor allem für Studienanfänger.'

Als Kurator sollte er jemand bleiben, der mit solchen Spannungen arbeitet. Die Berlin Biennale, die sich behaglich in der pittoresken Nostalgie von Berlin-Mitte eingerichtet hatte, erweiterte er im Jahr 2008 ausgerechnet um den wuchtigen Mies-van-der-Rohe-Bau am Kulturforum als Spielort. Und als er nach der Jahrtausendwende einer der Verantwortlichen für die Wieder-Eröffnung der Warschauer Foksal Galerie war, lange eine der wenigen Anlaufstellen der zeitgenössischen Avantgarde im Osten, betitelte er seine Schau mit einem aus Überschriften von Robert-Walser-Geschichten zusammengesetzten Ansage: 'Ein Spaziergang ans Ende der Welt'. Der Künstler Cezary Bodzianowsky war über eine telefonischer Standleitung aus dem ehemaligen Dambrau zugeschaltet, wo der Schriftsteller Walser einige Zeit als Diener angestellt gewesen war.

Adam Szymczyk sagt, er schätze an der Documenta, 'dass sie sich nur ihrer Zeit gegenüber rechtfertigte, dass sie stets vorbeiging und selbst nicht zur Autorität wurde. Dass man sie neu lesen und interpretieren durfte'. Ihre Struktur ist dafür sicher entscheidend - oder besser die Tatsache, dass es keine gibt: Die Schau ist nicht an ein Museum angebunden, das seine Bestände bestätigt sehen will. Und sie hat sich einen gelassenen Fünf-Jahres-Rhythmus verordnet, der desto länger erscheint, je hektischer die Szene zwischen Biennalen und Messen verkehrt. Ob man Künstler einlädt, Filme in Auftrag gibt, Kataloge, Hefte oder Zeitschriften verlegt oder lieber in Flugtickets und Hotelübernachtungen investiert, damit an '100 Tagen 1000 Gäste' anreisen, bleibt dem künstlerischen Leiter überlassen. Das versichert sogar der Bürgermeister dem neu angetretenen Documenta-Chef bereitwillig.

Wer die Documenta leitet, ist umso bedeutender, je weniger Verbindlichkeiten darüber hinaus bestehen. Mit Adam Szymczyk aber tritt eine Generation an, die skeptisch ist, wenn man sie als Macher in die Pflicht nimmt - und sei es durch die Ansage vollkommener Gestaltungsfreiheit: 'Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass nicht alles möglich ist', sagt er. 'So eine Behauptung ist Teil einer Inszenierung, bei der es um das Motiv des genialen Kurators geht, der seine Phantasien durchsetzt. Aber muss heute noch ein Einzelner als Autor mit seiner kuratorischen Signatur die Sache abzeichnen?'

Zumindest die Öffentlichkeit scheint Personalien mehr zu schätzen denn je - nach der Pressekonferenz flackern die Blitzlichter im regendunklen Eingang der Documenta-Halle. Und tatsächlich hat in der Vergangenheit noch jede Wahl wie ein Coup gewirkt. Zum einen bleibt da der immer auffallendere Gegensatz zwischen dem biederen Kassel, das hier einen Posten vergibt, der entscheidend beeinflusst, was demnächst in den Galerien von Soho, New York, im Museumsfuturismus der Arabischen Emirate verhandelt wird. Zum anderen war in den vergangenen Jahrzehnten keine Berufung vorhersehbar: Catherine David, Okwui Enwezor, Roger Bürgel, zuletzt Carolyn Christov-Bakargiev waren nur Insidern bekannt. Außerdem ist die Wahl absolut geheim, auch wenn es Monate dauert, bis sich eine Jury, die aus Kollegen besteht, auf sechs Namen geeinigt hat, die zur Vorstellungsrunde in Kassel eingeladen werden.

Das Paradox ist dabei, dass überall in Erklärungsnot gerät, wer sich - als Museumsleiter, Kunstvereinsdirektor oder Professor - um prestigeträchtige Ausstellungsprojekte andernorts bewirbt. Bei der Documenta ist es genau anders herum: Als vor fünf Jahren die Shortlist durch eine Indiskretion bekannt wurde, waren alle blamiert, die nicht in Erwägung gezogen worden waren. 'Wir können es nicht verhindern, dass sich die Bewerber vielleicht am Flughafen begegnen', sagt Bernd Leifeld, Geschäftsführer der Documenta, 'aber hier in Kassel passen wir auf'. Einsame Hotelzimmer, choreografierte Chauffeurdienste gehören zum Finale einer Kandidatenkür, die von Beteiligten als ungewöhnlich harter Auswahlprozess geschildert wird: 'So eine rigorose Diskussion habe ich noch nie erlebt', erzählte eins der acht Jurymitglieder schon nach den ersten Begegnungen. Doch dafür ist die Entscheidung dann auch von einer seltenen Verbindlichkeit. Denn während sich andernorts Kultusminister, Verwaltungs-Chefs und Aufsichtsräte routiniert über Empfehlungen hinwegsetzen, haben sich die Vertreter der Stadt Kassel und des Landes Hessen, die im Aufsichtsrat der Documenta sitzen, auferlegt, der Jury-Entscheidung zu folgen.

Seit in London, Katar, Moskau, Schanghai vor allem zeitgenössische Kunst zum bevorzugten Gadget eines nie gekannten Super-Reichtums avancierte und jedes Museums-Board in den USA mit Sammlern besetzt wird; seit man Galeristen als Museumsdirektoren beruft und Händler machtvoll über Künstlernachlässe herrschen, ist ein grimmiger Rat von lokalen Volksvertretern nicht die schlechteste Konstellation. Denn als autonom behaupten muss sich die Kunst heute vor allem ihrer eigenen Sphäre gegenüber. Schon Harald Szeemann begegnete während der Vorbereitung seiner legendären fünften Documenta den drohenden Beschwerden eines ausgeladenen US-Künstlers mit einem selbstbewussten 'Long live Europe'.

Das kriegszerstörte Kassel bleibt dafür eine glaubwürdige Kulisse. Am Rand der sechsspurigen Autoschneise, die das Fridericianum von der Documenta-Halle abschneidet, erscheint jede geostrategische Kultur-Verschwörungsthese plausibel: Verfehlter Wiederaufbau, kulturelle Neuprägung der jungen Bundesrepublik. Da wirkt die Berufung eines in der Schweiz arbeitenden Polen fast schon wie eine Zwangsläufigkeit. Denn Kassel wird alle fünf Jahre einen Sommer lang um ein paar Breitengrade ins Zentrum der Kunstwelt verschoben. Wenn gerade nicht Documenta ist, vergeht die Zeit hier langsamer. 'Nein', sagt Bernd Leifeld, 'das ist nur die Ampelschaltung'. Irgendwann hat er dafür gesorgt, dass das Kunstpublikum hier länger Grün hat als sonst. Das nächste Mal wieder zur Vernissage der nächsten Documenta, am 10. Juni 2017.

"Bin ich hässlich?"

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Faye ist 13 oder 14 Jahre alt, sie hat große, dunkel geschminkte Augen und sitzt auf einem Bürostuhl mit lederner Rückenlehne und blickt in die Kamera. „Hallo Leute!“ Sie zögert. „Ich wollte ein Video aufnehmen, weil heute Sonntag ist. Morgen ist wieder Schule.“ Sie kratzt sich an der Nase. „Am Freitag haben Leute in der Schule gesagt, Oh Gott, ist die hässlich! Meine Freunde sagen aber oft, du bist so hübsch, ich bin so neidisch! Deshalb wollte ich jetzt euch etwas fragen.“

Das Video hat Faye unter dem Nutzernamen „SmileLoveBeauty8“ vor knapp zwei Jahren auf YouTube geladen, es dauert viereinhalb Minuten und wurde bisher mehr als 500 000 Mal angeschaut. „Hinterlasst mir einen Kommentar“, sagt sie zum Schluss, „und sagt mir, ob ich hübsch oder hässlich bin.“

„Unglaublich hübsch!“, schreibt „Honor Ruffley“ – „Du solltest weniger Make-up tragen“, schreibt „Maxine Duncan“ – „Fick dich, Schlampe!“, schreibt „dinul kithsara“ – „Die Welt wäre besser, wenn Leute wie du tot wären“, schreibt „Lamfp Dewd“.

Das also sind die Antworten des Internets auf eine Frage, die sich viele immer wieder stellen: Bin ich schön – oder bin ich hässlich? Allerdings war es bisher eher verpönt, sie laut zu stellen, das galt als eitel, egozentrisch, als „fishing for compliments“. Wenn sie doch einmal öffentlich gestellt wurde, kamen dabei Sendungen wie „Are U Hot“ auf Viva oder krude Datingportale mit Abstimmungsfunktion heraus. Aber seit einigen Jahren ändert sich das. Immer öfter wird öffentlich um eine Bewertung der eigenen Schönheit gebeten. Auf YouTube, Reddit oder Yahoo Answers. Vor allem Mädchen im Teenager-Alter posten dort Videos und Fotos von sich und lassen die Betrachter über ihr Aussehen urteilen. „Pretty or ugly“ heißt dieser Trend, den viele gefährlich finden. Und den noch viel mehr nicht verstehen.

Etwa 250 000 Ergebnisse bekommt man, wenn man auf YouTube „Am I pretty or ugly“ eingibt. Die Mehrzahl davon sind Videos junger Mädchen, die jüngsten sieben oder acht Jahre alt, die ältesten vielleicht 17. Sie sitzen vor ihrer Webcam und fragen den Zuschauer in leichten Variationen dasselbe wie Faye. Hübsch? Oder hässlich?

Man kann die Kommentare zu den Videos grob in drei Kategorien einteilen. Da wären erstens die, in denen Dinge stehen wie „Du bist schön!“, „Hör nicht auf die anderen!“ und „Die inneren Werte zählen!“. Dann gibt es die, in denen Tipps gegeben werden. Zur Frisur, zum Make-up, zur Kleidung. Und dann sind da die Kommentare, in denen aufs Wüsteste beschimpft, beleidigt, belästigt wird.

Wüste Beschimpfungen sind leichter zu ertragen als ernst gemeinte Kommentare


Die gut gemeinten Tipps sind dabei manchmal schwerer zu verkraften als die Beschimpfungen, sagt Louise Orwin. Louise ist Performance-Künstlerin aus London. Die 26-Jährige hat testweise selbst „Pretty or ugly“-Videos gedreht und online gestellt. „Ich konnte darüber lachen, wenn jemand schrieb ,Bring dich um’“, sagt sie. „Aber wenn jemand schreibt ‚Deine Nase ist schief’ oder ‚Deine Augen sind zu nah beieinander’, ist es schwer, das zu ignorieren.“ Louise beschäftigt sich in ihrer Arbeit vor allem mit der Wahrnehmung des weiblichen Körpers in den Medien und der Gesellschaft. Während sie recherchierte, wie weibliche Teenager soziale Medien nutzen, stieß sie auf die hunderttausenden „Pretty or ugly“-Mädchen. Sie war schockiert und fasziniert und machte die Videos zum Gegenstand eines Projekts. Sie erfand drei Alter Egos: Becky, das Emo-Mädchen mit schwarz geschminkten Augen. Baby, die Süße im All-American-Girl-Stil. Und Amanda, ungeschminkt, mit Brille. Louise schlüpfte in die jeweilige Rolle und fragte in je einem Video: „Bin ich hübsch oder hässlich?“ Wie würden die Kommentare von Rolle zu Rolle ausfallen? „Ich wollte herausfinden, ob die Leute beleidigender kommentieren, wenn ich weniger konventionell aussehe“, sagt Louise. Und tatsächlich: Amanda, das Mädchen mit Brille, erntete die gemeinsten Kommentare. Zum Schluss setzte Louise sich unverkleidet vor die Kamera. „Da hatte ich schon akzeptiert, dass die Menschen gemein sein würden“, sagt sie. Mittlerweile hat sie die Videos wieder gelöscht, weil bekannt wurde, dass sie zu einem Kunstprojekt gehören.

