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Nachtleben, Hipster, Leberwurststullen

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Diesen Mittwoch beginnt das Internationale Literaturfestival Berlin. Aus diesem Anlass und weil kaum ein Ort öfter in der deutschen Literatur auftaucht als unsere Hauptstadt, haben wir sieben Berlinbücher verglichen.

Tobias Rapp: Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset (2009)




Welches Berlin lernen wir kennen?
Das „Berlin der nuller Jahre“, den Nabel der Minimal- und Technowelt. Dort wird gefeiert wie nirgends sonst, dort ist man international wie nirgends sonst, dort ist es spannend wie nirgends sonst.
Worum geht’s?
Um eine Analyse der Mechanismen, die Berlin zu diesem Techno-Zentrum gemacht haben. Rapp widmet sich nicht nur dem Berlingefühl, das junge Leute aus aller Welt in die Stadt lockt, er verliert sich nicht nur in Anekdoten vom Tresen der Panorama-Bar oder über Party-Reisende beim Kaffee auf der Kastanienallee. Er widmet sich auch den Zahlen und wirtschaftlichen Faktoren dahinter. Er spricht mit Nachtlebengrößen und DJs, er interviewt Hostel-Experten, zitiert Statistiken, erläutert Stadtentwicklungspolitik und arbeitet aus all dem Entwicklungen heraus. Ein bisschen geht es allerdings auch immer um den Autor selbst und darum, wie unglaublich tief verwurzelt er selbst in der Szene ist und wie saugut er all diese tragenden Säulen der Berliner Clubszene kennt.
Welche Klischees werden bedient?
Keine und alle. Rapp beobachtet und recherchiert, deswegen tauchen auch all die Klischees auf, die es über das Berliner Nachtleben gibt. Eben weil sie nicht nur leere Klischees sind.
So ist’s: Ein treffendes Porträt des Berghain-Watergate-Bar25-Berlins, das in dieser Form zum Teil schon wieder Geschichte ist.
Typischster Satz:
Lieber kein Satz, sondern eine Kapitelüberschrift: „Strukturwandel der Rave-Öffentlichkeit“.
Berlin-Hintergrund des Autors:
Tobias Rapp ist kurz nach der Wende nach Berlin gezogen und hat die Entwicklung Berlins und seiner Techno-Szene selbst miterlebt. Er hat als Musikredakteur bei der taz gearbeitet, bevor er zum Spiegel wechselte.
Was will man nach der Lektüre machen?
Auch Party-Journalist werden, ein paar Jahre lang durchfeiern und dann ein erfolgreiches Buch schreiben.
Gesamtnote: 2

christian-helten






Ansgar Oberholz: Für hier oder zum Mitnehmen? (2012) 




Welches Berlin lernen wir kennen?
Hat jetzt bestimmt noch nie jemand was von gehört, aber: Das gastronomische Leben der digitalen Bohème mit all seinen Facetten!
Worum geht’s?
Um die zahlreichen Tücken der Gastronomie, vor allem wenn man wie der höchstvisionäre Protagonist vorher in einer Werbeagentur gearbeitet hat. Außerdem natürlich um das freakshowmäßig zusammengewürfelte Einwohner-Ensemble Berlins: Die Kellnerin, die lieber Schauspielerin wäre, „Nerds“ mit Kapuzenpulli und digitalen Visionen, an Geister glaubende Putzfrauen mit Akzent, der indische Koch, der überall Kreuzkümmel reintun will, jede Menge Junkies und natürlich urige Typen wie Klamotte: in Berlin geboren, zu Ostzeiten zum Handwerker und Klempner ausgebildet und ein „Schweizer Taschenmesser für Gastronomen“. Achso, und natürlich: um die mythenumrankte Geschichte des Oberholz-Gebäudes, das als "Aschinger Bierquelle" schon in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ auftauchte.
Welche Klischees werden bedient?
Berlin ist eine Freakshow! Es menschelt, wie es nur in einer Stadt mit bewegter Geschichte menscheln kann. Was einem da alles begegnet: alte Gemäuer, WLAN, Milchschaum, tragbare Computer! Egal ob kreatives Prekariat oder einfach gestrickte Urberliner: In dieser Stadt hat man noch Träume und um sie zu verwirklichen, hält man zusammen.
Typischster Satz:
„Den Verkaufspreis meiner Werbeagenturteile hatte ich in eine Straßenbahnfahrt investiert, und mit meinen abgebrochenen Studiengängen würde ich keine Festanstellung erlangen, die mir derartige Spielräume eröffnen würde. Worauf hätte ich warten sollen?“
Berlin-Hintergrund des Autors:
Ansgar Oberholz kommt aus Aachen, lebt aber seit mehr als 20 Jahren in Berlin. Hat Mathe, Physik, Forensik und Psychologie zumindest anfangen zu studieren und bis zur Eröffnung des Oberholz als Werber und Modelagent gearbeitet. Treibt sich privat vermutlich in den einschlägigen Berlin-Mitte Kreisen rund um Rafel Horzon herum - nur das würde erklären, warum genau dieser ihm das genauso platt wirkende wie großzügig gemeinte Zitat „Das spannendste Buch, das ich je gelesen habe“ verliehen hat.
So ist‘s:
Das unspannendste Buch, das ich je gelesen habe. Mit Ausnahme einiger kleiner historischer Passagen rund um die Geschichte des Rosenthaler Platzes.
Was will man nach der Lektüre machen?
Die Zeit zurück, die man sich für die Lektüre genommen hat, und sich im Falle einer beruflichen Erfolgsgeschichte niemals in den Kreis derjenigen einreihen, die diese gleich in Romanform veröffentlichen. Außerdem: In Anbetracht Berlins selbst ernannter digitaler Elite hart daran arbeiten, ein kulturoptimistischer Mensch zu bleiben.
Gesamtnote: 5

mercedes-lauenstein



Airen: Strobo (2010)




Welches Berlin lernen wir kennen?
Die dunkleren Ecken des Berliner Nachtlebens. Schwulenbars mit Pornos auf großen Leinwänden, Schöneberger Puffs, Drogenumschlagplätze am Kottbusser Tor, die Darkrooms im Berghain.
Worum geht’s?
Airen feiert sich durch Berlin, tagelang, ohne Pause, er nimmt von Gras bis Heroin alles, was er kriegen kann. Tagsüber arbeitet er in einer Unternehmensberatung. Es geht um Drogen und Sex. Um hemmungsloses Feiern ohne Grenzen und Scham, um die Suche nach absolutem Glück, um Momente voller Euphorie und die erbärmlichen Stunden voller Ekel und Selbsthass nach dem Aufwachen am Morgen danach, der eigentlich schon wieder Abend ist.
Welche Klischees werden bedient?
Schwule haben ständig Sex auf Toiletten. Egal, was du für ein Riesen-Freak bist, im Berghain morgens um 10 gibt es immer jemanden, der noch verrückter ist.
So ist’s:
In erster Linie erschreckend. Ein bisschen unglaublich. Aber irgendwie auch sehr faszinierend
Typischster Satz:
Ich stehe in einer dunklen Toilettenkabine, es ist sauheiß und ich schwitze, vor mir kniet der Schatzmeister eines ostdeutschen Finanzverbands und wartet darauf, dass ich ihm in den Mund pisse. Keine Ahnung, wie es zu dieser Situation gekommen ist.“
Berlin-Hintergrund des Autors:
Airen, der seinen Klarnamen nicht Preis gibt, kommt eigentlich aus Oberbayern. Nach Berlin ging er nach seinem Studium für einen Job in einer Unternehmensberatung. Mittlerweile lebt er in Mexiko.
Was will man nach der Lektüre machen?
Jedenfalls erst mal nicht ins Berghain gehen.
Gesamtnote: 2

christian-helten



Johanna Adorján: Meine 500 besten Freunde (2013) 




Welches Berlin lernen wir kennen?
Das Berlin der Selbstdarsteller
Worum geht’s?

Um frustrierte Journalistinnen, gestresste Filmstars, gechasste Künstler – kurz gesagt: um das gesamte Kreativpersonals der Hauptstadt, in 13 Geschichten. Sie alle versuchen, nach außen etwas darzustellen, Erfolg zu haben, anderen zu imponieren und sich dabei selbst nicht zu verlieren. Das geht natürlich meistens schief und ist ziemlich deprimierend.
Welche Klischees werden bedient?
Berlin ist oberflächlich. Kreative sind oberflächlich. Vorne wird gestreichelt, hinten wird gebissen. Jeder kennt und jeder hasst jeden und tut alles für die eigene Karriere, ohne Rücksicht auf Verluste.
So ist’s:
Die Pointen der Geschichten sind oft ziemlich plump und die Frauenfiguren fast allesamt unerträgliche Zicken auf High Heels. Aber das Buch eignet sich trotzdem ganz gut als schnell-weglesen-Lektüre für lange Zugfahrten. Bonus: Es sieht sehr schön aus und fühlt sich toll an (geprägter Leineneinband!).
Typischster Satz:
„Auf den BH zu verzichten, hatte sie wieder aufgegeben, da die Nachteile deutlich überwogen hatten.“
Berlin-Hintergrund der Autorin:

Johanna Adorján wurde zwar in Stockholm geboren und ist in München aufgewachsen, lebt aber seit vielen Jahren in Berlin.
Was will man nach der Lektüre machen?

Dringend echte Freunde treffen und mit ihnen an den See fahren. Und nie-, nie-, niemals im Journalismus arbeiten.
Gesamtnote: 3

nadja-schlueter




Kristin Oieng: Bitte. Nicht. Drängeln. Ein Stadtführer für Misanthropen (2013) 




Welches Berlin lernen wir kennen?
Das Berlin der Schlechtgelaunten und das derer, die für die schlechte Laune anderer sorgen.
Worum geht’s?

Um nervige Mitmenschen. Die in der U-Bahn die Leberwurststulle aus der Tupperdose holen und schmatzen. Die den Gang im Zug schon 15 Minuten vor der nächsten Haltestelle verstopfen. Die Rollkoffer hinter sich herziehen. Um Zweite-Reihe-Parker. Einen Frutarier-Mitbewohner, der mit dem Küchenhandtuch der Autorin Saftkleckse wegwischt. „Bezaubernde Damen“ in Pelzmänteln, die sich an der Wursttheke vordrängeln. Die „Schwitzenden, Keuchenden, Röchelnden“ in Wartezimmern. Die mit den Schildern, auf denen steht: „aus fremder Schuld in Not geraten.“ Touristen mit Currywurstschälchen. Schnarchige Burger-Braterinnen. Straßentrommler.
Welche Klischees werden bedient?
Berlin ist billig und voll, der Berliner (vor)laut und unfreundlich, weil die Wahrscheinlichkeit, sich noch mal zu begegnen, gering ist.
So ist’s:
Anstrengend. Die Autorin beschreibt sehr aufmerksam Szenen, die jeder aus dem Alltag kennt, zum Beispiel wenn ein selbst ernannter Reiseführer sehr überzeugt erklärt: „Und das ist der Fernsehturm, echte Berliner nennen ihn Alex.“ Dem Ganzen fehlt allerdings die Struktur, was auch an den sehr vagen Kapitelüberschriften wie „Die Hauptstädter“ liegt. Auch wenn man bei manchen Szenen schmunzelt und ja, Ironie und überhaupt, das Buch macht trotzdem schlechte Laune. 
Typischster Satz:
„Hinter der Theke arbeitete eine junge Frau von guter Gesundheit, wie es schien, ihr Gang war flüssig, ihre Nase sauber, beide Hände einsatzbereit. Keine äußeren Anzeichen für eine Erkrankung. Bis auf die Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegte.“
Berlin-Hintergrund der Autorin:
„Wahlberlinerin“. Kristin Oeing kommt aus Bremerhaven und lebt seit fast vier Jahren in Berlin.
Was will man nach der Lektüre machen?
Die Autorin umarmen. Ganz fest. Wenn sie nicht in der Nähe ist: einsame Hütten auf Cabinporn.com bestaunen.
Gesamtnote: 4-

kathrin-hollmer


Julian Heun: Strawberry Fields Berlin (2013)




Welches Berlin lernen wir kennen:
Das Berlin der frustrierten Existenzen, die ihren Frust an anderen auslassen.
Worum geht’s:

Um den Boulevardjournalisten Schüssler, einen Unsympathen wie er im Buche steht, der skrupellos um Erfolgsstorys ringt, und den Jungspund Robert, der seiner großen Liebe nach Indien hinterher reist und in einer Hippiekommune nicht nur Harmonie, sondern auch seine eigene Wut kennenlernt.
Welche Klischees werden bedient:

Berlin teilt sich in Hipster und Hipsterhasser. Dazwischen gibt es nichts, außer vielleicht junge Mütter mit Sportkinderwägen.
So ist’s:

Relativ lange versteht man nicht so recht, was das mit den parallel geführten Geschichten soll, bis einen am Ende der ausgebuffte Clou überrascht. Das macht Spaß. Ansonsten sind die Szenen, in denen aktiv etwas passiert, toll – die Passagen, in denen die Protagonisten über sich und Hipster und was nicht alles reflektieren dafür umso ermüdender und vollgestopft mit sprachverliebten Neologismen.
Typischster Satz:

„Und mein Berlin ist nur im Sommer erträglich, wenn der hässliche Zeitungsverkäufer kurz glücklich ist und aus Versehen grüßt, die Stadt aufquillt, sich bis an die Stadtrandseen erweitert, die Gehsteige zu kleinen Wohnzimmern werden und jedes Getränk doppelt so gut schmeckt [...].“
Berlin-Hintergrund des Autors:

Julian Heun wurde in Berlin geboren und ist auch dort geblieben, heißt: studiert jetzt da. Und wurde bereits zwei Mal zum Berliner Poetry-Slam-Meister gekürt. Reicht wohl alles in allem, um ein Buch zu schreiben, in dem diese Stadt eine wichtige Rolle spielt.
Was will man nach der Lektüre machen:

Pauschalurlaub.
Gesamtnote:
2

valerie-dewitt



Ju Innerhofer: Die Bar (2013)






 Welches Berlin lernen wir kennen:
Das drei-Tage-wach-Berlin und das Berlin der arroganten Partygänger, die alle, die sich nicht ständig in ihren Kreisen bewegen, für langweilige, unerfahrene Idioten halten.
Worum geht’s:

„Die Bar“ ist ein (von der „Bar25“ inspirierter) Club, der einem Märchenland gleicht und in dem die Ich-Erzählerin (studierte Medizinerin) arbeitet. Die Trauer ist groß, denn dies ist der letzte Sommer der Bar. Also alle noch mal schnell die Wochenenden durchfeiern, sich Zeug in die Nase ziehen und überlegen fühlen! Doch dann kündigt sich noch ein zweites, wesentlich tragischeres Ende an.
Welche Klischees werden bedient:

Nirgendwo kann man so gut feiern und ungestört Drogen konsumieren wie in Berlin.
So ist’s:

Dreiviertel des Buches wird überhaupt keine Geschichte erzählt, sondern (leider ziemlich erfolglos) versucht, die Atmosphäre des Clubs heraufzubeschwören. Das Ganze mündet dann im letzter Viertel in einer „Leaving Las Vegas“-mäßigen Story, die einen aber ebenfalls völlig kalt lässt, weil die Autorin es nicht schafft, sie einem nahe zu bringen. Stattdessen erklärt uns die Ich-Erzählerin oberlehrerhaft ihre Partywelt. Unsympathisch.
Typischster Satz:
„Es ist heiß und schwül. Trotzdem habe ich mir hautenge schwarze Lederimitat-Hosen angezogen, schließlich ist es als Barfrau unmöglich, eine Schicht ohne verschütteten Alkohol oder Spritzer von klebrigen Fruchtsäften zu überstehen.“
Berlin-Hintergrund der Autorin:

Ju Innerhofer lebt als Journalistin und Autorin in Berlin und hat dort selbst vier Jahre in Clubs gearbeitet. Da sie vorher auch noch Humanmedizin studiert hat, sind die Parallelen zu ihrer Ich-Erzählerin mehr als deutlich.
Was will man nach der Lektüre machen:

„Tatort“ gucken und Kamillentee trinken. Aus Trotz.
Gesamtnote: 4-

nadja-schlueter

Schwangerschaft zu verkaufen

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Den Liebsten auf die Probe stellen, sich an der Ex-Affäre rächen oder sich einfach einen üblen Scherz erlauben? Das Angebot an positiven Schwangerschaftstests auf Auktionsplattformen wie Ebay wächst. Die Motive der Kundinnen sind dabei vielfältig.

