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Liebesrausch im Hörsaal

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Und plötzlich ist es da: das letzte Seminar. Die letzte Vorlesung. Das letzte Mal auf den Nacken des hübschen Typen mit den schwarzen Locken zwei Reihen weiter vorne schauen. Bei der Erkenntnis, dass selbst die Uni irgendwann zu Ende geht, müssen viele erstmal schlucken: keine Mensen, keine Hörsäle und keine Bibliotheken mehr, die bis zum Anschlag mit gleichaltrigen, paarungswilligen Mädels und Jungs gefüllt sind. Und vor allem: nicht mehr jeden Tag die Chance, den Typen mit den schwarzen Locken zu sehen und ihn vielleicht doch noch anzusprechen.  

Denn der Begriff "paarungswillig" mag auf die Kommilitonen im Hörssal zutreffen – in der Theorie! So richtig klappt es im studentischen Alltag ja eigentlich doch nie, den/der/die/das Richtige zu treffen. Damit es wenigstens gegen Ende noch mal richtig rumst und die Theorie endlich mal in die Praxis umgesetzt wird, gibt es ihn - den, der alle um den Verstand bringt: den Gold-Rush.  





Der Begriff ist vor allem im englischsprachigen Raum bekannt und beschreibt die Zeit, in der alle noch einmal besonders gründlich unter ihren Kommilitonen schürfen – auf der Suche nach hübschen Partnern für ein letztes Stelldichein, bevor alles zu Ende geht.  

Dem sexuellen Rausch gehen meistens bittere Zeiten voraus: Nach einem Höhepunkt des sexuellen Treibens am Anfang des Studiums in Form von Ersti-Partys kommt ein tiefes langes Tal biederer Studienjahre. Immer sind alle entweder zu beschäftigt mit Hausarbeiten, oder es ist einfach zu peinlich ist, sich auf One-Night-Stands einzulassen. Die Gefahr sich am nächsten Tag in der Mensa bei Hähnchenkeulen und Pommes gegenüberzusitzen oder neben einem Dozenten aufzuwachen, ist viel zu groß.  

Der Gold-Rush ist also ein Befreiungsschlag für gebeutelte Bibliotheks-Seelen, die sich das Sexleben ihrer Studienzeit irgendwie aufregender vorgestellt haben. Das erklärt vielleicht auch die ziemlich unverblümten Mitteilungen, die Studenten im Gold-Rush auf extra eingerichteten Facebook-Seiten hinterlassen. Dort gibt es anonyme Limericks und Sprüche nach dem Motto: „Tom Gill Gilly, I only want your willy“. Es gibt nichts zu verlieren und alles zu gewinnen, ein wahrer Goldrausch also, für den manche ganze „To-Do-Listen“ mit abzuarbeitenden Flirtobjekten schreiben. In Großbritannien und den USA gibt es nicht nur richtige Gold-Rush-Partys, sondern auch jede Menge Tipps auf Blogs und in Foren mit Tipps wie: „Jede Mahlzeit ist ein potentielles Date. Isst du drei Mahlzeiten pro Tag? Toll, aber dann wären fünf noch besser – das sind fünf potentielle Dates, und vergiss nicht ab und zu Kaffee trinken zu gehen.“

Was den Gold-Rush eigentlich ausmacht: Niemand muss mehr eine Lerngruppe bilden, nur um sich nahe zu sein. Es reicht ein kurzer Verweis auf das Ende der gemeinsamen Studienzeit und schon stehen bisher verschlossene Türen offen. Das sagen zumindest die eingefleischten Gold-Rusher. Es scheint so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, sich auf Gold-Rush-Partys gehen zu lassen, ohne Angst vor Gesichtsverlust. Schließlich ist sowieso klar, dass die Leute nicht zum Billardspielen gekommen sind.

Kiffen macht dumm

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Weltweit liberalisieren Regierungen die Drogengesetze – von Uruguay über die USA bis Deutschland. In Städten wie München, Köln und Dresden wird über Versuchs-Coffeeshops nachgedacht. Die Regierungen hoffen, damit Probleme wie Drogenhandel und organisierte Kriminalität einzudämmen. Nun aber gibt es eine Studie, die auf einen Nachteil dieser Politik weist. Sie kommt ausgerechnet aus den Niederlanden, dem Mutterland der liberalen Drogengesetze. Das Ergebnis: Studenten, die kiffen, haben den Forschern zufolge schlechtere Noten und fallen öfter durch Prüfungen.

Forscher an der Universität von Maastricht haben die Leistungen von mehr als 4.000 Studenten der Stadt verglichen und dabei herausgefunden, dass sich die Cannabis-Politik der Niederlande auf die Leistungen der Studenten auswirkt (PDF). Dafür analysierten sie knapp 60.000 anonymisierte Einzelnoten von Wirtschafts-Studenten zwischen 2009 und 2012.



In Maastricht dürfen seit 2011 nur noch Studenten aus Holland, Deutschland und Belgien die Drogen-Cafés besuchen.

Die Coffeeshops der Stadt hatten am 1. Oktober 2011 eine Regelung eingeführt, um den Strom der „Drogen-Touristen“ auszutrocknen. Nach Einführung der Regelung durften nur noch Niederländer, Deutsche und Belgier die Drogen-Cafés besuchen. Die Studenten waren dadurch unfreiwillig in zwei Gruppen aufgeteilt: jene, die weiter kiffen durften, und die anderen - ausländische Studenten -, die ausgeschlossen waren.

Die Noten der Studenten, die keinen Zugang mehr zu Coffeeshops hatten, waren durchschnittlich um neun Prozent besser, die Wahrscheinlichkeit, dass diese Studenten eine Prüfung bestehen, war 5,4 Prozent höher als bei den anderen. In Fächern, bei denen mathematisches Denken notwendig ist, ist der Effekt fünf Mal stärker zu sehen, erklärt Olivier Marie, der die Studie zusammen mit Ulf Zölitz vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn erstellt hat.



 Olivier Marie

Kritiker bemängeln, dass die Gruppe der ausländischen Studenten nur acht Prozent der gesamten Anzahl Studenten ausmachten und damit zu klein ist, um die Gruppen vergleichen zu können. Unbekannt ist auch, wie viele der Studenten vor oder nach dem Verbot überhaupt Cannabis konsumiert haben. Außerdem könne man natürlich nicht ausschließen, dass Ausländer trotz des Verbots weiter gekifft und illegal Cannabis auf der Straße gekauft haben, sagt auch Marie. Weil nicht bekannt ist, wie groß ihre Zahl ist, ist auch unklar, wie stark diese Fälle das Ergebnis verzerren. Trotzdem könnte die Studie die Debatte um die weltweite Liberalisierung der Drogengesetze befeuern. Die wenigen bisher erschienen medizinischen Studien legten bereits einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Cannabis und einer Abnahme der Intelligenz nahe.

Trotzdem würden diese negativen Nebenwirkungen des Politikwechsels – zum Beispiel die verminderte Leistungsfähigkeit – häufig kaum beachtet, sagt Ulf Zölitz. Im Vordergrund stünden bisher die langfristigen, positiven Folgen. Marie betont, er sei für Liberalität. „Ich sage meinen Studenten aber: Denkt nach, bevor ihr kifft; genauso wie ich den Regierungen rate, nachzudenken, bevor sie Gesetze ändern.“

Bisher haben die Forscher nur die Leistungen von Studenten der Wirtschaftswissenschaften analysiert. Gegenüber der Wirtschaftsfakultät aber liegt das Maastrichter Konservatorium. Man könnte den Effekt des Cannabis-Verbots auch in anderen Fächern messen, sagt Marie. „Vielleicht gibt es bei Musik-Studenten völlig andere Auswirkungen?“

Heul doch!

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Ein Soldat weint nicht. Soldaten sollen Helden sein, die für ihr Land kämpfen und die Sicherheit derer garantieren, die Zuhause geblieben sind. Ein bisschen erinnert das an ein Sprichwort aus der Kindheit: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Leider ist das mehr als verstaubte Großvaterlogik, wie ein aktuelles Fotoprojekt aus Litauen zeigt. 

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Einige der Männer, die weinend in Uniform fotografiert wurden, sind Soldaten ­– doch sie sind es nicht unbedingt freiwillig. Ein Gesetz, das im Mai in Litauen in Kraft trat, erklärte den Militärdienst zur bizarren Lotterie: per Zufall spuckte ein Computer ein paar Tausend Namen von Männern zwischen 19 und 27 Jahren aus. Die zusätzlichen Soldaten seien angesichts der Ausschreitungen in der Ukraine zur Gewährleistung der Sicherheit nötig, so Präsidentin Dalia Grybauskaite. Also hat ein Algorithmus entschieden: Du bist jetzt Soldat. Die, die sich trotzdem weigerten, wurden nicht selten als Feiglinge beschimpft, öffentlich attackiert und als Luschen dargestellt.

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Desertieren und Weinen: unmännlich. Kämpfen und Rationalität: männlich. Das Fotoprojekt hinterfragt diese Vorstellungen von Männlichkeit. 14 Männer wurden zufällig ausgewählt. Auch Freiwillige Soldaten sind unter den porträtierten Männern – und auch sie können weinen.

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„Die Armee macht keinen Mann aus dir.“, sagt Vytautas, 27, einer der Teilnehmer. Das zu tun, was man für richtig hält und dazu zu stehen – das vielleicht schon eher. Vor allem aber zeichnet es einen erwachsenen Menschen aus.

Geisteswissenschaft für Games

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jetzt.de: Computerspielwissenschaften – was genau muss man sich darunter vorstellen? Ich nehme mal nicht an, dass es Credit Points für gewonnene “World of Warcraft”-Battles gibt.
Prof. Dr. Jochen Koubek: Nein, bei uns gibt es kein „Daddeln im Hauptseminar“ und im Studium lernt man auch nicht, wie man Profi in „League of Legends“ wird. Ziel unseres Masterstudiengangs ist es, Computerspiele aus medienwissenschaftlicher und informatischer Sicht heraus besser zu verstehen. Es ist eine Fortsetzung beider Fächer. Konkret gesagt nähern wir uns dem Thema aus wissenschaftlicher Sicht, wie es die Literaturwissenschaft mit Literatur macht oder die Filmwissenschaft mit Filmen, gleichzeitig sollen die Studenten aber auch lernen, selbst Spiele zu produzieren. Diese Kombination ist für einen Masterstudiengang in Deutschland bis jetzt einzigartig.  



 

Man spricht den Medien ja einen großen Einfluss auf die Gesellschaft zu, vor allem deswegen beschäftigt man sich wissenschaftlich mit ihrer Entstehung, ihren Einflüssen und ihren Wirkungen. Wie steht es um die gesellschaftliche Bedeutung von Computerspielen?
Gegenfrage: Wie alt glauben Sie, ist der durchschnittliche Spieler?  

Vielleicht so 25?
Er ist 35. Und wie viel Prozent der Bevölkerung spielt regelmäßig?  

15 bis 20 Prozent?
In Industrieländern spielen im Schnitt 50 Prozent der Menschen, und davon sind wiederum fast die Hälfte Frauen. Die meisten würden sich niemals als „Gamer“ bezeichnen und sie sitzen zum Spielen auch nicht stundenlang vor ihren Konsolen. Sie spielen nebenbei, auf ihren Handys, Tablets oder in sozialen Netzen. Aber auch in den sozialen Medien wie Facebook oder Twitter stecken sehr viele Spiele-Aspekte: Man sammelt Follower und Likes und erstellt sich mit seinen Profilen im Grunde Avatare. Viele Nutzer nehmen das so gar nicht wahr. Computerspiele, welcher Art auch immer, sind als Medium mittlerweile sehr weit verbreitet und haben damit natürlich kulturelle und gesellschaftliche Auswirkungen.     

Über ganz spezielle Auswirkungen wird ja immer wieder diskutiert, wie zum Beispiel die Förderung gewalttätigen Verhaltens durch Gewaltspiele.
Was wir tun wollen, ist Computerspiele im Kontext ihrer Nutzung wissenschaftlich zu betrachten, um genau solche gesellschaftlichen Diskurse auch aus einer neutralen Position aufzuarbeiten. Bis jetzt werden sie häufig geführt zwischen besorgten Eltern, engagierten Spielern, ökonomisch interessierten Industrievertretern und der Presse, die meist alle Interesse daran haben, Computerspiele auf eine bestimmte Weise darzustellen.  