Louise hat sich auf die Suche nach einer Erklärung gemacht. Sie will verstehen, warum die Mädchen diese Videos posten. Naheliegend wäre, dass es einfach schön ist, eine klare Ansage zu haben. Wohl jeder, der mal mit seinem Aussehen gehadert hat, hat sich schon mal gewünscht, jemand gäbe ein wirklich objektives Urteil ab. Immerhin kann man nicht wissen, ob man von außen betrachtet genauso aussieht wie man sich fühlt. Wie ja auch die eigene Stimme auf dem Tonband anders klingt als in den eigenen Ohren, und jedes Passfoto Asymmetrien im Gesicht zeigt, die man im Spiegel nie bemerkt hat. Und wenn man den besten Freund, die große Schwester, den Partner oder Oma fragt – sind die einem nicht zu sehr zugetan, um das beurteilen zu können? Würden sie nicht immer „Du bist schön“ sagen? Also fragt man die anonyme Masse. Die dann allerdings „Du bist die hässlichste Schlampe, die ich je gesehen habe“ unter das Video schreibt. Sind die „Pretty or ugly“-Mädchen so naiv, wirklich auf ein objektives Urteil aus dem Netz zu hoffen?
 
Louise glaubt das nicht. „Diese Teenager kennen das Internet sehr gut“, sagt sie, „sie wissen vorher, dass sie auch viel negative Aufmerksamkeit erregen werden.“ Und das sei eben der Hauptgrund: Aufmerksamkeit erregen. Auf YouTube gibt es viele Trends. Mädchen machen Make-up-Tutorials oder zeigen, was in ihren Taschen ist. „Pretty or ugly“ ist da vielleicht einfach nur ein weiterer Trend, „ein weiteres Thema, über das man ein Video machen kann“, sagt Louise, „die Mädchen wollen berühmt sein.“ Die meisten von ihnen werden Andy Warhol nicht mehr kennen, aber sie leben in der Zukunft, die Warhol schon in den Sechzigern prophezeit hat – und in der jeder 15 Minuten lang berühmt sein wird.

[seitenumbruch]
Wenn das Ziel der Mädchen Aufmerksamkeit ist, sind sie im Internet genau richtig. Es hat eine Menge davon zu vergeben. Aber es ist wahrscheinlich zu kurz gedacht, wenn man wie Louise annimmt, dass es ihnen egal ist, ob diese Aufmerksamkeit positiv oder negativ ausfällt. Denn wenn man sich durch die „Pretty or ugly“-Videos klickt, fällt eines auf: Viele der Mädchen geben sich kokett und niedlich-naiv, sie sind geschminkt und klimpern mit den Augen, sie haben gut geföntes Haar, das sie immer wieder über die Schulter werfen, sie posen oder zeigen verträumte Fotos von sich. Sie wollen sich möglichst gut präsentieren. Sie fragen „Bin ich hübsch oder hässlich?“, weil sie in einer Phase ihres Lebens stecken, in der sie sich verändern und nur schwer selbst einordnen können. Aber sie wünschen sich, hübsch zu sein. Und würden alles dafür tun.

Der Teufelskreis wird mit jedem neuen geschminkten Gesicht weiter angetrieben


Viele der Teenager ähneln sich auffallend, sie kleiden, schminken, sprechen und bewegen sich ähnlich. „Diese Mädchen schauen sich Bilder von Stars an“, sagt Louise, „aber gleichzeitig schauen sie sich andere Mädchen an.“ Sie sind mit dem Internet aufgewachsen, mit kleinen Avataren ihrer selbst auf Facebook, Twitter und Tumblr, mit denen sie sich darstellen und präsentieren. Sie laden bearbeitete Bilder und gespielt spontane, aber doch durchdachte Videos hoch. Ihre Freundinnen sehen das und wollen auch so aussehen. Die reale Freundin, an der man sehen kann, dass Menschen in Wirklichkeit eher selten aussehen wie Models, ist online selbst eines geworden. Das setzt einen Teufelskreis in Gang, der mit jedem weiteren geschminkten Gesicht in der Kamera neu angetrieben wird.

Louise hat in London auf der Straße Teenager befragt, ob diese Fotos und Videos sie unter Druck setzen. „Sie haben sehr offen darüber gesprochen, dass sie sich gestresst davon fühlen, diesem Bild zu genügen“, sagt sie. Auf Basis dieser Umfrage und ihrer Erfahrungen mit den drei Alter-Ego-Videos hat sie eine Show konzipiert, um das Thema vom Internet auf die Bühne zu bringen. Sie wurde in einem Londoner Theater uraufgeführt; bald soll sie durch Großbritannien touren. Louise zeigt darin ihre Videos und spricht über die Reise der drei Charaktere: wie es sich angefühlt hat, sich in sie zu verwandeln, die Kommentare zu lesen und Nachrichten von Männern zu bekommen, die nach Nacktbildern fragten. Louise will zeigen, wie Teenager gesehen werden und was das mit ihnen macht: „Ein Teil der Gesellschaft ist besessen von weiblichen Teenagern: Frauen wollen aussehen wie sie, Männer wollen mit ihnen zusammen sein. Da müssen sie sich ja als Objekte und Performer verstehen.“

Aus dem Theater-Projekt soll eine Kampagne werden. Louise gibt bereits Workshops für Mädchen, in denen es um Cybermobbing und den Umgang mit dem Körperbild in den Medien geht. Das möchte sie ausweiten. Seit ihr Projekt bekannt geworden ist, haben ihr Mädchen aus der ganzen Welt geschrieben.

Louise hat viele der YouTube-Nutzerinnen versucht zu kontaktieren. Meistens ohne Erfolg. Und wenn doch, dann konnten die Mädchen selbst nicht erklären, warum sie die Videos hochladen, oder sie wollten nicht darüber sprechen. Auch Faye hat auf eine Anfrage für diesen Text nicht geantwortet. Darum lässt sich nicht sagen, ob sie sich heute schön oder hässlich findet, ob sie sich vielleicht weniger schminkt, ob sie nachts weint oder über die Beleidigungen und sexuellen Anspielungen lacht. Immer noch gibt es fast stündlich neue Kommentare unter ihrem Video. Ihre persönlichen viereinhalb Minuten Ruhm beginnen damit immer wieder von Neuem.

Der Sonntag mit... Fotograf Christian Brecheis

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Name: Christian Brecheis
Alter: 33
Geburtsort/Wohnort: München / München
So erkläre ich meinen Job meiner Oma: Fotograf. Meine Oma geht auf die 91 zu, hat einen 17" Laptop und lässt sich die Fotos von Weihnachten per E-Mail schicken. Sie hat eine ganz gute Ahnung von meiner Arbeit.
Mein liebster Wochentag:
Vielleicht Mittwoch, Humpday. Mitte der Woche, kein Choas mehr vom Montag und noch nicht mit einem Fuß im Wochenende. Mir persönlich ist es wurscht, ich arbeite immer unterschiedlich und mache auch mal unter der Woche als Ausgleich einen freien "Sonntag".
Aktuelle Projekte:
Nachdem endlich der Wohnungsumbau und Umzug geschafft ist, freue ich mich wieder, einige "freie" Foto-Ideen abseits von Jobs angehen zu können.




7:10 Uhr: Hotel-Frühstück. Ich bin schon eine Woche hier und inzwischen hängt's mir leider etwas zum Hals raus. Gerade bin ich auf dem Billabong-Fotoshoot in Österreich. Ich arbeite nicht immer Sonntags, aber es kommt recht regelmäßig vor. jetzt.de hat mich also gut erwischt. Denn die neuen Produkte, die wir hier fotografieren, soll noch niemand sehen. Wird also nicht ganz leicht, meinen Tag zu dokumentieren.




8:02 Uhr: Mit der Gondel durch die Suppe, oben ist Bluebird. Ich schätze die Tage am Berg besonders, wenn oben das schöne Wetter ist und im Tal der kalte, nasse Nebel hängt.




8:40 Uhr: Nach der Woche wissen wir, wo noch gute Spots am Berg zu finden sind. Wir sind sehr schnell unterwegs, wenn die Location passt, stoppen wir nur kurz, Reisverschluss auf, ich hole die Kamera aus dem Rucksack, ein Turn, Reisverschluss zu und weiter geht's.




10:40 Uhr: Snowboarder Wolle Nyvelt hat etwas unberührten Schnee gefunden. Der schwarze Punkt in seinem Schatten bin ich.




11:30 Uhr: Mittagessen auf dem Berg, gleich fahren wir wieder runter - wir haben heute noch etwas Programm vor uns.




12:30 Uhr: Daten sichern. Heute am letzten Tag des Shoots muss ich bereits meine Bilder sortiert abliefern. Ich nutze die Zeit, um etwas vorzuarbeiten.




14:15 Uhr: Heute dreht sich viel um Wolle Nyvelt, einen der größten Namen des Billabong Teams. Wir sind bei ihm zu Hause und packen die Sachen zusammen, die wir gleich für den Shoot in seiner Werkstatt brauchen. Hier ein Blick auf einen Teil seiner Surfboards im Keller.




15:20 Uhr: Die Äsmo Werkstatt. Ab hier keine Fotos mehr. Drinnen ist bereits jede Menge der Kollektion vom nächsten Jahr. Übrigens, das Äsmo Projekt sollte sich jeder mal ansehen. Wolle hat mit einer immensen Erfahrung und Wissen, was Snowboarden und Surfen angeht, angefangen, Powder-Snowboards ohne Bindung zu bauen. Super hochwertig gefertigt und unglaublich spaßig zu fahren!




19:30 Uhr: Yep. Wieder zurück am Computer.




21:45 Uhr: Mit einer Dusche nehme ich Abschied von meinem etwas seltsam eingerichteten Hotel. Es war eine wirklich gute Woche hier.

Der Montagsticker zu Neuanfängen

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Man kann ja auch direkt hier rumfragen – der Zeitpunkt stimmt schließlich ganz wunderbar: Wie geht’s dir gerade? Nicht allgemein. Ganz konkret in diesem Moment – vor kurzem aufgestanden, die komplette Woche liegt taufrisch und bedrohlich in ihrer ganzen Länge vor einem. Eben: Man muss den Montag nicht verteufeln, aber ein Freitagnachmittag ist er dann doch auch nicht.  




Oder hat er am Ende nur ein Imageproblem, herbeigesungen von Musikern („Blue Mondays“, „I Don’t Like Mondays“, „Call It Stormy Monday“ – alles ja auch eher missverstandene Texte ...), denen es ja grad Wurscht sein kann, an welchem Tag sie herumlungern? Wissenschaftler der San Diego State University setzen nämlich gerade zur Ehrenrettung des Montags an. Wie jüngst im Fachmagazin Jama Internal Medicine zu lesen war, begreifen angeblich sehr viele Menschen den ersten Wochentag gerade nicht als Plage, sondern als Chance.  

Um zu diesem Schluss zu kommen, werteten die Forscher für den Zeitraum von 2008 bis 2012 aus, wann verstärkt nach solchen Webseiten gesucht wurde, die Hilfe beim Aufhören mit dem Rauchen versprechen. Und zwar in sechs Sprachen. Ergebnis: Bei allen Suchanfragen häufte sich das Interesse am Wochenanfang – mit deutlicher Akkumulation am Montag. Ähnliches gilt auch für Sport, Diäten und viel sonstige Lebensoptimierung. Es ist also einmal die Woche Neujahr. Prosit!  

Oder doch nicht? Denn auch, wenn Psychologen dazu raten, sich feste Tage für Veränderungen zu suchen (und sie zum Zwecke der Visualisierung auch in den Kalender einzutragen – das mache es verbindlicher ...), ein Selbstläufer ist das damit noch lange nicht. Wir alle kennen das doch: Montags wedeln wir noch ohne Kippenschachtel in der Tasche zur Salatbar, Freitags muss man auf den fetten Braten dringend eine rauchen.  

Wie ist das also bei dir? Nimmst du dir an Montagen auch tendenziell mehr Veränderungen vor als mittwochs oder donnerstags? Oder wartest du lieber auf Neujahr? Den ersten des Monats? Und egal, an welchem Tag du sie gefasst hast: Wie hältst du gute Vorsätze durch? Hast du einen Trick? Dann verrat ihn uns! Oder gibt’s keinen – nur eisernen Willen? Raus damit!

