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Eastside Story

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Die Jungs sind gerade mal dreizehn, als die DDR verschwindet. Ein Schnitt – und das Land ist plötzlich weg. Gerade noch hatten Dani, Rico, Mark, Pitbull und Paul als Pioniere mit roten Halstüchern in der Schulbank gesessen und sich für eine Wehrkundeübung Schilder mit der Aufschrift „Bauchschuss“ oder „bewusstlos“ umgehängt, da rasen sie im nächsten Bild schon im geklauten Auto zu wummernden Beats durch die Stadt, abgefüllt womöglich mit Westbier.



Die Schauspieler Ruby O. Fee und Merlin Rose in einer Szene des Films  "Als wir träumten"

„Die Bullen sind härter als früher, aber jetzt habe ich einen Verteidiger“, sagt einer. So pragmatisch kann man die Große Wende sehen. Dabei ist der doppelte Bruch enorm: von der Kindheit im geordneten Sozialismus zu einer Jugend im wiedervereinigten Deutschland, dessen Osten „wild“ genannt wird, weil die Fabriken geschlossen, Funktionäre gestürzt und neue Autoritäten noch nicht in Sicht sind.

Das meiste ist natürlich trotzdem längst entschieden, aber das weiß man oft nicht so genau, wenn man mittendrin steckt. Über die wilden Träume dieser Übergangszeit und die explosiven Umbrüche hatte Clemens Meyer seinen gefeierten Roman „Als wir träumten“ (2006) geschrieben. Ein scheißgutes Buch, wie die Jungs sagen würden, dessen hitzige Sprache und Wildheit dem Getriebensein der Figuren und der wilden Nachwendezeit entspricht. Aufregend auch, dass die durchweg schwierigen, wenn nicht schwererziehbaren Jungen nicht wie Sozialfälle wirken.

Andreas Dresen, der große Realist des deutschen Kinos, hat das Buch verfilmt, mit tollen Jungschauspielern, nach einem Drehbuch des 83-jährigen Wolfgang Kohlhaase. Dani (Merlin Rose) ist der Erzähler, ein hübscher Junge, dem das Gedichteaufsagen liegt, dessen unglaublich verhärmte Mutter (Melanie Straub) ihn schon mal „mein Unglück“ nennt. Rico (Julius Nitschkoff) ist ein talentierter Boxer, aber zu oft in Straßenprügeleien verwickelt; Mark (Joel Basman) liebt Musik, kommt irgendwann aber von den Drogen nicht mehr weg; Pitbull (Marcel Heuperman) ist ein wuchtig-träger Pragmatiker; und Paul (Frederic Haselon) hat Probleme mit den Mädchen. Dann gibt es noch Sternchen (Ruby O. Fee), die Schönste von allen, die in der Disco tanzt und Danis Stern wird.

Die Clique tanzt, taumelt, rast wie eine Gruppe von Schlafwandlern an der Abbruchkante der Geschichte entlang – dort, wo einmal die DDR war. Meyer hat die Heimatlosigkeit und das Driften in der Wendezeit in seiner rastlosen Sprache eingefangen, Dresen schafft es mit harten Schnitten und Zeitsprüngen. Ein aufregender Stoff ist das in jedem Fall, für den der Realist Dresen am Ende aber doch nicht der ideale Regisseur ist. Schon die Ordnung des Films in Kapitel irritiert.

Dresens Stärke ist die Beobachtung. Er ist ein Sammler von Lebenskleinigkeiten, die er auf eine so kunstvoll unauffällige Art und Weise arrangiert, dass das Ganze unserem Alltag verblüffend ähnlich sieht, selbst wenn es damit wenig zu tun hat. Etwa in „Wolke 9“, in dem zwei alte Menschen sich verlieben, oder in „Halt auf freier Strecke“, seinem großen Film übers Sterben. Auch eine Literaturverfilmung ist Dresen geglückt – „Willenbrock“, nach dem Roman von Christoph Hein, der von einem Deutschland erzählt, das noch einmal vom Aufbruch träumt. Die Parallelen zu dieser Literaturverfilmung liegen auf der Hand.

Der Jungscliquenstoff, die Großmäuligkeit von Dani, Rico und den anderen, ihre Prügeleien mit Glatzen auf der Straße, die Disco, die sie aufmachen, das „Eastend“, wo endlich auch die hübschen Mädchen auftauchen – das ist aber doch erkennbar nicht Dresens Welt. Wenn die Jungs in geklauten Autos herumdüsen oder zum Stroboskoplicht tanzen wie absolute Giganten, wirken die filmischen Mittel, das Gegenlicht, das Bier und der Beat geborgt wie aus einem Film von Sebastian Schipper.

Natürlich sind schon die Träume dieser Jungs Abziehbilder – aber sie glauben daran. Bei Dresen wirken viele dieser Gang- und Actionszenen nur wie fremdes Kino. Dieses Unbehagen spürt man schon in der Eröffnungsszene. Da trifft Dani in der Dunkelheit des alten Kinos Mark, der irgendwo in der Nacht verdämmert, ein Opfer der Drogen, die der Westen gebracht hat. Im Gegenlicht sehen wir Danis Hand – alle Träume sind ausgeträumt, von Anfang an. Diese Hand im dramatischen Licht, dazu Meyers wuchtige Sprache, sind in Kombination zu viel. Zudem baut die Eröffnung eine ungute Spannung auf, als liefe die Erzählung auf einen Höhepunkt zu.