„Sie bieten hier auf einen Schwangerschaftstest mit positivem Ergebnis“, so lautet die erste Zeile der Produktbeschreibung auf Ebay. Dazu der Hinweis: „Artikel wurde bereits benutzt. Natürlich ist der gebrauchte Test nicht mehr zu nutzen.“

Auf den ersten Blick ein schräges Angebot, doch was steckt dahinter? Entstanden ist die Geschäftsidee in den USA, wo eine werdende Mutter der Einfall ereilte, ihren positiven Schwangerschaftstest online zum Verkauf anzubieten. Interessierte Kundinnen erhalten seither ganz bequem per Mausklick das notwendige Utensil, um eine Schwangerschaft vorzutäuschen, denn a
uch in Deutschland folgen Dutzend Frauen ihrem Beispiel: Unter dem Suchbegriff „Positiver Schwangerschaftstest“ findet man auf der deutschen Ebay-Seite 27Angebote. 

Erste Erkenntnis beim Stöbern durch die dubiosen Anzeigen auf der Auktionsplattform: Viele der Verkäuferinnen sind Wiederholungstäterinnen. Im Wortlaut klingt das folgendermaßen: „Habe mehrere Test gemacht, somit kann auf Wunsch evtl. auch als Sofortkaufangebot ein Test eingestellte werden.“ Einen bis 21 Euro verlangen die werdenden Mütter dafür. In den USA sind die Preise mit bis zu 44 Dollar sogar noch höher. Und damit dem ganzen Unternehmen auch eine gewisse Ernsthaftigkeit anhaftet, werden die meisten Tests praktischerweise mit Originalverpackung versendet, damit das folgende Spektakel auch das notwendige Maß an Glaubhaftigkeit aufweist.  Denn egal, ob es sich um einen üblen Scherz oder einen Akt der Verzweiflung handelt, zumindest echt soll das Ganze in jedem Fall wirken. 



Man muss nicht schwanger sein, um einen Test mit zwei Ergebnisstreifen vorweisen zu können - etwas Auktionstalent tut es auch.


Sollte man zufällig über ein solches Angebot stolpern und gar nicht wissen, was man damit anfangen soll, so klärt die Produktbeschreibung über mögliche Verwendungszwecke für die gebrauchten Tests auf. Der wohl beliebteste Beweggrund scheint dabei ein plötzlicher Anflug von fragwürdigem Humor zu sein. Sich mal einen harmlosen Scherz mit dem Partner oder gemeinsamen Bekannten zu erlauben, das geht doch in Ordnung – soweit zumindest die Einschätzung der Verkäuferinnen.  Aber bleibt es wirklich dabei oder mutiert die vermeintlich witzige Idee zur Allzweckwaffe in Krisenzeiten? Im entscheidenden Moment kann so ein kleiner Strich immerhin erhebliche Konsequenzen haben und lässt sich als Druckmittel bewusst eingesetzt durchaus dafür nutzen, eine brüchige Beziehung kurzfristig zu kitten oder dem untreuen und/oder ehemaligen Partner einen Denkzettel zu verpassen. Aus Sicht einiger amerikanischer Anbieterinnen eignen sich die Tests zudem wunderbar dafür, zu prüfen, ob es sich beim aktuellen Partner um Mister Right handelt. Und wer weiß? Womöglich könnten die Tests sogar dazu dienen, eben jenen (endlich) aus der Reserve zu locken und dazu zu nötigen, den ersehnten Verlobungsring alsbald aus der Tasche zu zaubern.  

Im deutschsprachigen Raum sind es bisher vergleichsweise wenige werdende Mütter, die den geschäftstüchtigen Schwangeren aus den USA nacheifern. Möglicherweise haben viele von ihnen noch Skrupel, in das dubiose Geschäft einzusteigen. Nicht zu Unrecht, denn die Gemüter in Foren wie Mamacommunity oder rund-ums-baby.de erhitzen sich bei Diskussionen um den Verkauf und die Verwendung von gebrauchten Schwangerschaftstests. Einige Anbieter scheinen die Flut bissiger Kommentare bereits zu erahnen und weisen daher eindeutig darauf hin, dass die von ihnen versendeten Tests keineswegs als Mittel benutzt werden sollen, um den Partner oder die Affäre „bösartig aufs Kreuz zu legen“. Die vier Worte „als Scherzartikel zu verwenden“ tauchen folglich überdurchschnittlich oft in der Produktbeschreibung auf, um bloß nicht unnötig das eigene Gewissen zu belasten oder potentielle Kunden auf dumme Gedanken zu bringen. Bleibt nur die Frage bestehen, ob es nicht eben jene dummen Gedanken sind, welche die Käufer erst zu dem Angebot führen oder schlicht die pure Neugier auf mögliche Reaktionen und die Lust darauf, Grenzen auszutesten - getarnt in einem Anflug von schrägem Humor?  

Abgesehen von diesem moralischen Dilemma gibt es, zumindest für alle empfindlicheren Gemüter, die in erster Linie die Frage der Hygiene beschäftigt, beruhigende Worte von findigen Verkäufern: So schreibt eine der Damen, die ihren gebrauchten Test zum Verkauf anbietet, um die Hygiene müssten sich ihre potentielle Kunden keine Sorgen machen, der Test habe ja immerhin eine Verschlusskappe. Und wen dieses Argument nicht überzeugt, für den gibt es immer noch Alternativen. Bei crazystuff.ch oder auch prankplace.com sind die vermeintlichen Scherzartikel auch gänzlich „unkontaminiert“ zu kaufen.

Laufhaus der unfertigen Träume

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Jan hat als Bachelorarbeit ein Magazin über Baumärkte gemacht. Im Interview erklärt er, was Kunst und Baumärkte miteinander zu tun haben, warum die Gänge im Baumarkt an Sakralbauten erinnern und Alltagsflucht auch zu Obi führen kann.

Jan Lichte, 24, hat gerade seinen Bachelor in Kommunikationsdesign an der FH Münster gemacht und ein Praktikum bei Mirko Borsche in München begonnen. "Der Baumarkt" ist seine Bachelorarbeit und sieht einfach wunderschön aus, mit seinem Einband aus rauer Pappe und den großzügigen Fotostrecken von verlassenen Baumarkt-Außengeländen und Stillleben aus Montageschaum und Enten-Teichfiguren. Unterhaltsam und informativ ist es aber auch:Ein Essay behandelt das Thema Basteln als Lebensgefühl, in einem Interview erzählt Mandy, die zwei Jahre bei Obi gearbeitet hat, wie sie sich Antworten auf Kundenfragen ausgedacht hat, und aus einem Lexikon kopierte Seiten erklären Baumarkt-Begriffe wie "Aufstecksenker".

Wir haben mit Jan über sein Magazin und die besondere Ästhetik und Philosophie von
Hornbach- und Obi-Märkten gesprochen.

jetzt.de: Zeitschriften haben viel mit Alltagsflucht zu tun, man träumt von Reisen in ferne Länder, von der abgeschiedenen Berghütte oder unbezahlbaren Kleidern. Wie ist das mit einem Magazin über den Baumarkt?
Jan Lichte:
Magazine wie "Landlust" und "The Weekender" spielen mit dem Romantisch-Verklärten, das wir vor Augen haben, wenn wir an das Landleben oder Reisen denken, beim Baumarkt ist das ein bisschen ähnlich. Obi- und Hornbach-Märkte sind Orte, an denen man sich stundenlang verliert, auch wenn man nur eine Schraube kaufen will, Orte, an denen man Zerstreuung und Entspannung sucht, nur nicht auf so eine romantische Weise, sondern alltäglicher. Im Klappentext habe ich den Baumarkt als "Laufhaus der unfertigen Träume" beschrieben, das trifft es ganz gut. Man hat immer Träume, und Baumärkte sind die Orte, an denen ihre Verwirklichung liegt.  

Welche Träume sind das?
Ein Baumarkt ist eine Inspirationsquelle, darauf spielen die ganzen Werbe-Slogans wie "Mach dein Projekt!" und "Es gibt immer was zu tun" an. Man hat immer irgendwelche Projekte im Hinterkopf, möchte an seiner Wohnung oder seinem Haus etwas modifizieren, das Bad neu fliesen, die Bäume beschneiden oder noch ein Fenster einbauen, weil zu wenig Licht in die Wohnung fällt. Wenn man schon die Welt nicht verändern kann, dann wenigstens das Zuhause.

Wie bist du auf die Idee gekommen, ein ganzes Magazin über Baumärkte zu machen?

Ich hatte erst die Idee, ein Magazin zu machen, das ein bis zwei Mal im Jahr erscheint und sich monothematisch mit einem Gesellschaftsphänomen beschäftigt. Man hat aber nur drei, vier Monate Zeit für die Bachelorarbeit, da musste ich mich für ein Thema entscheiden, an dem ich das exemplarisch zeige. Das war dann der Baumarkt.  

Warum gerade der?

Mein Papa hat einen riesigen Bastelkeller und mich als Kind immer mit in den Baumarkt genommen. Ich fand schon immer, dass das ein faszinierender und kurioser Ort ist. Allein der Geruch, der fast wie ein Leitsystem ist: In der Holzabteilung riecht es nach Sägemehl, bei den Teppichen nach Gummi und Plastik und in der Gartenabteilung nach Zoo. Ein Baumarkt setzt sich aus all dem zusammen, was unsere Lebenswelt ausmacht, unsere Wohnzimmer, Küchen und Gärten bestehen praktisch aus Baumarktartikeln. Fotografisch ist der Baumarkt eine riesige Spielwiese.  



Kunst und Philosophie des Baumarkts auf 112 Seiten.

Hast du so etwas wie eine Ästhetik des Baumarkts entdeckt?
Alles im Baumarkt ist nicht an seinem Bestimmungsort und entwickelt dadurch eine ganz neue, entrissene Ästhetik, die kleinen Gartenhäuschen auf dem Parkplatz zum Beispiel. Es ist ein Sammelsurium unterschiedlicher Dinge, ganz straight nach Sortimenten wie "Bad" und "Bauholz" sortiert. Diese triste Strenge oder das verlassene Außengelände durchbrechen zum Beispiel bunte Gießkannenberge oder Folienrollen. Durch seine mächtige Deckenhöhe und die überquellenden, funkelnden Regalreihen erinnert so ein Baumarktgang fast an einen Sakralbau.  

Du schlägst im Magazin viele Parallelen zur Kunst, wie passt die mit Baumärkten zusammen?

Wegen der Sachen, die man im Baumarkt findet. Dieses ganze "Halbzeug" ist eine große Inspirationsquelle für Künstler. Im Baumarkt liegen und stehen Materialien, die noch nicht fertig verarbeitet sind, die das Potenzial haben, für die unterschiedlichsten Sachen verwendet zu werden, und zwar für ganz andere als die, für die sie eigentlich gedacht sind. Martin Wöhrl, von dem ein Interview im Heft ist, sprüht zum Beispiel Figuren aus Isolier-Schaum.  



Wie viel Zeit hast du für dein Magazin im Baumarkt verbracht?
Am Anfang war ich viel zur Inspiration dort, dann, um Organisatorisches wie die Fotogenehmigung zu klären, später zum Fotografieren selbst, manchmal war ich auch nur am Sonntag auf dem Außengelände unterwegs. Insgesamt war ich bestimmt 50 Mal dort, im Zeitraum von dreieinhalb Monaten.  

Bist du selbst auch Heimwerker?
Ich mache Vieles gerne selbst, bin aber nicht so gut wie mein Papa. Immer, wenn wir etwas zusammen bauen, streiten wir, weil ich etwas anders machen würde, und er das natürlich besser weiß. Ich arbeite ziemlich gerne mit meinen Händen, auch wenn ich Grafikdesigner geworden bin. In unserer WG in Münster habe ich die Wände gestrichen, Möbel repariert, wenn etwas kaputt gegangen ist. Und wir hatten immer ein Schimmelproblem, das heißt, wir mussten oft Anti-Schimmel-Farbe auftragen. 

"Der Baumarkt" ist als erste Ausgabe der Magazinreihe "Das Trivial" gedacht, das Orte beleuchtet, die jeder aus seinem Alltag kennt. Was findest du an solchen Orten spannend?
Die meisten Menschen laufen immer ihrer Arbeit und anderen Sachen verpflichtet durch die Gegend und nehmen viele charmante Randerscheinungen gar nicht mehr wahr. Diesen möchte ich jeweils ein ganzes Heft widmen und sie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.  

Monothematische Hefte wie
"Dummy" sind gerade auch sehr erfolgreich.
"Dummy" ist eines meiner Vorbilder, neben den "Stadtaspekten" und dem "Wedding". In einem monothematischen Heft kann man ein Thema sehr vertiefen, weil man nicht zig Ressorts und Rubriken abdecken muss, und kann, wie der "Dummy" das auch macht, die Gestaltung dem Thema anpassen, was für mich als Grafikdesigner sehr spannend ist. In einem Magazin mit einem festgelegten Layout kann ich mich nicht so auf ein Thema einlassen. 