Das Auge verhütet mit

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Mein nackter Mitbewohner



Menschen tun ja viel, um eine gute und günstige Wohnung zu finden: sich in extrem lange Besichtigungsschlangen stellen, zwei volle Monatsgehälter an Makler zahlen, kreative Videos drehen, so was. In Washington gab es kürzlich die Möglichkeit, für einen Dollar im Monat zu wohnen. Die Bedingung: Der Mieter muss die ganze Zeit über nackt sein. Dieses Angebot hat ein Mann auf Mitbewohnersuche bei Craigslist veröffentlicht. Er möchte sein Penthouse in Chinatown gerne mit einem unter-26-Jährigen teilen, der sehr attraktiv und am besten hetero- oder bisexuell sein soll, ganz toll wäre es, wenn er eine Freundin hätte. Ein schwuler Mann wäre aber auch okay. Der Mitbewohner muss bereit sein, sich angucken zu lassen, hin und wieder soll auch anfassen drin sein, wie viel und wie oft ist verhandelbar. Unschlagbares Angebot. Anscheinend gab es auch schon extrem viele Zuschriften – wieso sonst sollte das Gesuch mittlerweile wieder gelöscht worden sein?  

Das Vaginastadion




Wenn irgendwas aus Versehen aussieht wie ein Geschlechtsteil, freuen sich alle. In den letzten Wochen ist das Entzücken groß, seit Katar mit Blick auf die Fußball-WM 2022 einen ersten Entwurf für ein neues Stadion veröffentlicht hat – denn dieser Entwurf hat große Ähnlichkeit mit einer Vagina. Für den Guardian hat jetzt eine Autorin darüber geschrieben, wie schön sie das findet, wo doch moderne Gebäude sonst eher aussehen wie Penisse. Sie vergleicht das Stadion mit einem Hochhaus in Chicago, das dort meist „Vagina Building“ genannt wird, weil es so einen großen Schlitz in der Front hat. Die Legende besagt, dass es von einer Architektin entworfen wurde, die genug von Phallus-Gebäuden hatte. Ist aber wirklich nur eine Legende und die Ähnlichkeit, die auch nur sehr entfernt ist, reiner Zufall. Genauso ist es beim Stadion in Katar. Passiert halt, natürliche Formen sind überall. Ted Mosbys Chef in „How I Met Your Mother“ hat ja schließlich auch nicht gemerkt, dass sein Gebäude-Entwurf erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Penis hat.    

Das natürlichste Musikvideo seit es Musikvideos gibt

Das Video zur neuen Kanye West-Single „Bound 2“ ist laut Jezebel„eine Mischung aus einem Pferde-Äquivalent des kultigen Drei-Wölfe-T-Shirts und dem Yosemite-Hintergrund aus der MacBook PhotoBooth-App“. Mehr muss man dazu fast nicht sagen. Außer vielleicht das: Warum? Und wieso ist Kim Kardashian nackt (und sitzt auf dem Motorrad wie Miley Cyrus auf der Abrissbirne – gehört das jetzt so)? Kanye und Kim scheinen jedenfalls auf dem direkten Weg in einen extrem schlechten Soft-Porno zu sein. Gute Fahrt!  
http://www.youtube.com/watch?v=BuBd3bDdALM
+++Update+++
Mittlerweile gibt es auch eine Parodie auf das Video: James Franco als wilder Motorradheld und Seth Rogen als seine nackte, räkelnde Liebschaft.
http://www.youtube.com/watch?v=nRckgn36lzY

Kurzer Arbeitsmarktexkurs
Hier ein Bild, das kürzlich auf Facebook herumgereicht wurde und über dem „Frauen in Führungspositionen“ stehen könnte. Tipp: Vergrößern und dann schön langsam von oben nach unten scrollen.    

Achtung, Lesbe!
  



Autostraddle, ein online-Magazin für Lesben und bisexuelle Frauen, hat vergangene Woche eine Liste mit neun Taschenbüchern aus den 50er und 60er Jahren veröffentlicht, die sich mit weiblicher Homosexualität beschäftigen. Allesamt wurden von angeblichen „Ärzten“ geschrieben und immer geht es darum, was an Lesben schlimm und unnatürlich ist und was man gegen Homosexualität tun kann und muss. Jetzt hat Autostraddle aus einem der Bücher namens „A New Look at the Lesbian“ eine Liste mit „16 Hard Core Facts About Lesbians“ herausgeschrieben, die ganz arg absurd ist. Hier die Highlights: Lesben praktizieren Vampirismus; Eltern sollten sich Sorgen machen, wenn ihre Töchter lieber Fußball spielen als zum Tanzunterricht zu gehen; viele Lesben leiden an einer „chronischen Hautkrankheit“; „Lesbianismus“ ist ein Kult, der weiterhin besteht und beinahe jeden von uns auf die eine oder andere Weise beeinflusst („Hitlers tausendjähriges Reich hatte erheblich geringere Auswirkungen“).

Achtung, Streit! 
Unter einem Video der allseits beliebten Boyband „One Direction“ kam es zu einem Streit zwischen den Usern „Sophie Danze“ und „Jilianlovesthebiebs“ über die Frage, ob Band-Mitglied Harry Styles schwul sei oder nicht. Erstmal nicht so spannend – aber dann sind lustige Menschen auf die Idee gekommen, dieses krude Streitgespräch zwei alten, feinen Herren in den Mund zu legen und sie es in einer düsteren altes-britisches-Schloss-und-draußen-grollt-der-Donner-Atmosphäre führen zu lassen. Und schon ist es interessant.    
http://www.youtube.com/watch?v=MxrWuE5qC5c#t=173

Prosit Langzeitstudie!

Neun Jahre lang haben Wissenschaftler 634 Paare nach ihrer Hochzeit begleitet und ihr Trinkverhalten analysiert. Das Ergebnis dieser Studie: Wenn beide Partner „starke Trinker“ sind, liegt die Scheidungsrate bei 30 Prozent (ungefähr so hoch wie bei Paaren, in denen beide Partner gar nicht trinken), wenn nur einer von ihnen trinkt, liegt sie bei 50 Prozent. Finden wir jetzt nicht gerade erstaunlich. Allerdings fehlt in der Zusammenfassung der Studie eine Definition für „starker Trinker“.  

Das Auge verhütet mit
 



Kondome sind oft das Wichtigste, aber nicht gerade das Schönste am Sex. Könnte (neben Gefühlsdingen) auch daran liegen, dass das Produktdesign oft nicht so dolle ist. Entweder pragmatisch wie bei Durex oder geschmacklich verirrt wie bei Billy Boy. Da gibt es jetzt Abhilfe: „Peacoque“, Kondome in schöner Verpackung. Der Name ist ein Wortspiel aus „Peacock“, also „Pfau“, und „coque“, dem französischen Wort für „Hülle“ oder „Gehäuse“ (wobei die Nähe zum Englischen „cock“ gewollt sein dürfte). Das Ganze sieht aus wie ein bunter Fächer, in verschiedenen Farben und Größen. Produktdesignliebhaber legen sich diese Päckchen sicher gerne offen auf den Nachtschrank. Egal, ob sie Sex haben oder nicht.

„Wir denken an den Staat und vergessen die Menschen“

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jetzt.de: Du hast deine Semesterferien geopfert, um dich für Frieden zwischen Nord- und Südkorea zu engagieren. Warum?
Kai Lüke: Ich habe vergangenes Jahr an einem Jugendaustausch in Seoul teilgenommen. Deshalb habe ich viele koreanische Freunde, die während oder nach ihrem Studium vom Militär eingezogen werden. Wer verweigert, muss ins Gefängnis. Einige meiner Freunde haben auch Verwandte in Nordkorea, dürfen sie aber nicht besuchen. Das liegt daran, dass es zwischen Nord- und Südkorea nach wie vor keinen Friedensvertrag gibt. Die Südkoreaner können deshalb beispielsweise auch kein Geld auf Konten in Nordkorea überweisen, um Familie oder Freunde zu unterstützen.  



Viele Sükoreaner haben Verwandte im Norden. Besuchen dürfen sie sie nie. Das gilt auch für diese Teilnehmer der Zugreise.

Gibt es nicht bessere Wege, um auf die Teilung aufmerksam zu machen, als eine Zugfahrt?
Wir hätten auch nur einmal irgendwo demonstrieren können. Aber das war uns nicht genug. Wir haben 20 Tage unserer Zeit geopfert und eine anstrengende Fahrt auf uns genommen. Damit wollten wir zeigen, dass das Thema nicht vergessen ist. Vor allem als Deutscher war mir das wichtig. Nordkorea ist Teil unserer Geschichte. Wir sind nicht ohne Grund in Berlin gestartet. Die Stadt war selbst im Kalten Krieg geteilt und ist nun wieder vereint. Viele Teilnehmer hatten ähnliche Hintergründe. So zum Beispiel ein junger Äthiopier aus unser Gruppe. Viele wissen gar nicht, dass auch äthiopische Soldaten im Koreakrieg gekämpft haben.  

Was habt ihr denn konkret auf der Zugfahrt gemacht?

Untereinander haben wir viel diskutiert. Aber wichtiger waren unsere Treffen mit örtlichen Kirchenvertretern, Jugendverbänden und anderen Organisationen. Dafür haben wir in Moskau, Irkutsk und Peking Halt gemacht. Thema war immer der Friedensprozess in Korea und wie wir gemeinsam etwas tun können, um dieses Ziel zu erreichen. Daraus erwachsen hoffentlich langfristige Kooperationen.  

Siehst du eine deutsche Verantwortung für die Situation in Korea?

Deutschland will seine Sanktionen erst lockern, wenn die Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea aufhören. Ich will die nicht klein reden. Aber ich frage mich: Ist uns klar, was die internationale Isolation für die Menschen bedeutet? Die einzige deutsche Hilfsorganisation dort ist die Welthungerhilfe. Die darf nur humanitäre Hilfe leisten, aber keine Entwicklungshilfe. Sonst bekommt die Organisation Ärger mit den deutschen Behörden. Das heißt, sie darf zwar Lebensmittel liefern, aber theoretisch nichts, um sie anzubauen. Das ist absurd. Wir denken an den Staat und vergessen die Menschen.  

Seid ihr auch nach Nordkorea hineingefahren?
Wir wollen ursprünglich nach Pjöngjang reisen. Eine Mitreisende hat Verwandte dort, sie hat sie das letzte Mal 1992 getroffen. Im Zug hat sie bis zuletzt darum gebangt, ob sie sie würde sehen können. Die Enttäuschung war dementsprechend groß, als wir nicht einreisen durften. Wir sind dann nicht in die koreanische Hauptstadt, sondern ins chinesische Dandong gefahren. Die Stadt liegt direkt an der Grenze zu Nordkorea. Dort steht die einzige noch intakte Brücke zwischen den beiden Ländern.  



Die Freundschaftsbrücke in Dandong

Wie fühlt sich diese Grenzstadt an?
Es herrscht eine Aufbruchsstimmung. Der Handel zwischen China und Nordkorea boomt. Überall wird gebaut und gearbeitet. Es ist gerade ein neuer Stadtteil entstanden und die Universität wird vergrößert. Die Nordkoreaner sind nicht abgeschottet von den Chinesen, sondern arbeiten mit ihnen zusammen. In Dandong sieht man, was möglich ist, wenn ein Land freundschaftliche Beziehungen mit Nordkorea pflegt.

Hattet ihr die Möglichkeit mit Nordkoreanern zu sprechen?
Man kann sich mit den Nordkoreanern, die dort arbeiten, normal unterhalten. Aber bei politischen Fragen geben sie ausweichende Antworten. Nur unsere Reisebegleiterin, die auch Nordkoreanerin ist, hat vergleichsweise offen gesprochen. Ihre Eltern sind in den Sechzigerjahren aus China nach Nordkorea gezogen, als es dem Land wirtschaftlich noch besser ging. Als sie klein war, hat sie viele südkoreanische Fernsehserien gesehen. Darüber sprechen durfte sie mit ihren Freunden nicht. Erst später merkte sie: Alle schauen diese Programme, es redet nur niemand darüber. Manchmal tragen plötzlich alle Frauen die gleiche Frisur wie die südkoreanischen Schauspielerinnen. 


Kai Lüke

"Sozialarbeit 3.0"

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Früher war es furchtbar heiß in der Jahrhunderthalle in Bochum-Stahlhausen. Man roch den Schweiß der kleinen Leute mit den starken Armen. Die Gebläse des Hochofens bliesen, bis die Stahlindustrie zugrunde ging und die Halle kalt wurde. Vor ein paar Jahren hat man den Koloss saniert und wieder ein Gebläse eingebaut. Das macht die Jahrhunderthalle nun schön warm - so warm, dass man auch im November prima mit nacktem Oberkörper herumstehen kann. Oder Saltos schlagen.



