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"Ich sah live die Türme einstürzen"

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Der 11. September 2001 war so prägend, dass jeder noch weiß, was er an diesem Tag gemacht hat. Wir haben junge deutsche Schauspieler nach ihren Erinnerungen gefragt

Oliver Wnuk, 35, damals 23



Als ich aus einem Mittagschlaf erwachte, sah ich im Fernseher vor mir die Wiederholung eines Roland Emmerich-Films. Irgend so ein Weltuntergangs-Drama. Ganz schön früh am Nachmittag, dachte ich mir. Früher gab's Raumschiff Enterprise, heute ziehen sich die Kids so was rein. Es dauerte eine Weile bis ich kapierte, dass das jetzt die echte Welt war, und weil ich schon zu viele schlechte Filme gesehen hatte, war mein zweiter Gedanke: „Das sind die Russen!“ und „Das war's.“ und „Jetzt gibt's in wenigen Minuten 'nen Vergeltungsschlag und dann ist Domino Day.“  Ich konnte gar nicht glauben, was da passiert. Dann die zweite Maschine. Die Verzweifelten, die aus den brennenden Türmen sprangen. Ein Freund kam vorbei, da man dachte, zu zweit besser fassen zu können, was da geschieht. Hat auch nicht geholfen. Dann Peter Klöppel. Den ganzen Tag. Die ganze Nacht.  


Jasmin Schwiers, 31, damals 19



Ich war zuhause und habe Musik-CDs für meinen damaligen Freund gebrannt. Nebenbei lief nur leise der Fernseher, aber langsam sickerte zu mir durch, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist. Ab diesem Zeitpunkt war es mir unmöglich, den Fernseher auszumachen, also saß ich bis tief in die Nacht davor und habe immer wieder die gleichen Bilder gesehen und versucht, die bruchstückhaften Informationen zu verarbeiten. Trotz dauernden Wiederholungen konnte ich das Ausmaß dieser Katastrophe nicht erfassen und kann es eigentlich bis heute nicht. Jeder, den ich frage, weiß noch ganz genau, wo er war und was er gemacht hat, sei es auch noch so banal.

Mina Tander, 34, damals 22



Mich erreichte die Nachricht der Terroranschläge mitten in einem Shooting mit dem Fotografen Thomas Leidig. Die ersten Probebilder waren gerade im Kasten, als der Anruf kam. Wir verstanden nicht wirklich, waren geschockt, ratlos. Und machten weiter mit den Aufnahmen. Doch anstatt der erwünschten klassischen Schauspielerportraits entstanden surreale Bilder mit Tränen, verwackelt, zwischen Stoffbahnen, ungreifbar. Hinterher telefonierten Thomas und ich noch oft, sprachen über Terrorismus, US-Politik und Afghanistan, aus einer Bekanntschaft wurde eine Freundschaft. Und wir fragten uns, ob es falsch war, das Shooting seinerzeit trotzdem weiterzumachen, aber unser tranceähnlicher Zustand hatte diese Frage gar nicht aufkommen lassen. 18 Monate später wurde dann eine Aufnahme des Shootings für das erste Filmplakat des 9/11-Dramas „Fremder Freund“ verwendet. Den Rest des Tages verbrachte ich übrigens wie die meisten vor dem Fernseher mit jemandem, der mir damals sehr nahe stand. Wir haben irgendwie versucht, durch das unermüdliche Aufsaugen von Informationen, die Dimension zu begreifen. Ich weiß nicht, ob uns das damals gelungen ist.

Nina Gnädig, 35, damals 23



Ich steckte kopfüber in meinen Umzugskisten. Anfang Oktober würde mein Schauspielstudium losgehen und deshalb war ich mit Abschied beschäftigt. Vor allem aber mit jeder Menge Zauber, der ja seit Hesse jedem Anfang innewohnt. Durch den Karton sickerten die Radionachrichten zu mir durch, später dann die Bilder aus dem Fernseher meiner Nachbarin. Ich wusste nicht, wohin damit und mit mir. Da bin ich gelaufen, bis es Nacht war. Das war der erste Dienstag des Jahres, der nach Herbst roch und Berlin nie so leer. Jeder trägt den Tag wohl in Zeitlupe in sich. Wenn ich heute durch die Sredzkistrasse laufe, weiß ich genau, wo ich zum Stillstand kam. Nicht aber die Frage, die bleibt: Was wir da draus gelernt haben.
Susan Hoecke, 32, damals 20



Ich war mit meinem damaligen Freund in Italien und wir wollten uns gerade zu einem Ausflug aufmachen, als wir den Anruf bekamen, den Fernseher einzuschalten. Was ich dort sah, konnte ich im ersten Moment überhaupt nicht begreifen, denn ich war auch der italienischen Sprache nicht mächtig und schrie nur, dass ich nicht verstehen kann, was da gerade passiert! Doch die furchtbaren Bilder sprachen für sich. Den ganzen Tag blieben wir im Hotel, um das grausame Geschehen mitzuverfolgen. Wir weinten und beteten viel. Einer der traurigsten Tage...  


Florian Bartholomäi, 26, damals 14



Nach der Schule habe ich mittags durch die Programme gezappt, als plötzlich die erste Eilmeldung reinkam. Ich rief meine Mutter dazu. Als von einem Angriff auf den zweiten Turm berichtet wurde, konnten wir es erst nicht glauben. Ich musste später ins Training, auch im Verein waren wir alle schockiert und konnten die Nachricht noch nicht wirklich einordnen. An die Schweigeminute am nächsten Tag erinnere ich mich auch noch gut. Obwohl ich erst 14 Jahre alt war, wurde mir und meinen Freunden schnell klar, dass dies ein besonders dramatisches Ereignis gewesen ist.

Anna Brüggemann, 32, damals 20



Ich drehte gerade "Ein Dorf sucht seinen Mörder" von Markus Imboden. Es war ein anspruchsvoller Tag, wir standen in einem winzigen, bayrischen Dorf, und ich versuchte, mich zu konzentrieren. Irgendwann merkte ich, dass Team-Mitglieder immer wieder vor einem Watchman Halt machten. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie irgendeinen amerikanischen Blockbuster ansahen, in dem Flugzeuge ins World Trade Center rasten. Etwas verständnislos ging ich ins Dorfwirtshaus, um zu warten. Das Wirtshaus hatte keinen Fernseher, sondern nur ein Radio. Fassungslos hörte ich, dass die eben gesehenen Bilder Realität waren. Immer mehr Menschen scharten sich um das Gerät, "Wie im Krieg" dachte ich. Als ich abends nach Hause kam, lief mir mein Vater entgegen. „Hast Du gehört, was in Amerika passiert ist?“ fragte er. „Das wird die Welt verändern.“ Er sollte Recht behalten.  

Lisa Maria Potthoff, 35, damals 23



Am Morgen des 11. September stand ich am Drehort zu einem Film. Der Tonmeister richtete das Mikrofon an meinem T-Shirt. Ich sah, dass er Tränen in den Augen hatte. Ich guckte ihn an und scherzte: „Hey, es ist nur das Mikro verrutscht, da musst du doch nicht gleich weinen.“ Er guckte mich an und sagte: „Auf Amerika wurde ein Anschlag verübt. Jetzt gibt es den Dritten Weltkrieg.“ Ich war fassungslos und erfuhr, dass Flugzeuge in die Türme des World Trade Center geflogen waren. Ich sah dann live die Türme einstürzen. Die Tage danach waren wie im Nebel.

Fünf Lieder für die Wochenmitte

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Plötzlich macht jeder Disco, sogar Arcade Fire! Außerdem nominieren wir diese Woche in den fünf Songs einen würdigen Erben von Helge Schneider und freuen uns auf ein Wiedersehen.

Arcade Fire - Reflektor

http://www.youtube.com/watch?v=wqPemgxlMBw  

Eine trübe Wolke aus Kollaborations-Gerüchten, geleakten Bildern und interaktiven Videos hat schon seit Tagen klargemacht: Huch, da rollt was neues von Arcade Fire an! Heute morgen dann weißer Rauch, der Clip frei fürs deutsche Internet (im Original leider nur hier zu sehen). Und? Nun ja, David Bowie singt mit. Ansonsten klingt es hübsch, aber auch so, wie dieses Jahr anscheinend alles klingen muss, nämlich nach Disco. Weshalb im vorliegenden Fall James Murphy aka LCD Soundsystem Bongos mit reinproduziert hat.

Holy Ghost! - Okay

http://www.youtube.com/watch?v=-JKGfU-fan4


Diese Nummer ließe sich in einem DJ-Set problemlos an den Arcade Fire-Track dranmischen. Kein Wunder, kommt ja ebenfalls frisch aus dem Ofen von besagtem James Murphy, nämlich von dessen Label-Schützlingen Holy Ghost!. Klangmäßig ein paar Grad kühler, was ich ja ganz gern mag.

Casper - Hinterland

http://vimeo.com/73764884

Klar, in Humorfragen liegen wir etwas über Kreuz mit ihm - mit Caspers musikalischem Output hingegen gehen wir insgesamt sehr d’accord. Die neue Single jedenfalls, bei der mehr denn je lagerfeurig geklampft und "oh-eh-oht" wird, können wir guten Gewissens verlinken.

Roosevelt – Elliot

http://soundcloud.com/greco-roman/roosevelt-elliot

Vor fünf Jahren erregte ein gewisser Marius Lauber mit seiner westfälischen Teenager-Band Beat! Beat! Beat! kurz Aufsehen beim ehrwürdigen Musikblatt NME. Jetzt, mit Anfang 20, macht Lauber Solosachen, bei denen man auf der Suche nach einem Vergleich schon mindestens den Namen Caribou auspacken müsste. Nicht auszudenken, was der Mann macht, wenn er 30 ist!  

Bartek - Apfelschnitzschneider

http://www.youtube.com/watch?v=2szsfll2sDg

Auch wenn mir die Erzeugnisse des Chimperator-Labels aus Stuttgart meist am Ohr vorbei gehen - was Bartek, Mitglied von Die Orsons, kürzlich auf YouTube stellte, darf hier unmöglich fehlen. Eine dreiminütige Hymne auf den Apfelschnitz! Helge Schneider wäre gut beraten, Bartek schleunigst eine Zusammenarbeit anzubieten.

Aufstand der Anzugträger

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Was eine lächerliche Diskussion über Männer in Anzügen mit einer Demo gegen die NSA zu tun hat? Mehr, als man denkt. Ein Textmarker.

Angestrichen:
Zur nächsten “Freiheit statt Angst” werde ich meinen Anzug aus dem Schrank holen und dazu ein gebügeltes Hemd tragen. Ich kokettiere sogar mit einer Krawatte (übrigens einst ein Symbol der französischen Revolution). Sodann werde ich mich vorab mit Gleichgesinnten abstimmen, die sich auch entsprechend in Schale werfen wollen, so dass wir zusammen einen möglichst großen Anzugträger-Block innerhalb der Demo stellen.  





Wo steht das denn?
In einem Blogeintrag des Berliners Michael Bokwoski. Bukowski ist, so schreibt er auf seiner Webseite, „freier Konzeptioner, Texter, Redakteur, Autor und überhaupt“, außerdem ist er den Piraten wohl gesonnener Internetnetmensch.  

Worum geht es da?

Um mehrere Dinge gleichzeitig. Sein Blogeintrag ist Teil einer Debatte, die am Wochenende begonnen hat, es geht darin um Vorurteile, Kleiderordnungen, um Demonstrationskultur und den NSA-Skandal. Doch von vorne: Am Samstag protestierten in Berlin circa 15.000 Menschen bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration gegen Überwachung, Vorratsdatenspeicherung, die NSA-Methoden und die Rolle, die die Bundesregierung in all diesen Bereichen spielt (beziehungsweise nicht spielt). Einen Tag später begann auf Twitter eine Diskussion unter einem Tweet von Birgit Rydlewski, Piraten-Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen, der mit dieser Demo eigentlich rein gar nichts zu tun hatte. Sie schrieb:





Weil es unter Piraten schon ein Reflex zu sein scheint, für alles, was irgendwie auch nur ansatzweise skandalisierbar ist und Shitstorm-Potenzial hat, einen eigenen Hashtag mit der Endung -gate zu erfinden, war auch diesmal ganz schnell einer gefunden: #anzuggate. Anzugträger pauschal als Kapitalisten zu bezeichnen, das gehe nicht, das sei im Prinzip auch nichts anderes, als eine Frau zu diskriminieren, weil sie ein Kopftuch oder einen Minirock trägt – so lauteten die ersten Vorwürfe. Die Diskussion weitete sich aus. Es schrieben Anzugträger, die sich beleidigt fühlten, weil sie sich trotz ihrer Vorliebe für Anzüge (oder trotz ihres Jobs, in dem sie einen tragen müssen) nicht als Vertreter eines kapitalistischen Patriarchats sehen. Sie trafen auf Anzugträgerbashing und betrieben ihrerseits Anzugträgerbashing-Bashing. Die Diskussion schwoll an, und zack, da war wieder eine der Endlosdebatten auf Twitter, die den Piraten den Ruf einer zerstrittenen Chaostruppe eingebracht hat. Auch das wurde sogleich thematisiert.  