Wie hast du das im "Baumarkt" umgesetzt?
Die raue Pappe als Einband und allgemein das Roughe, Unverarbeitete sind Trends in der zeitgenössischen Magazingestaltung, aber es passt inhaltlich einfach sehr gut zu meinem Thema. Die Schrift, die sich durch das Heft zieht, ist die "Maison Neue". Für den "Baumarkt" habe ich mehr Ecken angebracht und die Schrift etwas kaputt gemacht, das soll darauf anspielen, dass Heimwerken von der Werbung als selbstverwirklichendes Projekt angepriesen wird, für Ungeübte aber oft eine Schinderei ist und selten die erhofften Resultate hervorbringt. Ich habe die Schrift "Maison Neue Tiernahrung" getauft.  



                              Jan Lichte

An welche Orte hast du für deine Magazinreihe noch gedacht?
Es sollen charmante, verschrobene Gesellschaftsphänomene sein, die Randgeschichten erzählen. Ich dachte noch an Sonnenstudios, Eckkneipen und Trinkhallen.  

Kann man den "Baumarkt" noch irgendwo bekommen?
Erst mal nicht, die 60 Hefte, die ich habe drucken lassen, sind schon weg, ich plane aber, noch welche nachzudrucken, auch für mich selbst.

Planst du eine weitere Ausgabe?
Das kommende halbe Jahr werde ich dafür kaum Zeit finden. Noch lieber als eine neue Ausgabe würde ich gerne den "Baumarkt" perfektionieren und im Eigenverlag herausbringen. Wenn ich eine neue Ausgabe machen würde, wäre es ein Double-Feature unter dem Oberbegriff "Vergangene Gloria", in dem es im vorderen Teil um Tennisplätze und im hinteren um Solarien geht. In den Neunzigern war beides so cool, jeder war im Tennis-Verein, jeder wollte möglichst braungebrannt sein. Heute hat beides an Popularität verloren, das macht es für mich wieder spannend. 

Willkommen in der Echokammer

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Der Kurznachrichtendienst Twitter dient oft als Gradmesser für politische Stimmungen - doch ist er das?

Es gibt auf den ersten Blick nur wenig, was dem Bild vom Internet als einem Refugium der demokratischen Meinungsvielfalt widerspricht. Die technischen, finanziellen und sozialen Einstiegshürden sind (zumindest in den Wohlstandsdemokratien des Westens) niedrig. Wer mit seiner Meinung weitgehend innerhalb der Grenzen des demokratischen Diskurses bleibt, braucht trotz massiver staatlicher Überwachung kaum Repressionen zu fürchten.



Lässt sich die Stimmung im Netz einfangen? Und wenn ja, wie repräsentativ ist sie wirklich?

Dass es mit der Partizipation der Massen im Internet aber bei weitem nicht so weit her ist, darauf weist nun ausgerechnet das Ereignis im laufenden Bundestagswahlkampf hin, dem schon in seiner grundsätzlichen Struktur jegliche Beteiligungsmöglichkeit des Souveräns abgeht: das Fernsehduell zwischen der Bundeskanzlerin und ihrem Herausforderer.

Weil Fernsehender und Nachrichtenseiten in ihrem Begleitprogramm zum Rededuell die Frage nach der "Stimmung im Netz" öfter mal mit dem Vorlesen von zwei, drei Tweets beantworteten, griff der Hamburger Journalist und Redakteur im Netzwelt-Ressort von Spiegel Online Ole Reißmann mit deutlichen Zahlen in den Diskurs ein: "Nur mal angenommen, ein paar eifrige Nutzer haben das #tvduell kommentiert und alle paar Minuten einen Tweet geschrieben. Vielleicht 25 in 90 Minuten. Dann reichen schon rund 7000 Twitter-Nutzer aus, um auf 173 000 Tweets zu kommen. Das wären dann 0,01 Prozent der Wahlberechtigten", schrieb er und löste damit eine Debatte aus, die nun ausgerechnet von jenen geführt wird, die sich sowieso zur meinungsstarken, deutschsprachigen Internetöffentlichkeit zählen. Und die auch in den USA schon Fragen aufwirft.

Dabei geht es vor allem um die Frage, wer eigentlich all jene sind, die sich auf Twitter äußern und von Massenmedien inzwischen leichtfertig als "das Netz" bezeichnet werden. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Twitter veröffentlicht keine Informationen zu den soziokulturellen Merkmalen seiner Nutzerschaft. Nur ein paar vage Eckdaten gibt es, die Hinweise auf die Größe dieses ausgewählten Teil der deutschsprachigen Internetnutzer zulassen.

250 000 Tweets seien zum Fernsehduell am vergangenen Sonntag verschickt worden, 173 000 davon während das Duell im TV lief, sagt das Unternehmen. Doch von wie vielen Nutzern diese Wortmeldungen stammen, dazu gibt es keine offiziellen Informationen. Eine Auswertung einer unabhängigen Analysefirma kommt auf 36 000 unterschiedliche Nutzer. Das sind zwar deutlich mehr, als die von Reißmann geschätzten 7000 Beteiligten, ändert aber nichts an dem Eindruck, dass die "Stimmung im Netz" in Wahrheit die Stimmung von wenigen gut vernetzten Journalisten, Politikern und solchen, die das noch werden wollen, widerspiegelt. Multiplikatoren zwar, aber ganz und gar kein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung, noch nicht einmal der Internetnutzer. "Es sind Menschen, die dieselben Tools nutzen, eine gemeinsame Sprache sprechen, bestimmte Witze verstehen. Jedenfalls sind sie nicht "das Netz", schreibt Reißmann.

Dass in der Öffentlichkeit dennoch immer wieder der Eindruck entsteht, Twitter sei das Internet und umgekehrt, ist wohl auf die äußerliche Offenheit zurückzuführen, die sich Twitter verordnet hat. Twitter, das war lange Zeit ein radikaler Gegenentwurf, zum nach außen abgeschlossenen Facebook. Twitter ist ein einfacher Weg, um als Journalist einen Beleg für eine politische Haltung zu finden. Twitter weckt die Illusion, dass man das Dickicht Internet mit ein paar Mausklicks durchschauen könnte.

Das Gegenteil ist der Fall. Nun da das Internet immer weiter wächst, die Algorithmen es immer passgenauer auf den einzelnen Nutzer zuschneiden, wird es zugleich unübersichtlicher. Es sei langsam an der Zeit sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass das Internet mehr als alles andere in der Lage ist, unsere Augen für neue Perspektiven und Erfahrungen zu öffnen, schrieb das Hausblatt der Technikgeeks Wired kürzlich in einem erstaunlichen Anfall von Selbstzweifel. Und auch der CNN-Journalist Peter Hamby kommt in einer Studie, die nun in der New York Times rezipiert wurde, zu dem Ergebnis, dass die amerikanischen Medienöffentlichkeit zu "einem gigantischen twitternden Klümpchen" verkommen sei.

Kein Ende des Regenbogens

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Istanbul soll schöner werden, findet ein Rentner und bemalt drei Treppenstufen. Die Politik fürchtet sogleich Protest und Aufruhr - kann aber nicht verhindern, dass nun sogar ganze Straßen in knallbunten Farben leuchten.


Wenn Hüseyin Çetinel durch Istanbul geht, sieht er viel Grau: graue Steinwände, graue Straßen, graue Geländer, jede Menge grauer Treppen. Hüseyin Çetinel, ein pensionierter Ingenieur, wünscht sich mehr Farbe in seiner Stadt. Kurzerhand griff er deshalb zum Pinsel und malte drei Stufen an. Passanten sahen die bunte Treppe im Stadtteil Beyoglu und nickten anerkennend. Davon ermutigt fasste Hüseyin Çetinel einen Plan: Schnell trommelte er drei Freunde zusammen, investierte 1500 Lira (560 Euro) in 40Kilo Farbe, dann strichen sie zusammen die gesamte Treppe an. Als das Quartett fertig war, leuchteten schließlich 200 Stufen in allen Farben des Regenbogens. Er wolle "seine Umgebung verschönern", sagte Hüseyin Çetinel der Zeitung Hürriyet Daily News. Was er nicht wissen konnte: Die bunten Stufen sollten für jede Menge Aufregung sorgen.



Istanbul soll bunter werden - finden Hüseyin Çetinel und seine Mitstreiter

Es ist eine heikle Angelegenheit, das Stadtbild von Istanbul zu verändern. Die Proteste gegen die Neugestaltung des Gezi-Parks, die sich im Juni zu einer nationalen Krise ausgeweitet hatten, sind noch in den Köpfen von Bewohnern und Politikern in Istanbul. Und so griff die Verwaltung durch. Zwei Tage, nachdem Hüseyin Çetinel und seine Freunde ihre Arbeit beendet hatten, überstrichen städtische Angestellte die bunten Stufen mit grauer Farbe. Wie Hürriyet Daily News berichtet, fürchteten die Kommunalpolitiker offenbar, die bunten Stufen seien das Werk von Aktivisten der seit den Gezi-Protesten erstarkten Schwulen- und Lesbenszene.

Schnell verselbstständigte sich die Geschichte. Im Internet formiert sich heftiger Widerstand gegen die Entscheidung der Stadt. "Diren!", die Parole der Gezi-Proteste, wurde aufgewärmt. Twitter-Hashtags mit Begriffen wie #direnmerdiven (LeisteWiderstandTreppe) wurden durchs Netz gezwitschert. Doch der Ärger wurde nicht nur verbal artikuliert. Für den vergangenen Samstagnachmittag verabredeten sich wütende Aktivisten an der grau überstrichenen Treppe. Sie wollten die Stufen wieder bunt anstreichen. Innerhalb weniger Tage wurde aus einer bunten Treppe im Istanbuler Stadtteil Beyoglu ein Symbol für autoritär empfundene Politik.

Schon im Frühsommer, als die Proteste am Taksim-Platz ihren Höhepunkt erreichten, waren die Gegner des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan durch kreativen Protest aufgefallen. Ende Juli hatten zwei Demonstranten im Gezi-Park eine öffentliche Hochzeitsparty organisiert. Die türkische Presse feierte das Paar als "die Liebesgeschichte des Aufstandes". Zu Ikonen des Widerstands wurden auch Aktivisten wie der Performance-Künstler Erdem Gündüz, der als "Standing Man" Tausende Menschen zum stummen Protest gegen die Regierung antrieb. Noch immer wird jede Bewegung in der Gegend um Taksim-Platz und Gezi-Park von den Regierenden genau beobachtet. Am Sonntag erst, dem Weltfriedenstag, verhinderten Polizisten eine Menschenkette.

Die Regenbogen-Treppe jedoch wurde auch ohne derartige Aktionen gerettet. Denn inzwischen war dem Bezirksbürgermeister aufgefallen, dass die Verwaltung möglicherweise etwas vorschnell reagiert hatte. In der Nacht zum Samstag, noch bevor die Demonstranten mit Pinsel und Farbe anrückten, schickte Misbah Ahmet Demircan, ein Parteifreund Erdogans, seine Arbeiter mit einem neuen Auftrag los: Sie sollen die Treppe wieder bunt anmalen.

Über Twitter hatte Demircan schon am Tag zuvor versucht, die wütenden Aktivisten zu beruhigen. Hüseyin Çetinel habe leider den Fehler gemacht, vor dem Streichen der Stufen nicht mit Anwohnern und Behörden zu sprechen, so der Bürgermeister. Nach Protesten von Nachbarn hätten die städtischen Arbeiter reagieren müssen.

Nun allerdings ist auch Demircan ein großer Freund der bunten Stufen geworden. Auf Twitter kündigt er eine Abstimmung an mit dem Ziel, alle Treppen der Umgebung bunt anzustreichen. "Ich werde mit Ja stimmen und hoffe, die Anwohner werden es mir gleichtun", verspricht Demircan - und fügt hinzu: "Die Ära der bunten Stufen wird in Beyoglu beginnen."

Viele Istanbuler haben den Bewohnern des Stadtteils Beyoglu die Entscheidung aber bereits abgenommen. Denn mittlerweile haben Menschen in der ganzen Stadt Stufen und Straßen bunt angemalt.

Weiße Männer

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Warum ein Jürgen statt einer Katrin für die Grünen ins TV ging

Es ist ja in jüngster Zeit viel vom Ende des weißen Mannes die Rede gewesen, der künftig nicht mehr die Geschicke der Welt bestimmen werde. Da kann man es dem weißen Mann kaum verdenken, wenn er die ihm verbleibende Zeit optimal nutzt, für ein paar Kriege, Börsencrashs oder Auftritte in der ARD.



V.l.n.r: Gregor Gisy (Die Linke), Rainer Brüderle (FDP) und Jürgen Trittin (Grüne)

Am Montagabend durften drei weiße Männer (genauer: drei zum Teil fernsehkompatibel angebräunte ältere Herren) eine Stunde des Abendprogramms füllen. Streng genommen waren es sogar fünf, da einen Tag nach dem sogenannten TV-Duell zum sogenannten TV-Dreikampf nicht nur Gregor Gysi von der Linken, Rainer Brüderle von der FDP und Jürgen Trittin von den Grünen erschienen waren, sondern auch Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk sowie Jörg Schönenborn vom Westdeutschen Pendant. Schönenborn wird am Donnerstag 49 Jahre alt und war mit Abstand der Jüngste in der Runde. Der nächstjüngere Teilnehmer war Jürgen Trittin. Er wird nächstes Jahr 60.

Die Zusammensetzung war insofern erstaunlich, als die Grünen neben dem Spitzenkandidaten Trittin auch eine Spitzenkandidatin haben, die Katrin Göring-Eckardt heißt, 47 Jahre alt ist und der Runde schon allein deshalb gut getan hätte. Ungefähr so hatte man das Signal ja auch allgemein gedeutet, als die Parteimitglieder Göring-Eckardt zur Kandidatin ihrer Wahl gekürt hatten: Endlich mal ein neues (oder jedenfalls nicht ganz so altes) Gesicht. Und dann stand am Montag eben doch wieder Trittin da. Neben Brüderle. Wahrscheinlich hätte Göring-Eckardt auch einfach nur dastehen und gar nichts sagen können und trotzdem ein paar Stimmen für die Grünen gesammelt. Am nächsten Tag zeigte sie übrigens im Bundestag, dass sie die Runde wohl auch rhetorisch noch hätte bereichern können.

Also, warum?