Urbanatix feiern ihren großen Erfolg. Auch Politiker stehen Schlange um ihre Show zu sehen.

Besnik Selimaj hat sein T-Shirt ausgezogen, zeigt den Leuten noch mal schnell seinen wirklich sehenswerten Oberkörper und macht dann auf der Matte in der Jahrhunderthalle sieben Saltos am Stück - mal so zum warm werden, obwohl es schon ziemlich warm ist.

Das ging alles ziemlich schnell - die sieben Saltos und die Geschichte von Besnik Selimaj und den "Urbanatix". Vor einigen Jahren haben sich ein paar Leute in einer leer stehenden Kirche getroffen, um ein bisschen zusammen zu üben, ein bisschen Breakdance, ein bisschen Akrobatik und Tricking. Vier Jahre später stehen 60 Leute nun in der Jahrhunderthalle auf der Bühne, für eineinhalb Stunden einer ziemlich großartigen Show. 1200 Menschen sind gekommen und zahlen Eintrittspreise von 20 bis 40 Euro. Das muss man sich leisten können im Ruhrgebiet, so viel zu zahlen. Und vor allem so viel zu verlangen. Man übersieht sie leicht, die Erfolgsgeschichten aus dem Pott, weil Deutschland den tiefen Westen ganz gerne mal übersieht. Urbanatix ist aber eine von ihnen. Eine Serie von 14 gefeierten Shows geht gerade zu Ende. Mittlerweile stehen auch die Politiker Schlange, um den Erfolg zu feiern.

Es ist eine Mischung aus Jugendarbeit und Artistenschule, die da entstanden ist in Bochum. Als für das Jahr der Kulturhauptstadt 2010 Projekte gesucht wurden, dachte sich Christian Eggert, 49, man könne doch etwas mit Jugendkultur organisieren, einer Richtung, die sich unter "urban styles" summieren lässt, von Breakdance bis BMX. Die Kulturhauptstadt lehnte erst ab, das Projekt begann trotzdem. In einer leer stehenden Kirche in Essen. Die jungen Leute brachten sich das meiste selbst bei. "Each one, teach one", laute das Prinzip, sagt Eggert. Jeder gibt sein Wissen weiter. Sie brachten sich Tricks und Choreografien bei, und auch Zusammenhalt und Pünktlichkeit, sagt Eggert.

Das kannte nicht jeder bis dahin. "Sozialarbeit 3.0" nennt Eggert es auch. Früher bestand die darin, dass in Jugendzentren ein Tischkicker stand und ein paar langhaarige Sozialpädagogen herumstanden. Dann merkte man, dass die Sozialpädagogen selbst viel lieber kickerten als die Klientel, um die man sich kümmern wollte. Eggert hat das alles mitgemacht, die Zeltlager und Jugendaustausch-Aktionen; er war früher selbst Jugendbetreuer, bevor er dies und das machte und eine eigene Agentur gründete - und eben Urbanatix. Ganz neu war das nicht, auch die Sozialpädagogen versuchen mittlerweile, wieder näher an die Jugend zu rücken, bieten Breakdance-Seminare an und all das. In Bochum hat das Projekt aber ein ganz anderes Niveau erreicht. "Wir machen keine Gutmenschen-Pädagogik", sagt Eggert. Es geht nicht nur darum, den Tag irgendwie rumzukriegen, sondern um eine Perspektive, die lange Sicht,

"Direkt von der Straße holen müssen wir niemanden", sagt Besnik Selimaj, 27. Aber viele kommen aus zumindest ansatzweise prekären Verhältnissen. Man kümmert sich, hilft sich, den Weg zu finden im Leben. Selimaj ist insofern ein Sonderfall, denn er kam nach Bochum, um Bauingenieur zu werden. Aber das wurde ihm zu langweilig. Bei Urbanatix darf er seinen Oberkörper zeigen. Profi ist er sogar geworden: Große Firmen wie Mercedes buchen ihn mittlerweile für Shows in aller Welt.

Im nächsten Jahr soll er auch Trainer werden bei Urbanatix, das Projekt will sich weiter vergrößern. Bisher wurden die 60 Mitglieder alle aus Nordrhein-Westfalen gecastet, in Zukunft soll das Projekt offener werden. Eine große Trainingshalle wird gesucht, das Land zahlt Zuschüsse.

Urbanatix hat sich mittlerweile zu einem Magneten entwickelt für alles, was irgendwie hip ist im Ruhrgebiet. Mode-Designerinnen machen die Kostüme, die großen Konzerne sponsern die Auftritte. Es tut sich was im Pott, der ja sehr lange nicht so recht wusste, wohin es geht, der seine Vergangenheit musealisierte, der die alten Zechen und die Jahrhunderthalle sanierte, dann aber manchmal nicht so recht wusste, was denn nun da rein sollte. Jetzt weiß man in Bochum zumindest, was am besten in die Jahrhunderthalle passt.

Engelszungen

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Engelszunge oder Löwengebrüll - wie hält man Menschen von unerwünschten Handlungen ab? Um das zu testen, verteilten Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen schwarze Plastikboxen in Münchner Stadtparks. An den Behälter hatte das Team um Markus Clarin und Holger Goerlitz Antennen sowie blinkenden Kameraattrappen befestigt: Die Dinger sollten von Passanten bemerkt und für wissenschaftliches Equipment gehalten werden (Methods in Ecology and Evolution, online). Die Pseudogeräte waren mit unterschiedlich formulierten Versionen eines Hinweises versehen, das Gerät doch keinesfalls zu beschädigen oder zu stehlen, da es Teil eines Feldforschungsprojektes sei. Je freundlicher und persönlicher die Formulierungen ausfielen, desto mehr Geräteattrappen blieben unbehelligt.



Die Ludwigsbrücke in München bei der Reinigung. Vandalismus - ob Kunst oder nicht - kann scheinbar durch Freundlichkeit vorgebeugt werden.

Oft sind es seltsam abseitige Faktoren, die Verhalten lenken. Ein Bild eines Augenpaares, das einen direkt anstarrt, erhöht die Ehrlichkeit - etwa, wenn Angestellte an einer Kaffeekasse ohne Kontrolle ihre Beiträge entrichten. In anderen Studien förderten solche Augen-Bilder die Spendenbereitschaft oder senkten die Häufigkeit von Diebstählen. Wenn Warnungen oder Verbote aber zu drastisch formuliert werden, können sie nach hinten losgehen: Raucher lassen sich kaum davon beeindrucken, wenn ihnen nur die negativen Aspekte ihrer Sucht unter die Nase gerieben werden. Sie hören eher mit dem Rauchen auf, wenn die positiven Effekte dieser Leistung in den Vordergrund gerückt werden.

Im Fall der Forschungsattrappen in München zeigte auch ein freundlicher, persönlicher Ton die beste Wirkung. Eine höfliche Bitte, kombiniert mit einem süßen Eichhörnchenfoto und der Information, dass diese Kiste immens wichtig für die Abschlussarbeit von Holger Goerlitz sei, überzeugte die meisten Passanten, das Ding in Ruhe zu lassen. Die Drohung, dass jeder Diebstahl angezeigt werde und die Kiste GPS überwacht sei, hielt weniger Münchner davon ab, den Kasten zu klauen oder zu beschädigen.

Advent mit Trillerpfeife

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Es ist kurz vor zwölf Uhr, als Christian Krähling, 36, auf das Podium steigt und in die Halle ruft, wer für einen einwöchigen Streik bei Amazon stimme. Die Mehrheit der Leute hebt die Hand, es brandet Applaus auf. Damit wird die nächste Etappe im Arbeitskampf bei Amazon eingeleitet. Es ist der 15. Aktionstag, zu dem die Gewerkschaft Verdi die Beschäftigten in Bad Hersfeld aufgerufen hat. Auch in Leipzig wurde gestreikt.



Keine Spur von Kräftegleichgewicht. Die Mitarbeiter im Logistik-Center in Bad Hersfeld kämpfen gegen einen Giganten.

Der Ausstand sollte zunächst 24 Stunden dauern. Er könnte noch weiter gehen - und das im umsatzstarken Weihnachtsgeschäft. Ob es zu weiteren Streiks kommt, liege "ganz in der Hand von Amazon", sagt Verdi-Gewerkschaftssekretärin Mechthild Middecke. "In der Sekunde, in der Amazon in Verhandlungen einwilligt, sitzen wir am Tisch und stehen nicht mehr vor der Tür", erklärt sie.

Ob es diese Sekunde aber jemals geben wird, ist fraglich. Denn Amazon lehnt die Tarifbindung nach wie vor ab. In diesem Jahr kam es an vielen Amazon-Standorten zu Streiks. Die Gewerkschaft will das Unternehmen dazu bringen, die Mitarbeiter nach dem Tarifvertrag für den Handel zu bezahlen. Amazon könne sich auf Dauer einer branchenüblichen Bezahlung nicht entziehen. Doch der Konzern bleibt hart und lehnt Tarifverhandlungen entschieden ab. Man orientiere sich bei der Bezahlung am Tarifvertrag für die Logistikbranche. Amazon sei überdies ein Logistikunternehmen und kein Händler. Bei den Aufgaben der Mitarbeiter handele es sich um typische Aufgaben aus dem Logistikbereich, wie Lagerung, Verpackung und Versand von Artikeln. "Mitarbeiter der neun deutschen Amazon-Logistikzentren liegen mit ihrem Einkommen am oberen Ende dessen, was in der Logistikindustrie üblich ist: Mindestens 10,47 Euro pro Stunde im zweiten Jahr (mindestens 9,55 Euro im ersten Jahr) plus Boni", teilt das Unternehmen auch diesmal wieder mit.

Amazon ist der weltweit größte Online-Versandhändler. Der US-Konzern hat etwa 70000 Mitarbeiter, davon sind in den deutschen Logistikzentren 9000 Menschen fest angestellt.

Dass Amazon seinen Beschäftigten nun erstmals ein Weihnachtsgeld zahlen will, hält die Gewerkschaft für eine Farce. Denn es entspreche weder der Höhe nach dem tariflichen Weihnachtsgeld, noch begründe sich daraus ein Rechtsanspruch. Konkret wolle Amazon den Kommissionierern ein Weihnachtsgeld von 400 Euro bezahlen, nach dem Tarifvertrag für den Einzel- und Versandhandel Hessen wären dies 1240 Euro. Die Vorarbeiter sollen 600 Euro Weihnachtsgeld bekommen, anstatt der tariflichen 1427 Euro, rechnet Verdi vor.

Um fünf Uhr morgens hatten die Streikposten in Bad Hersfeld ihren Posten bezogen. Viele Streikende sind jedoch gleich in die Schilde-Halle gegangen. Sie tragen gelbe Streikwesten und sitzen an Biertischen, im hinteren Teil der Halle hängt ein schwarzer Vorhang. Davor tragen sich die Beschäftigten in die Streiklisten ein. Über ihnen schwebt der alte Lastenkran in der ehemaligen Fabrikhalle. Das Ambiente aus Ziegelstein und Eisenträgern erinnert an alte glorreiche Arbeiterzeiten. Doch der Familienbetrieb hat längst seine Pforten geschlossen. Produziert wird in dieser hessischen Gegend nur noch wenig. Jetzt haben hier einige Logistikfirmen ihren Sitz.

Es ist schwierig für Leute in der Region, einen Job zu finden, gerade für geringer Qualifizierte. Deswegen waren sie sehr dankbar, als Amazon das erste Lager 1999 eröffnete. Zu denjenigen, die einen Job bekamen, zählt auch Günter Wydra. Die Stimmung sei lange Zeit gut gewesen, erzählt der gelernte Dachdecker und spricht rückblickend von einer "großen Familie". Dabei malochten die Leute hart in den Hallen. "In der Weihnachtszeit habe ich jeden Sonntag gearbeitet", sagt der 54-Jährige. Doch dann veränderte sich die Stimmung. Das erzählen viele Beschäftigte hier, von denen die meisten lieber anonym bleiben wollen, weil sie Repressalien fürchten.

Wydra und Krähling gehören als Sprecher der Vertrauensleute in den beiden Hersfelder Werken zu den Wortführern. Die beiden Arbeiter berichten, dass es bei Amazon mehrere Jahre lang keine Lohnerhöhungen gegeben habe. Dies habe zu Unmut geführt. Irgendwann wollten einige Beschäftigte nicht mehr alleine auf die freiwilligen Leistungen des amerikanischen Arbeitgebers vertrauen. "Vielen war aber gar nicht klar, dass wir als Betriebsrat keine Tarifverhandlungen führen können", sagt der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats Lothar Bruns. So kam Verdi ins Spiel.