Bis hierhin also: same procedure as every Piraten-Hashtag-Gate und eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Wäre da nicht der Blogeintrag von Michael Bukowski gewesen, der die Anzugdebatte mit der Demonstration von Samstag in Verbindung bringt und damit eine mögliche Ursache für das zentrale Problem der Anti-NSA-Proteste entlarvt. Das Problem besteht darin, dass die Proteste nicht an Fahrt gewinnen und Piraten und Datenschützer die Gesellschaft nicht ausreichend mobilisieren können. Obwohl der NSA-Skandal Woche für Woche eine noch größere Dimension erreicht und das Thema eigentlich jeden etwas angeht, kamen zu der Demo am Samstag gerade mal 15.000 Menschen. Eine Ursache dafür, so Bukowski, könnte die Art und Weise sein, wie diese Proteste ablaufen und wie die Demonstranten auftreten.

Auf der Demo habe er „abgestandenen sinnlosen Geifer gegen ‚Bullen’ und für irgendeine ‚Revolution’“ gehört. Ein Thema, das eigentlich alle interessieren müsste, wird so vermengt und verwässert, mit Parolen, die viele abschrecken: „Das eigentlich das ganze Volk angehende Thema wird somit von der seit Jahrzehnten tradierten Folklore okkupiert und dadurch gründlich entwertet. Wenn ich den üblichen Haufen aus der Sicht eines braven Offline-Bürgers sehe, fühle ich mich voll und ganz darin bestätigt, dass dieses Thema mich nicht betreffen kann. Ich sehe stattdessen Leute, die in ihrer antikapitalistischen Hüpfburg herumtollen wie eh und je. Souveräner kann man sich selbst nicht ins Knie schießen und die Sache sabotieren.“ 

Um wirklich etwas zu erreichen, muss man auch die überzeugen, die nicht ohnehin schon überzeugt sind, weil sie der vielzitierten „Netzgemeinde“ angehören oder einer linken Gruppierung, die gegen alles wettert, wo sich der Stempel „Überwachungsstaat“ draufdrücken lässt. Man braucht auch die Mittelständler, die Beamten, die Bank-Azubis, die BWL-Studenten. Die Anzugträger eben. Die bekommt man aber nicht, wenn man sie anschreit und von vornherein ausgrenzt. Egal, ob mit einem Tweet oder auf einer Demo.       

Merkels Bauchgefühl

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Die Kanzlerin erntet Kritik für ihre Aussage zum Adoptionsrecht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich gegen ein volles Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ausgesprochen - und damit Empörung bei SPD, FDP und Vertretern von Lesben- und Schwulenverbände ausgelöst. "Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich schwer tue mit der völligen Gleichstellung", hatte Merkel am Montagabend in der ARD gesagt. "Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anlangt", fügte sie zur Begründung hinzu. Die Kanzlerin, der diese Antwort auf eine Zuschauerfrage sichtlich schwer fiel, räumte ein, dass ihre Haltung "manch einem veraltet daherkommen" werde und fügte hinzu: "Das muss ich jetzt einfach aushalten." Sie wolle das sagen dürfen, ohne damit Menschen diskriminieren zu wollen. Der Mann, der die Frage gestellt hatte, entgegnete, auch ihm und seinem Partner gehe es um das Kindeswohl. Die Reaktionen auf Merkels Aussage am Tag darauf folgten prompt.



Angela Merkel: "ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt."

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles warf Merkel am Dienstag Diskriminierung von Lesben und Schwulen vor. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück forderte das volle Adoptionsrecht für Homo-Paare. Scharfe Kritik kam auch vom Koalitionspartner FDP. Schwule und Lesben sprachen von einem Verstoß gegen das Grundgesetz. FDP-Generalsekretär Patrick Döring sagte: "Die Union muss endlich die Scheuklappen ablegen und in der Lebenswirklichkeit ankommen." Die FDP stehe für die volle Gleichstellung homosexueller Paare. "Dazu zählt selbstverständlich auch das Adoptionsrecht."

Peer Steinbrück (SPD) sagte bei einem Besuch des Film- und Medienzentrums in Ludwigsburg: "Die Lebensentwürfe im 21. Jahrhundert sind bunter als früher." Er habe in seinem eigenen Bekanntenkreis zwei lesbische Paare, deren Kinder die gleiche Liebe und Zuwendung erführen wie die heterosexueller Paare. Nahles sagte, das Bundesverfassungsgericht habe die Regierung sechsmal in Folge in der Frage der Gleichstellung korrigiert. Der Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Lesben und Schwule in der SPD, Ansgar Dittmar, sagte: "Frau Merkel stellt sich bewusst gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes." Der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes, Axel Hochrein, reagierte ebenfalls ungehalten: "Die Kanzlerin konnte in der ARD-Wahlarena für ihre Ablehnung des Adoptionsrechtes für gleichgeschlechtliche Paare kein einziges Argument nennen, außer dass sie sich bei dem Thema persönlich schwertue." Er verwies auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, die die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, nicht bestünden. Maßstab sei die Verfassung und nicht ein persönliches Bauchgefühl.

In der Sendung ARD-"Wahlarena" dürfen repräsentativ ausgewählte Bürger den Kandidaten für das Bundeskanzleramt Fragen stellen. SPD-Spitzenmann Peer Steinbrück ist am Mittwoch zu Gast.

Krieg und Kriminalität

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In Essen stehen Männer vor Gericht, die Hunderte Syrer nach Deutschland geschleust haben sollen. Doch sie passen nicht so recht zum Klischee

Der Neffe war jung, stark - und er sollte zum Militär. Auch die Rebellen wollten ihn als Kämpfer. "Ich bekam einen Anruf aus der Heimat", sagt der Syrer Fadhil Sheikmus, der seit etwa zehn Jahren in Niedersachsen lebt und Schlachtmaschinen reinigt. "Mir war klar: Wenn ein Neffe in Syrien bleibt, wird er entweder selbst zum Mörder oder er wird umgebracht. Aus Angst haben wir alles getan, um ihn da rauszuholen". Pause. "Ganz ehrlich, was hätten wir sonst tun sollen?" Die Familie sammelte also Geld für Schleuser, und die brachten den Neffen zu den Verwandten in Deutschland.



Syrische Flüchtlinge in Istanbul

Oder Nashmiya Isaa, die auch aus dem Nordosten Syriens stammt. Ihr Mann war mal in Haft, weil er politisch aktiv war. Die Lage daheim war schlecht: "Kein Wasser, kein Strom, Hunger" sagt sie. Krieg eben. Zwei Schwestern sowie viele Cousinen und Cousins leben in Deutschland. Ein Schleuser regelte den Fall. "Ich bringe dich zu deiner Familie nach Dortmund", sagte er. Wie lange die Fahrt dauerte, weiß sie nicht mehr. Sie schlief im Auto. Hält sie es für gerecht, dass der Schleuser danach in Deutschland ins Gefängnis kam? "Ich entscheide das nicht. Ich kann nur sagen: Er hat mich sicher zum Haus meiner Familie nach Dortmund gebracht. Er hilft und bekommt dafür Geld."

Zwei Geschichten über Krieg, Flucht - und Kriminalität. Schleusungskriminalität. Seit Juli werden diese Geschichten im Saal 101 des Landgerichts Essen verhandelt. Sechs Angeklagte standen anfangs vor Gericht: Darunter ein Taxifahrer aus Paris, ein syrischer Dachdecker aus Griechenland und ein Bauingenieur aus Essen.

Sie sollen 270 Syrer nach Deutschland geschleust haben. Das hat eine Ermittlungsgruppe "Cash" der Bundespolizei in einer der aufwendigsten Schleuser-Ermittlungen der letzten Jahre mit monatelangen Telefonüberwachungen und Observationen herausgefunden. Fast alle Flüchtlinge stellten danach Antrag auf Asyl.

Den Angeklagten drohen hohe Haftstrafen. Gegen etwa vierzig in Deutschland lebende Syrer wird zudem ermittelt, weil sie den Schleusern Geld für die Flucht ihrer Verwandten bezahlt haben.

Zwei Verfahren wurden in dem Prozess abgetrennt. Ein geständiger syrischer Taxifahrer, ein Kleinschleuser also, der in der Regel für rund 800 Euro Landsleute von Paris nach Deutschland gebracht hatte, erhielt vorige Woche für elf Schleusungen zwei Jahre und zehn Monate Haft. Spätestens da war klar, was den anderen Angeklagten drohen kann, denen bis zu 31 Schleusungsfälle vorgeworfen werden. Der Vorsitzende Richter sprach von einem "Motivbündel" aus finanziellen Beweggründen und dem Wunsch, Flüchtlingen zu helfen. Bei den Schleusern habe es einen "hohen Organisationsgrad" und eine "bandenähnliche Struktur" gegeben.

Schleusungskriminalität ist ein Verbrechen. Es zeigt seine hässlichste Fratze, wenn etwa vor Lampedusa, der Insel im Mittelmeer, ein Boot voller Leichen treibt. Da schauen die Bewohner der Festung Europa, die sich mit Infrarotkameras, Radar, Nachtsichtgeräten und Gesetzen gegen die Fremden wehren, dann für einen kurzen Augenblick hin und erschrecken vielleicht.

Es gibt Paten, Könige in diesem manchmal sehr schmutzigen Gewerbe, wie den berüchtigten Syrer Majed Berki, der vor gut einem Jahrzehnt viele Tausend Kurden mit riesigen Schiffen nach Südeuropa transportieren ließ und im Libanon untertauchte. Am Geschäft mit Flüchtlingen werden nach Schätzungen der Uno weltweit über zehn Milliarden Dollar bewegt.

Wenn man das große Ganze über die Jahre so sieht, wirken die Schleuservorgänge, die in Essen verhandelt werden, recht klein und sie passen nicht so recht zu den üblichen Beschreibungen über Organisierte Kriminalität. Die Diskrepanz lässt sich möglicherweise an der Person des Hauptangeklagten Hanna L. beschreiben, der auch aus dem Nordosten Syriens stammt.

Hanna L. ist 59 Jahre alt, lebt seit fast 30 Jahren in Deutschland, ist Bauingenieur, verdient 6200 Euro brutto im Monat, hat Frau und drei Kinder. Das Haus, das er gebaut hat, ist schuldenfrei, und vorbestraft ist er auch nicht. Hanna L. soll der "Hauptorganisator, Schleuser und Schleuser-Finanzier" sein, so haben es die Fahnder in einem Vermerk notiert. Medien nennen ihn den "König der Schleuser".

Der angebliche Kopf der Bande hat, das steht fest, die meisten anderen Bandenmitglieder vorher nicht gekannt. Erst die Flüchtlinge, so scheint es, haben die Schleusungs-Helfer miteinander bekannt gemacht. Wenn es einer nach Deutschland geschafft hatte, meldete er in die Heimat, wen er wo wie um Hilfe gebeten hatte. So hatte es die nächste Familie leichter, weil sie wusste, an wen sie sich wo wenden konnte. Normalerweise funktioniert eine Bande anders.

Die Flüchtlinge hangelten sich von Station zu Station. An jeder Station gab es Helfer. Pässe wurden gefälscht. Behördenmitarbeiter wurden bestochen. Die Schleuser kassierten in der Regel 4000 bis 5000 Euro pro Person.

Die Frage, ob er sich auf Kosten der Flüchtlinge bereichert habe, verneinte einer der Angeklagten, Mohammad Darwish, genannt Hame, syrischstämmiger Dachdecker aus Athen, in einem Interview mit dem NDR auf bäuerisch-arabische Art: "Das Flugzeug gehört nicht meiner Mutter. Der Flughafen gehört nicht meinem Vater." Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass Darwish und seine Komplizen Flughafenangestellte geschm iert haben.

Hanna L., der angebliche Kopf der Bande, lernte Hame erst vor Gericht kennen. Hanna L. hat an all den Schleusungen nach eigener Rechnung 2995 Euro verdient. Die Ermittler meinen, es sei mehr gewesen.

Nach Ausbruch des Krieges in Syrien 2011, das jedenfalls steht fest, war Hanna L. von in Deutschland lebenden syrischstämmigen Bürgern gebeten worden, von ihnen das Geld anzunehmen, das für die Flucht von Angehörigen aus Syrien gezahlt werden sollte. Das Geld wurde an seinen Bruder, der in Syrien lebt, abzüglich einer Gebühr ausgezahlt. Westliche Fahnder nennen das seit dem 11. September "Halawa Banking". Das riecht nach Terrorismus.

Die Gebühren für die Transaktionen lagen in der Regel zwischen drei bis fünf Prozent. Das Geld teilten sich Hanna L., sein Bruder in Syrien und ein Großhändler in Aleppo. "Es geht hier nicht um eine Verbrecherbande", meint Fadhil Sheikmus, der Schlachtmaschinen-Reiniger aus Niedersachsen. "Das alles beruht auf Beziehungen aus der Heimat. Man kennt sich und hilft sich. Ich kenne Hame. Er kommt aus meiner Gegend. Er ist kein Schleuser. Er ist doch selbst Flüchtling gewesen".

Der tiefe Sturz

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Innerhalb eines Jahres hat die Apple-Aktie massiv an Wert verloren. Der Firmenchef Tim Cook steht unter Druck.