Als kulturelles Gut auf gleicher Höhe mit Literatur und Filmen sind Computerspiele noch nicht angekommen. Woran liegt das?
Das hat mehrere Gründe: Bis jetzt geraten – aus ökonomischen Gründen – viele künstlerisch wertvolle Games noch kaum an die Öffentlichkeit. Und es gibt viele Menschen, die können nicht spielen, und selbst wenn sie es motorisch hinkriegen würden, dann wollen sie nicht. Im Prinzip ist es das Gleiche wie mit Rock’n’Roll oder Comics. Anfangs galten sie als das Verderben der Jugend, heute ist diese Jugend alt, die Songs werden als Oldies im Radio rauf und runter gespielt und Graphic Novels stehen in den Bibliotheken. Viele aus der älteren Generation werden diesem Medium einfach nichts mehr abgewinnen können. Wir haben da keine missionarischen Absichten. Aber schon jetzt kommt auf jeden 15-jährigen Spieler ein 55-jähriger.  

Soziale Medien haben Spielcharakter, es gibt Serien als Computerspiele, Fernsehkrimis, die man online fertig lösen soll, und mit Newsgames werden uns politische Ereignisse und gesellschaftlich Entwicklung erklärt. Wird unsere ganze Mediennutzung bald nur noch aus Spielen bestehen, weil alles andere zu langweilig wird?
Klar verändert das unser Verhalten. Wir gewöhnen uns an das Belohnungssystem der Spiele. Wenn wir joggen gehen, wollen wir nicht mehr nur joggen, sondern von unserer Smartwatch Punkte dafür bekommen und uns mit anderen messen. Spielekonzepte finden überall im Alltag Anwendung, darum müssen wir den Spielbegriff überdenken. Für mich gehören Spiel und Spaß nicht mehr zwangsläufig zusammen. Bei Filmen ist es ja genauso. Niemand würde sagen: „Schindlers Liste“ war eine Mordsgaudi, aber es ist eben ein sehr guter Film. Spiele können mehr als nur Spaß machen, nichtsdestotrotz wird nicht alles zum Spiel werden. Das Computerspiel wird einfach seinen Platz neben den anderen Medien finden.  

Wer sollte sich denn nun eigentlich auf einen Master in Computerspielwissenschaften bewerben?
Jeder, der Interesse daran hat, das Medium weiterzubringen. Man muss dafür nicht leidenschaftlicher Gamer sein, auch wenn es natürlich schön ist, wenn die Studenten ihr Medium kennen. Erwünscht ist ein Bachelor in Medienwissenschaft oder Informatik oder in einem der damit verwandten Fächer. Beides wäre am besten, aber die Kombination gibt es nicht häufig. Was noch fehlt, können Studenten in entsprechenden Seminaren bei uns nachholen.  

Und danach?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Man kann in der Spiele-Industrie anfangen. Von allen Kreativwirtschaften ist sie derzeit die am schnellsten wachsende. Die können gar nicht genug gute Leute finden. Es gibt aber auch die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Und dadurch, das Spielekonzepte immer mehr in alle möglichen Bereiche eingeführt werden, braucht man Gamedesigner plötzlich an Stellen, an die man bis vor kurzem noch nicht gedacht hätte: vom Community-Management bis zur Altenpflege.  

Und mit welchem Spiel hat es bei Ihnen angefangen?
Mit „Defender“ und „Pacman“ Anfang der Achtziger auf der Atari-Konsole eines Freundes.  



Prof. Dr. Jochen Koubek

Erinnerung zu verleihen

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Und dann steht da Johnny Depp. Einfach so, nachmittags im McDonald’s. Ich also nichts wie hin, und sag’ zu ihm: "Fluch der Karibik, super Film!" Da nimmt der sein Plastikmesser vom Tablett und fängt an, durch die Luft zu fechten. Und spießt damit meinen Burger auf!

Krasse Geschichte, hm?

Vermutlich kämen nur amerikanische Wissenschaftler auf die Idee, mit so einer Anekdote einen Aufsatz in einem Fachmagazin wie "Applied Cognitive Psychology" zu beginnen. Aber das Team von Forschern aus Dallas, Texas, tut das aus einem Grund: Die Geschichte von Johnny Depp und dem Plastikmesser erklärt das Prinzip des "memory borrowing". Und dabei, so lernt man bei der Lektüre, handelt es sich um ein Massenphänomen.



Zumindest wenn es Fotos gibt, kann man davon ausgehen: Japp, ich war dabei. 


Mal angenommen, ein Kumpel hätte die Geschichte von Johnny Depp erzählt. Ein paar Monate später fiele nun in einer lockeren Kneipenrunde das Gesprächsthema zufällig auf Erlebnisse mit Prominenten. Angenommen, Freund A. erzählt, wie er mal neben Christoph Daum am Flughafen stand. Freundin B. sagt, sie habe ja mal Shaggy im P1 getroffen. Eine Geschichte führt zur nächsten.

Was die Wissenschaftler nun in ihrer Studie herausgefunden haben, ist folgendes: Mehr als die Hälfte der 18- bis 40-Jährigen würde in Erwägung ziehen, die Anekdote des Kumpels mit Johnny Depp zu erzählen. Und zwar so, als hätten sie sie selbst erlebt. Sie würden sich die Erinnerung "ausleihen".

Menschen mit einer guten Geschichte zu unterhalten, ist höchst befriedigend. Das weiß die Psychologie längst. Sie weiß ebenfalls, dass wir beim Erzählen von Anekdoten sowohl die Sprache als auch die Details variieren, je nachdem, wem wir sie gerade erzählen. Wir verzerren, über- oder untertreiben oder verschweigen Einzelheiten bewusst und unbewusst. Wir passen unsere Erlebnisse den Erwartungen unserer Zuhörer an.

So weit, so bekannt.

Dass allerdings 56,8 Prozent der Befragten Studenten schon mehrmals eine ganze Geschichte (oder ein Detail) von jemand Drittem geliehen haben – das hat die Forscher aus Dallas dann doch überrascht.

Das Ausleihen von Erinnerungen ist bequem - aber irgendwann glaubt unser Hirn die Lüge selbst.



Warum ist das "Ausleihen" von Erinnerungen so weit verbreitet? Die Forscher sagen: Weil witzige oder unterhaltsame Erfahrungen ein Gespräch flüssiger und spannender machen. Und weil es einfach leichter ist, eine Geschichte als eigene auszugeben, als erst umständlich den Kumpel C. einzuführen, "den ihr jetzt zwar nicht kennt, aber der mir letztes Jahr mal was total lustiges über Johnny Depp erzählt hat".

Die Studie belegt aber auch einen etwas unheimlichen Effekt: Das vorübergehende Borgen einer Geschichte führt dazu, dass sie dauerhaft als eigenes Erlebnis gespeichert wird. Ein Drittel der Befragten war sich zum Beispiel unsicher, ob ein länger zurückliegendes Erlebnis wirklich ihr eigenes oder doch ein ausgeliehenes war. Und 53 Prozent hatten schon mal jemand anderen dabei erwischt, wie er eine Geschichte als die eigene ausgab, die eigentlich SIE erlebt hatten. Oder das zumindest dachten, denn vielleicht irrten sie sich ja auch.

Den Streit um das "Eigentum an Erinnerungen" hat die Psychologie bisher vor allem bei Zwillingen untersucht: Je näher sich zwei Menschen sind (Zwillinge sind sich demnach am nächsten, gefolgt von Geschwistern und besten Freunden), desto wahrscheinlicher ist es, dass der eine ein Erlebnis des anderen als eigene Erinnerung abspeichert. (Bei unglücklichen Erlebnissen oder Fehlschlägen ist es interessanterweise umgekehrt – die schreibt man häufiger dem anderen zu, auch wenn sie die eigenen sind.)

Wir lernen daraus: "Memory borrowing" ist unter jungen Erwachsenen alltägliches und akzeptiertes Verhalten. Es geschieht ständig, es soll uns witziger und spannender machen. Klingt banal, könnte aber wichtig sein, zum Beispiel für psychologische Gutachten: Denn das Ausleihen von Erinnerungen kann, ohne dass man’s merkt, zu einer fixen Überzeugung werden. Man ist sich irgendwann sicher, dass man selbst Johnny Depp getroffen hat, weil man es so oft erzählt hat. So verändern sich mit den Menschen, die uns Dinge erzählen, auch unsere eigenen Lebensgeschichten. Wir fälschen unsere Biografie, ohne dass wir es merken.

Alter Hase, junges Häschen

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Vielleicht eine der schönsten Abschiedsszenen der Filmgeschichte: Bill Murray und Scarlett Johansson auf den überfüllten Straßen Tokios. Sie auf Zehenspitzen, er flüstert ihr ins Ohr, ein Kuss, vorbei.  Die Liebesgeschichte in Lost in Translation war gerade deswegen so schön, weil sie ungewöhnlich war. Ein alternder Mann in der Midlife-Crisis, eine junge schöne Frau in der Quarterlife-Crisis. Sie begegnen und verlieben sich und trotzdem baumelt danach kein Ring an Scarletts Finger.

[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/wyp6RlmQQihHy/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/wyp6RlmQQihHy/giphy.gif"] Tipptapp: Die Liebesgeschichte zwischen Scarlett und Bill bleibt unschuldig.

Tatsächlich war Scarlett damals 18, Bill Murray 52. Seitdem blieb es in ihren Filmen meist bei großen Altersunterschieden. Und vielen ihrer jungen Kolleginnen geht es nicht anders, wie die Statistik zeigt. Ob Jennifer Lawrence oder Emma Stone: In Produktionen schmiegen die sich eher an schütteres Brusthaar, als an eine Hühnerbrust. Die Tendenz ist an sich kein neues Phänomen in Hollywood. Doch weder Emma Stone noch Scarlett Johansson durften in ihrerer Karriere mal einen Gleichaltrigen küssen. Klingt eher nach Extrem, als nach Tendenz.

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[plugin imagelink link="http://img1.nymag.com/imgs/daily/vulture/2015/06/01/01-emmaStone-new.nocrop.w529.h700.2x.png" imagesrc="http://img1.nymag.com/imgs/daily/vulture/2015/06/01/01-emmaStone-new.nocrop.w529.h700.2x.png"]  

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Der Vergleich zeigt: Scarlett bleibt die Spitzenreiterin der Altherrenfantasie. Zusammenhang? Vielleicht der: Johansson, einst Muse von Woody Allen, wurde 2013 zur Sexiest Woman Alive gewählt. Je heißer die Darstellerin, desto größer ihr Lolita-Potential.

Bei Männern scheint sich jedoch ein anderer Trend abzuzeichnen: Sind sie jung und knackig, scheint ein kurzer Abstecher in ältere Gewässer ein idealer Karrierestart zu sein. Tom Cruise oder Brad Pitt machten das bereits erfolreich vor – sie waren anfangs der junge Lover einer deutlich Älteren. Um fortan neben jungen Damen zu spielen.

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Und wer macht diesem Misstand jetzt endlich ein Ende? Johnny Depp. Der kann sowohl privat als auch beruflich mit allen Altersklassen. Na, also. Hurra!
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Eine Frage wäre aber immer noch nicht geklärt: Was zur Hölle flüstert Bill Murray Scarlett in der Abschiedsszene ins Ohr???

"Wer sich langweilt, ist selbst schuld"

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Schon erstaunlich, wie entspannt Gomma-Chef Mathias Modica (41) zum Interview erscheint. Die Jubiläums-Party zum 15. Label-Geburtstag steht an, die Compilation „Pop Futuro“ ist gerade einen Monat draußen, obendrein hat Gomma eine neue Ausgabe des Postermagazins „Amore“ veröffentlicht. Zwischendurch nimmt Modica als „Munk“ noch ein neues Album auf. Stress? Merkt man ihm nicht an. Stattdessen nippt er gelassen an einem Glas Mineralwasser vor dem Katopazzo, einer Bar in der Maxvorstadt, zu deren Betreibern er gehört. Das ist er nämlich auch noch: Hobby-Gastronom.
 
jetzt.de München: Mathias, wann war dir zuletzt wirklich langweilig?
Mathias Modica: Eigentlich nie. Langeweile ist unnötig, denn es gibt so viele schöne Sachen, die man machen kann. Wer sich langweilt, ist selbst schuld.