Seit den gewerkschaftlichen Aktionen habe sich einiges getan, es habe zwei Mal eine Gehaltserhöhung gegeben und für viele Beschäftigte in diesem Jahr eine Zusatzprämie, selbst Kaffee an den Automaten gebe es umsonst. Und dennoch: Die Betriebsleute, Gewerkschafter und Wortführer machen den Anwesenden klar, dass sie einen langen Atem brauchen, wenn sie einen Tarifvertrag haben wollen.

Äußerlich dürfte Amazon gelassen auf den Streik reagieren, da sind sich viele der Streikenden einig. Und tatsächlich teilt Amazon offiziell mit: "Wir arbeiten auch in den nächsten Wochen darauf hin, dass unsere Kunden in der Weihnachtszeit den gewohnten Service und die beste Zuverlässigkeit ihrer Lieferungen bekommen, die sie auch unterjährig gewohnt sind. Dafür nutzen wir unser gesamtes deutsches und europäisches Logistiknetzwerk." Bei den bisherigen Streiks habe die Mehrheit der Mitarbeiter gearbeitet - von den Arbeitskämpfen hätten die Kunden nichts gespürt.

Für die Streikenden in Bad Hersfeld ist das Schönfärberei. In den Werken sei die Stimmung angeheizt. Und dennoch: "Durch die Belegschaft geht ein Graben", sagt eine 50-jährige Arbeiterin. In der Runde stimmen ihr mehrere Kolleginnen zu. Wenige Tage vor dem Streiktag fand beispielsweise eine Versammlung statt, bei der alle sogenannten "All Hands" anwesend waren - so nennt das Unternehmen die Leute, die hier tagaus tagein Waren lagern, sortieren, verpacken und verschicken. "Da wurde wieder einmal gegen Verdi gewettert", sagt eine 31-Jährige. Die behaupteten, die Gewerkschaft wolle das Weihnachtsgeschäft lahmlegen.

Angefeindet wurde vor allem der Verdi-Gewerkschaftsmann Heiner Reimann. Der hat in den vergangenen Jahren die Gewerkschaftsarbeit bei Amazon aufgebaut und eine Internet-Plattform gegründet, auf der sich die Mitarbeiter austauschen und informieren können. Und dann fragen die Aktiven in die Runde, wer als Streikposten bei der Spätschicht mitmachen wolle. Einige Finger gehen hoch. Zwei Gruppen machen sich auf den Weg, um ihre Kollegen von dem Streik zu überzeugen. "Wir werden weiter streiken. Aber wann, das werden wir spontan entscheiden", teilte Verdi am Nachmittag mit - knapp vier Wochen vor dem Weihnachtsfest.

Gutes aus dem Alu-Teller

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Montag:




Gleich zum Auftakt ein sehr typischer Abend, um meine Essgewohnheiten kennenzulernen: Ich bleibe wegen einer Abgabe bis halb acht in der Redaktion und komme dann, noch leicht angeschlagen vom Wochenende, auf dem Heimweg an meiner vietnamesischen Lieblingsgarküche vorbei. Eine unglaublich nussige Saté-Sauce mixen die da. Weil ich heute keine Pläne habe, gibt es als Amuse-Gueule das lässige Woody-Allen-Interview, für das ich am Sonntag keine Zeit mehr hatte. Ich muss immer wieder mit Reis im Mund kichern. Später merke ich: Die Kombi aus Überschrift und trostlosem Alu-Teller entbehrt nicht einer gewissen Komik.  

Dienstag:  




Freund V. ist zurück von seinem dreimonatigen Aufenthalt in Kalifornien, um den Hobby-Pilotenschein zu machen. Wir gehen Burger essen im neuen "Hans im Glück" am Isartor, gleich bei mir ums Eck. Bei dieser Frittenbudenkette schwankt meine Meinung ja immer zwischen irgendwie "Bäh" wegen unbequemer Loungigkeit und Sausalitos-Publikum - und hinterher meist doch guter Befriedigung und der Einsicht, dass die Birken-Deko schon ganz gemütlich ist. Heute jedenfalls: ein Spitzen-"Caesar"-Burger und dazu fabelhaft erzählte Episoden aus dem Leben eines Hobbypiloten in San Diego. Nur leider liegt mein Ipad zum Fotografieren daheim, ich muss hinterher zeichnen.  

Mittwoch:




Bin länger beim Sport geblieben, weil Freund D. in der Umkleide so viel zu erzählen hatte. Deshalb versemmle ich den Tengelmann-Ladenschluss, diesen ewigen Pickel auf der Münchner Lebensqualität. Finde zum Glück ein Putenschnitzel in der Tiefkühltruhe, das sich netterweise schnell tauen, zerhacken und braten lässt. Dazu schüttle ich dreierlei Pasta aus fast leeren Barilla-Kartons ins kochende Wasser und gieße Fertigpesto drüber (aufgeschäumt mit etwas Nudelwasser). Ich bin stolz wegen Restevernichtung und weil endlich wieder Platz im Nudelregal ist. Was da auf zehn Uhr aussieht wie ein Campino-Bonbon ist in Wahrheit ein Klecks Thomy Rot-Weiß. Zugegeben, das ist dort extra für den Kosmoskoch, weil schmecken tut das in der Kombination natürlich gar nicht.  

Donnerstag:



Krank, verflixt! Ich bin schon im Vollbesitz meiner Kräfte ein überaus leidenschaftsloser Koch, aber mit Fieber und Sandpapierhals macht die Küche noch weniger Spaß. Immerhin: Weil ich daheim bleibe, schaff ich's endlich mal wieder im Supermarkt einzukaufen, ohne mir von der Ladenschlussschlange meine Laune verderben zu lassen. Der effektivste Erstschlag gegen die Erkältung ist, natürlich, Buchstabensuppe.  




Abends schaff ich es dann tatsächlich, eine ganz brühwürfelfreie Suppe zu machen: Mit sehr viel Suppengrün (was für ein tolles Wort!) und einem unförmigen Stück Ochsenschwanz. Beides auf Empfehlung der fürsorglichen Dame beim Vinzenzmurr, ohne die ich nie auf die Idee gekommen wäre, das Wort Ochsenschwanz auch nur in den Mund zu nehmen. Schmeckt aber wirklich astrein, solange man nicht versucht, das sog. Fleisch von diesem Knochen zu nagen.  

Freitag:







Ein Tag zwischen Bett und Couch, schwitzend und schneuzend. Kulinarisch: Reste der Ochsenschwanzsuppe und eine neue Hühnersuppe mit Buchstabennudeln. Meine Wohnung riecht von der ganzen Aufkocherei wie eine Uni-Mensa. Abends kommt meine Schwester vorbei und bringt eine Wagenladung Taschentücher und Ingwer.  

Samstag:




Freund A. ist in der Stadt und lässt sich auch durch aggressive Warnschneuzer am Telefon nicht vom lange gefassten Plan abbringen, mich mit Bier zu besuchen. Immerhin trägt er vorsorglich einen Solidaritätsschal aus der Ströbele-Kollektion. Und: Er bringt ein teuflisch scharfes Curry von der vietnamesischen Lieblingsgarküche. Das Bier brennt so sehr in meinem entzündeten Rachen, dass er irgendwann Mitleid bekommt und dann doch selbst beide trinkt.  

Sonntag:



 
Allmählich bin ich wieder bei Kräften. Abends gehe ich mit Freundin E., Freund V.  und einer reizenden mitgebrachten Kuwaiterin (schon wieder ein Wort wie ein Gedicht!) Gözleme essen, diesen fantastischen türkischen Pfannkuchen 3.0. Wir bestellen eins mit Hackfleisch-Minze-Füllung und eines mit Süßkartoffel-Käse und teilen alles. Hackfleisch gewinnt klar nach Punkten, und ich denke leider nicht eine Sekunde daran, ein Foto zu machen.

Auf der nächsten Seite: Der ausgefüllte Fragebogen zu Jans Ess- und Kochgewohnheiten.
[seitenumbruch]

Welchen Stellenwert hat Essen in deinem Leben? 
Ich tue es gerne und tatsächlich auch regelmäßig, aber die Zubereitung ist mir, das muss ich so drastisch formulieren: zuwider. Das fängt beim Einkaufen in furchtbar überleuchteten Supermärkten an und hört beim Gemüseschneiden noch lange nicht auf. Mir fehlt es, seit ich selbst für meine Nährstoffversorgung zuständig bin, an Geduld und Muße, für ein Gericht mehr als 20 Minuten Making-of zu akzeptieren. Ich koche und esse also vor allem Nudeln. Mit Saucen, für die eine Pfanne und ein Schneidebrett als Requisiten reichen. Für alles Kompliziertere gehe ich gerne und oft und ab und zu sogar teuer essen.  

Was ist dir beim Essen und Einkaufen besonders wichtig? 
Dass es ohne größere Umstände vonstatten geht. Ein samstäglicher Ausritt in den Großmarkt, wie ihn mein heißgeliebter ehemaliger Mitbewohner regelmäßig unternahm, käme mir nie in den Sinn. Ich kaufe selten mit Plan, dafür aber schon eher gutes Zeug, gerne Bio, vor allem wenn Tiere in der Herstellung des Produkts eine Rolle spielen. Im Discounter bekomme ich noch schneller Ausschlag als im höherpreisigen Supermarkt, deshalb zahle ich gerne etwas mehr.  

Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal für dich selbst gekocht hast und wer dir das Kochen beigebracht hat? 

Nein, und meine Mutter. Ich nehme an, dass mein erstes selbst zubereitetes Essen ein Spiegelei oder eine Rostbratwurst war.

Was war dein Lieblingsessen als Kind? 

Aprikösenknödel überstreut mit angebratenen Semmelbröseln und versenkt in zerlassener Butter. Endlos gut, noch heute!   

Was ist dein aktuelles Lieblingsessen?

Lasagne aus dem Ofen meiner Mutter. Irgendwie immer saftiger und tomatiger und geiler als überall sonst.


Was magst du gar nicht?

Diese sauer-salzigen eingelegten Rüben-Dinger, die man gelegentlich im Schawarma bekommt. Zum Glück sind die meist pink, sodass man sie recht leger rauspulen kann.  

Mittags warm und abends kalt oder andersrum?
Meistens mittags und abends warm – aber wenn, dann auf jeden Fall abends kalt.   

Wo isst du am liebsten, am Tisch oder auf dem Sofa?

Am Tisch. Auf dem Sofa werde ich immer zu schnell satt, weil mein Magen in der buckligen Haltung vor dem Couchtisch halb zusammengefaltet ist.

Was trinkst du zum Essen?

Leitungswasser oder Pils. Seltener: Weißwein. Nur wenn es die Höflichkeit von mir verlangt: Helles.  

Wie oft gehst du auswärts essen und hast du ein Lieblingsrestaurant? 
Im Schnitt dreimal die Woche. Nein.  

Was isst du, wenn es schnell gehen muss?

Eine Banane und Kölln-Haferflocken mit Milch und Joghurt. Super Energielieferant vor dem Sport!   

Was war das aufwändigste Gericht deines Lebens?
 
Eine Pasta mit Hühnerbrust-Rucola-Babytomaten-Sauce, die ich vor Jahren für ein Date kochen wollte. Das Rezept hatte ich in einem Kochbuch namens "1 Nudel, 100 Soßen" gefunden (sensationelles Geschenk, großer Tipp!). Es war darin eines der kompliziertesten. Und weil es für das Date gut werden musste, kochte ich das ganze Rezept zur Übung am Vorabend schonmal für mich alleine. Schmeckte dann auch astrein und wir haben danach sehr gutgelaunt geknutscht.

Hast du ein Standard-Gericht, wenn Eltern oder Freunde zu Besuch kommen? 
Nein.  

Welchen jetzt-User oder -Redakteur möchtest du als Kosmoskoch sehen?   
Tischnachbar Jakob Biazza – so leidenschaftlich, wie der seine Breze täglich während der Konferenz ins Nutella tunkt, will ich echt mal wissen, was der anstellt, wenn er eine Küche zur Hand hat!