Gerade einmal ein Jahr ist es her, als Apple ganz oben war. Mitte September vergangenen Jahres kam das neue iPhone 5 auf den Markt, die Aktie des Technologiekonzerns aus Kalifornien stieg erstmals über die Marke von 700 Dollar - Apple war damit das wertvollste Unternehmen der Welt. Die Euphorie war groß, Grenzen nach oben schien es nicht zu geben. Manche träumten gar von einem weiteren Anstieg auf 800 oder 900 Dollar. Doch es kam, wie so oft an der Börse, ganz anders. Denn von September 2012 an ging es rapide bergab. Die Quartalsergebnisse überzeugten nicht mehr, neue Produkte blieben aus, die Aktie stürzte tief bis auf unter 400 Dollar. Heute notiert sie zwar wieder bei etwa 500 Dollar, ist aber immer noch weit entfernt von der alten Höchstmarke. Schlimmer noch: Der Nimbus vom scheinbar unendlichen Apple-Erfolg ist dahin.



Das Firmenlogo von Apple

Apple-Chef Tim Cook steht unter enormem Druck. Er versucht verzweifelt die Wende, jetzt stellt er wieder eine neue Version des iPhone vor. Eigentlich nicht mehr als eine schlichte Produktpräsentation, trotzdem war die Aufregung groß. Schon seit Wochen gab es Spekulationen, was da kommen mag. Wird Cook an alte Erfolge anknüpfen? Wird er die Krise beenden können?

Wohl kaum - zumindest nicht mit einer neuen iPhone-Version. Dafür müsste schon ein ganz neues, revolutionäres Gerät her. Etwas, das einen ganz neuen Markt erschließt, das die Menschen begeistert - wie einst iPod, iPhone, iPad. Doch das ist derzeit nicht zu erkennen. Der legendäre Visionär Steve Jobs, eigentlich ein Wahnsinniger, war für solche Überraschungen gut. Seinem noch immer blass wirkenden Nachfolger Cook, der den Konzern seit Jobs" Tod im Oktober 2011 führt, wird dies nicht zugetraut.

Die Probleme Apples sind grundlegend. Der Markt für Smartphones legt in vielen wichtigen Ländern nicht mehr so rasant zu wie früher. In Wachstumsregionen wie China oder Indien ist Apple noch kaum präsent. Die Konkurrenz ist hart: Der koreanische Samsung-Konzern hat dem ehemaligen Kultkonzern bereits den Rang abgelaufen, seine Produkte gelten als mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar besser. Die Verkäufe laufen, die Marktanteile liegen oft über denen von Apple. Auch andere Anbieter holen gewaltig auf, sie bieten zudem offene Plattformen an, was für viele Kunden attraktiv ist.

Die Pioniere aus Kalifornien sind schon lange nicht mehr allein, schlimmer: Sie haben der Konkurrenz nicht viel entgegenzusetzen. Dazu kommt: Die Abhängigkeit vom iPhone ist noch immer gefährlich hoch - ganz im Gegensatz etwa zum Konkurrenten Samsung, der eine Reihe von Geschäften mit Erfolg betreibt.

Die goldenen Zeiten für Apple sind ganz offensichtlich vorerst vorbei. Daran wird auch ein grundlegender Strategiewechsel kaum etwas ändern, der wie eine Verzweiflungstat aussieht: Apple wird seine Smartphones künftig möglicherweise in einer abgespeckten Form billiger verkaufen, um so wieder Boden gutzumachen. Bislang galt der eherne Grundsatz: Spitzentechnologie zu Spitzenpreisen. Apple-Geräte gehörten immer den teuersten - dafür hatte die Marke auch einen exklusiven Charakter. Wer ein Apple-Gerät in der Tasche hatte, gehörte einfach dazu. Das würde künftig anders.

Kurzfristig könnte durch diesen Schwenk zwar der Absatz deutlich nach oben getrieben werden. Doch zu welchem Preis? Denn langfristig wird Apple damit zu einem Massenhersteller wie jeder andere. Austauschbare Produkte aus dem Hause Apple, das hätte es mit Steve Jobs nicht gegeben.

Von der alten Magie ist ohnehin nicht mehr viel zu spüren. Früher zelebrierte der Magier Jobs die neuen Produkte. Im schwarzen Rollkragenpulli trat er auf die Bühne, präsentierte ein neues Lebensgefühl. Kaum ein Produkt hat in jüngerer Zeit den Alltag vieler Menschen so geändert wie das iPhone. Anfang 2007 wurde das Gerät, das per Fingerstreich auf dem Bildschirm bedient wird, von Steve Jobs erstmals der Öffentlichkeit gezeigt. Es ist einfach und orientiert sich strikt an den Bedürfnissen der Kunden. Sie sind seitdem fast immer online. Musik, Kurznachrichten, E-Mails, Fotos, Videos, Navigationsgerät - alles in einem Smartphone. Ein völlig neuer und sehr lukrativer Markt entstand, aber Apple blieb nicht lange alleine. Die Konkurrenz holte schnell auf.

"Ich glaube, wenn du etwas machst und es läuft gut, dann solltest du etwas anderes Wunderbares machen, bleib nicht zu lange bei einem", soll Steve Jobs einmal gesagt haben. Daran hat sich Nachfolger Cook nicht gehalten - und das erweist sich als verhängnisvoll.

Der Ehrenbürgerungstest

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Edward Snowden soll Ehrenbürger der Stadt Göttingen werden. Und wen schlägst du für deine Stadt vor?

Es klingt erstmal ziemlich quatschig: Die Fraktionen der Linken und der Piraten wollen Edward Snowden die Ehrenbürgerschaft der Stadt Göttingen verleihen. Zwar muss man für eine Ehrenbürgerschaft einen eindeutigen Bezug zur Stadt haben und Snowden war eindeutig noch nie in Göttingen - aber auch dafür haben die Fraktionen eine Lösung: "Edward Snowden hat sich mit seinem Kampf für Bürgerrechte weltweit verdient gemacht – und damit auch viel für die Bürger Göttingens geleistet", erklärte Linke-Ratsherr Gerd Nier der taz. Das von den Piraten vorgetragene Argument für eine Ehrenbürgerschaft ist übrigens nicht weniger fantasievoll: Das englische Cheltenham ist seit Jahren Göttingens Partnerstadt und gleichzeitig auch Hauptsitz des NachrichtendienstesGCHQ (genau, dieses Ufo-artige Gebäude, das man immer in den Nachrichten sieht). Somit würde die Snowden-Affäre auch zum Kommunalthema.

Nun sind Ehrenbürgerschaften generell eher eine harmlose Sache. Man bekommt eine hübsch polierte Medaille, trägt sich mit etwas Glück noch in ein dickes Buch ein und danach gibt es einen Sekt. Die Gegenleistung ist da meistens schon größer: Jahrelanges ehrenamtliches Engagement für eine Stadt ist meistens die Grundvoraussetzung. Dementsprechend sind die meisten Ehrenbürger bei der Titelverleihung schon sehr alt.



Snowden als Ehrenbürger Göttingens? Klingt nicht so richtig schlüssig.

Sollen dann doch mal jüngere Menschen zum Zuge kommen, hapert es meistens an der Begründung. Sarah Connor konnte für ihre Heimatstadt Delmenhorst beispielsweise kein Ehrenamt nachweisen, weshalb man kurzerhand den Begriff "Ehrenbotschafterin" für sie erfand - eine Ehrenbürgerin light quasi. Zweifelsohne hat Connor auch viel für die Bekanntheit von Delmenhorst getan - warum Sven Regener dann kein Ehrenbotschafter ist, bleibt unklar. Auch Lena Meyer-Landrut ist überraschenderweise nicht Ehrenbürger von Hannover, Gerhard Schröder hingegen schon.

Vielleicht hat dieses lange Warten, bis man jemandem die Ehrenbürgerwürde zuspricht, aber auch mit der deutschen Vergangenheit zu tun: Nach dem zweiten Weltkrieg mussten zahlreiche Städte Adolf Hitler und seinen Nazi-Kollegen die Ehrenbürgerwürde absprechen. Manche Städte vergaßen es aber auch - was dann jedes mal zu Spott führte, wenn Städte wie Düsseldorf, Kleve oder Hannoversch Münden erst ein halbes Jahrhundert später einfiel, dass sie Hitler vielleicht noch von der Liste streichen sollten.

Auch wenn Ehrenbürgerschaften also prinzipiell unsinnig sind - gibt es jemanden, von dem du denkst, dass er sie verdient hätte? Jemand, der sich besonders für deine Stadt eingesetzt hat? Oder verfolgst du eher die Göttinger Argumentation bezüglich Edward Snowden? Gäbe es da jemanden, der deiner Meinung nach eine Ehrenbürgerschaft verdient hätte?

"Ich meckere weniger als ich heule"

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Bevor Adolar Ende des Monats beim Bundesvision Song Contest für Sachsen-Anhalt antreten, haben wir mit Sänger Tom über das neue Album "Die Kälte der neuen Biederkeit" gesprochen. Denn was soll das eigentlich heißen?

jetzt.de: Tom, erklär’s uns: Was ist die "neue Biederkeit"?
Tom: Bei uns ist es so, dass wir im Proberaum nicht nur Musik machen, sondern auch viel reden. Irgendwann haben wir uns mal bewusst einen Kopf über die Gesellschaft gemacht, in der wir leben, und jeder hat gesagt, was ihm so auffällt. Und dann haben wir nach etwas gesucht, dass alles irgendwie umschreibt.

Und was umschreibt der Begriff
"neue Biederkeit"?
Dass die Gesellschaft schon seit langer Zeit sehr unpolitisch ist, vielleicht so unpolitisch wie noch nie, und dass gleichzeitig die CDU-Regierung die konservativen Werte immer mehr predigt - und die Leute sie verinnerlichen und leben.





Wann und wo fällt dir das auf?
Schon wenn ich bei einer Mitfahrgelegenheit ins Auto steige. Sofort werde ich gefragt, wie weit ich auf der Skala bin, bei der es um die Erfüllung der großen vorgegebenen Ziele geht. Es kontrollieren eben alle mit.

Seit wann ist das so?

Vor einigen Jahren war es noch so, dass man dachte, das System wäre es, das Druck auf uns ausübt. Mittlerweile sind es eindeutig die Menschen, die ständig fragen: Wann hast du dein Studium fertig? Wann geht’s bei dir mit Familie los? Was fährst du für ein Auto? Es geht immer und überall um einen Statusvergleich. Manchmal werde ich zuerst danach gefragt, was ich mache, und erst danach, wie ich heiße.

Wo liegt die Wurzel dieses Übels?

Das fängt schon im Schulsystem an, das nur noch auf die Wirtschaft ausgerichtet ist, und in dem Humanismus ziemlich abgeschrieben ist. Für Fantasie und Kreativität gibt es kaum mehr Spielraum.

Die Übeltäter sind also die Politiker, die zum Beispiel für das Schulsystem zuständig sind?

Man könnte jetzt hundert Jahre zurückgehen, aber es reicht auch schon ein Blick auf die Zeit kurz nach der Wende: Helmut Kohl hat damals nach einer moralischen Wende verlangt und sich mehr konservative Werte in den Köpfen der Deutschen gewünscht. Das wurde über Jahre voran getrieben. Und jetzt, wieder mit der CDU, ist es nicht nur wahr, sondern ganz extrem geworden. Deutschland muss immer gut dastehen, in jedem Bereich. Das ist so in den Leuten drin, und sie reden auch über nichts anderes mehr. Sie stehen eben unter enormem Druck.

http://www.youtube.com/watch?v=wq2zLg2wgT8#t=20 "Raketen" vom neuen Album.

Wie ist das bei Musikerkollegen?

Ich habe das Gefühl, dass ein Großteil der Bands in Deutschland sogar dabei mithilft, diesen Zustand zu halten. Aus vielen Liedern höre ich heraus: "Scheiß’ auf das Jetzt, wir müssen einfach nur ein bisschen durchhalten, noch ein paar Jahre, dann wir schon alles gut, dann werden wir belohnt!" Zuletzt sind unheimlich viele Musikvideos erschienen, in denen Menschen in Zeitlupe durch Wälder rennen, alles ist ruhig und friedlich. Weil die Leute sich nach Ruhe sehnen! Sie sind so fertig von den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, von dem ganzen Stress, dass sie gar nicht mehr dazu kommen, darüber nachzudenken, was in der Gegenwart passiert.

Wie viel "neue Biederkeit" entdeckst du bei dir selbst?
Man kann sich selbst natürlich nie ganz rausnehmen, aber ich glaube schon, dass ich einen etwas anderen Lebensstil habe als Viele. Ich wohne in einem abgewrackten Haus, in dem kaum Strom funktioniert, zahle nur 90 Euro Miete im Monat. Wenn ich irgendwohin will, trampe ich. Ich habe auch kein Handy. Als ich letztes Jahr auf der Mecklenburger Seenplatte paddeln war, hatte ich keinen Empfang und dachte: irgendwie ganz schön! Als ich zurück kam, habe ich meinen Vertrag gekündigt.

Hat das dein soziales Leben negativ beeinflusst?

Eigentlich nicht. Es ist tatsächlich sogar einiges übersichtlicher geworden.
Was zum Beispiel?

Wenn ich mich mit jemandem verabrede, muss ich halt einfach pünktlich sein.
Wenn der andere allerdings plötzlich nicht pünktlich da sein kann, kann er dir das natürlich nicht mitteilen...