Jacke zu und los: Mathias Modica hat viel zu tun.

Machst du deshalb so viele verschiedene Sachen? Ist dir Musik allein zu eintönig?
Irgendwie schon. Ich komme aus einem sehr kulturellen Haushalt, mein Vater ist Musiker und unser Haus war immer voller Theater- und Kunstmenschen. Als Kinder sind wir viel gereist und in Museen gegangen, das war Teil der Erziehung. Wer einseitig interessiert ist, ist ein langweiliger Gesprächspartner.

Dein Vater war Rektor an der Münchner Hochschule für Musik. Wie findet er deinen Werdegang?
Ihm wäre natürlich lieber gewesen, wenn ich Pianist geworden wäre und mit den Berliner Philharmonikern spielen würde. Aber mein Klavierstudium habe ich mit 22 geschmissen. Inzwischen sieht er, dass wir zwar Popkultur machen, aber nicht auf einer Massenverblödungsebene, sondern mit der Idee, etwas Neues zu schaffen.

Hast du deshalb vor 15 Jahren mit Jonas Imbery Gomma gegründet?
Wir haben beide Platten gesammelt und Musik gemacht. Andere Plattenfirmen haben aber nie auf unsere Anfragen reagiert, also mussten wir es selbst in die Hand nehmen. Unsere erste Compilation hieß „Anti-NY“ und sie sollte ein Statement gegen das sein, was damals der Mainstream in der elektronischen Musik war. Nach diesem Prinzip haben wir auch unsere Partys veranstaltet. Disco-Abende während der Hochphase von Techno. Wenn die Leute sagten: „Was soll das denn, geht ja gar nicht“, dann fühlte ich mich bestätigt.

Woher diese Liebe zum Gegenreflex?
Das war auch Teil der Erziehung. Mein Vater hat immer gepredigt: Was alle machen, sollte man grundsätzlich vermeiden. Wenn jeder in den Urlaub nach Mallorca fährt, ist das kein Beweis, dass es gut ist. In die Gegenrichtung zu laufen hat uns auch als Label immer ausgemacht.

Wogegen wolltet ihr euch aufstellen?
Die elektronische Musikszene war um 2000 sehr scheuklappenmäßig, das fanden wir langweilig, da gab’s keinen Fortschritt. Wir wollten keines dieser Labels werden, die immer die gleiche musikalische Idee verfolgen, im besten Fall einen kleinen Hype erleben und tot sind, sobald der Hype vorbei bist.

"Heute nennt ja die halbe Welt Giorgio Moroder als Hauptinspiration."


Nach welchen Kriterien habt ihr dann eure Acts ausgesucht?
Am Anfang haben wir viele Freunde unter Vertrag genommen, die selbst keine Plattenfirma gefunden haben. Davon abgesehen müssen Gomma-Künstler eine klare, eigenständige Sprache haben. Es muss spürbar sein, dass sie was Eigenes tun. Und die meisten unserer Acts sind Instrumentalisten, die in irgendeiner Weise eine musikalische Ausbildung und Ahnung von Musiktheorie haben und wissen, wie man eine Melodie schreibt.

Über Gomma heißt es oft, dass ihr den Munich-Disco-Sound von Giorgio Moroder fortführt. Seht ihr das selbst auch so?
Nein, wir nehmen diesen Vergleich aber keinem übel. Wir sind nun mal aus München und haben uns für dieses Disco-Phänomen zu einer Zeit interessiert, in der das sonst niemand getan hat. Heute ist ja die halbe Techno-Welt dem Disco verfallen und nennt Moroder als Hauptinspiration. Wir haben uns damals aber total reingefuchst und die absurdesten Disco-Platten ausgegraben. Diese Art von Disco hat uns interessiert: Elektronische Musik, aber mit echten Instrumenten.

Du hast mal gesagt, in München gebe es wahnsinnig viele „A-bisserl-was-geht-immer-Leute“, die sich nicht aus dem Mainstream hinaus wagen. Konntet ihr dadurch schneller auffallen?
In München gibt es halt eine große bürgerliche Schicht, die lieber erst mal alte Werte bewahren will und alles Fremde kritisch analysiert. Das ist eine Haltung, die der Stadt sehr nützt, die kulturell aber bremsen kann. Darauf aufbauend war es relativ einfach, eine Gegenposition zu beziehen und Aufreger zu schaffen. Wobei es hier auch immer Leute gab, die kreativ auf allerhöchstem Niveau gearbeitet haben. Im Design zum Beispiel Mirko Borsche und Thomas Kartsolis, mit denen wir seit unserer Gründung zusammenarbeiten. Die haben uns immer gestützt, das war immer auch das Gomma-Fundament.

Ihr wart mit dem Label ziemlich schnell auch in Städten wie London, Paris oder Tokyo erfolgreich. Habt ihr mal überlegt, aus München wegzugehen?
Ich selbst habe fast fünf Jahre in Marseille gelebt, seit drei Jahren pendle ich jetzt zwischen Kreuzberg und Haidhausen. Aber unser Büro war immer hier. Vor allem aber haben wir unsere ganze Infrastruktur hier, wir arbeiten mit sehr vielen Grafikern und Leuten aus der Kunstakademie zusammen. Darum können wir hier einfacher Projekte realisieren als in einer anderen Stadt.

>>> Wie man eine Bar am besten einrichtet und warum ein Innenarchitekt dabei keine Rolle spielen sollte.
[seitenumbruch]
Wie hat München sich in den vergangenen 15 Jahren verändert?
Die Stadt ist viel kulanter geworden im Umgang mit Bars und Subkultur. Das hat München unfassbar viel gebracht. Die Stadt braucht innovative Leute, die hier bleiben oder herziehen, wenn sie nicht irgendwann zu einem Altenheim für Gutbetuchte verkommen will. Diese Leute wollen ein lebendiges, interessantes Nachtleben. Ein Diplomingenieur, der mit Ende 20 hierher kommt, auch. Das hat die Stadt jetzt, man hat Popkultur wohl als Standortfaktor erkannt. In den Neunzigern war alles tot, allein schon wegen der Sperrstunden.

http://www.youtube.com/watch?v=AftdHOR78iM

Wie hat sich dadurch die Clublandschaft verändert?
Es gibt einfach viel, viel mehr als früher. In Europa findet man vielleicht drei Städte, in denen es mehr Clubs gibt als hier. London, Berlin und wahrscheinlich noch Ibiza-City. In München konnte man viele Bands sehen, lange bevor sie in andere Städte kamen. Dafür sollten eigentlich die Jungs vom Atomic Café einen Preis bekommen: Als es deren Laden noch gab, haben die ja unzählige Bands sehr früh nach München geholt.

"Grundregel: Lass eine Bar niemals von einem Innenarchitekten einrichten."


Seit 2002 betreibst du an wechselnden Orten die Rubybar, bist außerdem Teilhaber des Katopazzo und hast vor ein paar Wochen die Miao Bar am Hauptbahnhof eröffnet. Braucht ein Label heute mehrere Standbeine?
Nein, mir macht das einfach Spaß. Einen Raum zu finden, ihn umzugestalten, sich mit Künstlern irgendwelche Sachen zu überlegen, die es in der Stadt vorher nicht gab. Es ist ein Hobby.
Das sich aber schon rechnen sollte. . .
Klar, draufzahlen will keiner. Ich betreibe diese Bars ja mit Freunden, weil ich selbst viel unterwegs bin. Das läuft alles recht familiär und soll in erster Linie Spaß machen. Ernähren müssen wir uns davon nicht, darauf hätte ich keine Lust.

Was macht für dich eine gute Bar aus?
Ähnlich wie bei Gomma-Platten: Es muss eine eigenständige Idee dahinter stecken, sie darf sich nicht an irgendeiner Mode orientieren. Die Einrichtung soll bewusst irritieren. Wenn manche Gäste sagen, dass es es furchtbar aussieht, bin ich beruhigt, weil ich offensichtlich nicht den Mainstream-Geschmack bediene.

Also wieder dieser Gegenreflex.
Natürlich. Die Grundregel ist: Niemals von einem Innenarchitekten einrichten lassen, sondern von bildenden Künstlern. Es soll ja nicht aussehen wie in einer Hotellobby.

Und welches ist momentan das beste Viertel in München, um eine Bar aufzumachen?
Nachdem das Glockenbachviertel jeden Charme verloren hat, würde ich sagen: die Randviertel, Giesing und Moosach zum Beispiel. Und natürlich der Hauptbahnhof. Das ist das einzige Einwanderer-Viertel in München, die Atmosphäre ist offen und international. Seit ich mich dort öfter aufhalte, mag ich München doppelt so gern.

Bis zum 15-Jährigen muss man es als Plattenfirma erst mal schaffen – vor allem seit Downloads und Streams an den Verkaufszahlen sägen. Ihr habt eure Tracks in den ersten Jahren gleich selbst auf illegale Plattformen geladen. Hat das was gebracht?
Ich denke schon. Als wir das Label gegründet haben, war nicht wirklich abzusehen, dass ein paar Jahre später die Musik überall kostenlos zu haben ist. Aber es war klar: Es wäre Blödsinn, sich dagegen zu sperren. Stattdessen haben wir versucht, Neuerungen zu verstehen und sie für uns zu nutzen. Die Digitalisierung hat sich für uns als extrem produktiv herausgestellt, ohne sie gäbe es uns wahrscheinlich nicht mehr.

Wieso?
Davor hätte ich irre viel Geld ausgeben müssen, um Aufmerksamkeit in Ländern wie Kanada oder Mexiko zu bekommen. Hätte einen Promoter zahlen und Platten dorthin schicken müssen. Heute bist du über das Netz direkt in Kontakt mit den Leuten und wir haben überall auf der Welt Fans, die kostenlos unsere Videos, News und Musik weiterverbreiten. So können unsere Künstler überall Konzerte spielen und werden weltweit auf Festivals eingeladen.

Viele Labels jammern trotzdem noch.
Klar, für viele war es auch der Ruin. Aber Veränderung gibt es immer und bis man versteht, wie die neuen Regeln funktionieren, ist halt Wilder Westen. Diese Chaos-Phase musst du überleben. Ich mag den Wilden Westen.

Manche eurer Acts sind nach ein paar Platten zu größeren Labels abgewandert und wurden weltbekannt. Nick McCarthy von Franz Ferdinand, der mit seiner ersten Band bei Gomma angefangen hatte, WhoMadeWho oder Daniel Avery. Frustriert das nicht?
Nein, das war immer okay. Wir waren nie ein Label, das seine Künstler bis zur Popstar-Reife begleiten kann. Wir machen das aus Passion und bringen Musiker raus, die wir cool finden. Wenn ein Act dann wirklich zündet, kann ich nicht leisten, was er womöglich bräuchte: die ganze Management-Arbeit, der finanzielle Support bei Konzerttouren. In manchen Fällen waren wir an den späteren Platten beteiligt, außerdem verkaufen sich die frühen Alben erfahrungsgemäß ganz gut, wenn ein Act zu einer größeren Firma wechselt.

Gibt es Momente, in denen du überhaupt keine Musik hören willst?
Klar. Wenn ich am Sonntagabend von einer viertägigen DJ-Tour zurückkomme und tagelang nur lauten Sound um die Ohren hatte, ist es auch mal schön, an der Isar zu sitzen und den Vögeln zuzuhören.

Sauerei

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Der Kollege L. hat die unangenehme Angewohnheit, bei Themenvorschlägen zu fragen: „Und was sagt uns das jetzt über das 21. Jahrhundert?“ Gute Frage natürlich, aber sie macht auch schnell die flauschigsten Ideen zunichte. „Nix!“, wollten wir deshalb hier schon im vorauseilenden Gehorsam rufen. „Sind kleine Schweinchen. Sind niedlich. Fick die Meta-Ebene.“ Aber das ist ja Blödsinn.

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Denn wenn Tier-Content zur schnellen Entspannung Klicks bringt (ja, ja: auch hier), sagt das so viel über das 21. Jahrhundert wie Sonntagsumfragen. Und wenn Tier-Content plötzlich wieder in die Realität durchbricht, sagt das vielleicht sogar noch mehr. Konkret werden gerade zwei Meldungen zum Thema im Netz geteilt:

Die britische Nottingham Trent University hat jüngst ein paar Ferkel angeschafft. Studenten dürfen sie fünf Minuten lang streicheln, um so vom Prüfungsstress runterzukommen. Und eine Behörde der Stadt Las Cruces im Bundesstaat New Mexico hat etwas eingerichtet, das die Mitarbeiter „the library“ nennen. Etwas despektierlich vielleicht, denn sie können dort Katzen ausleihen und mit an den Schreibtisch nehmen. Zwei Beispiele von vielen.