Weil, heißt es in der Pressestelle der Grünen, die Spitzenkandidaten sich die Fernsehtermine fein säuberlich untereinander aufgeteilt hätten. So sei unter anderem vorgesehen, dass Göring-Eckardt in der sogenannten Berliner Runde drei Tage vor der Wahl sitze, außerdem am Abend nach der Bayernwahl bei Günther Jauch, ferner in einer Ausgabe der Sendung "Hart aber fair" (und Jürgen Trittin in einer anderen). Am Dienstagabend sollte sie zudem am sogenannten Wahlcheck des ZDF teilnehmen, während im zweiten Teil dieses Formats am Mittwoch dann wiederum Jürgen Trittin vertreten sein sollte. Mag ja alles sein. Die Herrenrunde vom Montagabend dürfte trotzdem hängen bleiben.

Bleibt die Frage, warum Gysi da war. Die Linke hat ja nicht nur zwei Spitzenkandidaten, sondern ein aus acht Menschen bestehendes sogenanntes Spitzenteam, zu dem auch Sahra Wagenknecht, 44, zählt. Die hätte vielleicht auch ganz gern neben Rainer Brüderle gestanden. Zumindest für diese eine Stunde.

Aber so ist das mit dem weißen Mann, er zeigt erstaunliche Beharrungskräfte, und man sollte sich nicht zu sicher sein, dass er in Gestalt von Gysi, Brüderle, Trittin nicht auch noch 2017 das Abendprogramm bestreiten darf. Die Debatte an und für sich war jedenfalls gar nicht mal so übel.

Leber in Wodka

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Göttinger Transplantationsarzt soll auch Suchttrinkern Organe eingepflanzt haben

Natürlich gibt es auch Menschen, die Knollenblätterpilze essen und dann akut an Leberversagen leiden. Oder Menschen, die sich mit Hepatitis infiziert haben und schwere Leberschäden davontragen. Aber viele Menschen, die eine neue Leber brauchen, haben das Organ selbst geschädigt: Sie sind Alkoholiker. Und weil es Befürchtungen gibt, dass alkoholkranke Menschen nicht nur ihr altes Organ zu Tode getrunken haben, sondern das auch mit ihrem neuen tun werden, gibt es eine harte Regel: Niemand bekommt ein neues Organ, wenn er nicht sechs Monate lang trocken war. Der Göttinger Oberarzt und Transplanteur Aiman O. aber hat, so steht es in der Anklage, Menschen eine neue Leber verschafft, die noch kurz vor der Operation eine halbe Flasche Wodka am Tag getrunken haben.



Ein Arzt soll Alkoholikern neue Leben verpflanzt haben, was gegen die Vorschriften verstößt.

Doktor O. muss sich in einem aufsehenerregenden Prozess wegen elffachen Totschlags verantworten. Aiman O. habe sich, so die Staatsanwälte, über die Regeln der Bundesärztekammer hinweggesetzt und die Blutwerte seiner Patienten manipuliert, um sie auf der Warteliste für ein neues Organ nach vorne zu hieven. Andere seien dabei übergangen worden - mit möglicherweise tödlichen Folgen. In drei Fällen soll er zudem Patienten operiert haben, die noch gar keine neue Leber brauchten. Sie starben. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Arzt Körperverletzung mit Todesfolge vor.

Es ist gar nicht so leicht, die Vorwürfe auf diesen lapidaren Punkt zurückzuführen, denn zeitweise gleicht der Prozess vor dem Landgericht Göttingen einem wissenschaftlichen Kolloquium. Da dürfen die Verteidiger des Angeklagten immer wieder, während der Zeugenbefragung, ihre rechtlichen Bewertungen abgeben. Da kann sich das Gericht kaum ihrer Schriftsätze erwehren. Mühsam erklärt der Richter den Verteidigern, dass die Kammer die rechtlichen Aspekte der Taten "schon von Amts wegen zu berücksichtigen habe". Aus dem Juristendeutsch übersetzt heißt das: danke für die Anregungen, aber wir brauchen keine Nachhilfe. Das Göttinger Gericht beschreitet rechtlich neues Terrain. Jahrelang galten Betrügereien mit der Warteliste auf eines der begehrten Organe nur als Ordnungswidrigkeit. Aufgrund der Machenschaften am Göttinger Klinikum und an anderen Krankenhäusern wurden die Strafnormen verschärft - und die Spendenbereitschaft fiel infolge des Skandals deutschlandweit rapide ab.

Unter den elf Fällen, in denen Doktor O. gegen die Vorschriften transplantiert haben soll, sind etliche Menschen, die ein Alkoholproblem hatten. Dabei schließen die Richtlinien der Uniklinik Göttingen bei Alkoholkonsum ein neues Organ ausdrücklich aus - und Doktor O. hat diese Richtlinien persönlich mitverfasst. Der Richter fragt: "Herr Doktor O., möchten Sie uns mitteilen, wie Sie zu den Richtlinien stehen?" Es herrscht hier Kammerton. Der Verteidiger geht sofort dazwischen. "Der Mandant möchte sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht äußern." - "Und wie stehen Sie zu den Manipulationsvorwürfen? Haben Sie die begangen oder nicht", fragt der Richter. Auch dazu will sich Doktor O. lieber nicht äußern, er lässt die Vorwürfe zurückweisen. Immer dann, wenn es konkret wird, ist Doktor O. sehr schmallippig.

Professor Doktor Tobias Beckurts ist Chefarzt der Chirurgischen Klinik der Augustinerinnen in Köln und Mitglied der Prüfungskommission der Bundesärztekammer, die die Manipulationen am Klinikum Göttingen untersuchte. Er hat selbst jahrelang transplantiert. Und er sieht viele Grenzfälle, wo man transplantieren kann. Aber an einem Punkt kennt er kein Pardon: Ein Alkoholiker muss sechs Monate trocken sein, bevor er für ein neues Organ infrage kommt. "Das hat sonst keinen Sinn, ein Alkoholiker wird sein neues Organ durch Alkohol genauso schädigen wie sein eigenes." Die Karenzzeit habe zudem einen guten Effekt: Manche Leber erholt sich in der Zeit, sodass nicht mehr transplantiert werden muss. Doktor O. hatte zu Beginn des Prozesses eingeräumt, er habe einer Frau eine neue Leber eingepflanzt, die zwei kleine Kinder hatte. Die Frau hatte laut Anklage bis kurz vor der Operation getrunken. Es blieb offen, ob O. auch operiert hätte, wenn er von dem Alkoholmissbrauch gewusst hätte.

Am Dienstag sagte die Frau aus, die im Auftrag von Doktor O. die Daten in den Computer der Organspendezentrale Eurotransplant eingab. Sie sagte, manchmal sei ihr etwas eigenartig vorgekommen. Dann habe sie bei Doktor O. nachgefragt. Der habe ihr gesagt: "Frau Schmidt, davon verstehen Sie nichts." Einmal habe sie zur Antwort bekommen: "Bleiben Sie entspannt, wir wollen doch Menschen helfen." Doktor O. habe sie und ihren Kollegen immer wieder auflaufen lassen.

Nach der Inhaftierung von Doktor O. wurde die Warteliste für Transplantationspatienten im Klinikum Göttingen überprüft. Von den an die 150 Patienten seien viele gestrichen worden, derzeit stünden nur noch 27 Patienten auf der Liste, sagte der Leiter des Transplantationsbüros. Viele Patienten hätten dort nichts zu suchen gehabt. Einer dieser von der Warteliste genommenen Patienten ist nun gestorben. Und die Verteidigung von Doktor O. hat Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft möge prüfen, ob die Streichung ursächlich war für den Tod und ob es noch mehr Tote gebe. So würde sich der Vorwurf, den die Staatsanwaltschaft gegen Doktor O. richtet, gegen das Klinikum kehren: dass es den Tod von Menschen billigend in Kauf genommen habe. Die Staatsanwälte prüfen, halten die Anzeige jedoch für "taktisch motiviert".

Vertriebene des Krieges

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Mehr als sechs Millionen Syrer sind auf der Flucht

Leid lässt sich schlecht in Statistiken fassen, und doch vermittelt eine Zahl eindrucksvoll die Dimension der Tragödie in Syrien: Zwei Millionen Menschen sind vor dem Bürgerkrieg ins Ausland geflohen, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Dienstag in Genf bekanntgegeben hat. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2004 hatte das Land 19,8 Millionen Einwohner, vor dem Ausbruch des Konflikts im Frühjahr 2011 waren es nach UN-Schätzungen etwas mehr als 22 Millionen. Etwa jeder zehnte Syrer hat also inzwischen seinen Heimat verlassen. Dazu kommen 4,25 Millionen Menschen, die im Land selbst fliehen mussten - 6,25 Millionen Syrer also sind Vertriebene dieses Krieges.



Syrische Flüchtlinge an der Grenze zum Irak

Die Flüchtlingszahlen zeichnen auch ein Bild von der Eskalation der Auseinandersetzung: Hatten sich vor einem Jahr etwa 230000 Syrer ins Ausland gerettet, flohen allein in den vergangenen zwölf Monaten noch einmal 1,8 Millionen. 5000 Flüchtlinge kommen derzeit jeden Tag in den Nachbarländern Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und auch Ägypten an, die 97 Prozent von ihnen aufnehmen. Mehr als die Hälfte von ihnen, 52 Prozent, sind Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 17 Jahren.

Die Furcht vor einem Militärschlag der USA hat in den vergangenen Tagen die Situation noch verschärft: Zwischen 30000 und 40000 neue Flüchtlinge aus Damaskus und Umgebung seien im Libanon eingetroffen, sagte Martin Glasenapp von Medico International. Sie stammten aus Vierteln mit vielen Militäreinrichtungen, die Ziel von Angriffen werden könnten.

Die für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissarin Kristalina Georgiewa sprach von einem "entsetzlichen Meilenstein" der Krise. Die hohe Zahl der Flüchtlinge aus Syrien sei eine Tragödie für die Betroffenen. Mehrere Staaten der Region sähen "ihre eigene Stabilität durch zahlreiche Probleme gefährdet". Allein in Libanon sind mehr als 715000 Syrer untergekommen - in einem Land, das 2010 geschätzt knapp 4,1 Millionen Einwohner hatte. Da die Gewalt stetig zunehme, müsse man damit rechnen, dass auch die Flüchtlingszahl weiter steige.

Das UNHCR veröffentlichte zugleich Zahlen, die Hilfsappelle westlicher Politiker heuchlerisch erscheinen lassen. Von den 1,1 Milliarden Dollar an benötigten Hilfsgeldern hat das Hilfswerk erst 548 Millionen bekommen, etwa 40 Prozent davon kamen aus den USA. Deutschland hat seit Beginn der Krise insgesamt 228 Millionen Euro bereitgestellt und weitere 200 Millionen Euro zugesagt. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte die EU-Staaten auf, mehr syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Deutschland habe als erster EU-Mitgliedsstaat 5000 Flüchtlingen Aufnahme angeboten, sagte sie im Bundestag. Kritiker monieren allerdings, diese Zahl sei viel zu gering; so viele Menschen fliehen jeden Tag.

Die Kosten für den Wiederaufbau Syriens würden sich laut der regierungsnahen Zeitung al Watan derzeit auf umgerechnet 55,5 Milliarden Euro belaufen. Der Immobilienexperte Ammar Jussef habe errechnet, dass in den vergangenen zweieinhalb Jahren seien 1,5 Millionen Wohnungen ganz oder teilweise zerstört wurden.

Nicht mehr trendy

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Papier, Gummistiefel, Handys: Der finnische Nokia-Konzern hat sich oft gewandelt

Es sind zwei Ranglisten, die erklären, in welcher Position sich Nokia befindet. Erstens: In der weltweiten Produktion von Handys, also den Mobiltelefonen klassischer Art, rangiert Nokia auf Platz zwei. Das Unternehmen lag mit seinen Handys 14 Jahre lang unangefochten an der Spitze, erst im vergangenen Jahr verkaufte Samsung mehr Geräte. Auch die Deutschen liebten Nokia und seine mobilen Telefone, 33 Millionen wurden im Jahr 2007 hierzulande verkauft.





Aber Smartphones? Kann Nokia nicht. Jedenfalls nicht so gut wie die Konkurrenz. In diesem Markt, der rasant wächst, während der Handymarkt schrumpft, ist das Unternehmen aus Finnland nicht einmal unter den ersten fünf zu finden. Auch bei den Smartphones ist Samsung die Nummer eins. Fast jedes dritte Gerät, das weltweit verkauft wird, stammt von dem südkoreanischen Konzern - sein Marktanteil ist damit zehnmal so hoch wie der von Nokia.

Der Aufstieg und Fall von Nokia im Telefongeschäft zeigt, wie schnell sich dieser Markt wandelt. Er zeigt aber auch, wie sehr Nokia, diese Ikone der finnischen Wirtschaft, dieses Symbol für ein fortschrittliches, modernes Land, das voll auf die Wissensgesellschaft gesetzt hat, sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verändert hat. Das Unternehmen wurde bereits 1865 in Tampere im Südwesten des Landes gegründet, und es hat damals als Papierhersteller begonnen. Benannt wurde es nach dem Fluss Nokianvirta. Nokia exportierte seine Produkte vor allem nach Russland und Großbritannien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam dann die Herstellung von Produkten aller Art hinzu, von Fahrradreifen, Gummistiefeln oder Gasmasken.

Der einstige Papierhersteller schloss sich 1967 dann mit einem Kabelhersteller zusammen. Aus diesem Konglomerat entstand der Telefonkonzern Nokia, der ab 1981 zunächst klobige Autotelefone und später auch die ersten, 800 Gramm schweren Mobiltelefone produzierte. Eines davon trug den Spitznamen "Gorba", weil auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow damit telefoniert hat.

Anfang der 90er hat sich das Unternehmen ausschließlich auf das Telefongeschäft konzentriert: auf Telefone und die Netzwerk-Technik. Seither wurde die Produktpalette beständig erweitert. Und Nokia lag dabei mit seinen Innovationen oft vor der Konkurrenz. Emails abrufen: Konnte man mit Nokia-Geräten seit 1996. Das Internet aufs Handy holen: Davon hat das Unternehmen bereits 1999 gesprochen. Farbige Bildschirme, Kameras in Handys: Nokia war dabei. Nokia war trendy, als die Handys von Siemens längt als "out" galten.

Doch dann kam im Jahr 2007 das iPhone von Apple auf den Markt - zeitgleich mit dem ersten Smartphone von Nokia. Damit begann der Abstieg von Nokia. Denn ab diesem Moment gewann plötzlich die Software an Bedeutung. Die Hardware samt Aussehen, Funktionen und technischen Fähigkeiten war nicht mehr das einzig Wichtige. Viel bedeutsamer war: Wie intuitiv ist das System, das der Nutzer bedient? Das von Nokia entwickelte Symbian-Betriebssystem galt als klobig. Es wurde von den Kunden nicht angenommen. Die Handys von Nokia haben viele Funktionen, hieß es, aber sie sind unmöglich zu bedienen. 2012 wurde Symbian eingestellt.