Aber dann, wenn man da irgendwo auf einem Platz ist, entstehen wieder anderen Dinge. Irgendein neues Abenteuer beginnt – und wenn es aus der Situation heraus passiert, dass man jemanden nach einer Zigarette fragt.

Trotzdem animierst du in euren Songs niemanden, einen ähnlichen Weg zu gehen.

Stimmt. Ich habe mich zum Beispiel auch jahrelang vegan ernährt, anderen aber nie auf den Teller geguckt und gesagt: "Boah, was ziehst du dir denn da rein!?" Auf dem Album meckere ich weniger als ich heule.

Was in den Texten auf dem Album besonders häufig vorkommt, sind die Worte
"allein" und "kalt".
Die Songs wurden ungefähr vor einem Jahr geschrieben, in einer Zeit, in der es mir echt nicht gut ging. Mir hat das Leben in meiner Umwelt keinen Spaß mehr gemacht.

Wie ist es wieder besser geworden?
Indem ich bewusst einiges geändert habe, zum Beispiel die Sache mit dem Handy. Und ich habe mir angewöhnt, wenn ich zum Beispiel bei einem Konzert backstage bin, jeden überschwänglich zu begrüßen, von der Küchenkraft bis zum Sänger.

Wie sind die Reaktionen?
Super! Gerade haben wir ein Konzert in Köln gespielt, da waren ein paar Damen aus der Küche, die uns später sogar umarmt und uns Brote für die Fahrt mitgegeben haben.

Sonst noch irgendwelche Aktionen zur Besserung?

Erst vor ein paar Wochen bin ich mit zwei Freundinnen nach Rotterdam getrampt, zum "No Border Camp", um Aktivisten und Flüchtlingen zu helfen. Wir haben Essen gemacht, Klos geputzt, aber auch Vorträge angehört und demonstriert.

In ein paar Wochen tretet ihr beim "Bundesvision Song Contest" für Sachsen-Anhalt an. Habt ihr Angst, dass die Masse euch nicht kapiert?
Nee, Angst überhaupt nicht. Wir glauben: Wenn man den Leuten mal was Anderes zeigen will, muss man sich auch mal in anderen Bereichen bewegen.




"Die Kälte der neuen Biederkeit" von Adolar ist vergangene Woche erschienen.

Schaufenster-Kritik: Stichprobe

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Schaufenster sind eine spezielle, aber meist ignorierte Kunstform. Deshalb würdigen wir regelmäßig Münchner Exemplare mit Kurzkritiken. Heute: eine Änderungsschneiderei.




Änderungsschneidereien bieten immer wieder Höhepunkte der Schaufensterkunst. Das liegt wohl daran, dass sie eigentlich keine Ware zu präsentieren haben, was sie zwangsläufig kreativ werden lässt. Dieses Beispiel an der Ecke Belgrad-/Clemensstraße ist aber an Kunstfertigkeit und Schlichtheit kaum zu übertreffen: Vor Büro-Lamellen reihen sich feinsäuberlich die Nähmaschinen – ansonsten dominiert Leere. Nur eine Pflanze komplettiert das Bild, beleuchtet von einer einzelnen Neonröhre. „Klar, eine Schneiderei“, denkt man sofort. Zweck erfüllt.

Wiesn der drauf?

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Tracht stärken und Schnupftabak kaufen oder doch noch schnell flüchten? Jeder bereitet sich anders aufs Oktoberfest vor. Eine Typologie, neun Tage vor dem Anstich.

Auf dem Oktoberfest ist jeder irgendwann, wie er ist: voll oder maßvoll, spendabel oder knauserig, immer präsent oder doch eher reserviert. Gleiches gilt für die Vorfreude. Eine Typologie der Gestalten, die dir – als Jungs oder Mädchen – in der nächsten Zeit auf jeden Fall wieder begegnen werden:
  
Der Reumütige




Die Gemütslage in den Wochen vorm Anstich:
Sein Handy und größere Teile seines Geldbeutels wurden im vergangenen Jahr wohl zusammen mit dem Schottenhamel eingepackt. Seine Freunde schicken einander außerdem noch immer Bilder vom „münchen-kotzt“-Tumblr, auf dem er vergangenes Jahr zu sehen war. Kurzum: Den Schmarrn macht er heuer nicht mit! Er begegnet dem anstehenden Fest also mit gezwungener Gleichgültigkeit, die leicht zum Grant gegenüber den ständigen Fragen von Freunden tendiert, wann man denn über die Wiesn ziehe. Schließlich hat er sich doch klar geäußert.
    
An diesem Satz erkennst du ihn:„Nein bedeutet nein!“
  
Das ist der Plan: Endlich mal Zeit für das, was wirklich glücklich macht! Kur statt Kater! Sollen die anderen sich doch zuschütten und ihre Telefone verlieren. Dann rufen sie ihn wenigstens nicht ständig an, um „Das rote Pferd“ aus dem Zelt auf die Mailbox zu grölen, zusammen mit der Frage, wo er denn bleibe. Stattdessen: Lesen, Radlausflüge und am Wochenende früh raus – Wandern!
  
So sehen die Vorbereitungen aus: David Foster Wallaces „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ bereitlegen. Wanderstiefel aus dem Keller holen.
  
So erlebt er den Anstich: Auf dem Gipfel des Heimgarten. Fast hätte er ihn sogar vergessen. Wären da nicht die vielen SMS von den Freunden, die seit morgens am reservierten Tisch auf den Anstich warten, Schafkopf spielen, schnapseln und immer noch nicht glauben können, dass er dieses Jahr nicht dabei ist...
  
Und dann: ...erwischt es ihn am zweiten Wochenende. Da wiegt er sich schon in Sicherheit ob der beeindruckenden Konsequenz, mit der er alle Einladungen abgewehrt hat. Und zack –„Komm, einmal rüberschlendern. Hendl und Spezi in der Sonne! Gebrannte Mandeln, du magst doch gebrannte Mandeln“– ist er verloren: Ein Spezi, zwei Radler und sieben Maß später verabredet er sich für den nächsten Abend. „Diesmal aber Augustiner!“
  

Der Airbnb-Hai



Die Gemütslage in den Wochen vorm Anstich: Freudig erregt, routiniert geschäftig. Bald kommen wieder die vielen Wiesn-Besucher, denen er den dritten Raum seiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung teuer für ein paar Tage untervermieten kann. Er wittert Geld und will noch mehr rausschlagen als im Vorjahr – mehr aus sportlichem Ehrgeiz denn aus echter Gier.
  
An diesem Satz erkennst du ihn:„Nach dem ersten Wiesn-Wochenende hab ich eine Monatsmiete drin.“
  
Das ist der Plan: Schnelles Geld, quick and dirty. Klar sind britische Bauchhaare in der Dusche eklig. Aber solange der Vermieter keinen Stress macht, geht er aus der Nummer schließlich mit mächtig Gewinn raus.
  
So sehen die Vorbereitungen aus: Profil pimpen: Die Wohnung „im Münchner Westen“ (Neugilching), „zentrumsnah und mit guter Verkehrsanbindung“ (Feldmoching) oder „direkt am Flughafen“ (Oberpfaffenhofen) mit guten Bildern (von Bier anstelle der fensterlosen Kammer; Topfpflanzen helfen auch) anpreisen. Vor Ankunft der Gäste: teuren Schnaps wegsperren. Kleine Adresskärtchen drucken, die die Gäste dem Taxifahrer geben können.
  
So erlebt er den Anstich: Zu Hause. Eigentlich wollte er ja schon hin, aber jetzt muss er auf Jimmy und Ethan warten, die dachten, der Flughafen „Munich West“ sei doch irgendwie näher an der Stadt.
  
Und dann:„Dirty“ stimmt – schnell geht nix. Denn natürlich werden Jimmy, Ethan und ein seltsamer Typ, den alle nur als Tito kennen und der seit dem ersten Abend auch an wechselnden Orten in der Wohnung übernachtet hat, ihren Flieger verpassen und sich noch zwei Nächte einnisten.

Der Marathon-Mann



Die Gemütslage in den Wochen vorm Anstich:
Grenzenlose Euphorie! Der Tisch ist seit Oktober 2012 reserviert, auf dem Facebook-Profil zählt ein Countdown in Sekundenschritten runter. Auf dem iPod läuft Polts Sketch „Attacke auf Geistesmensch“ auf Repeat.
  
An diesem Satz erkennst du ihn:„MC Harras is gegen mi a Weichei.“
  
Das ist der Plan: Höchstens einmal aussetzen. Minimalziel: zwölfmal „’nausgehen“.
  
So sehen die Vorbereitungen aus: Er hat sich zwei Wochen Urlaub genommen und der Katze ausreichend Trockenfutter für mindestens zehn Tage in den Napf gekippt. Die Aspirin-Monsterpackung, die er bei der Tante aus den USA bestellt hat, steht auf dem Nachttisch (neben den Kondomen). Der Schnupftabak ist in der Krachledernen deponiert, alle zwölf Trachtenhemden liegen gestärkt in Reih und Glied bereit wie eine kleine Armee.
  
So erlebt er den Anstich: Verschwommen. Er hat schon seit morgens am reservierten Tisch auf den Anstich gewartet, Schafkopf gespielt und geschnapselt. Nachdem er seine erste Maß bekommen hat, schreibt er eine SMS an seinen Kumpel, der sich in den vergangenen Wochen ganz komisch benommen hat und heute aus unerklärlichen Gründen auf den Heimgarten gewandert ist.
  
Und dann: Geht’s weiter. Nach vier Tagen begrüßen ihn die Bedienungen mit Vornamen und setzen sich her, wenn kurz mal Zeit ist. Nach sieben Tagen hat er vier Mal geknutscht – bei einem Abend ist er sich nicht mehr so sicher. Nach neun Tagen hat er keine Stimme mehr. Der Rest der Wiesn verschwimmt zu einem wohligen Erinnerungsbrei mit Bildern weiß-blauer Bierzelthimmel, Dirndl-Ausschnitten und Jauchzen im Kettenkarussell. Am Ende bleiben übrig: ein leeres Konto, ein paar zerknitterte Schießstandrosen auf dem Kleiderhaufen in seiner Zimmerecke und Krümel von gebrannten Mandeln in allen Hosentaschen.

Der Auswärtige



Die Gemütslage in den Wochen vorm Anstich:
In freudiger Erwartung und etwas nervös. Eigentlich kommt er aus der Nähe von Bad Fallingbostel, lebt aber seit vielen Jahren in Berlin und trägt seither Bart, Holzfällerhemd und grellbunte Turnschuhe. Es ist das erste Mal für ihn, und er hat schon viel von „diesem Oktoberfest“ und der Maß (sprich: „Maahß“) gehört.
  
An diesem Satz erkennst du ihn:„Ich bin sehr gespannt, wie diese Wiesen sind!“
  
Das ist der Plan: So, wie er sonst berlinerischer als jeder Berliner ist, will er für ein Wochenende bayerischer als jeder Münchner sein. Der Satz „No a Maß!“ klingt bei ihm allerdings noch nach einer asiatischen Grußformel.
  
So sehen die Vorbereitungen aus: Tracht kaufen. Ist ganz leicht: „Habe ich alles komplett für 100 Euro bekommen! Sieht total echt aus, oder?“ Unterkunft besorgen. Ist nicht so leicht: Er hat die zwei Münchner angeschrieben, die er von seinem Island-Trip kennt – ohne Antwort. Zum Glück kommt er in letzter Sekunde bei einem echt netten Typen unter, der „zentrumsnah und mit guter Verkehrsanbindung“ ein Zimmer für ein paar Tage vermietet.
  
So erlebt er den Anstich: Am Mandelstand, weil sein Kumpel und er nicht glauben wollten, dass man wirklich um 8 Uhr vorm Zelt stehen muss, wenn man auch nur den Hauch einer Chance haben will reinzukommen.
  
Und dann: So richtig glücklich wird er nicht auf der Wiesn. Er und sein Kumpel kämpfen zwei Stunden um Einlass, verlieren einander währenddessen zwei Mal im Gedränge und setzen sich schließlich, wütend aufeinander, das Oktoberfest, die unfreundlichen Bedienungen und Bayern insgesamt, in den Biergarten der Knödelei. Weitere markante Momente des Wiesnwochenendes: die Beinahe-Schlägerei, in die er vor dem „Breakdancer“ verwickelt wird. Die Enttäuschung darüber, dass um 23 Uhr wirklich schon Schluss ist. Die Freude über das Adresszettelchen, das er in seiner Hosentasche findet, als er mit der Fahrrad-Rikscha nach Hause fahren will.

Der Ohne-mich-Typ



Die Gemütslage in den Wochen vorm Anstich: Erhabene Gleichgültigkeit. Die Wiesn existierte für ihn nur in der Zeit, in der er in der Nähe der Theresienwiese gearbeitet hat und es morgens schlechter und nachmittags besser roch als sonst. Ansonsten spielt höchstens noch ein kleiner Anteil Verwirrung mit hinein, weil ihm einfach nicht in den Kopf will, warum erwachsene Menschen sich aktiv Magenverstimmungen holen, weil sie mit etwas fahren, das „Wilde Maus“ heißt.
  