[plugin imagelink link="http://ak-hdl.buzzfed.com/static/2015-06/2/16/enhanced/webdr07/enhanced-3665-1433277744-6.jpg" imagesrc="http://ak-hdl.buzzfed.com/static/2015-06/2/16/enhanced/webdr07/enhanced-3665-1433277744-6.jpg"]Raum mit Katzen

Der Hintergrund ist denkbar banal: Das Streicheln von Tiere, hat eine Langzeitstudie vor ein paar Jahren herausgefunden, senkt den Blutdruck, beruhigt den Puls und stärkt das Immunsystem. Und die Stimmung, die hebt es auch. Eigentlich wohl erst bei acht Minuten täglich. Aber das ist jetzt egal. Die Katzen aus New Mexiko kamen zudem sogar aus dem Tierheim und ein paar haben wohl ein Zuhause gefunden.

Toll also. Aber: Schon auch auf diese 21.-Jahrhundert-alles-muss-auch-irgendwie-Spaß-machen-dann-passt-es-schon-Art zum Kotzen. Weil: Ein paar Katzen (ein Kickertisch, eine Kissenecke, ein Videospiel-Raum, was mit Skaten) sind schnell angeschafft. Vielleicht wäre den Mitarbeitern aber eigentlich doch mehr geholfen, wenn sie eine zusätzliche Kraft hätten, die verhindern würde, dass der mit Katzen zu senkende Blutdruck überhaupt so hoch wird. Und vielleicht hätten die Studenten weniger Angst vor ihren Prüfungen, wenn die Pisa-Reformen ihnen vor ein paar Jahren nicht so viel Druck gebracht hätten.

Will sagen: Katzen sind in diesem Fall wie Tarifverträge, Überstundenvergütung oder Gewerkschaftsreden - nur in flauschig. Wichtig. Gut gegen Symptome. Aber eigentlich schon eher Teil des Problems, nicht der Lösung.

Hängt zu hoch? Okay. Dann weiter mit Ferkeln.

http://www.youtube.com/watch?v=U_4XWcDSR8w

Meine Straße: Taubenstraße

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Niemand kennt eine Straße so gut wie die Menschen, die in ihr leben. Deshalb bitten wir hier regelmäßig junge Münchner, uns ihre Straße zu zeigen – die schönsten Ecken, die besten Läden, die schrulligsten Typen, die nettesten Anekdoten. Heute:




Laura, 31, Journalistin


Die Taubenstraße in der Au ist so klein und kurz, dass nicht einmal die Taxifahrer sie kennen. Ich komme ursprünglich aus Hamburg und habe damals direkt auf der Reeperbahn gewohnt, das war das absolute Gegenprogramm.

Am Ende der Straße werden die Häuser kleiner und man kann sich vorstellen, wie es hier aussah, als München noch aus lauter Dörfern bestand. Gleich hinter den Häuschen geht es den Nockherberg hoch, hier gibt es kleine Mini-Terrassenbeete, in denen Gemüse und Blumen wachsen, sie sind jeweils etwa so groß wie mein Balkon und gehören einigen Anwohnern. Zwei, drei öffentliche Wege führen aber zwischen ihnen hindurch und ich gehe gern dort entlang oder setze mich auf die Stufen und gucke hinunter auf die Straße. Es gibt auch zwei Kruzifixe und wenn du das Stadtpanorama ausblendest, denkst du, du bist in Tirol.

Immer zur Nockherbergzeit laufen hier viele in Trachten gekleidete Jugendliche herunter und lachen und albern rum, und ich sitze dann auf meinem Balkon und gucke runter wie eine alte Oma und beobachte sie.

In der Österia kaufe ich meinen Rotwein, die haben dort eine gute Auswahl, das ist sehr praktisch. Mein Stammwirtshaus aber ist das Wirtshaus zum Alten Kreuz gleich um die Ecke in der Falkenstraße. Die erkennen mich dort mittlerweile am Telefon schon an meiner Stimme. Ich muss nur „Hallo!“ sagen, da ruft die Frau am anderen Ende schon in die Küche: „Kleiner Schweinsbraten zum Abholen mit zwei Kartoffelknödeln, viel Soße, viel Kruste, ohne Kraut!“ Das ist mal echtes Heimatgefühl.

In meiner Straße, aber überhaupt in der näheren Gegend, gibt es noch viele alte Ladengeschäfte im Erdgeschoss, die zu Wohnungen geworden sind oder seltsamen Hybrid-Orten, die ich noch nicht ganz durchschaut habe. Zum Beispiel gegenüber meines Hauses, da ist ein Laden unten drin, der lauter alte Uhrenwerbungspappaufsteller von Breitling oder Rolex im Schaufenster hat, drinnen steht aber nur ein alter Ledersessel und ein Schreibtisch. Manchmal sitzen da Typen und reden, aber ich habe noch nie jemanden durch den eigentlichen Eingang rein- oder rausgehen sehen. In einem anderen Laden hier um die Ecke ist es ähnlich: Da sitzen manchmal Freunde zusammen und trinken, aber es scheint weder ein Laden, ein Büro, eine Wohnung, noch eine öffentliche Bar zu sein.

In der Falkenstraße um die Ecke gibt es seit einigen Jahren das Solino Café, mit kleinen Tischchen draußen und einem Kunstverkauf drinnen. Es ist eine schöne Alternative zu anderen Cafés wie etwa das Miss Lilly’s hier in der Gegend.

Und dann gibt es noch den Eiermann, der zu meinem Leidwesen jeden Sonntag um 13 Uhr mit seinem VW-Bus vorgefahren kommt und ewig seine laute Klingel schüttelt. Das ist zwar süß, aber ich finde es, wenn ich ehrlich bin, auch total nervig, denn gerade Sonntags schlafe ich um 13 Uhr noch.

Ich mache manchmal kleine Feiern mit meinen Freunden auf meinem Balkon, durch mein Küchenfenster werden Drinks serviert und wir sitzen bis spät nachts zusammen und hören Musik. Das ist wirklich erstaunlich in dieser ruhigen, kleinstädtischen Straße: Man kann laut Musik hören, ohne, dass jemand die Polizei ruft.

Und ich muss unbedingt noch meinen tollen Hausmeister erwähnen, der immer so lieb zu mir ist, weil er sagt, dass ich ihn an seine Tochter in Griechenland erinnere. Und er erinnert mich auch an meinen Vater! Neulich wollte ich mein Fahrrad gerade zur Reparatur bringen, da hat er es mir aus der Hand genommen und gesagt: „Das repariere ich für dich.“ Trotz meiner Widerrede hat er darauf bestanden und einige Tage später stand mein perfekt hergerichtetes Rad im Hinterhof.

Trost im Taxi

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Wenn du irgendwo in der Stadt stehst und sehr schlimm weinen musst, dann kannst du einfach nicht in die U-Bahn steigen. Und da zwischen lauter Menschen stehen, die dann sehr auffällig in eine andere Richtung schauen, aber ab und zu aus dem Augenwinkel doch rüberschielen, weil sie der Kummer fremder Menschen fasziniert. Also rufst du ein Taxi.





Ich zumindest habe das mal so gemacht. Da saß ich dann schluchzend auf der Rückbank, der Taxifahrer fragte, was denn passiert sei, ich stotterte irgendwas von betrogen und verlassen worden sein, alles sei so traurig etc. pp. Und dann passierte etwas sehr Komisches und sehr Schönes: Der Taxifahrer streckte seinen Arm nach hinten und sagte: „Nimm meine Hand!“ Er hielt dann meine Hand und sagte lauter tröstende Sachen. Dass alles wieder gut werde, dass er nicht verstehen könne, wie man mich denn verlassen könne (und dass man so was bei ihm daheim in Nigeria niemals machen würde, da heirate man nämlich einfach und gut ist!) und immer so weiter, während er an Ampeln hielt, an Kreuzungen die Vorfahrt gewährte und Radfahrer überholte.

Rückblickend ist das natürlich eine ziemlich jämmerliche und peinliche Episode aus meinem Leben. Aber ich habe damals eine der wichtigsten Lektionen für Großstadtbewohner gelernt: Wenn es dir richtig schlecht geht, dann sind die Dienstleister deiner Stadt für dich da.

Klar, als erstes sind deine Freunde für dich da. Aber manchmal ist man eben auch allein mit seiner schlechten Phase, dann geht man raus und läuft ziellos rum, damit einem daheim nicht die Decke auf den Kopf fällt. Und da sind sie dann, all die anderen Menschen, und vor allem die, deren Job es ist, irgendwie für dich zu sorgen. Menschen, die jeden Tag unzählige Menschen sehen, die etwas von ihnen wollen, und die darum sehr genau erkennen können, wie es denen wohl gerade geht. Der Dönermann, bei dem man sich was zu Trinken kauft, der einem kurz ins müde Gesicht mit den exorbitanten Augenringen schaut und sagt: „Es gibt so Tage, da braucht man einfach ein Bier!“ Die Apothekerin, bei der man ein Schlafmittel kauft, und die einem auf diese wundervoll mütterliche Art „alles Gute“ wünscht. Die Friseurin, die einem den Kopf massiert und sagt, dass man wirklich schöne Haare habe und es sehr viel Spaß mache, sie zu schneiden. Das alles ist unfassbar tröstlich.

Zum einen natürlich, weil es immer schön ist, wenn Menschen nett zu einem sind. Wenn sie empathisch sind und sehen, dass es einem nicht so gut geht. Zum anderen aber vor allem, weil es in diesem Falle fremde Menschen sind, zu denen eine gewisse freundliche Distanz besteht, die ein erhitztes Gemüt gut runterkühlen kann. Sie sind nicht wie die Fremden aus der U-Bahn, denen es wahrscheinlich unangenehm ist, wenn du vor ihnen in Tränen ausbrichst, und die lieber nichts mit jemanden zu tun haben wollen, der aussieht, als habe er drei Nächte lang kein Auge zugemacht. Sondern Fremde, deren Job es ist, nett zu sein. Man weiß einfach, dass man hingehen kann, dass man nicht alleine ist, egal, wie alleine man sich grade fühlt.

Man kann sich immer in ein Taxi retten, es fährt ja sowieso rum, mit weichen Sitzen und schlechter Radiomusik drin. Man kann immer in die Dönerbude gehen, sie hat ja sowieso auf, das Licht brennt und es ist warm. Man kann immer einen Friseurtermin machen, sie schneiden da ja sowieso Haare und es riecht nach Pflegeprodukten. Kurz: Man stört die Dienstleister ja nicht, wenn man hingeht. Beziehungsweise: Es ist unser Job, sie zu stören, und es ist ihr Job, sich von uns stören zu lassen. Sie nehmen einen, wie man kommt, sie stellen keine Fragen, man muss sich nicht erklären, und sie lindern, indem sie irgendein kleines Bedürfnis befriedigen, das man gerade hat. Die Dienstleister deiner Stadt kleben dir lauter kleine Pflaster auf die große Wunde.

Sie sind aber nicht nur Pflasterverteiler. Sie sind auch Relativierer. Ganz unbewusst. Wenn man rausgeht und rumläuft und der Apothekerin zusieht, wie sie die Schubladen aufzieht und Schachteln raussucht, oder dem Dönermann, wie er Salat ins Fladenbrot stopft, dann merkt man sehr deutlich, dass das Leben einfach weitergeht. Die Apothekerin hat schon letzte Woche Schubladen aufgezogen, als noch alles gut war, sie tut es jetzt und sie wird es vermutlich auch noch tun, wenn alles wieder gut ist. „Hier, an dieser Stelle“, denkt man, „haben schon tausende andere gestanden, denen es auch schlecht ging oder sogar schlechter.“ Und dann, in diese Relation gesetzt, ist alles nur noch halb so schlimm.

Ich habe nach dem ersten Mal übrigens noch ein zweites Mal im Taxi geweint. Da hat der Fahrer in sehr breitem Bairisch gesagt, ich solle einfach mal „a Hoibe“ trinken, dann werde das schon wieder. Und was soll ich sagen: Das war ein ziemlich guter Ratschlag!