Seither nutzte Nokia für seine Smartphone das Betriebssystem von Microsoft namens "Windows Phone". Auch deshalb entschied sich Nokia-Chef Stephen Elop für eine Zusammenarbeit mit Microsoft. Was bleibt nun von Nokia übrig? Vor allem das Netzwerk-Geschäft, das bis Anfang Juli gemeinsam mit Siemens im Joint-Venture Nokia-Siemens Networks betrieben wurde. Statt 56000 Mitarbeitern wird Nokia künftig nur noch gut 20000 Beschäftigte haben.

Wer bist du für Google?

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Was die Menschen im Netz suchen, das beschäftigt sie. Eine Studie verrät jetzt zur Bundestagswahl: "Finanzkrise" wird in Deutschland kaum noch gegoogelt, "Miete" und "Asyl" dafür häufiger. Welche Begriffe suchst du immer wieder? Und was sagt das über dich?

In der Kommode neben dem Telefon meiner Eltern lag ein Telefonbuch. Es wurde nur alle paar Jahre ersetzt, deshalb waren die meistbenutzten Seiten speckig-grau, die Druckerschwärze verwischt vom Blättern mit angeleckten Fingerkuppen. Unter diesen besonders häufig angeblätterten Seiten waren immer die mit den Buchstaben G und V.  

G wie Gemeinde - dort standen die Öffnungszeiten des Wertstoffhofs. Und V wie Villa Verde - die nächstgelegene Pizzeria. Eine forensische Untersuchung unseres Telefonbuchs hätte also den Schluss nahegelegt, Familie Stremmel habe ein besonderes Interesse an der fachgerechten Entsorgung von Abfall sowie der telefonischen Bestellung von Pizza. Kein besonders rundes Bild, aber die Indizien sprächen für sich.  

Das war in den Neunzigerjahren, im Pleistozän des Internets. Heute wäre das Bild um einiges runder, denn heute ist Google das Telefonbuch der Welt. Es weiß exakt, was uns beschäftigt, denn es speichert jeden Begriff, nach dem wir suchen.  





Gerade hat Google die häufigsten Suchbegriffe des ersten Halbjahres 2013 mit denen von 2009 verglichen. Weil: Damals war Bundestagswahl, jetzt ist wieder Bundestagswahl. Man fand es also interessant zu schauen, wie sich die politischen Begriffe verändert haben, nach denen die Deutschen suchen.  

Das Ergebnis: „Finanzkrise“ ist als Begriff stark gesunken, „Miete“, „Asyl“ und „Mindestlohn“ werden hingegen deutlich häufiger nachgeschlagen als damals. Daraus könnte man nun vielerlei folgern: Möglicherweise haben die Deutschen die Finanzkrise mittlerweile so gut durchblickt, dass sie sie nicht mehr googlen müssen. Die Miete hingegen, ein vermeintlich hinlänglich bekanntes Phänomen, scheint heute rätselhafter denn je zu sein. Oder ist es doch die sogenannte Mietpreisspirale in den Innenstädten, die die Deutschen zum plötzlichen Nachblättern im Netz bringt?  

Wer ein Google-Konto hat, kann seine eigenen Lieblings-Suchbegriffe mit ein paar Klicks über das „Webprotokoll“ einsehen. Fühlt sich ein bisschen so an, als habe jemand anders für einen selbst Tagebuch geführt – minutiös. Meine Top-Suchanfragen sind: Wetter München (naja, da wohne ich), Yann-Arthus Bertrand und Klaus Biesenbach (oha - über die habe ich vor Monaten geschrieben). Aus der Sicht von Google bin ich also ein Mensch, der sich vor allem für das Wetter, französische Dokumentarfilmer und deutsche Museumskuratoren interessiert. Nichts von wegen Asyl oder Mindestlohn, nicht mal die NSA-Abhöraffäre (der „Newcomer 2013“ bei Google) taucht in meinen Suchbegriffen auf.  

Was schätzt du, was du in letzter Zeit am häufigsten gegoogelt hast? Bist du auch in erster Linie ein banaler Wetter-Sucher? Googelst du regelmäßig die Öffnungszeiten der nächsten Postfiliale, das Rezept für Blaubeermuffins oder diesen einen Song von Dings? Und, mal angenommen, jemand würde deine Google-Begriffe analysieren: Welches Bild würde sich dann von dir zeichnen?

Vom Penis am Hals und dem Arm im Bett

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Schniedelförmiger Schmuck, spezielle Kuschelmatratzen und der Skandal um Femen - das und noch mehr findest du in der aktuellen Topsexliste!

Endlich schmerzfrei kuscheln 



Kuscheln ist ja schon schön, wenn einem bloß nicht immer mindestens ein Arm dabei einschlafen würde! Viel zu lange hat es gedauert, bis sich jemand eine Lösung für dieses unangenehme Problem überlegt hat. Aber jetzt gibt es sie endlich, die „Cuddle Matress“. Die hat ganz einfach Lücken, in die man die Arme stecken kann, wenn sie unter dem Partner liegen, sodass sie nicht gequetscht werden (und auch welche, in die man die Füße stecken kann, wenn man auf dem Bauch schläft).

PR, PR!



Die barbusigen Aktivistinnen von „Femen“ stehen immer wieder in der Kritik. Die Vorwürfe lauten: medienwirksam, aber ohne Substanz, keine Message, kein Programm, unglaubwürdig. Jetzt erzählt der Dokumentarfilm "Ukraine is not a Brothel" eine Geschichte der Gruppe, die die Vorwürfe erhärtet. Wenn diese Geschichte stimmt, dann ist es nämlich so: Hinter „Femen“ steckt nicht der Wille emanzipierter, wütender, selbstbewusster Frauen, sondern das Konzept von Victor Svyatski. Der ist angeblich nicht nur ein Unterstützer der Aktivistinnen, sondern Gründer der Gruppe und hält die Fäden in der Hand. Die 28-jährige Filmemacherin Kitty Green aus Australien will das aufgedeckt haben. Sie sagt, Svyatski gehe ziemlich grausam mit den Mädchen um, schreie sie an und nenne sie „Schlampen“. Er selbst, so zitiert es der „Independent“, bezeichnet die Frauen als „charakterschwach“ und „unterwürfig“. Eine Aktivistin vergleicht die Beziehung zwischen ihm und den Gruppenmitgliedern gar mit dem „Stockholm Syndrom“– bei dem Geiseln Zuneigung für ihren Geiselnehmer entwickeln.

Und dann gibt es aktuell noch einen zweiten „alles nur PR“-Aufreger: Über den Twitter-Account @ochdominos und das Blog kleines-scheusal.de wurden frauenfeindliche und antifeministische Botschaften verbreitet, angeblich von einer jungen, hübschen Frau. Da war die Freude im antifeministischen Lager groß, endlich konnte die Welt sehen, dass nicht nur privilegierte weiße Männer Antifeministen sind. Der Journalist Malte Welding hat jetzt herausgefunden, dass dahinter doch keine junge, hübsche Frau steckte, sondern eine PR-Agentur. Die hat sich bereits dazu geäußert und alles zugegeben. Und die privilegierten weißen Männern ärgern sich wahrscheinlich.

Wikileaks-Informantin
Große Freude und einen Segen für die Toleranz gibt es hingegen im Falle Chelsea Manning: Als Wikileaks-Informant stand Bradley Manning vor Gericht, jetzt hat sie ihre weibliche Identität öffentlich gemacht und heißt seitdem Chelsea Manning. Die Tagesschau und Zeit online schreiben daher nun konsequent über die „Wikileaks-Informantin“ und verwenden den neuen Namen. Dafür werden beide Medien gelobt und gefeiert, zum Beispiel auf Twitter.

Penis am Hals



Schon etwas älter, aber immer noch sehr hilfreich, ist das kleine Tutorial des „New York Magazine“, in dem uns erklärt wird, wie wir den von Rapperin Ke$ha entworfenen Penisschmuck tragen oder auch nicht tragen sollen. Zum Beispiel besser gar nicht an Sonnentagen, weil dann möglicherweise eine penisförmige weiße Stelle im Dekolleté zurückbleibt und besser auch nicht in der Nähe einer Schule, weil der „rotgesichtige Kicher-Quotient“ da zu hoch ist. Okay, liebes NY Mag, machen wir so!

Flamingos sind kitschig



Nein, was schön! Ein Naturfotograf hat diesen Schwarm Flamingos fotografiert, als er mit seiner Freundin über den Logipi-See in Kenia flog. Das von den Vögeln gebildete Herz soll den Fotografen sogar dazu bewegt haben, seiner Freundin kurze Zeit später einen Heiratsantrag zu machen. Er glaubt wohl noch an Zeichen und Wunder. Oder die Flamingos glauben halt an die wahre Liebe.

Party on!
Wo wir schon beim Heiraten sind: endlich mal wieder ein schönes Hochzeitsvideo! Fröhliche Menschen, viel Liebe, schöne Braut, schöner Bräutigam, viele Küsse, und das alles in Zeitlupe und mit Gute-Laune-Musik.
http://vimeo.com/72365593

Schneestürmer

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Ein Fotograf aus München hat am Wochenende den wichtigsten Preis für Actionsport-Fotografie gewonnen. Das Bild hat er an einer Satellitenstation in der bayerischen Provinz gemacht. Ein Interview über minutiöse Planung und den exakt richtigen Moment zum Auslösen.




jetzt.de: Du bist ein Freund der Zweckentfremdung, oder?
Lorenz Holder: Nicht unbedingt. Aber ich kann mir vorstellen, worauf du anspielst.
Darauf, dass eine Satellitenstation nicht fürs Snowboardfahren erfunden wurde.
Klar. Es ist so: Als Snowboardfotograf bist du eigentlich erst mal relativ limitiert. Es gibt zwei große Bereiche: Entweder du gehst in die Berge oder du gehst in die Stadt. In der Stadt fahren – und fotografieren – die meisten Snowboarder und Snowboard-Fotografen vor allem an Spots, an denen es Rails gibt –ähnlich wie beim Skaten. Ich will die Leute ein bisschen verblüffen und zeigen, dass da noch mehr ist. Dass es fast überall Spots gibt, an denen man etwas machen kann. Man muss nur kreativ mit offenen Augen durch die Stadt laufen oder durch die Gegend fahren.
 
Du willst andere Fotografen erziehen?
Nein, aber es gibt schon viele Fotografen, die ein bisschen engstirnig sind und sehr in geschlossenen Schachteln denken. Eine Stadt wie München gibt viel mehr her als nur blöde Geländer, die total unfotogen in einem Park an einer Treppe stehen. Ich glaube, dass es interessant ist, die Sportfotografie kreativ mit Architektur-, Kunst- und Landschaftsfotografie zu verweben.
 
Bei deinem Siegerfoto beim Illume-Award, das du an der Satelliten-Bodenstation in Raisting am Ammersee aufgenommen hast, ist das offenbar geglückt. Wie kam es dazu?
Ich bin da im Sommer öfter vorbei gefahren. Mich hat es sehr fasziniert, wie diese Satellitenschüsseln da in der oberbayerischen Voralpenlandschaft stehen. Das sieht total skurril aus. In diesem Moment habe ich noch gar nicht an Snowboarden gedacht. Das ist ein Prozess, der da abläuft.
 
Das Motiv muss erst in dir reifen?
Ich würde sagen: Ein Motiv ist dann ein gutes Motiv für ein Snowboard-Foto, wenn es auch ohne den Snowboarder funktionieren würde. Wenn ich mir das Bild von der Satellitenschüssel bei Nacht auch so ins Wohnzimmer hängen würde, ist das die wichtigste Voraussetzung für ein gutes Action-Foto. Ich habe tatsächlich bei einer Ausstellung mal ein Foto verkauft, auf dem ein Snowboarder auf dem Dach eines Parkhauses zu sehen war. Der war ziemlich klein. Ein Mädchen hat das Bild gekauft. Zwei Wochen später habe ich eine E-Mail bekommen. Sie schrieb, dass sie gerade den Snowboarder entdeckt hat.
 
Wie hast du das Foto in Raisting geplant?
Ich war insgesamt sechs Mal dort und habe Landschaftsbilder gemacht, in ganz unterschiedlichen Stimmungen und Lichtsituationen. Am Morgen, im Sonnenuntergang mit den Alpen im Hintergrund. An einem total nebligen Tag habe ich dann auch mal gewartet, bis es dunkel wird, weil ich zufällig die Blitze im Auto hatte. Da habe ich das Bild eigentlich schon mal genau so geschossen, wie es jetzt aussieht – nur ohne Snowboarder und mit einer Nebelwand statt des Schneesturms. Da habe ich erkannt, dass die Silhouette eines Snowboarders, der diese Wand rauf fährt, sich ein bisschen wegdrückt und springt, sehr cool aussehen könnte.
 
Und dann hast du auf Schnee gewartet?
Das war tatsächlich ein Problem. Es passiert nicht so oft, dass da viel Schnee liegt und es gleichzeitig neblig ist. Um den Lichteffekt zu haben, musste also ein ordentlicher Schneesturm her.
 
Also spielt neben dem Foto-Know-How und einem guten Auge auch das Glück eine große Rolle bei so einem Foto?
Ja. Es muss sehr viel zusammenpassen: Das Wetter muss stimmen. Ich muss in München sein und Zeit haben, wenn das Wetter stimmt. Ein Snowboarder muss spontan Zeit haben. Beides ist nicht selbstverständlich in einer Branche, in der alle ständig unterwegs sind.

Aber du hattest Glück.
Ja. Als ich im Wetterbericht morgens von dem Schneesturm erfahren habe, habe ich den Xaver Hoffmann angerufen, er hat schnell die Kinder bei Oma und Opa abgegeben und ist von Garmisch losgefahren.
 


Wie wichtig ist der Trick auf diesem Foto? Du hast ja gesagt, das Foto muss auch ohne den Snowboarder funktionieren.
Naja, das Motiv muss auch ohne Snowboarder ein tolles Foto ergeben. Aber wenn man sich entscheidet, aus dem Motiv ein Actionfoto zu machen, dann ist es extrem wichtig, dass der Trick perfekt ist. Der Trick ist dann das A und O. Wenn der nicht sitzt oder ich als Fotograf im falschen Augenblick abdrücke, kann das Motiv noch so toll sein – das Bild ist dann kaputt. Auch wenn der Snowboarder nur einen winzigen Teil des Fotos ausmacht, ist er ganz zentral für das Gelingen.
 
Die Landschaft bei den Satellitenanlagen in Raisting ist flach. Wie hat Xaver Anlauf für den Sprung genommen?
Wir haben eine Winch benutzt. Die verwendet man eigentlich beim Wakeboardfahren, wenn man kein Boot hat oder an einem See kein Lift ist. Das ist im Prinzip ein Rasenmähermotor mit einer Seilwinde dran. Damit kann man sich beschleunigen. Die haben wir auch bei dem Waterslide-Foto in Oberschleißheim und an der Großhesseloher Brücke benutzt.
 