An diesem Satz erkennst du ihn:„Ich hab’ Angst vor großen, besoffenen Menschenmengen – Bier mag ich auch nicht.“
  
Das ist der Plan: Kein Plan. Das Leben geht weiter wie vorher. Ein Freund hat ihm aber gerade ein Foster-Wallace-Buch empfohlen: „Lese ich gerade. Das passt zu dir!“ Vielleicht da mal reinblättern?
  
So sehen die Vorbereitungen aus: Lauschige Abende zu Hause planen. Vorm Kamin schmeckt der Rotwein um diese Jahreszeit schließlich schon besonders gut.
  
So erlebt er den Anstich: „Ach, war der dieses Wochenende? Und?“
  
Und dann: Muss er doch einmal hin. Weil Besuch aus Barcelona kommt. Widerwillig führt er den also herum, geht ins Hofbräuzelt und erklärt, was er irgendwann aufgeschnappt: dass die Krüge eine Sollbruchstelle haben etwa. Oder dass die Bedienunge pro verkauftem Bier bezahlt werden. Gegen 18 Uhr erwähnt er den Kumpel, der gleich bei einer Vernissage in Schwabing auflegt. Ob man nicht lieber da noch vorbeischauen wolle?

Partikel und Prognosen

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Luftverschmutzung gefährdet die Gesundheit, darum sollen Gesetze die Schadstoffe bannen. Auf der anderen Seite verlangsamt Smog den Klimawandel - wie groß der Effekt ist, bleibt jedoch unklar

In zwei Wochen ist es wieder so weit: Nach sechs Jahren veröffentlicht der Weltklimarat IPCC einen neuen Bericht zum Klimawandel. Dass man keinen Wetterbericht für den Sommer 2024 erwarten sollte, dürfte den meisten Menschen klar sein. Aber wenigstens eine klare Aussage über den Stand der Forschung? Doch schon bevor das streng geheime Papier veröffentlicht ist, zeichnet sich ab, dass bei aller Einigkeit über die Grundzüge der menschengemachten Erwärmung viele Details umstritten bleiben.



Paradox: Weniger Schadstoffe sind gut für die Luft, aber schlecht für das Klima

Das wird besonders deutlich beim Kapitel über die Wirkung der sogenannten Aerosolpartikel, besser bekannt als Luftverschmutzung. Stoffe also, die neben Kohlendioxid unter anderem aus Auto-Auspuffen und Fabrikschloten kommen, wenn diese nicht mit Filtern und Katalysatoren ausgestattet sind. Einige davon, etwa Ruß, tragen zwar zur Klimaerwärmung bei. Andere dagegen, besonders Schwefelverbindungen, legen sich wie ein Schutzschild um die Erde und reflektieren einen Teil der Sonneneinstrahlung; außerdem könnten sie die Wolkenbildung fördern. Unter dem Strich kühlen diese Schwebstoffe den Planeten - je dreckiger die Luft, desto mehr. Oder andersherum: Wenn die Luft dank strengerer Gesetze sauberer wird, wie das etwa in Europa und den USA passiert ist, und wie es China dringend nötig hat, fällt die Kühlung weg, und es wird wärmer.

Fragt sich nur: Wie viel wärmer? Darauf gibt es eine einfache und eine komplizierte Antwort. Die einfache gibt Malte Meinshausen vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. "Wenn wir die Aerosol-Emissionen sofort stoppen würden, müssten wir allein deshalb in den kommenden Jahrzehnten mit einem Temperatursprung von etwa 0,4 Grad rechnen", sagt er. 0,4 Grad Celsius wären eine Menge; bislang hat sich die Erde seit der vorindustriellen Zeit um etwa 0,8 Grad erwärmt.

Nun werden die Emissionen nicht sofort aufhören. Aber mangels einer Kristallkugel müssen Forscher Annahmen machen, die sie dann Szenarien nennen. Für den neuen Bericht wurden unter Meinshausens Mitarbeit vier neue, sogenannte "Repräsentative Konzentrations-Szenarien" (RCP) erarbeitet. Sie decken eine weite Spannbreite von möglichen Entwicklungen bei den Treibhausgasen ab, von der radikalen Kehrtwende weg von Kohle und Erdöl bis hin zum blinden Weiter-so-wie-bisher. Aber sie alle legen eine deutliche und schnelle Luftverbesserung zugrunde. Sie sagen daher eine stärkere Erwärmung voraus; kurzfristig könnte der Saubere-Luft-Effekt die gleiche Größenordnung haben wie jener von Treibhausgasen wie CO2.

Dennoch warnen Klimaforscher davor, deshalb Filter und Katalysatoren zu verdammen - und damit beginnt die komplizierte Antwort. Dann würde man den Teufel mit Beelzebub austreiben, sagt Meinshausen, Schon weil sich der Klimawandel nicht auf Dauer mit Aerosolen verhindern lässt: "Stickoxide und Schwefeloxide bleiben nur Tage oder Wochen in der Atmosphäre; beim nächsten Regen sind sie größtenteils wieder draußen", sagt er. Dagegen reichert sich das langlebige Kohlendioxid in der Atmosphäre stetig an. Wollte man den CO2-Ausstoß langfristig mit Smog kompensieren, müsste man also immer mehr davon ertragen.

Natürlich liegt der Gedanke nahe, die klimaschützende Nebenwirkung der Luftverschmutzung auf elegantere Weise auszunutzen. Eine Möglichkeit wäre Geo-Engineering in der Stratosphäre, wo sich die Teilchen deutlich länger halten: In etwa 20Kilometern Höhe könnte man als eine Art globalen Sonnenschirm Sulfat-Aerosole oder Nanopartikel freisetzen. Die Idee hat prominente Fürsprecher, unter anderem den Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen.

Mit solchen Überlegungen beschäftigt sich auch Hauke Schmidt, der am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie Prozesse in der Atmosphäre erforscht und am IPCC-Bericht beteiligt ist. "Wir haben jetzt ein besseres Verständnis, wie das Klima reagieren könnte", sagt Schmidt. "Ein Restrisiko wird immer bleiben, ich würde aktuell massiv davon abraten." Tatsächlich könnten die Folgen solcher Experimente verheerend sein, bis hin zu Hungersnöten, wenn der Monsun ausbleibt.

Ausschließen kann das niemand. Aerosole sind einer der wackligsten Posten, mit denen sich die IPCC-Autoren herumschlagen. Weder weiß man, wie sich der Verkehr in Indien oder die Umweltvorschriften in China entwickeln, noch ist klar, wie Aerosole genau wirken. Lange überschätzte man ihren Effekt, inzwischen wurde er kräftig nach unten korrigiert. Dass die Teilchen Sonnenstrahlen reflektieren, ist noch einigermaßen klar. Heikel wird es bei den indirekten Effekten, etwa auf die Wolkenbildung. "Da gibt es große Unsicherheiten", sagt Schmidt. Die Aerosolteilchen können als Kondensationskeime wirken, so dass Wasserdampf in kleineren Tröpfchen kondensiert. Die gleiche Menge Wasser würde dann mehr Wolken bilden Sonnenlicht abschirmen - wie viel mehr, weiß man nicht.

Zwar wurden in den vergangenen Jahren immer komplexere Effekte in die Klimamodelle eingebaut, aber wurden diese dadurch auch besser? "Zusätzliche Komplexität kann großen Spaß machen, aber sie sollte nicht die Tatsache verschleiern, dass vieles spekulativ ist, was Aerosol-Wolken-Wechselwirkungen angeht", warnte Bjorn Stevens, Direktor am Hamburger MPI für Meteorologie und Leitautor des Aerosol-Kapitels im IPCC-Bericht, vor einem Jahr im Fachblatt Nature. Das sieht er noch immer so: "Wir haben die Prozesse zu sehr vereinfacht." Aerosole seien so etwas wie die Dunkle Materie der Klimaforschung - was immer man nicht verstehe, schiebe man ihnen zu. Und: "Die Annahmen waren unrealistisch, was die Entwicklung der Emissionen angeht."

Das wird sogar im IPCC-Bericht angedeutet: Eine kursierende Fassung beziffert die wahrscheinliche zusätzliche Erwärmung für 2016 bis 2035 auf 0,4 bis 1,0 Grad gegenüber der Periode 1986 bis 2005. In dieser Zahl stecken Annahmen aus den RCP-Szenarien, dass sich die kühlende Wirkung der Aerosole in dem Zeitraum deutlich abschwächen wird, was die gesamte Erwärmung heben müsste. Die IPCC-Autoren sind sich aber einig, dass diese Emissionen, und damit auch die Kühlung, eher auf einem höheren Niveau als angenommen bleiben. Daher werde die gesamte kurzfristige Erwärmung wohl geringer ausfallen und näher bei 0,4 Grad als bei 1,0 Grad liegen, heißt es dann.

Die Menge an Partikeln, die weltweit die Luft trüben, ist schwer zu messen, und in die Modelle sind nur wenige Messdaten nach dem Jahr 2000 eingegangen; ab 2006 sind es sogar nur noch Prognosen. Demnach müsste die Luft schon heute weltweit sauberer geworden sein und sich bald noch deutlich weiter klären, und darauf gibt es wenig Hinweise.

Ohnehin gibt es für den Kampf gegen Luftverschmutzung ganz andere Motive als die Klimadebatte; es geht um Gesundheit und Lebensqualität. Das kann bezeugen, wer in den 1980er Jahren oder davor in Europa aufgewachsen ist. "Wenn ich mich erinnere, wie Städte bei uns damals noch gerochen haben, frage ich mich, wie wir das damals ausgehalten haben", sagt Hauke Schmidt.

Hilft Sport gegen Depressionen?

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Training zeigt zumindest einen moderaten Effekt


"Rein in die Laufschuhe, raus aus der Depression." Unter diesem und ähnlichen Mottos versammeln sich mittlerweile in vielen deutschen Städten vor allem Menschen mit affektiven Störungen zum Früh- oder Spätsport, um ihrer Krankheit förmlich davonzulaufen. Viele Beteiligte berichten über gute Erfahrungen dabei. Erste Studien bestätigen die Effekte, wobei über die Wirkmechanismen noch spekuliert wird: Körperliche Betätigung ändert womöglich Hormonpegel, die sich auf die Gefühle auswirken könnten. Sonnenlicht gilt insbesondere in der dunklen Jahreszeit als stimmungsaufhellend. Und womöglich ist es ja auch einfach nur hilfreich, wenn der anstrengende Sport vom Grübeln und negativen Gedanken ablenkt.



Bewegung an der frischen Luft - ein Wundermittel gegen Depressionen?!

Ein neuer systematischer Überblicksartikel von Mitarbeitern der Cochrane Collaboration um die geriatrische Medizinerin Gillian Mead von der University of Edinburgh bestätigt nun, dass körperliches Training einen zumindest moderaten Effekt bei Depressionen hat (Cochrane Database of Systematic Reviews, Bd. 8, 2013). Diese Aussage ist von besonderer Bedeutung, weil die Cochrane-Analysen der evidenzbasierten Medizin verpflichtet sind, möglichst viele, hochwertige Daten verarbeiten und daher als besonders zuverlässig gelten.

In der aktuellen Arbeit begutachteten die Forscher 39 Studien mit 2326 Teilnehmern, denen eine Depression diagnostiziert war. In 35 Studien, wo Trainingsgruppen mit Kontrollgruppen verglichen wurden, zeigten sich Effekte. Diese waren ähnlich groß wie bei Psychotherapie oder der Einnahme von Medikamenten. Aber, so erklärt Mead: "Wir können nicht sagen, welche Art von Training am besten ist und ob der Nutzen nach Abschluss des Programms anhält."

Zudem geben die Cochrane-Autoren zu bedenken, dass viele der analysierten Studien keine große methodische Qualität hatten. Ein Problem: Anders als bei Medikamenten lässt sich bei der Untersuchung von Trainingseffekten nicht einfach eine Placebo-Gruppe bilden, die ein Scheinpräparat erhält. Eine separate Analyse nur der sechs besten Studien zeigte deutlich kleinere Effekte. Abgesehen davon spricht jedoch nichts gegen Sport. Anders als bei Psychotherapie und Medikamenten hat körperliche Betätigung fast immer nur gute Nebenwirkungen.

Globaler Wunsch nach Bildung

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UN-Umfrage belegt, dass die Millenniums-Ziele längst nicht erreicht sind

Wenn man so will, ist es die erste Umfrage von wahrhaft globaler Dimension: Mehr als 1,3 Millionen Menschen in allen 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben daran teilgenommen. Sie sollten kundtun, wie sie sich eine bessere Welt vorstellen, oder besser: Was zu tun wäre, damit sie - oder ihre Kinder - ein besseres Leben führen könnten. Organisiert hatten das Unterfangen die Vereinten Nationen. Und so war es auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der den Bericht, in dem die Ergebnisse dieser Megabefragung zusammengefasst sind, in New York präsentierte: "A Million Voices: The World We Want - eine Million Stimmen: Die Welt, die wir uns wünschen". Stimmen der Menschen seien darin zitiert, so Ban, "die für gewöhnlich nicht gehört werden, besonders der Menschen, die arm sind, ausgeschlossen und an den Rand gedrängt werden". Bis in entlegenste Dörfer in Anden oder Ostafrika seien UN-Mitarbeiter dafür gegangen.