Ein Puppenheim

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Man könnte am Menschen ja manchmal verzweifeln. Im Großen (Weltkriege, Völkermord, Klimakatastrophe...), aber ebenso im Kleinen - man denke nur mal an die eigene Familie. Der Schweizer Filmkünstler Peter Liechti hat genau das getan, mit Lupe und Fernglas zugleich auf seine Eltern geschaut, auf ihre Ehe und die Beziehung zu ihren Kindern. Ein grimmig-komischer Dokumentarfilm ist daraus entstanden, über zwei Menschen, die nicht zueinander passen, aber dennoch seit 62 Jahren verheiratet sind. Die auch zu ihrem Sohn Peter, dem Filmemacher, der nun auch schon über sechzig ist, nicht gepasst haben - wie sehr sich die drei aneinander abgearbeitet haben, lässt der Film erahnen.



Peter Liechti lässt seine Eltern in einem Puppenspiel als Hasen auftreten.

Um mit den Eltern und dem, was sie sagen, überhaupt umgehen zu können, hat Liechti einen großartigen Kunstgriff gewählt. Er lässt Vater und Mutter als Hasen-Stabpuppen auftreten; Synchronsprecher sprechen das, was die Eltern auf Schweizerdeutsch gesagt haben, hochdeutsch nach. Da stehen also Papa Hase im frisch gebügelten Hemd und Mama Hase mit Küchenschürze und erzählen aus ihrem Leben: von Träumen, Depressionen, vom Glauben, von den Schwierigkeiten, die sie miteinander haben, und der großen Distanz zu ihrem rebellischen Sohn. Die Worte schweben druckreif, wie vorformuliert von der Puppenbühne oder begleiten aus dem Off diverse Alltagsszenen. Das Allerprivateste wirkt so gleichzeitig exemplarisch, weist über die individuellen Lebensläufe und Befindlichkeiten weit hinaus.

Was für ein Aufruhr das Erzählte beim Sohn auslöst, verrät die immer wieder wild zuckende Musik, die Liechti wie einen Kommentar über die Szenen legt. Und auch die Puppe, die der Regisseur als Stellvertreter für sich selbst gewählt hat, ist bezeichnend: Es ist ein verzweifelter Kasperl, der kahlköpfig vor den Hasenpuppen herumzappelt, oder den Kopf immer und immer wieder gegen ein Stehpult haut.

Manchmal geraten die Bilder - meist wenig spektakuläre Aufnahmen vom (realen) Alltag der Senioren - fast außer Kontrolle: Da brennt etwa eine Zypresse flammend grün vor dem herbstlich roten Schrebergarten des Vaters in den Himmel wie in einem surrealistischen Gemälde, oder die Träume der Eltern werden mit wackeliger Handkamera illustriert, die sich in einem schmalen Lichtkegel durchs Dunkle tastet wie bei Unterwasseraufnahmen. Dass in Liechtis Filmen das Reale und das Fantastische keine Widersprüche sind, konnte man schon in seinem Filmessay "Das Summen der Insekten" (2009) sehen, der - aus der Perspektive des Verstorbenen! - von einem Selbstmord durch Verhungern erzählt. Dass Liechti nicht zimperlich ist, bewies das mit einem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Werk ebenfalls.

Auch "Vaters Garten" kehrt das Innerste der Figuren nach außen, und was da zum Vorschein kommt, wirkt irgendwie typisch für die Schweiz. Wie ja schon die Hasenpuppen ein - gelungener - Versuch sind, nicht nur die Eltern zu charakterisieren, sondern darüber hinaus eine Grundhaltung, die womöglich eine ganze Generation kennzeichnet. Einer der erschreckendsten Momente des Films ist die Erzählung des Vaters über seinen Wehrdienst während des Zweiten Weltkriegs, als er an der Grenze "die Fremden" davon abhalten musste, in die Schweiz zu gelangen. Ob er von den Konzentrationslagern gewusst hätte, fragt der Sohn. Der Vater bejaht - und ist froh über die Uniform, die er damals trug, die ihm das Handeln erleichtert hätte.

Es sind aber nicht nur die Angsthasen und Hasenherzen, die einem in den Sinn kommen beim Anblick der (hervorragend geführten) Stabpuppen. Wie deren Hasenschnauzen zittern, die Ohren beben, das ganze Gesicht in Bewegung ist, zeugt von der Empfindsamkeit und dem Charakter der Tiere. Über den Umweg des Spiels vermittelt sich die große Zärtlichkeit, die der Sohn trotz allem für die Eltern empfindet. Diese haben kleine Leben geführt, in die der Film ein wenig Einblick gewährt - Liechti macht großes (Hasen)theater daraus.

Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern, Schweiz 2013 - Regie, Buch, Kamera: Peter Liechti. Schnitt: Tania Stöckli. Verleih: Salzgeber, 93 Minuten.

Uhrenabgleich

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Nüchterner ist eine Audienz beim Heiligen Vater selten beschrieben worden. Das Treffen diene in erster Linie einem "Uhrenabgleich" zwischen Wladimir Putin und Papst Franziskus, erklärte ein Kreml-Mitarbeiter vor der Abreise des russischen Präsidenten in den Vatikan. Und vielleicht war das Bild gar nicht einmal so falsch gewählt. Denn zumindest eine Gemeinsamkeit dürften die beiden Männer bei ihrer Begegnung am Montagnachmittag festgestellt haben: In ihren jeweiligen Herrschaftsbereichen gehen die Uhren mitunter ein wenig anders als im Rest der Welt; und mitunter passen ihre auf den ersten Blick so unterschiedlichen Reiche dadurch überraschend gut zusammen.



Der hell erleuchtete Petersdom - Besuch aus Moskau hat hier Tradition. Nur mit dem Gegenbesuch mag es noch nicht fukntionieren.

So wie zuletzt Anfang September, als es für einige Tage so aussah, als könnten die USA jeden Moment Raketen gegen das Assad-Regime abfeuern und der Papst einen dringenden Appell an die Teilnehmer des G20-Gipfels in Sankt Petersburg richtete: "Findet eine friedliche Lösung für Syrien." Adressiert war der Brief an den Gastgeber Putin, er muss ihm erschienen sein wie ein Geschenk des Himmels. Durch die geostrategische Brille hatte der Konflikt wie ein Kräftemessen zwischen den einstigen Supermächten gewirkt. Der Papst-Brief machte daraus wieder die brutale Alternative bomben oder nicht bomben - und Putin ging als Retter des Friedens vom Platz.

Beim Blick auf die arabische Welt gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten. Was im Westen als Welle der Befreiung aufgenommen worden war, sieht Moskau in erster Linie als Destabilisierung einer Region - eine Entwicklung, die auch dem Vatikan Sorgen macht. Ebenso wie die orthodoxe fürchtet auch die katholische Kirche um die christlichen Minderheiten in den Ländern, die alten Regime hatten ihnen zumindest eine gewisse Sicherheit geboten. Putin und Franziskus nutzen daher ihr Treffen, um ihr Vorgehen bei den Vereinten Nationen, im Europarat und bei der OECD abzustimmen.

Die gemeinsamen Interessen haben Moskau und Rom langsam zusammengeführt. Nach der Auflösung der erklärtermaßen atheistischen Sowjetunion brauchten der Vatikan und die Russische Föderation noch fast zwei Jahrzehnte, bis sie im Dezember 2009 offiziell diplomatische Beziehungen zueinander aufnahmen. Auf persönlicher Ebene ging es etwas schneller. Putin traf sich schon im Jahr 2000 mit Johannes Paul II., da war er noch fast ein unbekannter Präsident, erst vor wenigen Monaten von Boris Jelzin als Nachfolger installiert. Seitdem sind die Papstbesuche zur Tradition geworden; 2003 traf er Johannes Paul II. erneut und 2007 Benedikt XVI.

Nur die Gegenbesuche sind bislang ausgeblieben. Hatte das früher die kommunistische Partei verhindert, ist es nun die orthodoxe Kirche, die Russland als ihr Territorium betrachtet und die Katholiken verdächtigt, sie könnten Gläubige abwerben. Dass der Vatikan auf russischem, also orthodoxem Gebiet eigene Diözesen in erster Linie für katholische Nachfahren eingewanderter Polen und Deutscher gründete, wurde im Patriarchat als Kriegserklärung verstanden. Bis zuletzt blieb dem Krakauer Karol Wojtyla der große Wunsch verwehrt, einmal nach Moskau reisen zu dürfen.

Unter seinen Nachfolgern gab es bislang nur wenig Bewegung. Patriarch Kyrill I. war in seinem früheren Amt als Außenminister der orthodoxen Kirche nach Rom gereist und hatte an ökumenischen Konferenzen teilgenommen, war dafür aber in der eigenen Kirche unter Druck geraten. Im September nun richteten Katholiken und Orthodoxe eine gemeinsame Arbeitsgruppe für kulturelle Zusammenarbeit ein, die im kommenden Jahr ein Festival der traditionellen europäischen christlichen Kultur und einen Weltkongress der Familien in Russland ausrichten soll.

Putin, der seiner eigenen Erzählung zufolge als Kind heimlich getauft wurde, hat die orthodoxe Kirche zuletzt verstärkt eingebunden, um seinen konservativen Kurs abzusichern. Das staatliche Fernsehen zeigt ihn an kirchlichen Feiertagen, wie er Kerzen entzündet und Ikonen küsst. Doch in einem Interview äußerte er einst, jeder wisse doch, dass die Religionen allesamt von Menschen erfunden worden seien. Vorkämpferin dieser konservativen Strömung ist die Duma-Abgeordnete Jelena Misulina, auf deren Initiative hin auch das berüchtigte "Gesetz gegen die Propaganda von Homosexualität" verabschiedet wurde. Kurz vor Putins Abflug nach Rom machte Misulina den Vorschlag, doch das orthodoxe Christentum als Grundlage der russischen Kultur und Identität in die Verfassung aufzunehmen.

Ein Schritt, den der russische Präsident wohl verhindern dürfte, um nicht noch weiter die Spannungen zu den Religionen anzuheizen, die seit Jahrhunderten zu seinem Land gehören. Er wählt daher lieber eine andere Formulierung, in der sich alle wiederfinden können. Die Brücke zwischen konservativen Orthodoxen und konservativen Anhängern der Sowjetunion schlägt er daher, indem er davon spricht, dass die "traditionellen russischen Werte" gegenüber dem Ultraliberalismus des Westens geschützt werden müssen. Ein Gedanke, der auch im Vatikan keineswegs fremd ist.

Wird das was mit der großen Koalition?

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Showdown, Stunde der Wahrheit, Endspurt, Zielgerade – das sind die Vokabeln, die seit ein paar Tagen immer häufiger auftauchen, wenn es um die Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und der SPD geht. Für Dienstag Abend ist ein Ende der Verhandlungen geplant, dann will man sich einig sein. Erfahrungsgemäß wird aus einem solchen Dienstagabendtermin am Ende dann ein Mittwochfrühtermin, mindestens. Die Zielgerade wird manchmal ziemlich unangenehm lang.  



Der Sigmar und die Angela. Ob das was wird?

Was seit ein paar Tagen im Zusammenhang mit dem Thema Koalitionsverhandlungen auch immer wieder auftaucht, sind Zweifel, Misstrauen und Ernüchterung. Denn erstens saßen die Unterhändler zwar jetzt wochenlang zusammen, verkündeten Erfolge, sprachen von guten Gesprächen und hatten sich verhältnismäßig lieb. Aber wie ihre Legislaturperiode inhaltlich jetzt ganz genau aussehen soll, weiß mit Sicherheit immer noch keiner. Kritiker sagen, die Ergebnisse seien bescheiden und es hat manchmal tatsächlich den Anschein, als seien sich die Partner in spe in vielen Knackpunkten in etwa so einig wie Bart und Lisa Simpson über den Wert von klassischer Musik. Zweitens: Es kann gut sein, dass die bisher erzielten Einigungen nicht viel Wert sind – am Ende müssen die Parteichefs noch darüber entscheiden, was ihnen wie viel Geld wert ist. Und drittens gibt es ja noch allerlei Ungewissheiten – die SPD-Basis, die noch zustimmen muss, oder zum Beispiel Horst Seehofer.  

All diese Gründe mögen dazu geführt haben, dass die Idee einer großen Koalition den Deutschen mittlerweile weniger toll erscheint als kurz nach der Wahl. Die Zustimmung ist von Anfang Oktober bis zu einer Umfrage Ende vergangener Woche von 66 Prozent auf 55 Prozent gefallen.  