Bist du im Winter in München viel unterwegs zum Fotografieren?
In München eigentlich wenig. Weil es selten über einen längeren Zeitraum hinweg genug Schnee hat. Und die Münchner Polizei steht nicht gerade im Ruf, sich über Snowboarder in der Stadt zu freuen. München hat da eine starke Hausmeistermentalität. Wenn da vor der Haustür was passiert, das man nicht kennt, heißt es erst mal: Das geht aber auf gar keinen Fall!
 
Wie reagiert ihr, wenn euch jemand verscheuchen will?
Oft kann man in aller Ruhe erklären, was man vorhat, und dass man nichts kaputt macht. Viele verstehen das aber auch nicht. Verständlich: Wenn wir auf der Großhesseloher Brücke einen Wallride fotografieren und da zwei Stunden lang mit Schubkarren Schnee auf den Fußgängerweg unterhalb der Bahngleise bringen, sieht das komisch aus. Lustig war in dem Fall, dass die Polizei mit Blaulicht auf die Brücke gefahren kam. Wir dachten: Warum kommt ihr denn mit Blaulicht zu uns? Übertreibt mal nicht! Die sind aber an uns vorbei gefahren. Die Polizei benutzt die Brücke wohl manchmal als Abkürzung über die Isar, wenn sie einen Einsatz hat.    

Gibt es Stellen in München, an denen du gerne mal fotografieren würdest, aber genau weißt, dass es nie klappen wird?
Die BMW-Welt zum Beispiel. Die ist sehr fotogen und es gibt da Spots, an denen man mit dem Snowboard was machen könnte. Aber die sind da sehr empfindlich.




Lorenz

Meine Straße (5): Adelgundenstraße

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Niemand kennt eine Straße so gut wie die Menschen, die in ihr leben. Deshalb bitten wir hier regelmäßig junge Münchner, uns ihre Nachbarschaft zu zeigen. Die schönsten Ecken, die schrulligsten Typen, die nettesten Anekdoten. Heute: die Adelgundenstraße.

Lisa, 22, Studentin, wohnt in der Adelgundenstraße im Lehel.


Die Adelgundenstraße ist klein und eng, eine Einbahnstraße. Sie führt vom Mariannenplatz direkt hinüber zur poshen Maximilianstraße. Sie ist unaufgeregt, bei weitem keine Shoppingmeile, eigentlich ist hier reines Wohngebiet mit vielen Altbauten, aber auch 50er-Jahre-Häusern, die an die Lücken erinnern, die der Krieg hier in den Häuserreihen hinterlassen haben muss.



Lisa in ihrer Straße.


"Adel 12 – Lunch und Feinkost", Nummer 12:
Was für eine Perle! Das Essen hier wird immer sehr liebevoll angerichtet und ist eigentlich auf dem Niveau eines Sterne-Restaurants. Es gibt Exotisches wie Jakobsmuscheln, Grönlandkrabbensalat oder Blaukrautrisotto. Wer jetzt denkt, dass es dann aber auch der Preis in sich haben muss, irrt. Ich dachte auch am Anfang, dass das eigentlich eine Nummer zu groß für meinen Geldbeutel ist, aber ein superleckeres Mittagessen gibt es schon ab zehn Euro. Und die nette Bedienung versüßt mir immer den Tag.

"Magic-Sushi", Nummer 5a:
Magic-Sushi ist ein Abhol- und Lieferservice. Gut, der kleine Laden sieht vielleicht nicht ganz so einladend aus, aber das Sushi ist einsame Spitze. Deshalb: nicht abschrecken lassen! Die Inhaberin und ihr Mann strahlen jedes Mal um die Wette, wenn ein Kunde den Laden betritt. Einziger Wermutstropfen: Man muss relativ viel Wartezeit einplanen, denn das Telefon steht nie still.

"Galerie Andreas Binder", Ecke Knöbelstraße:
Auch für Nicht-Kunstinteressierte lohnt sich ein Besuch in der Galerie von Andreas Binder. 29 verschiedene Künstler stellen in der weiß gehaltenen Galerie ihre Werke aus. Kunstverständnis hin oder her, schön anzusehen sind die Bilder allemal. Auch durchs Fenster!

"Bis zum Endsieg"

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Der Ex-Terrorist und Neonazi Martin Wiese steht wieder vor Gericht

Begleitet von drei kräftigen Kameraden betritt der Neonazi Martin Wiese das Landgericht in Würzburg. Seit drei Jahren ist er auf freiem Fuß, rasch hat er wieder Probleme mit der Justiz bekommen. Von "schneller Rückfallgeschwindigkeit" spricht die Staatsanwaltschaft. Sieben Jahre saß Wiese im Gefängnis, verurteilt als Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung, die einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in München geplant hatte. Als er freikommt, mischt der Rechtsterrorist gleich wieder in der Neonazi-Szene mit. Er habe es geschafft, zerstrittene Kameradschaften in Bayern zu einen, heißt es im bayerischen Verfassungsschutzbericht.



Der Neonazi Martin Wiese (Archivbild von 2012)

Auf einem "Nationalen Frankentag" hielt Wiese vor zwei Jahren eine Rede, für die ihn das Amtsgericht Gemünden unter anderem wegen Volksverhetzung zu 21 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilte. Er ging in Berufung, und so muss sich das Landgericht nun noch einmal anhören, was Wiese damals bei seiner Rede hervorbellte: Er schimpfte auf das "verschissene System" und kündigte an, die Ideale von Ehre und Treue weiterzuentwickeln "bis zum Endsieg". Dann wandte er sich an die Gegner: Allen, die sich den Neonazis entgegenstellen, die sie "hier" fotografieren und denunzieren würden, denen sage er: "Wir werden eines Nachts kommen, euch aus euren Löchern holen, vor einen Volksgerichtshof stellen und wegen Deutschlands Hochverrat verurteilen zum Tode."

Vor Gericht wird eine DVD mit der Rede vorgespielt, Richter Hans Brückner liest den Text anschließend noch einmal vor und sagt trocken: "Das ist dann mal die Rede." Wiese versucht, sich herauszureden. Einen Volksgerichtshof gebe es ja gar nicht, "das ist eine fiktive Geschichte". Es sei etwa so, "als wenn ich sagen würde, dass Mister Spock mit einem Raumschiff kommt und allen kreisrunde Löcher in den Kopf schießt". Er habe niemanden persönlich gemeint oder bedrohen wollen, sagt Wiese.

Als Zeugen sagen Journalisten aus, die den "Frankentag" beobachtet hatten. Einigen war mulmig geworden, als sie Wieses aggressive Sprüche gehört hatten. Ein anderer sagt allerdings, er habe das gleich als "Humbug" empfunden. So wollen es nun Wiese und sein Verteidiger Frank Miksch am liebsten hindrehen.

Gleich zu Beginn ist der Angeklagte bemüht, sich als braven Mann zu präsentieren, mit festem Arbeitsplatz als Berufskraftfahrer, einer Freundin und Unterhaltszahlungen für ein Kind, zu denen er rechtlich gar nicht verpflichtet wäre. Der 37-Jährige tut auch so, als sei er jetzt Privatier und kein Aktivist mehr. Früher habe er oft Reden gehalten und sich engagiert. Er sei zwar immer noch ein Nationalist, aber: "Der politische Weg, den ich gegangen bin, ist beendet." Eine politische Außenwirkung "macht für mich keinerlei Sinn mehr". Das hat ihn freilich nicht davon abgehalten, vor Gericht mit einem schwarzen T-Shirt aufzutreten, auf dem ein gezeichnetes Schaf abgebildet ist und dazu der Spruch: "Freiheit für Wolle". Mit dieser Parole solidarisieren sich derzeit viele Neonazis mit dem Thüringer Rechtsextremisten Ralf Wohlleben, der in Untersuchungshaft sitzt und einer der Angeklagten im NSU-Prozess ist. Wohlleben wird Beihilfe zum Mord und die Unterstützung der NSU-Terroristen vorgeworfen.

Erst vor wenigen Wochen stand Martin Wiese als "freier Aktivist" auf der Rednerliste einer rechtsextremen Veranstaltung in Kahla, dem "Thüringentag". Antifa-Aktivisten stellten hinterher ein Foto ins Internet, auf dem Wiese ebenfalls mit Schaf-Shirt zu sehen war. Beim "Frankentag" trug er dagegen ein Hemd mit der Aufschrift: "Seine Idee - unser Weg". Darunter die Signatur von Adolf Hitler.

Wiese tritt vor Gericht nicht ungebührlich auf, aber sehr forsch. Oft ergreift er das Wort, nennt Hinweise des Richters "Haarspalterei" und verkündet: "Ich bin vielleicht Nationalist, aber kein Idiot." Wiese plädiert auf Freispruch, sagt aber schon zu Beginn: "Ich weiß, dass ich verurteilt werde." Neonazis stellen sich gern als Opfer eines Systems vor, in dem sie keine Chance bekämen und in dem keine Meinungsfreiheit herrsche. Immer wieder schaut sich Wiese zu seinen Kameraden und seiner Freundin im Publikum um. Bei der Verhandlung im vergangenen Jahr in Gemünden sagte er, seine Freiheit sei ihm "sehr viel wert".

Ginge es nach der Staatsanwaltschaft, würde das Urteil vor dem Landgericht sogar noch höher ausfallen als in der ersten Instanz. Am Mittwochnachmittag wurde der Prozess dann aber überraschend unterbrochen, weil erst noch ein weiterer Redner des "Frankentags", der Rechtsradikale Sebastian Schmaus, als Zeuge aussagen soll. Die Verhandlung wird am 25. September fortgesetzt.

Schnitzeljagd auf der Weide

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Schweizer Bauern wollen Kühen Panik beim Schlachten ersparen

Tierschützer wissen es längst, Bauern ohnehin, und auch Konsumenten gelingt es immer weniger, die Tatsachen zu verdrängen: Wie Rinder geschlachtet werden, ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen. In seltener Einmütigkeit stimmen auch Feinschmecker zu. Denn Stress und Todesangst der Tiere im Schlachthof ruinieren die Qualität der Schnitzel, Steaks und Entrecôtes. Immer mehr Bauern in der Schweiz wollen nun Abhilfe schaffen. "Schlachten müssen wir, klar", meint der Agronom und Nebenerwerbslandwirt Eric Meili, der als Sprecher der Bewegung auftritt. "Die Frage ist: wie." Sein Vorschlag mag unkonventionell klingen, wird aber anderswo - auch in Deutschland unter bestimmten Bedingungen - praktiziert: Das Vieh wird auf der Weide erschossen, in vertrauter Umgebung, schnell und fast schmerzlos. Vor allem wird den Tieren beim Transport Leid erspart, weshalb das Projekt von der internationalen Tierschutzorganisation Vier Pfoten unterstützt wird.



Geschlachtete Rinder im Schlachthof

Meili und seine Mitstreiter wollen nicht, dass Schweizer Bauern ihre vom Armeedienst heimgenommene Waffe aus dem Schrank holen und auf der Alm auf Pirsch gehen. "Voraussetzung sind strenge Bestimmungen", sagt der 60-Jährige. "Gewehr und Munition müssen genau vorgeschrieben sein, ein Schalldämpfer muss verwendet werden, der Schütze muss ein Jagdpatent besitzen und im Umgang mit dem Gewehr geschult sein", erklärt Meili. "Er geht aus nächster Nähe vorbei, zielt auf den Kopf, drückt ab, zack, puff. Hat die Kuh auf dem Boden gelegen, sackt sie noch nicht einmal zusammen." Dann wird das Tier auf dem Hof ausgeblutet, bevor es ein Metzger im nahen Schlachthaus übernimmt.

Meili, der für das Schweizer Forschungsinstitut für biologischen Landbau arbeitet, näherte sich vom Ende her der Problematik. Mit seinen 30 Tieren produziert er hochwertiges Rindfleisch. Für dieses Ziel tat er alles, was er konnte: "Kein Kraftfutter, kein Mais in der Mast, gezielte Genetik, Naturphänomene ausnutzen." Den Horror der Schlachtung sucht er abzumildern. Er übt vorher mit den Tieren den Transport, begleitet sie auf ihrem letzten Weg, und hat eine Übereinkunft mit dem Schlachthof, dass seine Rinder am Ende des Tages als letzte an die Reihe kommen, damit sie die Schreie anderer Kühe nicht hören müssen.

Was Meili nicht vermeiden kann, sind der Transport und die letzten Augenblicke: die Fixierung in einem Stahlgestell und der Schuss mit dem Bolzen ins Hirn - so, wie es das Tierschutzgesetz vorschreibt. Daher hat das zuständige Veterinäramt des Kantons Zürich Meilis Vorschlag auch abgelehnt. Durch eine Kugel werden bislang nur Wildtiere getötet. Das gilt sogar für Zucht-Hirsche, die - wie Kühe - eingepfercht auf Weiden gehalten, aber von Hochsitzen aus "gejagt" werden. "Ich will nicht, dass morgen jedes Rind in der Schweiz auf der Weide geschossen wird", sagt Meili. "Ich will nur, dass diese Möglichkeit gesetzlich verankert wird." Gesetze, so glaubt er, müssen sich an eine veränderte Gegenwart anpassen. Deshalb will er Widerspruch einlegen gegen den Bescheid der Behörde. "Jetzt lassen wir halt einfach unseren Rechtsstaat laufen", meint er. "Langsam und demokratisch." 

Auferstanden aus Ruinen

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New York zeigt, wie eine Stadt sich erneuert

Eine der wichtigsten Lieder über New York hat Billy Joel geschrieben: In "Miami 2017" beobachtet er aus dem fernen Florida, wie das unwirtlich gewordene New York niedergerissen wird, weil ohnehin niemand dort wohnen möchte. ("I"ve seen the lights go out on Broadway"). Das Lied, ein gesungener Science-Fiction-Alptraum, stammt aus dem Jahr 1976, als die Stadt gerade knapp am Bankrott vorbeigeschrammt war. New York war damals lebensfeindlich, gefährlich, voller Drogen.



Sonnenuntergang in der 42. Straße in Manhattan

Heute, 37 Jahre später, spielen Radio-sender das Lied häufiger als je zuvor - allerdings als Hymne auf New York. Die Stadt liefert ein ermutigendes Beispiel dafür, dass Metropolen ihre Probleme lösen können, wenn der politische Wille und das Geld dafür da sind. Alteingesessene New Yorker erzählen solche Geschichten: "Können Sie sich vorstellen - die 42. Straße war früher eine Rotlichtbezirk?" Oder: "Können Sie sich vorstellen - früher konnte man nicht zu Fuß vom Methodist Hospital zur Brooklyn Academy of Music gehen? Das war lebensgefährlich." Nein, man kann es nicht vorstellen. Die 42.Straße ist eine teure Touristenmeile, das Gebiet um die BAM ein beliebtes In-Viertel.