Ein Mädchen in Mali beim Unterricht


So wirklich überraschend sind die Ergebnisse des Reports indes dann nicht. Menschen rund um den Globus, so Ban, verlangten nach besseren Bildungschancen, nach einer besseren Gesundheitsversorgung, nach Regierungen, die auf ihre Wünsche eingehen, und, natürlich, nach ordentlichen Arbeitsplätzen - nach der Einlösung von Grundbedürfnissen also. Doch überraschende neue Prioritäten der Menschheit zu entdecken, dürfte auch kaum das Anliegen gewesen sein, das die UN mit der Umfrage bezweckten.

Vielmehr soll der Report belegen, wie weit die Welt trotz enormer Fortschritte bei der Armutsbekämpfung noch immer von der Einlösung der Versprechen entfernt ist, die sich Staats- und Regierungschefs beim sogenannten Millenniums-Gipfel im Jahr 2000 wechselseitig gegeben hatten. Damals hatten sie sich auf acht Entwicklungsziele geeinigt, die bis zum Jahr2015 erreicht werden sollten, unter anderem die Zahl der Menschen weltweit zu halbieren, die an Hunger leiden und in bitterster Armut leben, die Kindersterblichkeit um zwei Drittel zu senken und die Grundschulbildung für alle sicherzustellen. "Diese Stimmen sagen uns, dass noch eine große und dringliche Aufgabe vor uns liegt", sagte Ban.

Hintergrund des Reports ist das Anliegen des UN-Generalsekretärs, die Millenniums-Ziele auf einem neuen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs bei der UN-Generalversammlung im kommenden Jahr fortzuschreiben und durch neue Verpflichtungserklärungen zu ergänzen. Bisher läuft der Prozess eher schleppend an: Nach Jahren der Wirtschaftskrise ist das Interesse vieler Regierungen erkennbar begrenzt, zusätzliche Selbstverpflichtungen einzugehen. Der Bericht soll der "Entwicklungsagenda nach 2015", wie es im UN-Jargon heißt, neuen Schwung verleihen.

Interessant an dem Report dürfte insbesondere zweierlei sein: zum einen die Reihenfolge der Grundbedürfnisse, deren Einlösung die Befragten weltweit wünschen. Mit weitem Abstand Priorität Nummer eins ist eine gute Schulbildung - was weit über die Absicherung der Grundschuldbildung hinausgeht, wie sie in den Millenniums-Zielen versprochen worden war. Danach folgen der Wunsch nach einer besseren Gesundheitsversorgung, nach einer ordentlichen Regierung, die nicht korrupt ist und auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht, nach Arbeitsplätzen und Zugang zu sauberem Trinkwasser. Erst auf dem 13.Platz dieser globalen Wunschliste kommt das Bedürfnis nach politischen Freiheiten.

Zum anderen aber, so heißt es in dem Report weiter, sei erkennbar, dass die Menschen die ungleiche Verteilung des Wohlstands weltweit immer stärker beschäftigt: "Sie merken, dass die Vorteile wirtschaftlichen Wachstums ungleich verteilt sind - und verlangen ordentliche Lebensumstände. " Dieser Wunsch nach mehr globaler Chancengleichheit müsse berücksichtigt werden.

Muslimische Mädchen müssen zum Schwimmunterricht

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Bundesverwaltungsgericht hält die Teilnahme für zumutbar, wenn sie einen Ganzkörperbadeanzug tragen


Muslimischen Schülerinnen kann gemeinsamer Schwimmunterricht mit Jungen zugemutet werden. Wie das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am Mittwoch entschied, könnten sie durch einen Ganzkörperbadeanzug, "Burkini" genannt, ihren religiösen Bekleidungsvorschriften gerecht werden. Damit scheiterte eine 13-jährige Gymnasiastin aus Frankfurt am Main mit ihrer Klage. Sie hatte aus Glaubensgründen eine Befreiung vom Unterricht gefordert. Das Leipziger Gericht korrigierte damit eine eigene Entscheidung vom Jahr 1993.



Zwei muslimische Schülerinnen der Vigeliusschule in Freiburg beim Schwimmunterricht in Ganzkörper-Badeanzügen

Die Schülerin hatte sich vor zwei Jahren geweigert, zusammen mit den Jungen ihrer Klasse den Schwimmunterricht zu besuchen. Ihr Religionsverständnis verbiete es, die männliche Mitschüler in Badehosen und mit nacktem Oberkörper ansehen zu müssen. Außerdem könne es in Schwimmbädern zu unbeabsichtigten Berührungen kommen. Mit ihrer Klage gegen eine verpflichtende Teilnahme am Schwimmen war die Schülerin, deren Eltern marokkanischer Abstammung sind, sowohl vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt als auch später vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel gescheitert. "Die Frage ist, ob unsere Vorstellung von Freizügigkeit uneingeschränkt und unkritisch als Leitbild gelten kann", argumentierte ihr Rechtsanwalt damals vor Gericht in Kassel.

Bundesweit betrachtet hat sich gemeinsamer Sportunterricht seit den Siebzigerjahren durchgesetzt. Nach Geschlecht getrennte Stunden in weiterführenden Schulen sind nur in wenigen Ländern üblich, so etwa in Bayern und Baden-Württemberg. In vielen Ländern können Schulleiter teils eigenständig vorgehen - sie sind es auch, die eine Befreiung vom gemeinsamen Unterricht zulassen können. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits 1993 einmal über diese Frage entschieden - und damals einem Mädchen die Befreiung vom Schwimmen aus Glaubensgründen erteilt.

Die Vorinstanz des aktuellen Falls in Kassel meinte dagegen, dass sich seit 1993 die Lage verändert habe - eben durch den "Burkini". Der Anzug, der aussieht wie ein Taucheranzug mit Kapuze, könne das Problem "in zumutbarer Weise" lösen. Auch andere Gerichte hatten zuletzt genau darauf verwiesen. Dem Argument sind nun auch die Leipziger Richter gefolgt. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit schaffe keinen Anspruch darauf, in der Schule "nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten beziehungsweise zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind". Muslimische Frauen könnten keine Befreiung vom Schwimmen verlangen, da es die Möglichkeit gebe, einen Burkini zu tragen. Der Rechtsanwalt der Schülerin entgegnete zwar, der Anzug führe zur "Stigmatisierung". Davon zeigten sich die Richter aber nicht überzeugt, da das Mädchen in der Schule ein Kopftuch trage, für welches dann ja Ähnliches gelten müsste. Und die Gefahr zufälliger Berührungen beim Sport könne durch die Umsicht des Lehrers und eigene Vorkehrungen der Klägerin "auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden".

Der Geschmack des Lebens

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In seinem Roman "Straße der Diebe" verliert sich Mathias Énard mit seinem Helden zwischen Tanger und Barcelona

Wenn eine gut erzählte Geschichte schon einen guten Roman ergäbe, wäre dies ein ganz hervorragender Roman. Dies ist leider nicht der Fall. Mathias Énard, der mit seinem monumentalen Werk "Zone" und dann mit dem reizvoll minimalistischen "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" die Randformen des Romans ausprobiert hat, wollte sich hier offenbar im konventionelleren Register eines Zeitspiegels zwischen Thriller und kritischer Auseinandersetzung versuchen. Arabischer Frühling und spanische "Indignados", Terroranschlag in Marrakesch und Liquidierung Osama bin Ladens in Pakistan, afrikanische Flüchtlingsleichen auf den Stränden Europas und Migrantenschicksale an der Bruchkante der europäischen Sozialkrise werden in diesem Buch aufgeboten.



Der Autor Mathias Énard

Die Geschichte des jungen Marokkaners Lakhdar, der auf seinem Lebensweg von Tanger nach Barcelona an den Abgründen dieser Aktualität vorbeistolpert, ist aber so brav auf das chronologische Handlungsraster gefädelt, dass Hauptsache und Hintergrund, Anekdote und Weltgeschehen seltsam durchhängen. Wohl ist das Buch - zugleich Schelmenroman, Krimi und zeitgeschichtliches Feature - unterhaltsam und spannend. Die unerwarteten Durchblicke und originellen Figuren gehen aber unter im Ballast von Standard und Klischee. Trotz der literarischen Spiegeleffekte von Ibn Battuta bis Mohamed Choukri und Nagib Machfus blättern die Romanszenen von der weltpolitischen Unterlage wie Bildminiaturen unter zu schnell getrocknetem Lack.

Lakhdar und sein Freund Bassam gehören zu den jungen Zukunftswaisen, die auf den Felshängen von Tanger den ausfahrenden Schiffen nachschauen, von Weggehen, Erfolg und europäischen Mädchen träumen - ein Motiv, das nach Tahar Ben Jellouns "Verlassen" und Boualem Sansals "Harraga" schon ein literarischer Topos geworden ist. Lakhdar, wegen einer Liebesaffäre mit seiner Cousine von der Familie verstoßen, ist beim Herumhängen zwischen Tanger und Casablanca auf den Geschmack des Lesens gekommen. Bei einer "Muslimischen Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts" findet er Unterschlupf. Er frönt zwar weiterhin seinem Laster der Krimilektüre, lässt sich aber auch zur Schlägertour gegen "gotteslästerliche" Buchhandlungen mitnehmen.

Die Bekanntschaft mit einer spanischen Studentin bringt dem Wunsch nach Weggehen dann weiteren Auftrieb. Über unwahrscheinliche Zwischenstationen kommt der junge Mann bis nach Barcelona in die Carrer Robadors, die Straße der Diebe, Nutten und sonstiger Nachtgestalten, die dem Roman den Titel gibt. Lakhdars spanische Freundin Judit hat da zwar etwas weniger Zeit für ihn, sie ist bei den "Empörten" engagiert und hat überdies auch noch andere Probleme. Dafür melden sich, bedrohlich verändert, Lakhdars verschollener Freund Bassam und sein ehemaliger Mentor, Cheikh Nouredine, aus der "Muslimischen Gruppe" zurück.

Das alles ergäbe Stoff für einen Roman, bei dem man stockt, sich wundert, aus gewohnten Denkbildern fällt. Solche Momente kommen aber zu spärlich und zu spät. Dem Autor scheint es zunächst eher aufs wirksame Erzählen angekommen zu sein. Wie die Hauptfigur aus ihren Klischeeträumen von "Ärschen, Blondinen, schnellen Schlitten, Whisky und Knete" innert zwei Jahren zur Liebe für klassische arabische Literatur, zur Vertiefung in Koransuren und zum aufrichtigen Bedürfnis nach Beten gelangt, bleibt schleierhaft. Interessant ist zwar, dass die Leute aus der "Islamischen Gruppe" nicht als zähnefletschende Fundamentalisten auftreten, sondern als weltgewandte Drahtzieher eines skrupellosen politischen Geschäfts zwischen Saudi-Arabien und Europa, beziehungsweise als deren gestresste Handlanger. Doch bleibt ihre Darstellung schemenhaft.

Die Habenichtse von Globalisierung und Emigration wiederum, die in der Carrer Robadors per Internet und SMS ihre Verbindungsnetze spinnen, wirken konventionell und die in die Romanhandlung eingestreuten Weltereignisse wie die Tötung Osama bin Ladens bleiben bloße Aktualitätskulisse. Zu den wenigen originellen Figuren gehört jener Senor Cruz, für den Lakhdar zeitweilig arbeitet: ein Mann, der für die spanischen Behörden an den Stränden Flüchtlingsleichen einsammelt und den Angehörigen zurückbringt, zu sechzig Euro pro Stück und Verwahrungstag. Er ist ein seltsames Wesen, das die Toten respektiert, zugleich in seiner Freizeit aber stundenlang auf Youtube sich Folterszenen reinzieht, bis er dem Ganzen auf grässliche Weise ein Ende setzt.

Er wolle nichts weiter als die Freiheit zu reisen, Geld zu verdienen, zu vögeln, zu beten, zu sündigen oder Krimis zu lesen, wenn er Lust dazu habe, sagt Lakhdar und beklagt sich über die Islamisten, "die uns unsere Religion stehlen", wie auch über die arabische Linke, "die immer einem Streik hinterherhinkt". Dieser Individualismus führt den jungen Mann am Schluss zu einer großen Tat zwischen Heroismus und Wahnsinn, die nach der Inkohärenz des Vorhergehenden aber anekdotisch verglüht.

Es ist dem in Barcelona lebenden Énard leider nicht gelungen, seinen scharfen Sinn für Zeitprobleme, sein tiefes Verständnis für die arabische Welt und sein großes Erzähltalent bündig zusammenzubringen. Was ein grandioses Buch hätte werden können, bleibt ein guter, gut lesbarer Roman, nicht zuletzt dank der soliden Übersetzung, die den dünnen Faden zwischen Thriller und Zeitporträt nie reißen lässt.

Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Carl Hanser Verlag, München 2013. 350 Seiten, 19,90 Euro.

Zu viel, zu schnell, zu komplex

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Deutschlands Arbeitnehmer leiden. Wer Glück hat, ist einfach nur erschöpft, gereizt und ausgelaugt. Aber viele Menschen zerbrechen am Stress, weil selbst nach Feierabend der Druck anhält


Das Telefon schrillt. Der Kollege klopft an der Bürotür. Das Handy vibriert. Und auf dem Computer, wo eigentlich das Dokument fertig bearbeitet werden will, das der Chef in einer halben Stunde auf dem Tisch haben möchte, ploppt das Symbol für eine neue E-Mail auf. Natürlich versehen mit einem roten Ausrufezeichen und der Priorisierung "Wichtig". So oder so ähnlich beschreiben zahlreiche Beschäftigte die Stressmomente ihres typischen Arbeitstages.