Wie beurteilst du den Verlauf der Verhandlungen? Hast du den Eindruck, Union und Sozis können miteinander? Findest du, sie sollten miteinander? Mit welchen Gefühlen stehst du diese Woche an der Zielgerade? Spendest du Applaus und feuerst an oder gibt’s von dir nur Pfiffe und Buhrufe?

Knipsen statt Telefonieren

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Ein Foto? Smartphone raus, App gestartet und klick. So geht das heute. Und zwar immer besser. Die Kameras in der Handy-Champions-League können es inzwischen locker mit Knipsen der Einsteiger-Klasse aufnehmen, in vielen Punkten sind sie ihnen sogar überlegen. Sie peppen Schnappschüsse mit Effektfiltern auf, kombinieren mehrere Aufnahmen zu einem Foto, nehmen Videos in hoher Auflösung auf und laden Bilder hoch zu sozialen Netzwerken. Ihr wichtigster Vorteil aber ist: Man hat sie einfach immer dabei.

Doch da gibt es auch diese Bilder, Porträts zum Beispiel, bei denen der Hintergrund so malerisch in Unschärfe verschwimmt. Oder Sportszenen, bei denen die Athleten knackscharf abgebildet sind - mit einem Handy ist das nicht zu schaffen. Wie machen die Profis das bloß? Bei der Antwort auf diese Frage landet man ziemlich schnell bei Ausrüstungen, zu deren Preisen sich andere ein Auto kaufen. Und kiloschwer sind die Spiegelreflexkameras samt ihren Objektiven auch noch.



Immer mehr Menschen nutzen ihr Smartphone als Fotoapperat und haben keine Digitalkamera mehr.

Aber gibt"s da nichts dazwischen? Doch, gibt es. Grob gesprochen, haben sich zwei Kategorien von Kameras etabliert zwischen Handys und Kompaktkameras auf der einen Seite und den klobigen Spiegelreflexkameras auf der anderen Seite. Die einen - Bridgekameras genannt - bauen eine Brücke von den Kompaktknipsen zu den Spiegelreflex-Boliden, indem sie in kompakte Gehäuse Zoomobjektive mit einem gewaltigen Brennweitenbereich einbauen. Vom Weitwinkel bis zum Superzoom, mit dem man aus 20 Metern den Kopf eines Menschen formatfüllend aufs Bild bannen kann - alles an Bord.

An die Bildqualität darf man bei den Bridge-Geräten meist aber keine allzu hohen Ansprüche stellen. Denn dass man sie so kompakt bauen kann, liegt daran, dass der Sensor sehr klein ist. Und das drückt die Bildqualität - siehe unten.

In die zweite Kategorie fallen Geräte, bei denen ein noch immer kompaktes, wenn auch nur noch bedingt hosentaschentaugliches Gehäuse mit größeren Bildsensoren vereint wird. Solche Kameras gibt es mit fest eingebauten Objektiven - meist sind das dann flache Weitwinkel-Linsen - oder aber mit einem Bajonett zum Anschluss von Wechselobjektiven. Bei diesen spiegellosen Systemkameras hängt es dann vom Hersteller ab, wie groß die Auswahl an Objektiven ist. Eines ist dabei aber klar: Wenn man ein Teleobjektiv nutzen will, braucht es eine gewisse Größe, und dann ist es mit klein und kompakt auch schnell vorbei.

Und wie ist es nun aber mit der Qualität? Sie ist tatsächlich um Längen besser. Details wie etwa das Gras einer Wiese werden nicht zu Pixelbrei, das Spiel mit Schärfe und Unschärfe funktioniert besser. Darüber hinaus bieten die Kameras meist sehr gute Automatikmodi und Effekte an, aber auch die Möglichkeit, die Parameter teilweise oder auch völlig manuell einzustellen. Eines fehlt den Kameras allerdings prinzipbedingt: ein Sucher. Weil sie keine Spiegel haben, die das Licht, das durchs Objektiv fällt, auf einen Sucher leiten, lässt sich bei den meisten der Bildausschnitt nur über den Monitor an der Rückwand kontrollieren. Einige Hersteller bieten immerhin elektronische Sucher zum Aufstecken an. Für eine solche Kamera muss man mindestens 300 Euro anlegen, dafür bekommt man das Gehäuse und ein Standard-Zoom-Objektiv meist eher mittelmäßiger Qualität. Wer höhere Ansprüche stellt, kann bessere Objektive dazukaufen, dann ist man aber sehr schnell bei über 1000 Euro. Und damit bei einer Summe, für die man auch eine ziemlich ordentliche Spiegelreflexkamera bekommt. Die ist dann allerdings lange nicht so handtaschenfreundlich.

Wem auch die Qualität der Systemkameras nicht reicht, der muss trotzdem nicht zwingend eine Profi-Spiegelreflex-Kamera kaufen. Denn es gibt mittlerweile auch kompakte Kameras mit einem sogenannten Vollformat-Sensor. Der ist exakt so groß wie die Bildfläche der Kleinbildfilme von früher - 24 mal 36 Millimeter - und ist derzeit das Maximum, das man aus kompakten Apparaten herausholen kann.

Besonders witzig: Manche der Geräte kommen daher wie Kameras aus den Fünfzigern, samt Lederetui. Außen retro, aber innen neueste Technik. Die lassen sich die Hersteller dann aber auch gut bezahlen. Nikons Df etwa sieht aus wie die geschrumpfte Variante der berühmten Analog-Kameras von früher. Dieser Tage soll sie zum Preis von schlappen 3000 Euro bei ausgewählten Händlern stehen. Ähnlich viel kostet Sonys Vollformat-Kompakte RX1, bei der sich allerdings das Objektiv, ein leichtes Weitwinkel, nicht wechseln lässt.

Ein für alle gültiger Tipp verbietet sich wie so oft - es hängt eben vom Einsatzzweck ab und davon, wie viel man bereit ist auszugeben. Wem Spiegelreflexen zu klobig und Kompaktkameras zu schlecht sind, der könnte aber vielleicht mit einer Systemkamera glücklich werden.

Demokratie ohne Filter

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Die romantische Vorstellung von der digitalen Welt ist diese: Weil das Internet immer mehr Menschen Zugang zu Informationen und Beteiligung verschafft, wird sich die Vielfalt der Geschmäcker, Wünsche und Bedürfnisse auch zunehmend in Ideen, Gütern und Entscheidungsprozessen spiegeln. Jeder, der ein Smartphone hat, kann mitreden. Man könnte meinen, das seien gute Voraussetzungen für die Demokratie. Statt Politik von der Stange, die von oben nach unten durchgereicht wird, gibt es Lösungen, die der Vielfalt gerecht werden.

Die Realität sieht anders aus. Es herrscht das Blockbuster-Prinzip. Ob in der Musik- oder Filmindustrie, im Online-Handel oder bei der Wahl von Hotels dominiert in deutlich wachsendem Maße der Massengeschmack. Die 'Gefällt-mir'-Gesellschaft der sozialen Netzwerke belohnt und stärkt die Sieger, die Schwachen werden bestenfalls ignoriert.



Im Netz herrscht das Blockbuster-Prinzip: Nur die ganz großen Themen und Ereignisse bringen die Menschen dazu, sich zu beteiligen.

Diese Gesetzmäßigkeit gilt auch für Beteiligung an politischen Prozessen. Das zumindest zeichnete sich auf einer internationalen Fachtagung ab, die das Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Globalen Netzwerk der Zentren für Internet und Gesellschaft in der vergangenen Woche in Berlin ausgerichtet hatte.

Politische Themen erfahren demnach im Netz das gleiche Schicksal wie Pullis im Online-Kaufhaus: Die beliebten werden sehr schnell noch stärker nachgefragt, die schwachen verschwinden rasch in der Versenkung. Prof. Helen Margetts, Direktorin des Oxford Internet Instituts, hat diesen Effekt beobachtet. Man wisse noch nicht genau, wie das Netz die Art der gemeinschaftlichen Handlung verändere, aber eines sei deutlich: 'Die kollektive Aktion im Netz ebbt sehr schnell ab.' Elektronische Petitionen zum Beispiel, die nicht innerhalb des ersten Tages ihrer Platzierung einen großen Batzen Unterschriften bekommen, seien am Abend nur noch 'digitaler Staub'. Dabei komme es auf die Präsentation des Anliegens oft mehr an, als auf das Thema an sich. 'Design zählt', sagte Margetts. Verschieden platzierte und aufbereitete Petitionen mit den gleichen Inhalten hätten mal viele, mal gar keine Anhänger gefunden.

Von einer Konzentration auf wenige Themen berichtete auch Jan Schmidt, Wissenschaftler am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg. Von 2007 E-Petitionen an den Deutschen Bundestag in den Jahren 2008 bis 2013 hätten nur elf die Schwelle von 50000 Unterschriften erreicht, oberhalb derer sich der Petitionsausschuss des Themas annehmen müsse.

Dies ist nicht grundsätzlich beklagenswert. Die Demokratie braucht wirksame Filter, um arbeitsfähig zu bleiben. Und immerhin mögen dies elf Themen gewesen sein, mit denen sich die Abgeordneten sonst nicht beschäftigt hätten. Die Gefahr, ähnlich wie in der Musik- oder Filmindustrie ist aber, dass Lobbys sich diese Gesetzmäßigkeit sehr schnell zunutze machen und Prozesse damit kapern können - auch wenn dies zuweilen andere Lobbys sein mögen als die traditionellen - was sie nicht zwingend legitimierter macht. Die Protestbewegung gegen das Anti-Produktpiraterie-Abkommen Acta hat das gezeigt. Je besser es Interessengruppen gelingt, Themen geschickt über soziale Netzwerke viral zu verbreiten, desto größer ihre Schlagkraft.

Margetts hat eine Erklärung dafür: 'E-Petitionen reduzieren die Kosten der Beteiligung und Weiterverbreitung. Es sind Mikro-Spenden an Zeit und Anstrengung.' Das klingt gut. Aber eben genau dieser Mangel an Anstrengung, der gedankenlose Klick auf ein 'Ich bin auch dafür', ohne ein Thema richtig durchdrungen und verstanden zu haben, kann schnell dazu führen, dass Anliegen eine seltsame Unwucht bekommen. Aktionismus verselbständigt sich. 'Chaotischen Pluralismus' nennt die Politikwissenschaftlerin Margetts das. Dieser sei in etwa so schwer vorherzusagen wie das Wetter. Große Konzerne haben deshalb bereits Social-Media-Notfallzentralen eingerichtet, um auf plötzliche Shitstorms - und hier passt die Wetter-Metapher - reagieren zu können.

Fakt ist, dass der politische Prozess Mühe, Quälerei und einen langen Atem erfordert, wie gerade bei den Koalitionsverhandlungen zu besichtigen. Denn darin müssen Menschen die Bereitschaft entwickeln, im Sinne eines übergeordneten Interesses von eigenen Wünschen, ja vielleicht sogar Überzeugungen abzurücken. Mit einem 'Click and Go' ist es nicht getan. Der schnelle Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei ist nur ein Zeugnis davon.

Fakt ist allerdings auch, dass die digitale Welt dringend klug gebaute Strukturen braucht, um politische Beteiligung zu ermöglichen. Teresa Bücker, Social-Media-Referentin für die SPD, stellte klar, dass die junge Generation nur noch über das Netz erreicht wird. 'Man kann junge Leute überhaupt nicht mehr umerziehen.' Gleichzeitig sei diese Gruppe mit den bestehenden Strukturen sehr unzufrieden. Bei einer Umfrage unter 18- bis 30-Jährigen in 27 Ländern, initiiert vom Konzern Telefonica und der Financial Times, hätten in Deutschland 54 Prozent dieser Gruppe angegeben, sie fühlten sich vom politischen Prozess nicht repräsentiert.

Prof. Martin Emmer, Direktor des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin, formulierte es so: 'Die politischen Strukturen sind nicht auf das wachsende Bedürfnis nach Beteiligung vorbereitet.' Allerdings sei der Drang nach Online-Beteiligung in Deutschland weit geringer als zum Beispiel in den USA oder Italien. Er führte das auf eine intakte Medienlandschaft in Deutschland zurück, in der sich die Bevölkerung gut aufgehoben finde. 'Das Bedürfnis, sich online zu engagieren steigt, wenn es ein Defizit bei den traditionellen Medien gibt', so Emmer.