Am wichtigsten für die Renaissance New Yorks war der dramatische Rückgang der Kriminalität. 1990 wurden in der Stadt insgesamt 2245 Menschen ermordet - der bisherige historische Höchststand. Im vergangenen Jahr gab es noch 414 Mordopfer. Nach der neuesten Statistik ist die Zahl der Morde in diesem Jahr bis Ende August nochmals um 26 Prozent gesunken.

Wenn die Angst vor Mord und Totschlag zurückgeht, ändert sich das Lebensgefühl. Die Menschen werden entspannter, sie sehen sich in der U-Bahn in die Augen. Harlem, in den achtziger Jahren eine No-Go-Area für Weiße, ist in Teilen ein ganz normales Wohnviertel geworden. Selbst in einem immer noch problematischen Quartier wie Bedford Stuyvesant in Brooklyn vermieten Hausbesitzer mittlerweile Zimmer an Touristen. "Bed Stuy" war 1964 durch Rassenunruhen verwüstet worden. Auch heute sollte man nachts nicht unbedingt allein durch das Viertel streifen. Aber auch hier ist die Zahl der Morde seit 1990 von 71 auf 11 im Jahr zurückgegangen.

Was die Lebensqualität in der Stadt ebenfalls verbessert hat, sind Investitionen - städtische und private. Die einst verrottete U-Bahn ist zwar immer noch nicht perfekt, aber sie funktioniert, es gibt neue Züge, Bahnhöfe werden renoviert, die Zahl der Fahrgäste steigt. Der Bryant-Park an der 42. Straße ist zu einer der schönsten grünen Inseln in Manhattan geworden. Ein großer neuer Park am Ufer des East River hat es den Brooklynern erlaubt, ihre "Waterfront" zurückzuerobern. Die Südspitze Manhattans, die manche nach den Terrorangriffen auf das World Trade Center aufgegeben hatten, ist zu einem attraktiven Wohnbezirk geworden.

Das Problem ist nicht mehr, dass verrottete Stadtteile abbrennen, wie es in Billy Joels Lied heißt. Was die Stadt beschäftigt ist das Gegenteil: Harlem und viele andere einst verschriene Viertel sind so teuer geworden, dass sie sich Durchschnittsverdiener nicht mehr leisten können. Dies schafft neue Spannungen. Die Aufgabe der Stadtpolitik heißt jetzt: Wie kann man bezahlbaren Wohnraum schaffen? Wie lässt sich verhindern, dass die Hauptstadt der Welt nur noch ein Spielplatz für die Reichen wird?

Die Sklavinnen von Femen

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Drei brisante Dokumentationen beim Filmfestival in Venedig gewähren Einblicke und lassen Abgründe erkennen.


Liegt es an der Spätsommerstimmung in der Lagune oder an der Lage des Lido, wo die Cineasten mit den letzten Badegästen allein sind? Jedenfalls ist Venedig unter den großen Filmfestivals das entspannteste. Auch Elend, Gewalt und Sadismus auf der Leinwand ändern daran wenig - gerade im demonstrativen Miserabilismus, der hier gepflegt wird, präsentiert sich das fiktionale Kino doch als sicheres, geschlossenes, weltabgewandtes System.





In diese Stimmung sind nun drei Dokumentarfilme geplatzt, die den Frieden gründlich durcheinanderbringen. Der erste stammt von Alex Gibney, der gerade erst mit einer Wikileaks-Dokumentation Aufsehen erregte. Hier widmet er sich nun dem Phänomen Lance Armstrong. Es war Gibney, von Armstrong ausgewählt, der im Jahr 2009 das Tour-de-France-Comeback des siebenfachen Siegers mit der Kamera begleitete. Dann kamen Doping-Vorwürfe, das Geständnis bei Oprah Winfrey, die Aberkennung aller Titel und die Sperre auf Lebenszeit. "The Armstrong Lie" untersucht nun, unter Mithilfe des Täters, wie diese gigantische Lüge im Herzen des Radsports so lange überleben konnte.

Die Antwort grenzt gerade in ihren Details, die hier sorgsam rekonstruiert werden, an puren Wahnsinn: Einmal täuschte der Champion eine Panne vor, verschwand vor aller Augen im Begleitbus und bekam drinnen eine der verbotenen Bluttransfusionen. Erstaunlich ist nicht nur Armstrongs fast pathologische Kaltschnäuzigkeit. Der Film zeigt ihn auch als meisterhaften Geschichtenerzähler, als Kommunikationsgenie, als Besessenen im Herzen eines Systems, das aber exakt so angelegt war, dass es Gewinner wie ihn produzieren musste.

Weiter geht es mit Errol Morris, dem Altmeister der politischen Dokumentation. Mit seinem patentierten Interview-System, bei dem die Befragten dem Zuschauer am Ende direkt in die Augen sehen, widmet er sich den Pensionären der Weltgeschichte, diesmal ist Donald Rumsfeld dran. "The Unknown Known" heißt der Film, nach einem der philosophischen Sprüche, mit denen sich der US-Verteidigungsminister als Falke im Irak-Krieg profilierte. Hier nun wirkt er aufrichtig, aber nicht einsichtig. Auch wenn er einige Fehler eingesteht. Nach den Folter-Fotos von Abu Ghraib etwa fühlte er sich verantwortlich und wollte zurücktreten, aber Bush ließ ihn nicht. Bezeichnenderweise wurmt Rumsfeld nicht, dass die Folter generell falsch war, dass in seiner Verantwortung Verbotenes und Unmenschliches geschehen ist - sondern dass diese Fotos die Sache des Feindes zu sehr gestärkt haben. Bei allem Unverständnis, das aufblitzt, merkt man, dass Morris seinen Gesprächspartner offenbar für persönlich integer hält. Noch schlagzeilenträchtiger wird es schließlich bei "Ukraina Ne Bordel (Die Ukraine ist kein Bordell)", einer intimen Dokumentation über die Frauen von Femen, die die Welt seit 2008 mit ihren Nacktprotesten in Atem halten. Die 28-jährige australische Filmemacherin Kitty Green war relativ früh mit ihrer Kamera dabei, noch vor der Femen-Reise nach Weißrussland 2011, als die Sache zunehmend gefährlicher wurde. Die schönen, selbstbestimmten, unerschrockenen Amazonen des Feminismus - diese Sichtweise scheint auch Green zunächst mit ihrer Kamera zu feiern, peitscht dazu mit dem Soundtrack die Stimmung auf: "Ra-Ra-Rasputin" grölen Boney M. Dann gibt es sogar Duschszenen mit den Aktivistinnen, schließlich muss die Farbe wieder runter von den Brüsten. Wo soll das hinführen, gerade weil Green sich selbst aller Statements enthält und die Mädchen reden lässt? Es führt geradewegs zu einer wirklich bitteren Wahrheit. Denn nach und nach wird klar, dass all diese Aktivistinnen, die oft erstaunlich naive Statements abgeben, große Angst haben - und zwar vor einem Mann.

Es ist niemand anders als Viktor Swjazkij, der in der Presse bisher gern als "Femen-Berater", manchmal auch als "Ideologe im Hintergrund" auftaucht. Dies wird nach diesem Film nun nicht mehr möglich sein - Green nimmt das offizielle Bild der Gruppe nicht nur auseinander, sie zerstört es komplett.

Denn bald sieht man Filmdokumente, in denen dieser Viktor nicht nur detaillierte Anweisungen für Aktionen gibt, jeden einzelnen Schritt, jedes Statement fast militärisch diktiert. Er brüllt herum, erniedrigt seine Aktivistinnen, beschimpft sie für ihre Feigheit, erinnert sie an die Dollarzahlungen, die sie bekommen haben. Und die Frauen geben schließlich vor der Kamera zu, wie abhängig und verängstigt sie sind, wie absurd die interne Machtstruktur der Gruppe der offiziellen Ideologie widerspricht. Eine verwendet sogar die Worte "Sklavin" und "Stockholm-Syndrom". Es ist erschütternd.

So muss nun alles, was Femen betrifft, völlig neu bewertet werden. Etwa die kürzlich berichtete Flucht von drei Aktivistinnen aus der Ukraine, oder die Nachricht, dass Viktor Swjazkij im Zentrum von Kiew von Unbekannten angegriffen und schwer verletzt worden ist - da haben sich die Gegner gleich den Chef selbst gegriffen. Nur eines darf man nicht vergessen: Wie seltsam verdreht und verlogen dieser Kampf gegen Putin, Lukaschenko und andere Machthaber jetzt auch erscheinen mag - alle Beteiligten riskieren immer noch, ganz wörtlich, ihre Haut dafür.

"Heimat - das ist für mich der Geruch nach Freibad"

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In der Sendung "Wild Germany" besuchte er Satanisten und andere Randgruppen - ab sofort begleitet Manuel Möglich Prominente wie Dolly Buster und Jürgen Drews an die Orte ihrer Kindheit. Ein Interview über Herkunft und den Zusammenhang zwischen Frittengeruch und Pubertät.

jetzt.de: Manuel, kurzer Zwischenbericht: Welche Reise war bisher die überraschendste?
Manuel Möglich: Jeder Gast hat mich in gewisser Weise überrascht, aber wenn ich mich auf eine Reise beschränken soll, dann wohl die mit Heinz Strunk. Mit ihm haben wir die meisten Orte besucht und er erschien mir extrem offen und überraschte mich mit vielen Dingen, die er sagte. Allerdings: Leute wie ihn oder den Zeit-Kolumnisten Harald Martenstein würde ich nicht unbedingt als Promis bezeichnen. Wir haben vielmehr bekannte Persönlichkeiten gesucht, die wir spannend finden.  

Im Vergleich zu deiner letzten Sendung „Wild Germany“ klingt das Sendekonzept eher harmlos. Täuscht das?
Keineswegs, "Heimwärts mit..." ist natürlich nicht ansatzweise so krass oder schockierend wie eine Folge "Wild Germany" zum Thema Pädophilie, Satanismus oder Crystal Meth. Aber nach 24 Folgen davon wollte ich für den Moment etwas ganz anderes ausprobieren. Für mich als Reporter ist es zum Beispiel eine neue Herangehensweise, weil ich mich nur mit einer Person auseinandersetze und kein Thema bearbeite wie bei "Wild Germany". Allerdings bin ich mir sicher, dass "Heimwärts mit..." auch neue Geschichten liefert.

Zum Beispiel?
Wir sind wahrscheinlich die erste Produktion, die mit Jürgen Drews über den zweiten Weltkrieg sprach und fragte, was genau sein Vater, ein angesehener Arzt, damals eigentlich gemacht hat. Im April 1945 wurde ja nicht jede Familie aus Berlin rausgeflogen, die Drews aber schon. Mehr will ich noch nicht verraten. 




Der Reporter Manuel Möglich, 34. Inzwischen trägt er übrigens einen Oberlippenbart.

Welche Momente gingen dir besonders nahe?
Auf jeden Fall das Gespräch mit Wolfgang Niedecken, als er mir in Rheinbach erzählte, wie er als kleiner Junge im Internat missbraucht wurde. Ich hatte das zwar schon in seiner Biografie gelesen, aber im einstigen Internat darüber zu reden war intensiv. Wie offen Heinz Strunk über eigene Depressionen, die seiner Mutter und Suizid sprach, ging mir ebenfalls nahe.

Wen würdest du in Zukunft noch gerne begleiten?
Da gibt es noch einige Leute. Um nur ein paar Namen zu nennen: Michel Friedman, Lothar Matthäus, Gerhard Schröder, Sibel Kekilli, Werner Herzog, Rocko Schamoni oder Til Schweiger, der in derselben Ecke in Hessen aufgewachsen ist wie ich.  

Wie steht es um dein eigenes Heimatgefühl: Gibt es einen Ort, den du definitiv als Heimat bezeichnest?
Heimat ist für mich mehr als nur ein Ort, Heimat kann auch Familie, ein Gefühl oder ein Duft sein. Der Freibadgeruch beispielsweise, für mich ein Gemisch aus Chlor, Sonnenmilch und Pommes, weckt eigentlich jedes Mal Erinnerungen an die frühe Pubertät. Plötzlich waren Mädchen auf eine unbekannte Art interessant und wunderschön. In Tiefenbach, einem kleinen Dorf in Mittelhessen, bin ich aufgewachsen. Diesen Ort bezeichne ich definitiv als meine Heimat.

Welche schönen oder auch traurigen Erlebnisse verbindest du mit diesem Ort?
Auf der einen Seite hatte ich dort eine großartige Kindheit mit vielen tollen Erlebnissen. Andererseits erinnere ich mich aber auch an die erdrückende Enge der Provinz, die mich als Teenager irgendwann extrem genervt hat.   

Sind seither "neue Heimaten" dazugekommen?
Ja, ich habe direkt nach dem Abi knapp zehn Jahre in Köln gelebt und diese Stadt ist auf eine Art auch zu meiner Heimat geworden. Berlin verwandelt sich nach all den Jahren, die ich nun hier lebe, immer mehr von zu Hause in Heimat.  

Lässt du dich eigentlich gerne in deine Heimat begleiten oder ist dir das eher unangenehm?
Unangenehm ist es mir nicht, im Gegenteil finde ich es spannend, weil sich so auch der eigene Blick verändern kann. Es wäre ja auch wahnsinnig bigott, wenn ich von den Gästen verlangen würde, mir einen Blick in ihre Heimat zu gewähren und umgekehrt ein Problem damit hätte, die Orte meiner Jugend anderen Menschen zu zeigen.

"Heimwärts mit..." läuft ab dieser Woche immer donnerstags um 22:15 Uhr auf ZDFneo.

Kauf das nicht!

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Die Outdoor-Firma Patagonia fordert ihre Kunden auf, nur Dinge zu kaufen, die sie wirklich brauchen - zum Schutz der Umwelt. Wirklich erfolgreich ist sie mit dem Aufruf nicht: Die Marke ist populär, das US-Unternehmen wächst seit Jahren rasant

Der Plan hat nicht funktioniert. Patagonia, die amerikanische Ökomarke für Outdoor-Klamotten, hat eine Anzeige auf einer ganzen Seite in der New York Times geschaltet. Zu sehen ist eine blaue, kuschelige Fleece-Jacke der Firma und ein riesiger Schriftzug: "Don"t buy this Jacket" (Kauf die Jacke nicht). Passend dazu gibt es eine Internetseite, auf der Kunden - in diesem Fall Nicht-Kunden - einen Eid schwören sollen: "Ich gelobe, nur die Dinge zu kaufen, die ich wirklich brauche (und die halten), zu reparieren, was kaputt geht, weiterzugeben, was ich nicht mehr brauche und den Rest zu recyceln."