Wenn der Job zum Albtraum wird - Arbeitnehmerin in ihrem Kölner Büro (Archivbild von 2010)

Zu viel, zu schnell, zu komplex: Deutschlands Arbeitnehmer leiden - das zumindest legen die jüngsten Statistiken, Studien und Medienberichte nahe. Wer Glück hat, ist einfach nur erschöpft, gereizt und ausgelaugt. Viele scheinen am steigenden Druck jedoch zu zerbrechen. Burn-out und innere Kündigung sind nur zwei der Schlagworte, die fallen, kommt die Sprache aufs moderne Arbeitsleben. Im Jahr 2012 gingen 53Millionen Krankheitstage von Beschäftigten auf "psychische Störungen" zurück, belegt der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Als Gründe für den zunehmenden Stress und seine drastischen Folgen werden immer wieder Multitasking, Termin- und Leistungsdruck sowie die ständige Erreichbarkeit übers Handy genannt. Für Michael Kastner, Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin in Herdecke, sind diese Faktoren jedoch nicht das eigentliche Problem: "Sie sind nur Symptome für die steigende Dynamik und Komplexität in unserem Arbeitsleben."

In der Wissenschaft gibt es für diese beanspruchenden Grundbedingungen bereits einen Fachausdruck: Dynaxität. Der Begriff umschreibt die Problematik, dass unsere Arbeitsabläufe immer komplexer werden und der Mensch gar nicht schnell genug alles verstehen kann, weil sich die Dinge gleichzeitig ständig wandeln.

Verantwortlich für diese Entwicklung, die Beschäftigte im Alltag als diffusen Stress und Überforderung empfinden, ist der oft vorurteilsfreie und schnelle Einsatz sich stets weiterentwickelnder Technik - so die Erkenntnisse der Forschung von Annette Hoppe, Leiterin der Kooperativen Forschungsstelle Technikstress an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. "In den vergangenen Jahren, aufgrund der enormen Entwicklungsfortschritte, war Technik unser Fetisch", sagt sie. "2004, als ich mit meiner Forschung zu Technikstress begonnen habe, herrschte noch die weitverbreitete Annahme, sie werde unser Leben ausschließlich besser machen. Heute sieht man: Durch die Technik geht es im Arbeitsleben weg vom physischen Stress hin zu psychischem Stress."

Das sieht Psychologin Anna Rosa Koch, die an der Universität Münster unter anderem zum Thema "Erholung von Arbeitsstress und Work-Life-Balance" forscht, ähnlich. "Einer unserer Hauptstressoren ist der Zeitdruck, der durch die neuen Technologien noch bestärkt wird." Weil E-Mails so schnell und problemlos verschickt werden, führe das auch dazu, dass sehr viele in sehr kurzer Zeit empfangen werden und damit den Handlungsdruck auf den Empfänger erhöhen. Diesem Druck entkommen viele Beschäftigte auch nach Feierabend nicht mehr: Das Smartphone liegt auf dem Wohnzimmertisch oder sogar auf dem Nachtkästchen neben dem Bett. Firmen-E-Mails werden in den Werbepausen des Samstagsabendspielfilms gelesen, wichtige Anrufe vom Chef auch im Urlaub entgegengenommen und stets wird das Treiben von Freunden und Bekannten auf Facebook und Twitter verfolgt.

Genau damit stressen wir uns selbst, sagt Wissenschaftlerin Hoppe: "Noch vor hundert Jahren haben wir am Arbeitsplatz mit einer speziellen Arbeitstechnik gearbeitet, uns aber nach Feierabend mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Heute arbeiten wir zu Hause mit derselben Technik, mit genau denselben Hirnbereichen. Da gibt es keine Entlastung mehr."

Dabei sind genau wir es, die diese Arbeitsweise erst geschaffen haben, sagt Arbeitspsychologe Kastner. "Der Mensch schafft sich immer mehr Systeme, in denen er Opfer und Täter zugleich ist. Die Probleme sind überall ähnlich: Wir müssen immer schneller immer mehr machen und blicken immer weniger durch."

Die ständig steigenden technischen Anforderungen am Arbeitsplatz überfordern viele Beschäftige, sagt Hoppe: "Der Mensch kann sich zwar sehr schnell an Gegebenheiten anpassen, aber auch für diese Anpassung gibt es Grenzen." Das sollte jeder Mensch für sich erkennen, aber vor allem auch die Politik und die Industrie.

Sie stellen die Rahmenbedingungen für unsere Arbeitsumstände - und gehen dabei bereits in die richtige Richtung, attestiert Psychologin Koch. Angebote von flexibler Arbeitszeit oder Homeoffice nehmen zu. Das Bestreben sei da, dadurch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und den Stress aus dem Arbeitsalltag zu nehmen. "Doch die Angebote alleine reichen nicht. Mitarbeiter müssen auch das Gefühl haben, sie guten Gewissens annehmen zu können. Oftmals haben sie Angst, damit ihrer Karriere zu schaden."

Die flexiblere Gestaltung bringe den Beschäftigten zwar neue Freiräume, aber auch neuen Druck: "Das Gute an solchen Modellen ist: Wir können immer und überall arbeiten. Das Schlechte daran: Wir können immer und überall arbeiten", so die Psychologin. Nicht wenige fühlten sich deshalb beispielsweise im Homeoffice besonders unter Druck gesetzt, es falle ihnen schwerer, wirklich Feierabend zu machen. "Die Arbeit greift viel stärker ins Privatleben ein. Manch einer denkt, weil er immer erreichbar sein könnte, muss er das auch tatsächlich sein."

Und manch einer will es durchaus auch sein. Was in Anbetracht der ganzen Diskussion um Stress nämlich oft vernachlässigt wird: Unsere Arbeitsbedingungen haben sich gravierend verbessert, für viele ist ihr Beruf ein wichtiger und sehr erfüllender Teil ihres Lebens. "Arbeit ist grundsätzlich etwas Positives und Stabilisierendes. Und die meisten kommen gut mit den Anforderungen im Berufsalltag zurecht", betont auch Psychologin Koch.

Das bestätigt auch die aktuelle SZ-Umfrage, wonach die meisten Beschäftigten mit ihrem Job durchaus zufrieden sind. Anders als noch in vorhergehenden Jahrhunderten eröffnet den Menschen das heutige Arbeitsleben ungleich mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Viele engagieren sich im Job, weil es ihnen Spaß macht und sie ihre Arbeit als sinnstiftend empfinden.

Dieser Anspruch kann jedoch trotz aller positiver Energie auch neuen Druck freisetzen. Den Druck, mit dem eigenen Job nicht nur den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch noch seinem Leben einen Sinn zu geben. Damit kommt dem Beruf eine ungleich wichtige Rolle im Leben zu. "Je besser es uns geht, desto mehr schrauben wir die Ansprüche hoch und machen uns damit leicht selbst unzufrieden. Früher hätte ich vielleicht gesagt, naja, in dem Job verdiene ich gutes Geld, es ist nicht das Ideale, aber ich bin froh, dass ich einen hab. Jetzt muss es auch noch die Sinnerfüllung sein", sagt Arbeitspsychologe Kastner.

Doch auch hier wandelt sich die Einstellung vieler Arbeitnehmer. Sinnerfüllung ja - aber nicht nur im Beruf. Für die gut ausgebildete jüngere Generation wird Lebensqualität immer wichtiger. "Wenn Firmen die guten Leute binden wollen, müssen sie ihnen jede Menge bieten im Sektor Gesundheitsmanagement und Work-Life-Balance", beobachtet auch Kastner. Und die Angestellten legen in ihrer Freizeit das Smartphone vielleicht sogar einmal ganz aus der Hand.

Wenn dies beiden Seiten gelingt, ist womöglich auch ein langfristiges gesundes und motiviertes Arbeiten möglich. Auch dann, wenn gleichzeitig das Telefon klingelt, das Handy vibriert und die Mails nur so eintrudeln.

Im Tal rechts

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In einer österreichischen Kleinstadt geraten Jugendliche und Roma aneinander. Steine fliegen, Schüsse fallen. Medien berichten von einem per Facebook organisierten Mob. Aber ein Ortsbesuch zeigt: Die Wahrheit ist komplizierter.

Dem Parkplatz ist nichts mehr anzusehen. Ein paar Autos stehen verstreut herum, auf einer Weide nebenan grasen zwei Pferde, Touristen schlendern vorbei, ein Fahrschüler macht seine ersten Versuche mit Kupplung und Gaspedal.

Nur wenige Tage vorher sah es hier ganz anders aus: Es flogen Steine. Angeblich fielen Schüsse. Angeblich schlugen Männer mit Eisenstangen auf Autos ein. Ein Großeinsatz der Polizei war nötig, um Schlimmeres zu verhindern. Auf dem Parkplatz waren fahrende Roma und einheimische Jugendliche aneinander geraten.

“Jugendliche attackieren Roma in Bischofshofen”: In Varianten war diese Meldung anschließend in nahezu allen großen österreichischen Medien zu lesen, häufig mit dem Zusatz, die Jugendlichen hätten sich über Facebook verabredet. Auch die Süddeutsche Zeitung hat die Geschichte aufgegriffen. Es ist eine Geschichte, die gut ins Bild vom ländlichen, latent fremdenfeindlichen Österreich passt: Hohe Berge, schmale Täler, braune Einwohner. Auch Experten bestätigen dieses Bild, der Jugendkulturforscher Manfred Zentner aus Wien sagt etwa: "Mich überraschen die Ereignisse nicht. Rassismus ist in unserer Jugend ein großes Problem.” Die Geschichte wäre stimmig. Das Problem ist nur, sie stimmt nicht ganz.




Der Parkplatz, auf dem die Roma mit Erlaubnis der Stadt campen dürfen.


Bischofshofen, 60 Kilometer südlich von Salzburg gelegen, kennt man vor allem wegen seiner Skisprungschanze. Jedes Jahr findet hier ein Wettkampf der Vierschanzentournee statt, zehntausende Zuschauer kommen dann in den Ort. Auch jetzt, an einem verregneten Montag Vormittag, sind die Straßen belebt, in den Cafés sitzen Leute, in der Innenstadt reiht sich ein Gasthaus ans nächste. Viele sind frisch renoviert und bunt angestrichen, blau, gelb, grün. Es gibt beinahe Vollbeschäftigung, die Einwohnerzahl steigt.

Etwa drei- bis viermal im Jahr machen Roma-Gruppen mit ihren Wohnwagen hier Station. Sie bleiben meist für zwei, drei Tage, die Stadt stellt ihnen dann den Parkplatz der Sprungschanze zur Verfügung, gegen Gebühr auch einen Sanitär- und einen Müllcontainer. Ein bewährtes Prozedere. Normalerweise gebe es keine Probleme, das sagt die Stadtverwaltung und das sagen auch die meisten Anwohner, die erzählen, wie sie beim Spazieren oft freundlich von den Roma gegrüßt werden.

Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Bischofshofen, da kann man Berichte über Fremdenfeindlichkeit oder gar Antiziganismus nicht gebrauchen. Außerdem ist auch in Österreich gerade Wahlkampf. “Wir distanzieren uns von jeder Form des Rassismus”, sagt Jakob Rohrmoser. Der Bürgermeister ist ein freundlicher, gelassener Mann. Er trägt einen Trachtenjanker, in seinem Büro steht kein Computer, dafür auf dem Fensterbrett eine Marienfigur. Rohrmoser hat eine Liste mit allen 48 hier lebenden Nationalitäten vorbereitet, als Beleg für die Weltoffenheit seiner Stadt. Bosnier, Türken, Deutsche, Marokkaner, Kirgisen, Letten wohnen hier, er zeigt die Liste. Der Pfarrer sei Pole, der Jugendseelsorger komme aus Indonesien. Bischofshofen nehme “eine Vorreiterrolle in Sachen Integration” ein, sagt er. Rohrmoser schaut auf die große Kastanie im Hof. “Wir haben bisher nie Probleme mit Rechtsextremismus gehabt.”

Fremdenfeindlichkeit gibt es trotzdem in Bischofshofen, wie überall. Ein älterer Herr mit einem SUV in der Garage steht vor seiner Haustür und sagt, wenn die Roma da seien, müsse man sofort "alles wegräumen und abschließen, die klauen ja sonst alles." Ob er von konkreten Diebstählen wisse? In den letzten Jahren nicht, räumt er ein, "aber die sind halt so, das weiß man doch! Woher sollten sie auch sonst das ganze Geld haben für ihre großen Autos und Wohnwagen?"

Am Sonntag vor knapp zwei Wochen erreichen etwa hundert Roma mit französischen Nummernschildern den Parkplatz. Am Abend wirft ein Unbekannter einen Stein durch die Scheibe eines ihrer Autos. In der folgenden Nacht eskaliert die Situation: Als Jugendliche in die Nähe des Parkplatzes fahren, stehen dort Roma mit Eisenstangen in der Hand. Mehrere Zeugen wollen gehört oder gesehen haben, wie Schüsse fallen. Die Polizei kommt mit drei Wagen, sie regelt das Gelände ab und schaltet die Scheinwerfer der benachbarten Skisprungschanze an, zur besseren Übersicht.