Instrumente zur digitalen Interaktion zwischen Bürger und Staat gibt es einige. Zum Beispiel bieten in Deutschland schon 62 Kommunen Bürgerhaushalte an, das 'participatory budgeting'. Prof. Alexander Trechsel vom European University Institute stellte Studien über das Wählerberatungsinstrument Wahl-O-Mat vor, das Wahlentscheidungen zumindest im einstelligen Prozentbereich zu beeinflussen scheint. Und Mayte Peters, Rechtswissenschaftlerin und Projektleiterin am Humboldt-Institut, präsentierte Publixphere, ein parteiunabhängiges non-profit Portal für politische Debatten. Die Diskussion über Online-Beteiligung habe sich in Deutschland viel zu sehr auf Netzpolitik im engen Sinne fokussiert, kritisierte Peters. Publixphere beschäftigt sich vor allem mit europapolitischen Themen. 'Es hilft dabei, sich eine Meinung zu bilden und zu schärfen, Argumente auszuprobieren', so Peters. Dies kommt den Mühen des politischen Prozesses schon näher.

Solche Instrumente werden allerdings niemals Hunderttausende Fans anziehen. Denn deutlich wurde auf der Tagung auch, dass man die Möglichkeiten der digitalen politischen Beteiligung keinesfalls überschätzen darf. 'Die meisten Menschen nutzen das Netz, um nach pornografischen Inhalten zu suchen, Videos und Witze mit anderen zu teilen', sagte Nishant Shah, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Internet und Gesellschaft in Bangalore. Politische Inhalte spielten eine weit geringere Rolle. Und: 'Hinter einem "Gefällt mir" auf Facebook verbirgt sich oft Apathie.'

Aber auch Apathie muss erlaubt sein. Eines der Hauptprinzipien von Demokratie ist Repräsentation: Nicht alle müssen alles mitmachen, delegieren ist ausdrücklich erwünscht. Die perfekte Beteiligung funktioniert schließlich nur unter Zwang - und deshalb besonders gut in totalitären Regimen.

Trotz Jobwunders wächst die Armut

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Trotz des Booms am Arbeitsmarkt sind in Deutschland immer mehr Menschen von Armut bedroht. Dies geht aus der Studie 'Datenreport 2013' hervor, die das Statistische Bundesamt zusammen mit Sozialforschern am Dienstag vorgelegt hat. Danach verfestigt sich die Armut, obwohl die Zahl der Erwerbstätigen auf einen Rekordstand gestiegen ist. Mehr als 42 Millionen Menschen hatten im September 2013 eine Beschäftigung. Von den jungen Leuten zwischen 18 und 24 Jahren gilt laut dem Sozialbericht jeder fünfte als armutsgefährdet. Unter den 55- bis 64-Jährigen wuchs die Quote von 17,7 im Jahr 2007 auf 20,5 Prozent im Jahr 2011.



Ein Mann sucht am Flughafen Berlin-Tegel nach Pfandflaschen. Von Armut sind in Deutschland vor allem Ältere und Jugendliche betroffen.

Der Bericht, den das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und die Bundeszentrale für politische Bildung mit herausgegeben haben, zeichnet ein gemischtes Bild vom deutschen Jobwunder: Roderich Egeler, Präsident des Statistischen Bundesamtes, wies darauf hin, dass es seit 2006 einen klaren Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt gebe. '2012 hatten 2,8 Millionen Personen mehr eine bezahlte Arbeit als 1991', sagte er. Die Zahl der normalen, unbefristeten Vollzeit-Arbeitsstellen sei in den vergangenen sechs Jahren um 2,1 Millionen gestiegen. Dieses Jobwunder relativiere sich aber, da die geleisteten Stunden 2012 weit unter dem Wert von 1991 liegen würden. Dies zeige, dass die Arbeit 'auf mehr Schultern verteilt' werde.

Nach Angaben des Reports belief sich damals die Zahl der Arbeitsstunden auf 1552 pro Erwerbstätigen im Jahr. 2012 waren es nur noch 1393 Stunden. Egeler führt dies darauf zurück, dass Menschen zunehmend gewollt oder unfreiwillig Teilzeit arbeiten, vor allem Frauen. Auch hätten andere atypische Modelle der Beschäftigung zugenommen. Zu ihnen zählt die Behörde auch befristete Jobs, Leiharbeit und Minijobs. Diese seien 'häufig mit einer geringeren sozialen Absicherung und einem geringeren Einkommen verbunden', sagte Egeler. Auf dem flexibleren Arbeitsmarkt liefen daher immer mehr Menschen Gefahr, in die Armut abzurutschen. 2011 traf dies nach der Analyse der Statistiker auf 16,1 Prozent der Bevölkerung zu. 2007 waren es noch 15,2 Prozent. 2011 galt ein Alleinstehender als armutsgefährdet, wenn er weniger als 980 Euro zur Verfügung hatte.

Der Bericht zeigt, dass viele Menschen in der Armutsfalle feststecken: 40 Prozent derjenigen, die 2011 als gefährdet eingestuft wurden, lebten schon vier Jahre vorher in dieser prekären Lage. Im Jahr 2000 lag diese Quote noch bei 27 Prozent. 'Die dauerhafte Armut hat zugenommen', sagte der WZB-Forscher Roland Habich.

Nach seinen Erkenntnissen sterben Arme auch früher, weil ihr Gesundheitszustand häufig schlechter sei als bei Gutverdienern. So beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung bei Männern mit hohem und niedrigem Verdienst fast elf Jahre. Bei Frauen sind es acht Jahre. Auch sind die Bedürftigen häufiger stark übergewichtig.

In Bundesländern mit überproportional vielen Armen gingen weniger Menschen zur Wahl, sagte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. 'Sie fühlen sich nicht repräsentiert und sehen keinen Sinn darin, sich in diesem System zu engagieren.'

Vorratsdatenspeicherung und Maut sollen kommen

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Obwohl Union und SPD bei ihren Koalitionsverhandlungen bis Mittwochnacht um viele strittige Punkte gerungen haben - einige Streitfragen wurden offenbar bereits am Dienstag gelöst. So verständigten sich die Spitzen von Union und SPD nach Informationen der Süddeutschen Zeitung darauf, die lange umstrittene Vorratsdatenspeicherung einzuführen und eine EU-Richtlinie umzusetzen. Das jedenfalls ging aus dem Entwurf des Koalitionsvertrags vom Nachmittag hervor, der in der Nacht endgültig verabschiedet werden sollte. Auch eine Vignette auf deutschen Autobahnen soll es demnach noch 2014 geben.



Mit dem Koalitionsvertrag unter seinem Arm kommt Steinmeier zu den Koalitionsverhandlungen. Offenbar wollen Union und SPD sich nun auf Themen einigen, die bisher ausnahmslos Streit ausgelöst haben.

Beide Themen haben bisher verlässlich Streit ausgelöst. Die Vorratsdatenspeicherung lag in der schwarz-gelben Koalition seit zwei Jahren auf Eis, weil sich die noch geschäftsführende Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vehement geweigert hatte, die Pläne umzusetzen. Laut Vertragsentwurf vom Dienstag gab es nun eine Einigung. 'Dabei soll ein Zugriff auf die gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten und nach Genehmigung durch einen Richter erfolgen', heißt es in dem Vertragstext. Ebenfalls zugegriffen werden darf künftig auf die Daten 'zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben'. Deutsche Verbindungsdaten dürfen aber nur auf Servern in Deutschland gespeichert werden; und dies nach Möglichkeit höchstens für drei Monate. Die EU-Richtlinie sieht bislang sechs Monate vor.

Bei der Pkw-Vignette hätte sich - bliebe es bei diesem Entwurf - CSU-Chef Horst Seehofer durchgesetzt, zumindest auf dem Papier. Demnach will die Koalition einen 'angemessenen Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Pkw erheben', dies aber unter erschwerten Bedingungen: Zum einen müsse die Vignette mit europäischem Recht in Einklang stehen, zum anderen dürfe 'kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet' werden.

Ähnliches hatte vorige Woche auch Kanzlerin Angela Merkel gefordert, nur ist beides zugleich schwer zu erreichen: Wenn jeder deutsche Autofahrer von den Kosten einer Vignette entlastet wird, dürfte dies auf Widerstand in Brüssel stoßen. Denn: Eine Maut, die nur für Ausländer gilt, lehnt die EU-Kommission ab. Dennoch soll das entsprechende Gesetz noch im Jahr 2014 verabschiedet werden. Auch andere Streitfragen waren schon vor Beginn der Schlussrunde ausgeräumt worden. So findet sich ein von der SPD gefordertes Klimaschutzgesetz nicht mehr in dem Vertragsentwurf. Es hätte die deutschen Klimaziele verbindlich festgelegt. Stattdessen sollen weitere Schritte im Kampf gegen die Erderwärmung erst festgeschrieben werden, wenn auch andere Staaten die Bereitschaft dazu erklärt haben - etwa bei der Klimakonferenz in Paris 2015.

Derweil schwächten Union und SPD eine bereits gefundene Einigung bei den Managergehältern wieder ab. Börsennotierte Unternehmen müssen nun doch kein Maximalverhältnis festlegen, um das die Vorstandsgehälter das Durchschnittseinkommen der Belegschaft höchstens übersteigen dürfen.

Stadt to go

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Wer die Fülle an Dönerbuden, Asia-Imbissen, Pizza-Diensten und amerikanischen Schachtelwirten als Zeichen des Niedergangs guter alter Ernährungskultur deutet, liegt daneben. Essen to go, zum Mitnehmen, und Heimservices gibt es ein paar Jahrhunderte länger als die Mikrowelle. Viele Reichstagsgesandte hielten es schon im Regensburg des 18. Jahrhunderts für praktischer, sich die Mahlzeit liefern zu lassen - und für sicherer, denn so brauchten sie keinen eigenen Ofen im Haus und bannten die Brandgefahr. Und die Wirte in der alten City, die lebten gut von diesem Geschäft. Sie verteilten sogar - wie heute - Faltzettel mit ihren Menüs, mitunter zweisprachig. Regensburg, der Sitz des Immerwährenden Reichstags, war international.



In der ältesten Bratwurststube der Welt "Wurstkuchl" in Regensburg wurde wohl schon damals die ein oder andere Wurst gegrillt, um sie dann an hunrige Reichstaggesandte zu verkaufen.

Wie die Stadt an der Donau vom Reichstag profitierte, zeigt eine kleine Sonderausstellung im Historischen Museum der Stadt. Mehr als 350 Fürsten und Städte waren beim Reichstag immatrikuliert, bis zu 150Diplomaten lebten dauerhaft in der Stadt, viele von ihnen vertraten mehrere Auftraggeber, weil sich kleinere Reichsstände das Geld für eigene Gesandte sparten. Die Diplomaten wollten nicht nur kulinarisch versorgt sein, was sich auf die Gasthausdichte auswirkte. Sie wollten auch möglichst unterhaltsame Abwechslung von ermüdenden Beratungen geboten bekommen.

Für das kulturelle Rahmenprogramm fühlte sich der oberste Vertreter des Kaisers verantwortlich, der Prinzipalkommissar. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an hatten die Fürsten von Thurn und Taxis diesen Posten inne. Sie betrieben ein Hoftheater. Einige der 80 Exponate stammen aus Thurn-und-Taxis-Beständen. Darunter sind spektakuläre Objekte - etwa die Portechaise (Sänfte) einer Fürstin. Emanuel Schikaneder, der Librettist von Mozarts "Zauberflöte", leitete das fürstliche Theater, doch das Haus Thurn und Taxis bot keineswegs nur Hochkultur.

Im Norden der Stadt errichtete es ein Hatztheater, in dem ziemlich niedrige Instinkte angesprochen wurden. Sonntags wurden vor Publikum Bären, Esel, Affen, Wölfe und Stiere aufeinander losgelassen, im "Hatzbuch" (Abbildung:Katalog) des fürstlichen Hatzmeisters Johannes Lingauer ist zu sehen, wie sich auch Stuntmen in die Manege wagten. "Eine unheilige Allianz von Pöbel und Adel" kreischte auf den Rängen, heißt es. So war das, im internationalen Regensburg.

Von Prinzen, Bürgern und Hanswursten. Regensburg zur Zeit des Immerwährenden Reichstags. Historisches Museum Regensburg. Bis 9. Februar. Katalog (Verlag Schnell & Steiner) 24,95 Euro.
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