Es ist eine Kampagne zum Konsumverzicht, denn nur Konsumverzicht sei wirklich gut für die Umwelt, so Patagonia.





Und was machen die Kunden? Sie unterzeichnen den Eid, inzwischen haben sich schon mehr als 59000 Menschen auf der Internetseite von Patagonia zum Konsumverzicht verpflichtet - und dann ziehen sie los und konsumieren.

Fast zwei Jahre ist die Kampagne nun alt und sie hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie eigentlich aussagt. Die Nachfrage nach den Jacken und anderen Outdoor-Klamotten von Patagonia wächst rasant, das Unternehmen expandiert. Seit 2008 klettert der Umsatz Jahr für Jahr um rund ein Viertel, im Moment steigt er zwischen zehn und 15 Prozent, sagt Marketingchef Vincent Stanley. Im vergangenen Geschäftsjahr lag er bei 575 Millionen Dollar.

Wäre Patagonia nicht Patagonia, könnte man hinter der Anzeige einen sehr geschickten Marketing-Trick vermuten. Aber Patagonia meint es ernst, sagt Stanley. Die Firma wolle nicht Gewinne maximieren wie die anderen, sondern möglichst im Einklang mit der Natur und ohne Ausbeutung von billigen Arbeitskräften arbeiten, auch wenn das dazu führe, dass sie weniger verdiene als sie könne.

"Wir machen keine wahnsinnigen Margen", sagt Stanley. "Wir sind angetreten, um traditionelle Geschäftsstrukturen herauszufordern." Patagonia aus dem kalifornischen Strandort Ventura ist in der Outdoor-Industrie der Musterschüler in Sachen Unternehmensverantwortung und Umweltschutz.

Yvon Chouinard hat Patagonia 1973 gegründet. Der Frankokandadier, inzwischen 74 Jahre alt, ist leidenschaftlicher Bergsteiger. Aber was es an Kletterhaken so gibt, gefällt dem jungen Mann in den 50er Jahren so gar nicht. Im Hinterhof seiner Eltern beginnt er, selbst Hardware für Bergsteiger zu fertigen. In den Anfangsjahren der Firma kommen robuste Shirts zum Klettern hinzu, dicke, dicht gestrickte Wollpullover, die den Wind abhalten, und Segeltuch-Shorts mit doppeltem Hosenboden.

Das Unternehmen wächst, expandiert ins Ausland. Inzwischen ist Patagonia in Amerika eine der größten und bekanntesten Outdoor-Marken. "Und in den letzten Jahren haben wir auch in Europa ganz schön Fahrt aufgenommen, das Geschäft wächst besonders in Deutschland und in Frankreich", sagt Marketingchef Stanley. Outdoor-Unternehmen wie The North Face, Jack Wolfskin oder Adidas nehmen die Konkurrenz aus Kalifornien ernst.

Patagonia kann es sich leisten, auf Gewinnmaximierung zu verzichten: Es ist das größte Unternehmen in der Outdoor-Industrie, das nicht an der Börse notiert ist oder an einen Investor verkauft wurde, sondern noch immer der Gründerfamilie gehört. Gründer Chouinard macht weniger Druck als Aktionäre, die steigende Kurse und Dividenden verlangen. Patagonia leistet sich darum teure Materialien und Produktionsprozesse, verwendet zum Beispiel zu hundert Prozent Biobaumwolle. Fleecejacken fertigt das Unternehmen zum Teil aus alten Plastikflaschen, auch recycelter Nylon und recyceltes Polyester kommen zum Einsatz.

Außerdem gibt das Unternehmen viel Geld für Forschung und Entwicklung aus, etwa um möglichst schadstoffarme Chemikalien für die wasserabweisenden Stoffe zu finden. Im Moment arbeitet Patagonia mit dem Materialproduzenten Yulex an einem Bio-Gummi unter anderem für Neoprenanzüge. Seit 30 Jahren spendet Patagonia außerdem jedes Jahr ein Prozent des Umsatzes an Umweltgruppen.

Neben Umweltschutz hat sich Patagonia auch zu besseren Bedingungen für die Arbeiter in den Kleidungsfabriken verpflichtet. Die Firma produziert unter anderem in Indien, China, Vietnam und auch in Bangladesch, will aber die Fabriken stärker kontrollieren als die anderen Klamottenhersteller. Dabei helfen konzerneigene Kontrolleure und die Prüfer der Fair Labor Association, die Fabriken ein Gütesiegel geben. "Wir haben schon mehrmals zusätzliche Anforderungen an Fabriken gestellt, bevor wir unsere Kleidung dort produzieren ließen", erzählt Stanley.

Auch in der Unternehmenszentrale in Kalifornien sind die Arbeitsbedingungen anders als in anderen Unternehmen. Es gibt einen Kindergarten, der zur Firma gehört, Überstunden sind nicht erwünscht. Das Unternehmen versuche, sich trotz der inzwischen mehr als 1500 Mitarbeiter eine Arbeitsatmosphäre wie in einem kleinen Familienbetrieb zu erhalten, erzählt Stanley. "In der Mittagspause gehen die Leute bei uns schon mal surfen oder Radfahren."

Diese Art zu wirtschaften ist auf den ersten Blick teuer, lohne sich aber langfristig, glaubt der Marketingchef. "Seit der Wirtschaftskrise haben viele Leute eine Wut auf Großkonzerne", sagt er. Das treibe sie zu Unternehmen, bei denen sie mit besserem Gewissen einkaufen. "Gerade Europäer machen sich mehr Gedanken und wissen auch mehr über Umweltschutz und soziale Themen. Sie wissen Bescheid über Arbeitsbedingungen in den Fabriken."

Bei allem Verantwortungsbewusstsein ist es allerdings nicht so, dass Patagonia die Kosten für Umweltschutz und bessere Herstellung ganz allein übernimmt zu Lasten der Gewinnmarge. Auch die Kunden tragen die Kosten mit, die Produkte der Firma sind enorm teuer. Ein Daunen-Parka kann schon 700 Dollar kosten. So wird Patagonia zur Ökomarke für diejenigen, die es sich leisten können, sich ein grünes Gewissen zu kaufen. "Eigentlich zahlt niemand von uns, kein Konsument der Welt, genug für die Produkte, die wir so kaufen", sagt Stanley. "Egal um welches Produkt es geht, die Umweltkosten sind nie im Preis eingerechnet." Schließlich verbraucht jede Fabrik Energie, die meist aus Kohle- oder Atomkraftwerken stammt.

Patagonia versuche ständig, herauszufinden, wo die Grenze liegt, wie viel Geld man pro Produkt von Kunden verlangen kann, sagt der Marketingchef. "Es ist aber nicht so, dass nur die Superreichen bei uns einkaufen. Es kaufen auch durchaus Menschen mit bescheidenen Vermögensverhältnissen bei Patagonia ein. Sie kaufen zwar weniger Dinge, aber dafür bessere, von denen sie glauben, dass sie länger halten." Seit der Wirtschaftskrise sei die Nachfrage gestiegen, weil Menschen mehr auf Qualität achteten, wenn sie weniger Geld ausgeben können. Außerdem machten die Leute weniger Fernreisen und stattdessen Wanderurlaub - ausgestattet von Patagonia. "Die Rezession hat uns geholfen."

Da ist er wieder: der Konsumverzicht. Patagonia hat sogar eine Plattform auf Ebay geschaffen, auf der man gebrauchte Kleidung ersteigern kann, statt neue zu kaufen. "Für die Umwelt ist es am besten, wenn die Leute so wenig wie möglich kaufen", sagt Stanley. Aber dieser Plan funktioniert nicht, trotz ganzseitiger Anzeigen.

Eine kleine Sensation

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Saudi-Arabien ist ein Land ohne Kinos. Und auch Frauen sollen hier weder zu sehen noch zu hören sein. Haifaa Al Mansour hat diese Regeln einfach alle gebrochen - für einen wirklich guten Film



Regisseurin Haifaa Al Mansour posiert neben einem Filmplakat ihres Werks 

Grün ist die Farbe des Propheten, die Farbe der Hoffnung und des Lebens. Und grün ist auch das Fahrrad, das dem Mädchen Wadjda (Waad Mohammed) erscheint, scheinbar schwebend, auf der offenen Ladefläche eines vorbeifahrenden Lkws. Es ist ein Bild reiner Bewegung, die Dynamik des Films ergibt sich daraus. Nachdem dieses Fahrrad wie ein Pfeil ins Herz des Mädchens gerauscht ist, treibt die Sehnsucht nach ihm die Handlung voran. Wadjda will unbedingt Geld verdienen, um das Rad zu kaufen, meldet sich sogar zum Koranrezitier-Wettbewerb ihrer Schule an. Und wenn das Mädchen - so viel muss an dieser Stelle verraten werden - am Ende auf dem Traumrad durch Riad saust, ist das ein Zeichen des Wandels. Kein billiges Happy End ist das, eher ein skeptischer Wunschtraum: Ob die saudische Gesellschaft tatsächlich so dynamisch ist, wie dieses Bild suggeriert?

Haifaa Al Mansour glaubt daran, wie sie in einem Interview erklärt hat; und das Debüt der saudi-arabischen Drehbuchautorin und Regisseurin ist ein wunderbarer Beweis dafür, was in dieser streng konservativen islamischen Gesellschaft möglich ist. Saudi-Arabien ist ein Land ohne Kinos. Und doch hat die Filmemacherin, die in Kairo Literatur studierte, außerdem Regie und Filmwissenschaft in Sydney, ihren Erstling dort an Originalschauplätzen und mit saudi-arabischen Darstellern offiziell drehen dürfen. Damit ist "Das Mädchen Wadjda" der erste saudi-arabische Kinospielfilm überhaupt. Dass er in einem Land, in dem Frauen ein großer Teil des öffentlichen Lebens verwehrt ist, wo strikte Geschlechtertrennung herrscht und

Frauen nicht einmal Auto fahren dürfen, von einer Frau inszeniert wurde, ist eine kleine Sensation. Wobei der Film diesen Reiz keineswegs braucht. Es ist auch so schon eine starke Geschichte, die "Das Mädchen Wadjda" erzählt, mit einer großartigen jungen Hauptdarstellerin, in einer klaren, zurückhaltend poetischen Bildersprache.

Eine Fülle von Alltagsbeobachtungen vermitteln einen Eindruck vom Leben in dem arabischen Land. Etwa wenn Wadjdas Mutter von ihrem Fahrer drangsaliert wird, weil sie von ihm abhängig ist. Oder wenn die strenge Schulleiterin Wadjda und ihre Mitschülerinnen für das Leben in einer von Männern dominierten Gesellschaft zurichtet, ihnen immer wieder eintrichtert, dass Frauen weder zu sehen noch zu hören sein dürfen - das intimste Organ einer Frau sei schließlich ihre Stimme. Vor diesem Hintergrund ist ein von einer Frau gedrehter Film natürlich ein starkes Statement: Sichtbarer und hörbarer geht"s schließlich kaum.

Sie liebe die Filme der Dardenne-Brüder, sagt Haifaa Al Mansour, als Vorbild nennt sie auch den Iraner Jafar Panahi. Tatsächlich erinnert ihr Debüt sowohl an den Realismus der belgischen Brüder wie an die Filme, die seit den späten Achtziger- und Neunzigerjahren in Iran entstanden: scheinbar einfach gestaltete Kinderfilme, die trotzdem viel über die Gesellschaft erzählen, in der sie spielen. Kinder dürfen darin oft mutiger und frecher sein als Erwachsene. Indem sie Kinder zu ihren Protagonisten machten, tricksten die iranischen Regisseure die Zensur aus.

"Das Mädchen Wadjda" folgt einer ähnlichen Strategie, wenn die durch das Fahrrad verkörperte Sehnsucht nach Bewegung und Freiheit als Kinderspiel erscheint. Mädchen und Frauen dürfen in Saudi-Arabien nämlich nicht Fahrrad fahren. Auch die Solidarität, ja sogar das schlichte Miteinander der Geschlechter, wie es Wadjda und der Nachbarsjunge praktizieren, wäre mit Erwachsenen nicht darstellbar gewesen. Indem Haifaa Al Mansour mit Wadjda ein unwiderstehlich lebendiges Mädchen in den Mittelpunkt rückt, gewinnt der Film eine Leichtigkeit, die er gut brauchen kann. Seine Geschichte ist eigentlich ziemlich bitter. Zu dem Zorn über die zahllosen Ungerechtigkeiten und Einschränkungen kommt ein wachsendes Gefühl der Beklemmung. So reicht die Überwachung der Mädchen und Frauen bis in die intimsten Bereiche. "Wer seine Tage hat", heißt es im Religionsunterricht, "fasst den Koran nur mit dem Taschentuch an."

Bei so viel Fremdbestimmung fällt den Frauen die Solidarität untereinander schwer. Auch Wadjdas Mutter, die gerade damit klarkommen muss, dass ihr geliebter Mann eine Zweitfrau heiraten will, weil sie selbst ihm keinen Sohn gebären kann, will Wadjda das Fahrradfahren verbieten: Fahrrad fahrende Frauen könnten keine Kinder bekommen, erklärt sie.

Ihre Schauspieler hat Haifaa Al Mansour zwar in Saudi-Arabien gefunden, produziert wurde der Film aber von den Deutschen Gerhard Meixner und Roman Paul, die zuvor schon "Paradise Now" von Hany Abu-Assad und Ari Folmans "Waltz with Bashir" herausbrachten. Auch das technische Team sowie der größte Teil des Geldes kamen aus Deutschland. Womit sich die Frage stellt, für welchen Markt "Das Mädchen Wadjda" gemacht wurde. In Saudi-Arabien dürfte sich die Aufführung auf DVDs und Fernsehen beschränken, immerhin ist eine einwöchige Aufführung im Cultural Center in Riad geplant.

Überwiegend an das arabische Publikum dürften die Koranzitate gerichtet sein, die eine zentrale Rolle in der Geschichte spielen. Wenn Wadjdas Mutter die Verse rezitiert, verströmen sie Wahrheit und Schönheit. Aber der Film lässt wohl bewusst offen, ob der Koran auch zu Wadjda spricht oder vielleicht doch nur Mittel zum Zweck ist.

Wadjda, Saudi-Arabien/Deutschland, 2012 - Regie, Buch: Haifaa Al Mansour. Kamera: Lutz Reitemeier. Schnitt: Andreas Wodraschke. Musik: Max Richter. Mit: Waad Mohammed, Reem Abdullah, Abdullrhman Al Gohani, Ahd, Sultan Al Assaf. Verleih: Koch Media, 97Minuten.
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