Internet für alle

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Für die meisten Menschen in Deutschland ist Internetzugang eine Selbstverständlichkeit. Für Flüchtlinge nicht. In den meisten Flüchtlingsheimen gibt es kein Wlan. Rechtlich sind die Landkreise dafür zuständig, die finden allerdings oft Ausreden, warum es nicht nötig sei, dass Flüchtlinge in Übergangsheimen Zugang zum Internet haben. Die Initiative Refugee Emancipation engagiert sich für eine bessere Internetversorgung von Flüchtlingen in Brandenburg. Wir haben mit dem Gründer Initiative, Chu Eben, 47, gesprochen.


jetzt.de: Warum ist Internetzugang für Flüchtlinge so wichtig?
Chu Eben: Die Frage muss eigentlich lauten: Warum ist Internet für die Menschen so wichtig? Heute ist Internetzugang eben wichtig. Flüchtlinge bilden da keine Ausnahme, für sie ist es sogar noch wichtiger als für andere Menschen. Weil sie gerade erst hier angekommen sind, noch niemanden kennen, um mit ihrer Familie in Kontakt zu bleiben, um sich über das Asylrecht zu informieren und auch über das Land, in dem sie jetzt sind. Außerdem kann man online auch Deutsch lernen.  

Viele sagen, das Flüchtlinge auch in Internetcafés, öffentlichen Bibliotheken oder bei McDonald’s im Internet surfen könnten.
Viele Heime liegen einfach zu weit weg von Orten mit Internetcafés und Bibliotheken. Sehr oft sind die Heime sehr weit abgelegen vom Ortskern, die Fahrt bis zum nächsten Internetcafé können sich viele nicht leisten.   

Du warst selbst ein Flüchtling und hast in dieser Zeit deine Initiative gegründet. Wie kamst du dazu?
Ich habe sieben Jahre in einem Heim gewohnt und in dieser Zeit das Projekt mit der Internetversorgung angefangen. 2004 habe ich eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Es war damals teuer über das Handy mit der Familie zu telefonieren, ich hatte keine Mail-Adresse. Ich habe mich in dieser Zeit sehr isoliert gefühlt. Studenten haben mir ermöglicht, das Internet zu nutzen, das war eine große Erleichterung.  

Wie ist die Situation in den Heimen?
Die meisten Menschen wohnen da ja nur übergangsweise. Das heißt, sie können keinen normalen DSL-Anschluss beantragen. Mit den mobilen Geräten, die die meisten Flüchtlinge haben und nutzen, kommt man nicht so weit. Man braucht einen soliden Internetanschluss, das sollte nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit angesehen werden. Wir arbeiten ja nur in Brandenburg, aber deutschlandweit haben weniger als fünf Prozent der Flüchtlinge Zugang zum Internet. Es ist wichtig, dass wir alle Flüchtlinge mit einem Internetanschluss versorgen. Wir wollen Verträge mit den Heimen abschließen und dort Computerräume einrichten. Wir sammeln Spenden für die Computer und installieren Linux darauf. Der Internetverbindung, die wir dort aufbauen, können wir vertrauen. Dem Heim oft nicht.


Wie meinst du das?

Weil sie dem Amt Informationen weitergeben. Die Heimleitungen vertrauen den Flüchtlingen nicht, deshalb erlauben sie den Flüchtlingen oft nicht mal, kurz das Internet in ihrem Büro zu benutzen. Sie sagen: „Du könntest ja ein Salafist sein!“.  

Welche Probleme gibt es noch?
Grundsätzlich merke ich, dass die Politik das Problem der Internetversorgung von Flüchtlingen nicht wirklich beheben will. Vielleicht haben die Leute Angst, dass sich die Flüchtlinge im Internet zu einem politischen Widerstand organisieren könnten. Viele Heime wollen nicht, dass wir das umsetzen. Manche sagen, sie hätten keinen Raum für so etwas übrig. Oder dass es ja schon einen Gemeinschaftsraum gebe, wo man dann aber keine Computer aufbauen darf. Außerdem brauchen wir viele Freiwillige für unser Projekt. Das Problem ist ja nicht nur der Internet-Zugang.  

Sondern?
Während des gesamten Asylverfahrens werden die Flüchtlinge isoliert. Wir wollen nicht nur Internetzugang gewährleisten, sondern einen Ort schaffen, an dem man austauschen kann. Deshalb auch die Idee mit den Computerräumen, in denen man sich treffen und voneinander lernen kann. Wir organisieren Computerkurse und zeigen, wie man sich eine Wohnung sucht. Für viele Flüchtlinge ist es der einzige Ort, wo die Zersplitterung in die verschiedenen Gruppen im Heim aufgehoben wird.  

Inwiefern Zersplitterung?
Oft verbringen Syrer nur Zeit mit Syrern und Libyer Zeit mit Libyern. In unseren Räumen können sie sich kennenlernen. Wir sehen, dass bei diesen Begegnungen viel Wissen ausgetauscht wird. Das Internet erlaubt den Flüchtlingen, über ihre Situation in den Heimen zu berichten. Umgekehrt bringt die Anwesenheit der Freiwilligen in den Heimen die Heimleiter dazu, sich besser zu verhalten, weil sie wissen, dass jemand von außen sieht, in welchem Zustand ihr Heim ist. Die Flüchtlinge sollen in der Gesellschaft mitreden können. Damit die Gesellschaft auch von ihnen lernen kann.



Chu Eben

Jetzt darf jeder aufs Cover!

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In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ging ein wohlkalkuliertes Erdbeben durch das Internet. Anstatt Kim Kardashian, die ja mit ihren Nacktfotos das Internet durchschütteln wollte, hatte es ihr Stiefvater geschafft: In dieser Nacht wurde das Cover der neuen Vanity Fair veröffentlicht, das mit der Zeile „Call me Caitlyn“ den früheren Starathlethen Bruce Jenner als Frau, eben als Caitlyn, zeigt. Eine Doku-Soap hatte ihn während der Umwandlung begleitet.
 
[plugin imagelink link="http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2503325.1433256687/860x860/bruce-jenner-caitlyn-jenner.jpg" imagesrc="http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2503325.1433256687/860x860/bruce-jenner-caitlyn-jenner.jpg"] Die Reaktionen auf Jenners Schritt waren gemischt: Manche feierten ihn als neue Ikone der Transgender-Community, andere warfen ihm Kommerzialität vor und dass seine Realität nichts mit der von durchschnittlichen Transsexuellen in Amerika zu tun habe – schließlich war Jenner vorher bereits ziemlich reich. Sein Vermögen soll durch den Popularitätsschub auf 500 Millionen Dollar steigen.

Dass sich beide Positionen vielleicht gar nicht widersprechen, zeigt jetzt ein neuer Hashtag: Unter #myvanityfaircover posten derzeit zahlreiche Transgender unretouchierte Bilder von sich selbst als neue Covermodel mit entsprechender Unterzeile. Sie wollen damit sagen: „Schaut her, nicht alle Transsexuellen sind so perfekt hergemacht wie Caitlyn Jenner“. Gleichzeitig würdigen sie aber ihre Rolle als Vorkämpferin.

[plugin imagelink link="https://36.media.tumblr.com/27217967380667d1ee08e503987a56ac/tumblr_npcvlmibWQ1t1qb5po1_500.jpg" imagesrc="https://36.media.tumblr.com/27217967380667d1ee08e503987a56ac/tumblr_npcvlmibWQ1t1qb5po1_500.jpg"]
[plugin imagelink link="http://images.mic.com/78vxhcqx8cajb35io9795pzlzgo9welxqyayoar7dnxso4ijn8rl3gvisuc38zjk.jpg" imagesrc="http://images.mic.com/78vxhcqx8cajb35io9795pzlzgo9welxqyayoar7dnxso4ijn8rl3gvisuc38zjk.jpg"]

Anlass für die Aktion gab übrigens ein Blogeintrag von der in den USA sehr bekannten Transsexuellen Laverne Cox aus aus der Serie „Orange is the new black“. In dem Text setzte sie sich kritisch mit Jenners und ihrer eigenen Inszenierung als Trans-Stars auseinandersetzte:

„(…) But what I think they meant is that in certain lighting, at certain angles I am able to embody certain cisnormative beauty standards. Now, there are many trans folks because of genetics and/or lack of material access who will never be able to embody these standards“.

Sie rief dazu auf, auch weiterhin für die Vielfalt von Schönheitsidealen zu kämpfen, ein User stellte daraufhin eine Vorlage für das neue Vanity-Fair-Cover ein. Alles weitere ist Internetgeschichte.

charlotte-haunhorst

Mädchen, wie ist das mit euch und dem Push-Up?

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Liebe Mädchen,

Neulich, in der Fußgängerzone einer großen Innenstadt. Ich: wartend, an einer Wand lehnend. Neben mir: ein Grüppchen Mädchen, ebenfalls wartend, aber miteinander sprechend. Über BHs. Denn, so hörte ich, selbige zu kaufen, war wohl unter anderem der Grund für ihr Treffen in der Fußgängerzone. Ich war natürlich sehr erfreut über dieses willkommene Entertainment-Programm zur Überbrückung meiner Wartezeit. Aber dann schon auch ganz schön verwirrt.




 
Die Mädchen schien nämlich ein monumentales Problem zu plagen, das ich bislang gar nicht kannte: das Push-Up-Problem. Bei H&M gebe es ja gar nichts anderes mehr, sagte eine. Die Freundinnen nickten zustimmend und machten betroffene Gesichter.
 
Einige Tage später stieß ich dann zufällig auf ein Interview mit einer neuseeländischen Unterwäsche-Designerin. Sie sagt über sich, sie mache Unterwäsche, die in erster Linie Frauen und Mädchen gefallen soll – im Gegensatz zum Rest der Hersteller, deren Zweck ihrer Meinung nach vor allem darin bestünde, Mädchen möglichst hübsch für uns Jungs zu verpacken. In ihrer Kollektion gibt es keine Push-Up-BHs.

Nach diesen beiden Vorkommnissen merkte ich: Das Stützstück für Obenrum ist uns Jungs eigentlich ein ziemliches Rätsel. Wir wissen gar nicht, wie ihr damit umgeht: wie oft ihr in die Push-Up-Schublade greift und zu welchen Anlässen. Ob das überhaupt eine Frage des Anlasses ist oder eher eine der Physiognomie. Ob der Push-Up eine ungeliebte Modeerscheinung ist oder eher eine Art Sherpa, die euch trägt, was ihr selbst nicht tragen möchtet oder könnt. Ob er in Sachen Feminismus und weibliches Selbstbewusstsein eine Rolle spielt, und wenn ja, welche. Also, liebe Mädchen: Wie ist das mit euch und dem Push-up?

>>>Die Mädchenantwort von valerie-dewitt<<<
[seitenumbruch]
Liebe Jungs,

Wie ich hier so sitze und mir mein BH-Träger von der Schulter fällt, denke ich: gut, dass ihr fragt. Um also gleich mal die Fußgängerzonenfrage zu beantworten, du Frauenbelauscher: Ja. Es stimmt. Die Push-Up-Dichte hat in den vergangenen Jahren zugenommen. So sehr, dass ich BHs umnähe, damit mal einer ohne Kissen dabei ist – obwohl ich nicht nähen kann und mir deshalb dauernd der Träger von der Schulter fällt. Denn auch, wenn die meisten Frauen einen Push-Up im Schrank haben, wollen wir unsere Brüste tatsächlich nicht jeden 8-h Arbeitstag unter dem Kinn tragen.





Push-Ups sind die High Heels der Frauenbrust. So was wie eine weibliche Geheimwaffe, die wir zu bestimmten Anlässen einsetzen. Die uns aufhübscht und ein bisschen optimiert, wenn wir ein bisschen Optimierung wünschen. Welche Momente das sind? Generell eher Balzkontakt als Familientreffen. Kennt man aus der Natur, da präsentiert der Vogel zur Balz auch mal sein Federkleid und plustert ein bisschen an Stellen, wo eben nicht so viel Gefieder ist.