Oft mit den Roma Fußball gespielt


Etwa zwanzig Jugendliche, so heißt es später in den Berichten, hätten sich über Facebook formiert und die Fahrzeuge der Roma mit Steinen beworfen, von rechtsextremen Ausdrücken ist die Rede.

Ein paar der Jugendlichen, die in der Nacht dabei waren, sind sofort zu einem Gespräch bereit. Sie warten vor der Country Lounge im Stadtzentrum von Bischofshofen, man geht erstmal an ihnen vorbei. Die Jungs sehen nicht so alt aus, wie sie sind - nämlich zwischen 17 und 19 -, und ihre “Tschick” rauchen sie so verkrampft, wie es eher harmlose Typen tun. Rechtsradikale stellt man sich anders vor.

Nervös sitzen sie am Tisch, halten keine Sekunde still, rauchen eine nach der anderen. “Wir werden jetzt überall als Nazis hingestellt”, sagen sie. Dabei hätten sie überhaupt nichts von den Roma gewollt. Sie hätten sich auf einem anderen Parkplatz in der Nähe getroffen, das täten sie öfters - der Ort sei klein, da fahre man abends manchmal spazieren. Die Roma seien zu ihnen gekommen und hätten sie bedroht: “Wir bringen euch um!” Mit Eisenstangen hätten die Roma dann auf ihr Auto eingeschlagen und sie durch den ganzen Ort verfolgt, bis zur Polizeistation. Völlig unschuldig seien sie in die Auseinandersetzung geraten. Einer erzählt, er habe schon oft mit campierenden Roma Fußball gespielt.



Bischofshofen, von der Skisprungschanze aus betrachtet.


Auch die Polizei sagt inzwischen, es habe keinen organisierten Gewaltaufruf via Facebook gegeben. Man habe auch keine Hinweise auf rechtsextreme Beschimpfungen. “Wir wissen auch nichts von einer rechtsradikalen Szene in Bischofshofen”, sagt Postenkommandant Johannes Wagner. Die Roma hätten auf eine Anzeige verzichtet und seien am folgenden Tag abgereist.

Tatsache ist: Ein Stein ist auf das Roma-Lager geflogen und hat eine Scheibe zerstört, da ist die Polizei sicher. Das war vermutlich auch ein Grund, weshalb die Roma am nächsten Tag gereizt waren. Tatsache ist auch: Es gab fremdenfeindliche Facebookposts. In einer öffentlichen Gruppe, in der man andere vor Verkehrskontrollen warnen kann, schrieben die Jugendlichen eine Warnung, man solle die Umgebung der Skischanze meiden: Die Roma seien gefährlich. Dieser Eintrag, der erst nach der angeblichen Flucht gepostet wurde, ist der Ausgangspunkt einer hitzigen Debatte, in der irgendwann weiter unten im Thread von einer “Endlösung” die Rede ist, von Molotow-Cocktails und von einem “Zigeunerzug”, bei dem “vielleicht auch mal ein Wohnwagen brennen” sollte. Wegen dieser Postings ermittelt der Verfassungsschutz des Landes Salzburg, es besteht Verdacht auf Verhetzung.  

Die drei Jugendlichen in der Country Lounge sagen, sie wüssten, wer diese Kommentare geschrieben habe. Die Verfasser seien aber an dem Abend nicht vor Ort gewesen. Und die, die auf dem Parkplatz waren, hätten nicht solche Kommentare verfasst.

Die Einzelteile der Zeitungsberichte sind richtig. Aber einen organisierten Mob, der das Roma-Camp attackierte, gab es wohl eher nicht. Ob der Steinwerfer, die Facebook-Hetzer und die Jugendlichen, die den Roma am Montag Abend zu nahe kamen, etwas miteinander zu tun haben, lässt sich nicht sagen.  

Während die Jungs in der Kneipe ihre Geschichte erzählen, haben sie das erste Bier schnell leer. Als sie ein zweites bestellen, sagen sie: "Schreib einfach, wir sind die Alkoholiker-Nazis von Bischofshofen. Is eh schon wurscht."  

Liebst du die Musik deiner Eltern?

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Psychologen haben herausgefunden, dass man ein Leben lang die Lieblingsmusik seiner Eltern gut findet. Welche ist das bei dir?

Das Unplugged-Album von Eric Clapton funktioniert bei mir ähnlich wie diese italienischen Barilla-Kekse in der beigen Packung: Sobald das Album irgendwo läuft, sind in mir drinnen Schulferien. Ich sitze augenblicklich auf dem Rücksitz unseres Familienautos, neben mir meine milchbezahnte Schwester, vor mir meine Eltern, auf der Fahrt nach Elba.

Eric Clapton unplugged! Wurde jemals ein noch besseres Album erschaffen? Diese angeberischen 37 Sekunden Applaus vor dem ersten Song, das Solo von "Old Love", der verpatzte Einstieg bei "Alberta": Ich kenne das Ding besser als jede CD, die ich mir je selbst gekauft habe. Und das, obwohl ich mich nicht erinnere, Clapton damals besonders gemocht zu haben - ich selbst hätte natürlich jedes Mal die aktuelle Whigfield bevorzugt.



Jahrgang 1945 und trotzdem top: Eric Clapton.

Interessant ist deshalb der Versuch, den amerikanische Forscher soeben im Fachmagazin Psychological Scienceveröffentlicht haben: Sie spielten jungen Erwachsenen Musik aus den vergangenen fünf Jahrzehnten vor und ließen sie die Qualität der Songs bewerten. Die so entstandene Sympathiekurve zeigte zwei große Ausschläge: einmal bei der Musik der vergangenen 20 Jahre, die also während der eigenen Jugend erschienen war. Aber dann auch, und das erklärt meine Hingabe für Eric Clapton, bei der Musik, die aus der Jugend der eigenen Eltern stammt.

Man wächst als Kind also quasi unweigerlich um die Lieblingsmusik der eigenen Eltern herum und wird das selbst dann nicht los, wenn man als selbstbestimmter Hörer längst zu Post-Garage oder Gospel gewechselt ist. Also los: Welche Songs und Alben hast du mit dem Babybrei gelöffelt? Hörst du das alte Zeug immer noch gerne? Oder trifft die These der Wissenschaftler auf dich wegen akuter Wildecker-Herzbubisierung deiner Familie überhaupt nicht zu?

Wie das Internet ... am Bildschirm isst

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Ein Lifehacker macht sein Leben mit einfachen Tricks ein bisschen besser. Das Internet ist voll von Lifehackern - wir sammeln ihre besten Tricks. Heute: Mit beiden Händen arbeiten - und trotzdem Nahrung aufnehmen!






Das Problem:
Mal wieder rast sie näher, die verdammte Deadline! Noch eine Nacht bis zur Abgabe der Bachelorarbeit und du bist erst im oberen Drittel von Seite zwei. Du brauchst also beide Hände, ach was, eigentlich sogar fünf - kurzum: Jede Handbewegung weg von Maus und Tastatur bedeutet den Verlust kostbarer Arbeitszeit! Das Problem mit dem regelmäßig wiederkehrenden Harndrang hast du gelöst, seit dir deine Freunde vor dem letzten WoW-Gildenkampf den Trick mit der Seniorenwindel gezeigt haben. Wäre da bloß nicht noch das lästige Hungergefühl, das dich alle paar Stunden in Richtung Kühlschrank zieht!

Die Lösung:Am Bildschirm essen. Zieh deinen Hoodie aus, dreh ihn um 180 Grad und schlüpfe von hinten in die Ärmel. Schon hängt die Kapuze vor deinem Kinn wie der Futterbeutel an einem Pferdehals. Eine hervorragende Sammelstelle für Chips, Popcorn, Kekse und sonstiges nahrhaftes Energiefutter für deine Nachtschicht vor dem Computer.

Verlottern auf Zeit

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Wenn die Mitbewohner ausgeflogen sind, kann man endlich mal alles stehen und liegen lassen. Warum abspülen, wenn keiner da ist, den das dreckige Geschirr stört? Vom Kurzzeit-Verlottern in der leeren WG.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie alleine gewohnt. Ich bin in einer fünfköpfigen Familie großgeworden und danach in eine WG gezogen. Und dann in die nächste WG und dann in die nächste WG und dann in die nächste WG. Ich wollte auch nie alleine wohnen. Ich mag es, nach Hause zu kommen und etwas hat sich verändert, jemand hat den Kühlschrank leergegessen oder eingekauft, ein Topf kalter Nudeln steht auf dem Herd oder ein T-Shirt liegt zum Einweichen im Waschbecken. Es stört mich auch nicht, mich in meinem Zuhause mit anderen Menschen arrangieren zu müssen, Rücksicht zu nehmen und mich an bestimmte Regeln des Zusammenlebens anzupassen. Wie sehr ich das anscheinend tue, merke ich immer erst, wenn ich doch mal alleine bin. Und dann erschrecke ich ein bisschen vor mir selbst.  



Wer nicht abspült, hat morgens mehr Zeit zu frühstücken!


So wie gerade. Meine Mitbewohnerin ist für einen ganzen Monat verreist und auf einmal sieht die Wohnung wie umgekrempelt aus. Ich lasse andauernd alles stehen und liegen, die Schmutzwäsche und das dreckige Geschirr zum Beispiel, und der Küchentisch ist voller alter Zeitungen und gebrauchter Tassen. Warum sollte ich auch was wegräumen, es ist ja niemandem im Weg? Und es spart auch so wahnsinnig viel Zeit! Morgens kann man länger frühstücken, bevor man losmuss, und abends länger lesen und fernsehen, bevor man einschläft, weil man danach oder zwischendurch nicht noch abwaschen oder aufräumen muss. Ich verhalte mich auch anders. Lauter zum Beispiel, das Radio oder die Musik schallt durch die gesamte Wohnung. Ich dusche länger und danach gehe ich vom Bad in mein Zimmer, ohne mir schamhaft ein Handtuch umzubinden. Wenn ich auf Toilette gehe, lasse ich die Tür sperrangelweit offen stehen, die Gefahr, dass jemand hereinkommt und mich da so sitzen sieht, ist immerhin verschwindend gering. Ich sauge nicht, ich putze nicht. Ich verlottere. Ich strohverlottere, weil da der andere fehlt, an dem ich meine Wohndisziplin aufrecht erhalte.  

Klar, ich war insgesamt schon oft alleine, in meinem Elternhaus oder der WG. Ich kenne es gut, dieses „Hach, endlich alles irgendwo hinwerfen“-Gefühl, das sich einstellt, wenn jemand mit Koffer die Wohnung verlässt und die Türe ins Schloss fällt. Dieses gute Wissen, dass man jetzt niemanden mehr stören kann außer sich selbst, dass jetzt mal nur die eigenen Hygiene-Standards und Ordnungsmaßstäbe gelten. Das Neue ist diesmal, dass ich noch nie so lange am Stück alleine war. Nach allerspätestens zwei Wochen war da wieder irgendjemand anders, der ins Bad musste, nach mir die Bratpfanne brauchte oder sich wünschte, dass ich den Putzplan einhielt. Wenn ich jetzt so lange alleine wohne und einfach nicht aufhöre mit dem Verlottern, dann frage ich mich schon, wie lange das noch anhält. Ob meine Hygienestandards und Ordnungsmaßstäbe ganz andere sind als ich bisher immer dachte? Ob sie vielleicht viel niedriger sind als mir lieb ist und ob ich überhaupt nicht in der Lage wäre, alleine zu leben, weil ich es nicht schaffe, mich selbst zu regulieren?  

Irgendwann ertrage ich es nicht mehr



Andererseits gibt es ja einen Raum in meiner WG, in dem ich fast immer alleine lebe: mein Zimmer, in dem ich theoretisch tun und lassen kann, was ich will. Vielleicht ist der Maßstab, den ich für diese 18 Quadratmeter anlege, eine Art Richtwert für sämtliche Alleinwohnsituationen. Denn wenn ich da über mehrere Wochen hinweg Kleiderhaufen und Staubmäuse angesammelt habe, kommt irgendwann immer dieser eine Samstagvormittag, an dem ich es nicht mehr ertrage, meinen Schrank akkurat einräume und dann alle Möbel rumrücke, um auch dahinter wischen zu können.  

Darauf immerhin kann ich bauen. Irgendwann bald kippt wahrscheinlich der Genuss der Momente, in denen ich meine dreckige Wäsche vom Vortag im Badezimmer fallen- und liegenlasse, in die Furcht davor über, mich demnächst vor mir selbst ekeln zu müssen. Dann wird es mich ein Mal kräftig schütteln und ich werde mit sehr viel Energieaufwand alles aufräumen und putzen und dann vielleicht sogar wieder die Klotüre schließen, wenn ich mal muss, weil sich das irgendwie gesitteter anfühlt. Das „Hach, endlich alles hinwerfen“-Gefühl kann mich auf Dauer wohl nicht glücklich machen, es ist bloß das erste Genießen der Freiheit, es ist wie Urlaub vom normalen Wohnen. Richtig froh, alltagsfroh macht mich nur das „Hach, hier ist’s aber gemütlich“-Gefühl. Und dreckiges Geschirr und offene Klotüren sind zwar bequem, aber gemütlich sind sie ganz sicher nicht.
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