Aber ein Push-Up ist ziemlich unbequem, genau wie High-Heels. Und nach einer Weile wollen wir das, was man eben so will, wenn man unbequeme Dinge trägt: das alles ganz schnell loswerden. Barfuß laufen! Birkenstocks! Schlabbershirt und keine Stützfunktion

Warum seit geraumer Zeit auch in E-Körbchen, Bikinioberteilen und Sport-BHs eine Polsterfront von mittlerer Airbaggröße eingeschweißt ist (früher konnte man die Kissen wenigstens noch rausnehmen!) ist uns auch nicht ganz klar. Könnte am Einfluss von US-Marken wie Victoria’s Secret liegen, die es auch reizvoll finden, Frauen mit Riesenflügeln über glitzernde Kieselsteine laufen zu lassen.

In Shops kann man übrigens zwischen Polsterungen wie „Bombshell“ oder „Very Sexy“ wählen – das heißt zwei Körbchengrößen mehr. Bei Shows legen sich Victoria‘s Secret Models übrigens gleich Chicken Cutlets in den BH (so was wie ein Gel-Filet für die weibliche Hühnerbrust). Der Moment, in dem sich Giselle Bündchen entblättert und ihr ein paar Plastikfilets aus dem BH fallen: vermutlich Very Sexy. Die meisten von uns sind aber very normal. Und wenn wir uns vor einem Mann ausziehen, dem wir ein Büffet versprochen haben, wo nur ein Beilagensalat ist, fühlt sich das ehrlich gesagt ziemlich blöd an.

Und da wären wir beim Punkt Feminismus und weibliches Selbstbewusstsein. Damit hat unsere BH-Wahl nämlich durchaus zu tun. Zumindest am Anfang. Teeniezeit ist, je nach Brustgröße, Push-Up- (maximiert) oder Sport-BH-Zeit (minimiert). Irgendwann in den Jahren danach haben wir aber weitgehend akzeptiert, was wir so vor uns hertragen. Und dann gehen wir damit tendenziell pragmatischer um. Zum Thema Feminismus deshalb nur so viel: „Wer behauptet, BHs braucht man nicht, ist noch nie ohne einen gerannt“, sagte eine Kollegin in der Konferenz. Denkt einfach an Boxershorts beim Joggen.

Wir haben verstanden: KW 23

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  • Eine Woche mit Feiertag ist eine gute Woche.

  • Wenn man sich bei Münchner Gemüsehändlern nach Grünkohl erkundigt, fragen sie grinsend: "Für an Smoothie, gell!?" Bevor sie einem erklären, dass es in Deutschland jetzt keinen Grünkohl gibt, auch wenn die Amerikaner das gerade so hypen.

  • Wenn man im Supermarkt für 50 Euro elf Dosen Vanilleeis kauft, erntet man an der Kasse vor allem: Unverständnis.

  • Kundalini-Yoga klingt so harmlos, ist aber nix für Schwächlinge sondern verdammt anstrengend






  • Protest ist eine krass durchgeplante Angelegenheit.

  • Man sollte nach einem Urlaub immer noch mindestens drei Tage Urlaub daheim einplanen. Nur dann fängt man wirklich entspannt wieder an zu arbeiten.

  • Ganz Kroatien ist ein einziger großer Biergarten: Man darf sich in jedes Café sein eigenes Essen mitbringen.

  • Sich schnell neue Schuhe zu kaufen, weil die alten so verdammt drücken, wird immer bestraft. Entweder drücken die neuen noch mehr oder sie sind hässlich.

  • In Berlin-Neukölln beschimpft man sich auch mal als "Fischmuschischlampe".

  • Das schöne an Popkultur ist ja: Ob man ein Werk gut oder schlecht findet, das hängt auch sehr davon ab, was man vom Absender hält. Fat Boy Slim zum Beispiel kann in einem DJ-Set "Samba de Janeiro" von Bellini auflegen - und alle gehen ab, als wären in ihren Drinks Unmengen von Alkohol.

  • Dabei sind in den Longdrinks in Clubs in Barcelona (wo er gerade aufgelegt hat): zwei riesige Eiswürfel - und sonst eigentlich nix. Kostet zehn Euro.

  • Grundregel: Lass eine Bar niemals von einem Innenarchitekten einrichten.

  • Wenn man sich fünf Stunden lang Nachrichten schreibt, aber nur zehn Minuten voneinander entfernt ist, kann man sich eigentlich genauso gut treffen. (Nicht verstanden: Wieso man es dann doch nicht macht.)

  • Jugendliche, die aussehen wie Punks, hören auf einmal Miley Cyrus (zumindest in der Münchner Innenstadt.)

  • Der Sommer ist die perfekte Jahreszeit für einen Besuch im Hallenbad: ganz viel Platz!

  • Wenn man Pakete für die Nachbarn annimmt, am besten mal kurz auf den Absender schauen. Steht "Blume 2000" (oder was in der Art) drauf, sollte man es so schnell wie möglich beim Nachbarn vorbeibringen. Wenn der es nämlich erst drei Tage später abholt, ist nix mehr mit Blume (schon gar nicht 2000).

Neuanfang? Unmöglich!

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Eigentlich ist die Geschichte von Emma Sulkowicz und Paul Nungeßer eine ziemlich private. Eine, von der man erwartet, dass wenn über sie geschrieben wird, in den Texten steht „E. und P. wollen aus Angst, dass sie jemand erkennen könnte, anonym bleiben.“ Aber die Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung der amerikanischen Studentin Emma durch den deutschen Austauschstudenten Paul ist mittlerweile derart publik, dass sich niemand mehr diese Mühe macht.

Es gab in diversen großen Medien Reportagen darüber (unter anderem im SZ-Magazin und der Zeit), vielleicht auch, weil der Fall einfach so viel Symbolik hat, von der man erzählen kann. Und das liegt auch an Emma. Emma hat nach der angeblichen Vergewaltigung nämlich angefangen, eine Matratze über den Campus der Columbia-Universität zu tragen. Die Matratze, auf der sie vergewaltigt wurde, sagt sie. Daraus hat sie eine Kunstperformance namens„Carry that weight“ gemacht, die mittlerweile als Sinnbild für den Kampf von Frauen gegen sexuelle Gewalt gilt. Sie war gleichzeitig ihre Abschlussarbeit.
[plugin imagelink link="http://www.google.de/url?source=imgres&ct=tbn&q=https://news.artnet.com/wp-content/news-upload/2014/09/mattress-performance-emma-sulkowicz.jpg&sa=X&ei=3sxxVf3PPMjaUYWcg4gC&ved=0CAUQ8wc&usg=AFQjCNHWGpspM-yYXPC8lNIVSfhJwzELbQ" imagesrc="http://www.google.de/url?source=imgres&ct=tbn&q=https://news.artnet.com/wp-content/news-upload/2014/09/mattress-performance-emma-sulkowicz.jpg&sa=X&ei=3sxxVf3PPMjaUYWcg4gC&ved=0CAUQ8wc&usg=AFQjCNHWGpspM-yYXPC8lNIVSfhJwzELbQ"] Emma während ihrer Performance "Carry that weight"

Und, wie bei jeder ernstzunehmenden Künstlerin, war es nicht ihre letzte. Diese Woche hat Emma nämlich ein Video namens„Ceci N'est Pas Un Viol“ („Das hier ist keine Vergewaltigung“) veröffentlicht, in dem sie und ein gepixelter Mann Sex haben. Zunächst einvernehmlich, dann eskaliert die Situation und der Mann wendet Gewalt an.
[plugin imagelink link="http://i.kinja-img.com/gawker-media/image/upload/s--jVjq48T4--/c_fit,fl_progressive,q_80,w_636/1283747048917175111.png" imagesrc="http://i.kinja-img.com/gawker-media/image/upload/s--jVjq48T4--/c_fit,fl_progressive,q_80,w_636/1283747048917175111.png"] Ausschnitt aus "Ceci n'est pas un viol" via jezebel

In dem Beitext schreibt Emma: „Dieses Video ist keine Nachstellung der Ereignisse aus der Nacht vom 12. August 2012“, also der Nacht, in der Paul sie angeblich vergewaltigt hat. Stattdessen solle man mit dem Video sich selbst, den Zuschauer, reflektieren. Dafür adressiert Emma auch einige Fragen an uns:
- Ob man ihr glauben würde oder doch denke, es ginge um die Vergewaltigung von Paul?
- Was man für ein Bild von ihr habe, obwohl man sie noch nie getroffen hat?
- Wie man sich nach dem Video fühle?

Anders, als es nach „Carry that weight“ zu erwarten gewesen wäre, hat Emma das Video ohne große mediale Aufmerksamkeit veröffentlicht. In einem Interview mit Artnet erklärt sie dazu:

„I am interested in what the public does with it, which begins with the way they deal with it from the moment it's disseminated“


Als der Interviewerin daraufhin nachhakt, ob es ihr bei der Performance auch darum geht, ein Statement zur Meinungsbildung in sozialen Medien zu schaffen, bejaht Emma. Sie sagt, sie fühle sich als „Matratzen-Mädchen“ versachlicht, die Bezeichnung sei stigmatisierend und sie hoffe, dass die Menschen ihr neues Werk unabhängig vom alten betrachten könnten.

Und Paul? Die Universität hat ihm vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, aber da jeder seinen Namen kennt, ist sein Ruf dahin. Er verklagt jetzt die Columbia-Universität, weil sie nicht alles getan habe, um ihn zu schützen. Kurioserweise hat er somit das gleiche Problem, das Emma in ihrer Performance thematisiert: Es will ihn einfach niemand unabhängig von seiner Vorgeschichte betrachten.

charlotte-haunhorst

Die Abende der anderen

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Der Feierabend scheint im ersten Moment so überhaupt gar keine besondere Magie zu bergen, im Gegenteil. Wen interessiert der schon, irgendwas werden die Leute da schon machen. Kochen halt, essen halt, bisschen aufräumen halt oder vielleicht noch schnell die Wäsche in die Maschine stecken, Facebook checken und an irgendeinem Link hängen bleiben. Fernsehen, mit Snacks und Cola. In die Abend-Yoga-Klasse gehen. Den kleinen Bruder mit Liebeskummer am Telefon trösten. Und dann ist ja auch schon wieder Schlafen angesagt, und morgen wieder arbeiten. Allein der Begriff ist, überstrapaziert von Regionalradio und Durchschnittsbürgerhumor, längst zur Chips-Cola-Couch-Alltagsfloskel erstarrt: Feierabend? Bratmaxe, Köpi, Tagesschau!

In Wahrheit umrankt den Feierabend aber etwas sehr Geheimnisvolles. Er ist ein Sehnsuchtsort, oder eher: eine Sehnsuchtszeit. Endlich zuhause, endlich die Arbeit und die Pflicht ablegen wie die getragenen Klamotten des Tages. Und erst morgen wieder anziehen. Im Feierabend findet jeder seine Daseinsberechtigung ohne Leistungsdruck und damit auch etwas von seinem eigentlichen Leben, seinem eigentlichen Ich, das am Tag wieder zu kurz kam, morgen Früh auch wieder keinen Platz hat und heute Nacht erst recht nicht, weil da muss ja geschlafen werden. Was wird mit dieser Lebenszeit gemacht?





Man denkt ja immer, man wisse soviel über die anderen. Vor allem seit es das Internet gibt, in dem immer alle davon erzählen, was sie machen und wer sie angeblich sind. Man hat N.’s Fotos gerade noch auf Instagram gesehen und X. heute im Büro, weiß wo F. im Urlaub war, weiß, wann man M. zum nächsten Bier trifft und warum er donnerstags nie kann. Aber was sie nachher alle machen, wenn sie zuhause sind, und vermeintlich nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass der Tag geht und ein neuer anbricht, das weiß man nicht. Essen sie eine ganze Packung Windbeutel und ist ihnen danach schlecht? Holen sie Bastelsachen raus? Schreiben sie der Oma einen Brief oder backen sie Marillenknödel oder stellen sie ihr Zimmer um? Verkleiden sie sich? Machen sie sich eine Babyflasche?

Vielleicht sollte man ja öfter mal danach fragen. Anstatt des verwässerten „Wie geht’s“ einfach: „Was hast du eigentlich gestern Abend zuhause gemacht?“. Auch ruhig mal so die eigenen Eltern, oder Großeltern. Was machen die eigentlich abends? Was denken sie sich? Wie sind die so in sich, mit sich selbst, wenn sie allein sind? Denn man ist ja nie so sehr man selbst wie in dieser leistungsbefreiten Feierabendzeit.

Aber: Sie werden es einem wahrscheinlich nicht sagen können, nicht so, wie es wirklich war. Und genau das ist es, was den Abend der anderen so geheimnisvoll und so intim und so rätselhaft macht: Man wird ihn nie erleben. Erlebte man ihn, wäre er ja nicht mehr das, was er ist, nämlich das Alleinsein des anderen. Und so kann man immer nur seinen eigenen erleben. Der Gedanke an fremde Feierabende ist jedes Mal eine Erinnerung an das ewige Gefangensein im eigenen Ich und eigenen Leben. Und eigentlich ist es deshalb auch völlig egal, was die Leute an ihren Abenden machen oder wie banal oder absurd diese Tätigkeiten sind. Einzig der Gedanke, dass sie etwas sehr Privates, sehr Unbeobachtetes tun, ist auf eine bestimmte Art aufregend.

Er ist, wie von oben auf eine Stadt zu schauen: Bei allen passiert irgendetwas. Gleichzeitig. Sie sind alle kleine Ichs, denen die Zeit davonrennt, kleine Sandkörner, die durchs Leben rieseln, die sich die Pyjamahose anziehen, die Schokoladentüte aufreißen, die Nägel lackieren, die im Flur sitzenbleiben, weil sie auf ihrem Smartphone ein Video zuende schauen, ein Schuh schon ausgezogen, ein Schuh noch halb angezogen. Sie sind wie man selbst. Aber man wird nie mit ihnen tauschen können.

Wochenvorschau: Mit den Eltern zu Chilly

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Wichtigster Tag der Woche:
Privat: Freitag. Da geht es in den Urlaub. Problem: Das Ziel steht noch nicht fest. Ich nehme hier also gerne noch Tipps entgegen. Eckdaten: Lieber mit dem Auto als fliegen (aber zur Not auch fliegen). Die Frau, die ich gut kenne, will Strand. Insgesamt eher Natur als Urbanität.

Ansonsten bin ich ja – und zwar ohne Koketterie – schon etwas gespannt auf die Fußball-WM der Frauen, die seit Samstag läuft. Wie hat sich das Niveau da verändert? Wie das Tempo. Diskussionen um den Kunstrasen, auf dem die spielen müssen, gab es ja auch.

Kulturelles Highlight:  
Ganz privat ist das kulturelle Highlight der Woche erst kommende Woche: da bin ich nämlich bei Chilly Gonzales in der Philharmonie. Mit den Eltern. Und ziemlich gespannt, wie die das finden!

http://vimeo.com/119441115

Ganz allgemein feiert das Münchner Label Compost Records gerade 20-Jähriges– und tourt dafür durchs Land. Ausstehende Termine sind noch Karlsruhe, Zürich und Freiburg.

Politisch interessiert mich ...
... was bei der Fifa als nächstes rauskommt. Und was man für 150 Millionen Euro für Ergebnisse von den G7 bekommt.

Soundtrack:
Auf jeden Fall eher nicht das neue Giorgio-Moroder-Album. Was ich sehr, sehr schade finde. Das alte Zeug war so revolutionär. Ich liebe seine Produktionen für Donna Summer. Und seine Filmmusik fast noch mehr. Den Song mit Daft Punk eh. Aber das neue Album hat nach einmal durchhören keinen Drang, keinen getriebenen Willen zu irgendwas. Und wenig, das über Zitatniveau hinauskommt. Aber: Immerhin zitiert er ja sich selbst und enge Kollegen.

Deshalb höre ich wohl eher noch ein bisschen das neue Live-Album von Ryan Adams – „Ten Songs From Live at Carnegie Hall“.

Und dann meine neue Zufallsentdeckung auf dem Primavera Sound in Barcelona: Beatenberg. Eine Band aus Südafrika, die heißt wie eine politische Gemeinde im Verwaltungskreis Interlaken-Oberhasli des Kantons Bern. Drei sehr adrette Jungs (darunter der beschwingteste Drummer seit Ringo Starr), die im Sound die fließende Eleganz von Achtzigerjahre-Rasentennis haben.

http://www.youtube.com/watch?v=SynRkkJtVYY

Kinogang?
Nein! Entschieden. Rausgehen und Menschen auf Wiesen und in Biergärten treffen. In München ist aber eh bald wieder Film-Fest. Dafür wird das Draußen-Drinnen-Verhältnis dann noch mal neu verhandelt.



Geht gut diese Woche:
Gesund werden. Und dann immer mit meinem neuen Fahrrad fahren – und meinem alten Kajak.

Geht gar nicht:
Badeseen. Die sind noch zu kalt.

Heute in der SZ.App: das neue jetzt-Heft

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Wer man ist und wer man werden will: das sind große Fragen, die man sich immer wieder stellt, wenn man erwachsen wird. Es gibt viele Möglichkeiten, aber auch viele Hürden, es gilt Entscheidungen zu treffen, abzuwägen, was das Beste für einen ist –jetzt gerade und irgendwann später. Weil das ohnehin schon so schwer ist, hat uns die Geschichte von Laura so fasziniert: Sie hat viele Talente und fing vieles an, vom Studium bis zur Musikkarriere. Zu Ende führte sie nichts, denn sie sucht nach sich selbst, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie leidet unter einer Persönlichkeitsstörung namens Depersonalisation, bei der sie sich selbst sieht wie einen Fremden.

Außerdem geht es in diesem Heft um weitere Suchen: um die Suche nach gleichen Chancen für Frauen und Männer. Um die Suche nach neuen Werbegesichtern. Um die Suche nach einem guten Musikgeschmack.

Viel Spaß beim Lesen!


jetzt 3/2015 ist ab sofort digital auf dem Smartphone oder dem Tablet erhältlich - mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung. Du kannst die digitale Ausgabe des Hefts einzeln für 89 Cent oder zusammen mit der SZ vom Montag kaufen - für Abonennten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos. Die einzelnen Texte aus dem Heft kannst du ab Montagabend auch auf jetzt.de im Label jetzt_Magazin nachlesen. Für eine erste Orientierung hier das Inhaltsverzeichnis:


„Ich gucke immer viel zu viele Zehn-Sekunden-Videos von lustigen Dingen.“ #WERBISTDUGERADE

„Mein Körper macht zwar irgendwas, aber er ist mir dabei so fremd, als wäre er ein Roboter.“ #DEPERSONALISATION #PSYCHOLOGIE #BEZIEHUNG #STUDIENABBRUCH

„Es war der letzte Sommer, in dem noch richtig schlechte Musik bei mir lief.“ #MUSIKGESCHMACKSVERSTÄRKER #BEASTIEBOYS #MIXTAPE

„Geschlecht ist ein flüssiges Konstrukt, das in Zukunft womöglich immer irrelevanter werden wird.“ #TRANSGENDER #WERBUNG #JAZZJENNINGS

„Von dem Geld, das Männer durchschnittlich mehr verdienen als Frauen, könnten sie sich jeden Monat ein neues Fahrrad kaufen.“ #GUTZUWISSEN #GLEICHBERECHTIGUNG #DIVERSITY

„Jungs haben momentan öfter das Gefühl, ihr Geschlecht könnte ein Nachteil sein.“ #MÄNNERRECHTLER #AFD #FEMINISMUS

„Manchmal will ich mir selbst den Mund verbieten, die Klappe halten, einfach mal still sein.“ #GENERATIONLABERTASCHE #SOCIALMEDIA #KOMMUNIKATION

„Wer hat welchen Drink bestellt?“ #RÄTSEL #AUSGEHEN #SPRITODERSPEZI

„Ich spiele gut, wenn ich sauer bin.“ #BRYCETAYLOR #MENSCHÄRGEREDICHNICHT #BASKETBALL #SCHEITERN

Nach Pegida

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Einmal, als Amaniel Bus fahren wollte, haben ihn andere Fahrgäste am Einsteigen gehindert. Gar nicht unbedingt aggressiv, aber sie haben eben auch keinen Platz für ihn gemacht. Ein anderes Mal hat ihn eine Gruppe Männer verfolgt und angerempelt. "Es haben aber auch immer Leute etwas dagegen gesagt und mir geholfen", schiebt Amaniel schnell hinterher, und sowieso, vielleicht bilde er sich das auch nur ein. Er versucht, alles, was er erzählt, direkt zu relativieren. Weil er nicht schlecht über die Stadt sprechen möchte, die so lange sein Zuhause war. Aber Dresden ist eben einfach nicht mehr dasselbe für ihn, seit dort Pegida demonstriert. 

Amaniel ist Mitte 30 und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden. Er stammt aus einem afrikanischen Land und lebt schon länger hier. Er möchte anonym bleiben, darum ist Amaniel auch nicht sein richtiger Name. Er will nicht, dass seine Freunde wissen, was er regelmäßig erlebt, damit sie sich keine Sorgen machen. Vor ihnen behauptet er immer, alles sei in Ordnung. Und er will seine Familie schützen, die mit ihm hier lebt.  



Gehen oder bleiben? Wegen Pegida müssen sich ausländische Mitarbeiter der TU Dresden jetzt diese Frage stellen.

In Dresden gibt es immer noch ein Problem, das man eigentlich schon abgehakt hatte: Ausländer fühlen sich in der Stadt wegen der Pegida-Bewegung nicht mehr wohl. Das Problem ist so groß, dass der Rektor der TU, Hans Müller-Steinhagen, Mitte Mai während einer Pressekonferenz damit an die Öffentlichkeit ging. Mehrere Spitzenforscher hätten gedroht, die Universität wegen Pegida zu verlassen, sagte er. Konkrete Namen nannte er nicht, aber auch aus der Pressestelle der Uni wird bestätigt, dass es unter ausländischen Wissenschaftlern Befürchtungen gibt, in Dresden nicht sicher zu sein. Offiziell sei zwar noch niemand wegen Pegida gegangen – vielleicht habe das aber auch nur niemand öffentlich gemacht. Müller-Steinhagen sagte auch, "die verbale und physische Gewalt gegen ausländische und ausländisch aussehende Studenten " habe zugenommen und dass Uni und Stadt dagegen etwas tun müssen.    

Der Zeitpunkt dieses Eingeständnisses überrascht erst mal, weil Pegida doch schon so gut wir tot schien. Im Januar gingen 25 000 Menschen in Dresden gegen die "Islamisierung des Abendlandes" auf die Straße, heute sind es noch 2000. Der Pegida-Rest ist einer Studie der TU Dresden zufolge eher rechts orientiert und stark systemverdrossen – nach dem Motto "Die da oben hören uns nicht zu". Die Studie sagt allerdings auch: Pegida hat weiterhin Mobilisierungspotenzial, käme nur eine begabtere Persönlichkeit als der bisherige Anführer Lutz Bachmann an ihre Spitze. Und mit diesen potenziellen Pegida-Unterstützern, die man in der Öffentlichkeit und den Medien kaum noch wahrnimmt, haben Menschen wie Amaniel derzeit ein Problem. 

Eine Demonstrantin hat DJ erzählt, dass sie nur gegen den Rundfunkbeitrag auf die Straße geht – nicht gegen Ausländer


Wenn man ausländische Studenten und Wissenschaftler aus Dresden fragt, wie sie sich dort fühlen, beginnt und endet jedes Gespräch mit den positiven Seiten. Ein bisschen wie bei dem an Universitäten oft gelehrten "Sandwich-Feedback", bei dem man erst sagt, was alles toll ist, dann kritisiert, und am Ende noch einmal das Gute betont. Um beim Gegenüber ein gutes Gefühl zu hinterlassen.  

Siavash aus dem Iran erzählt darum zuerst, er habe für seinen PhD in Informatik unbedingt nach Dresden gewollt – "wegen des exzellenten Rufs". Die TU Dresden ist international hoch angesehen, sie gilt als die zweitbeste Technische Universität in Deutschland, nach der TU München. Siavash sagt auch, dass er sich von der Uni sehr unterstützt fühle und in der Stadt viele Freunde habe. Dipjyoti aus Indien, der einem direkt seinen Spitznamen "DJ" anbietet, erzählt von der tollen Arbeitsatmosphäre an der Uni. Seiner WG mit vielen Deutschen und den Ausflügen, die sie zusammen machen. Beide sagen, dass sie Dresden mögen und Deutschland für die Chance, hier forschen zu können, auf jeden Fall etwas zurückgeben möchten. Und dann, nach all dem Positiven, dem vielen Lob, kommt bei beiden das "Aber": 

Aber durch Pegida hat sich eben doch etwas für sie geändert. Sie beide haben sich die Pegida-Demonstrationen aus der Nähe angeschaut. Haben die Plakate gesehen, Geschichten von Freunden gehört, die in der Bahn belästigt wurden. DJ sagt, er habe sich von den Pegida-Leuten abgelehnt gefühlt, auch wenn er ihre Gesänge nicht verstanden habe. Dann relativiert er direkt wieder. Erzählt von einer Demonstrantin, mit der er sich unterhalten hat: "Die war eigentlich nur gegen den Rundfunkbeitrag und hat deshalb demonstriert. So denken sicher viele, nicht alle von denen hassen automatisch Ausländer." Aber manche halt schon. Auch Siavash erzählt, dass er sich mit Demonstranten unterhalten habe: "Die erkennen oft nicht auf den ersten Blick, dass ich Ausländer bin. Deshalb waren sie auch nicht direkt ablehnend und haben mit mir diskutiert, von ihrer Angst um ihren Arbeitsplatz erzählt."  


>>> Was die TU gegen Pegida tut und wieso sich Siavashs und DJs Familien Sorgen machen

[seitenumbruch]
Von Menschen, die optisch, zum Beispiel wegen ihrer Hautfarbe, eindeutiger als Ausländer auffallen, habe er hingegen auch bedrückende Geschichten gehört – von rassistischen Beleidigungen, von Frauen, die sexuell belästigt wurden. Siavash und DJ sind deshalb unsicher, wie es nach ihren Abschlüssen weitergehen soll. Sie würden schon in Deutschland arbeiten – aber auch in Dresden? Und was tun sie, wenn Pegida doch wieder erstarkt? "Nur, weil die Leute nicht mehr demonstrieren gehen, heißt das ja nicht, dass ihre Überzeugungen sich geändert haben", sagt DJ.  

Für den Forschungsstandort Dresden wäre es eine Katastrophe, wenn ausländische Mitarbeiter die Uni verlassen. Die Wissenschaft ist mittlerweile international und eine Uni, die da nicht mitzieht, ist schnell raus aus dem Wettbewerb. Die TU veranstaltet deshalb in ihrem Welcome-Center immer wieder Aktionen für die Studenten und Mitarbeiter, um aufzuklären und für eine bessere Stimmung zu sorgen. Es gab offizielle Uni-Statements, in denen dazu aufgerufen wurde, ein Zeichen gegen Pegida zu setzen und die Gegendemonstrationen zu besuchen. Wegen der Sprachbarriere sind sich viele ausländische Wissenschaftler auch unsicher, was Pegida eigentlich genau will, das Welcome-Center hat darum Workshops über Pegida angeboten, auf ausdrücklichen Wunsch von Gastwissenschaftlern und in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften. Die Teilnehmer konnten dort auch ihre Erfahrungen mit Rassismus austauschen. DJ findet das gut. Und will auch im Kleinen etwas tun. Er hat sich zum Beispiel angewöhnt, jeden Deutschen anzulächeln. Seine Freunde wollen im Gegenzug jeden Ausländer anlächeln, um zu sagen: "Ihr seid willkommen." 

"Ich liebe Dresden – aber ich will, dass wir sicher sind", sagt Amaniel


Die Familien und Freunde von DJ und Siavash sorgen sich trotzdem um die beiden. Pegida war bei ihnen Zuhause groß in den Medien, seitdem befürchten sie, dass Deutschland ausländerfeindlich ist. "Wenn in Deutschland etwas schlechtes über eine indische Stadt geschrieben wird, denkt ihr ja auch, das beträfe ganz Indien", sagt DJ. Er schreibt immer zurück, dass alles in Ordnung sei und Pegida ja auf dem Rückmarsch. Auch Siavash beruhigt seine Familie. Er wird Dresden nicht wegen Pegida verlassen, er liebt diese Stadt. Aber er sagt auch: "Wenn ausländische Kollegen mir erzählen, dass sie Deutschland wegen Pegida verlassen wollen, dann habe ich dafür schon Verständnis. Gerade, wenn man hier eine Familie gründen will, überlegt man sich schon zweimal, in was für einer Atmosphäre die Kinder aufwachsen sollen."  

Amaniel zum Beispiel hat Familie und macht sich deshalb Sorgen. Er spricht vor seinen Kindern nicht darüber, aber mit seiner Frau schon. Wie wollen sie weitermachen? Ist es ihnen die tolle Stadt Dresden, mit ihrer exzellenten Forschung und der guten Infrastruktur, wert, täglich darüber nachzudenken, ob ihre Kinder unbehelligt zur Schule gehen können? "Das ist eine große, schwierige Entscheidung", sagt Amaniel.   Dabei hat er Pegida anfangs gar nicht ernst genommen: "Ich dachte, diese Menschen sind halt Patrioten, dass das nicht unbedingt etwas mit mir zu tun hat." Sein Deutsch ist nicht perfekt, darum hat er nicht alle Plakate und Gesänge verstanden, als er 2014 zum ersten Mal Pegida-Demonstranten sah. Aber er hatte danach das Gefühl, dass die Leute ihn mit seiner dunklen Hautfarbe auf einmal auf der Straße anschauten.  

Dann kam im Januar ein Flüchtling aus Eritrea in einem Asylbewerberheim zu Tode, gleichzeitig war Pegida so stark wie noch nie. Amaniel bat seine Frau, Montagabend keine Einkäufe zu erledigen, er selbst versuchte, vor Demonstrationsbeginn Zuhause zu sein. Und dann gab es da diesen Vorfall vor dem Mediamarkt: Eine Gruppe Männer rempelte Amaniel an. Er blieb ruhig. Sie machten Affenlaute. Er sagte immer noch nichts. Irgendwann schritten Passanten ein. "Wäre das nicht gewesen und wären die Gegendemonstrationen gegen Pegida nicht so groß gewesen – ich weiß nicht, ob ich noch hier wäre", sagt Amaniel.  

Auch, wenn es wieder ruhiger um Pegida geworden ist – die Angst ist Amaniels Familie geblieben. "Ich liebe Dresden – aber ich will, dass wir sicher sind", sagt er wieder. Und am Ende hört man von ihm dann doch, was er die ganze Zeit versucht hat, nicht auszusprechen: Wenn er seinen Doktor fertig hat, wird er gehen. Zurück in sein Heimatland. Aber eines ist ihm klar: "Ich werde Dresden vermissen."

Das Kind im Wok

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Wir sitzen am Küchentisch. Mara fallen die Augen zu. Juli streckt sich. Mia und Miri seufzen. Es ist Sonntagabend und alle sind müde. Manche wegen der durchtanzten Nacht, andere wegen einer Abgabefrist für die Uni. Alle sind müde? Nein. Eine ist wach. Mascha liegt im Arm ihrer Mama Klara und quiekt aufgeregt. Früher hätten wir uns an so einem Sonntagabend vor den Fernseher gehauen. Jetzt sind alle Augen auf Mascha gerichtet, die ihre Zunge rausstreckt und wie Joe Cocker mit den Händen fuchtelt. Das ist lustig und beruhigt – besser als Tatort. 

Den Fernseher hat sowieso eine Mitbewohnerin mitgenommen. Sie ist ausgezogen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, ständig von einem Kind umgeben zu sein. Als Klara vergangenen Sommer auf einem WG-Plenum erzählt hat, dass sie schwanger ist und trotzdem bei uns wohnen bleiben will, gab es einige Bedenken: Kann das gut gehen, ein Kind in einer Sechser-WG? Müssen wir uns dann ändern? „Ist das nicht ein bisschen umständlich?“ und „Dann musst du aber leise und sauber sein, oder?“, fragten auch einige unserer Freunde, als wir von Klaras Schwangerschaft erzählten.  



Glückliches Baby = glückliche Mitbewohnerinnen

Leise sein? Manchmal schwierig. Vor allem in einer WG, in der wir uns nachts im Flur noch schnell die Geschichte von dem einen Typen aus dem Workshop zu Ende erzählen wollen oder betrunken gegen die Garderobe stolpern und dabei Krach machen. In der wir sowieso gerne Krach machen, viele Freunde einladen und Zigaretten am Küchenfenster rauchen. Sauber sein? Das ist auch so eine Sache. Über den Putzplan wird bei jedem WG-Plenum diskutiert. Schon bevor Klara schwanger wurde.  

Trotzdem wollte Klara nicht mit ihrem Freund zusammenziehen, sondern bei uns bleiben. Manche Menschen wundert das, mich eigentlich nicht. Denn das ist es doch, was die meisten Leute vom Kinderkriegen abhält: die Angst, dass dann alles vorbei ist. Die Jugend, das gute Leben, die wilde Zeit. Alle Welt versucht ihr Bestes, aber am Ende bleibt doch dieses Unbehagen, plötzlich nur noch von der neuen Kleinfamilie umgeben zu sein. Statt WG-Talk über Kneipen-Geschichten nur noch Unterhaltungen über Zähne und Impfungen. Statt gemeinsamer WG-Party-Pläne nur noch absprechen, wer wann Windel kaufen geht.    

Die WG fühlt sich jetzt familiärer an, die Mitbewohnerinnen sind von einem Zauber aus Zartheit umgeben


Die Schwangerschaft war aufregend und anstrengend. Vor allem für Klara. Sie war schwanger, aber wir immer noch dieselben: Miri, Mara, Juli, Mia und Pia, die Krümel in der Küche und ihre Klamotten im Bad hinterließen. „Das ist etwas eklig hier“, sagte Klara einmal. Zweimal. Mehrmals. Manchmal haben wir das verstanden. Manchmal aber auch nicht. Wir haben uns Mühe gegeben, aber unser Leben ist eben ganz normal weitergegangen, mit Studium, ersten Jobs und Beziehungsproblemen.  

Das tut es immer noch. Wir sind mal laut, mal leise, mal traurig, mal lustig – wie immer. Den Putzplan halten wir immer noch nicht ein, wir haben immer noch oft Besuch von Freunden und planen große Partys. Es sind eher Kleinigkeiten, die sich geändert haben: Auf unserer Waschmaschine gibt es jetzt eine Wickelauflage und manchmal steht ein Stubenwagen in der Küche. Und Klaras Alkoholpause hat mehrere WG-Mitglieder inspiriert. Zumindest vorübergehend. An diesen Details merkt man: Hier wohnt jetzt auch Mascha. Zusammen mit ihrer Mama und ihren fünf Tanten, die ihr alle irgendwas beibringen wollen: Klettern, Nähen, Auflegen. Bis jetzt können wir für sie vor allem eins tun: sie rumtragen. Wenn sie länger schreit, wird sie wie eine heiße Kartoffel zu ihrer Mutter gebracht: „Hier! Schnell! Ich glaub’, die muss gestillt werden!“    

Am meisten hat sich vielleicht die Atmosphäre geändert. Die WG fühlt sich familiärer an, wir Mitbewohnerinnen sind von einem Zauber aus Zartheit umgeben. Wenn Mascha morgens neben der Zeitung auf dem Küchentisch liegt, machen wir entzückte Geräusche.    

Klara hat für unsere Euphorie nur ein müdes Lächeln übrig. Einmal kackte Mascha beim Wickeln quer durchs Zimmer. Wir mussten lachen, als wir davon hörten. Die Eltern lachten mit – hinterher war es auch für sie lustig. Ich habe oft das Gefühl, nur die Sonnenseiten mitzubekommen. Da ist einfach dieses süße Baby zum Anschauen und Gernhaben. Alles, was nervig ist, stehen Eltern und Kind hinter Klaras verschlossener Zimmertür durch.  

Als ich für zwei Monate aus Berlin wegmuss, bin ich traurig. Mascha ist sechs Wochen alt. In zwei Monaten wird sie doppelt so groß sein wie jetzt. Zumindest in meiner Vorstellung. Zum Glück schickt Klara Fotos: Mascha mit einem Schild „Ich bin jetzt zehn Wochen alt!“, Mascha in unserem Wok auf dem Küchentisch. Wieder bekomme ich nur die Sonnenseiten mit.  

Vielleicht denke ich deshalb, dass ich es genauso machen würde. Mit Freundinnen wohnen und eine Familie haben – das muss sich nicht ausschließen. Vielleicht bekommen wir alle irgendwann Kinder und leben trotzdem noch zusammen. Ich finde, sobald Mascha sprechen kann, darf sie beim WG-Plenum mit abstimmen, wann die nächste Party stattfinden soll.
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