Dani – auch das ist bemerkenswert – ist zwar der Erzähler des Films, fällt als Identifikationsfigur aber aus, als sein Freund Rico von einer Horde von Glatzen verfolgt wird und er sich feige versteckt, statt ihm die Tür zu öffnen. Das kostet ihn viel Sympathie, man kann seine Entscheidung aber auch verstehen. So eine gleichzeitig mitfühlende aber auch distanzierte Haltung hat Dresen immer wieder eingenommen, sie tut den grau schillernden Figuren seiner Filme gut.

Am besten ist „Als wir träumten“ immer dann, wenn Dresen nicht die großen Actionszenen inszeniert oder am Historiengemälde malt, sondern von den Details erzählt, die das Leben sind. Wenn ein Schuldirektor etwa von den Montagsdemos erzählt: Unverantwortlich sei das, die Brücke sei doch einsturzgefährdet. Oder wenn eine Mikrowelle aus dem Westen wie ein Ufo in einer DDR-Küche auftaucht. Die Jungen wollen das Gerät natürlich ausprobieren und legen ein rohes Ei hinein. Es dreht sich auf dem rotierenden Teller, bekommt Risse – und explodiert. Besser lässt sich das Experiment der Wende in einem Bild kaum beschreiben.

Als wir träumten, D 2015 – Regie: Andreas Dresen. Buch: Wolfgang Kohlhaase, nach dem Roman von Clemens Meyer. Kamera: Michael Hammon. Schnitt: Jörg Hauschild. Mit: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Joel Basman, Marcel Heuperman, Ruby O. Fee. Verleih: Pandora, 117 Minuten.

"Ihr Nerds"

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Kraftklub also. Die Band, auf die sich 14- bis 40-Jährige im Moment wohl am ehesten einigen können, moderiert vom heutigen Donnerstag an eine eigene monatliche Radiosendung auf Puls, dem Jugendsender des Bayerischen Rundfunks, und von Samstag an auf Radio Fritz vom RBB. Schon seit vergangenem Sommer läuft Radio mit K mit Kraftklub-Sänger Felix Brummer und Gitarrist Steffen Israel bei MDR Sputnik. Darin spielen sie ein Mal im Monat zwei Stunden lang ihre Lieblingsmusik und erzählen Geschichten von Konzerten und aus ihrem Alltag.



Steffen Israel (links) und Felix Brummer (Mitte) von Kraftklub moderieren bald nicht nur bei MDR Sputnik, sondern auch bei Radio Fritz und Puls (BR).

Mehrfachverwertung gehört bei den größten jungen Radiowellen der ARD, YOU FM (HR), N-JOY (NDR), Dasding (SWR), Einslive (WDR), Radio Fritz und Puls mittlerweile zum guten Ton. Die Lateline, in der unter anderem die Extra-3-Reporterin Caro Korneli vom NDR ihren Hörern Lebenshilfe gibt, läuft gleichzeitig auf sieben Kanälen, ähnlich ist es bei Sanft und Sorgfältig, dem satirischen Wochenrückblick von Jan Böhmermann und Olli Schulz. Das ist natürlich ökonomischer. Aber es zeigt auch, wie austauschbar die jungen Sender sind, und wie sehr ihnen offenbar individuelle Ideen fehlen.

Dabei hören junge Leute diversen Medienanalysen zufolge nach wie vor viel Radio. Aber: Die jungen öffentlich-rechtlichen Wellen senden weitgehend an ihrer Zielgruppe vorbei. Der „Media-Analyse 2014 Radio I“ zufolge sind die reichweitenstärksten Sender bei den 14- bis 29-Jährigen nach Einslive gleich Antenne Bayern, Radio NRW, SWR3 und Bayern3 , abgesehen von Einslive (das in Nordrhein-Westfalen das einwohnerstärkste Verbreitungsgebiet hat) also ausschließlich etablierte, erwachsene Mainstream-Radiosender mit Hits der 80er, 90er und von heute.

Statt des Generationenabrisses, den die Anstalten befürchten, wandert die junge Generation in Richtung Hausfrauensender ab. Was machen die jungen ARD-Radiosender also falsch?

Die große Herausforderung solcher Jugendsender ist ja, dass sie ihren Platz zwischen privaten Jugendwellen und den erwachsenen ARD-Wellen finden müssen. Sie sollten sich sowohl von dem einen als auch von dem anderen irgendwie unterscheiden, und schon da beginnen die Probleme. Sie klingen zum Beispiel so bemüht hip wie die unzähligen Gong- und Ego-FM-Klone. Die Nachrichten von YOU FM heißen News update now, und die Hörer stellen Fragen per Whatsapp statt am Telefon. Auf Radio Fritz nennt der Moderator seine Hörer „ihr Nerds“. Bei Puls heißt das Frühprogramm Hochfahren und zwischen Beispiel-Hass-Kommentaren auf Facebook, die der Reporter vorliest, plingt das Facebook-Nachrichten-Signal. Die Staumeldungen auf N-JOY heißen Navigation. Aufgesetzte Jugendsprache, die wie der Versuch der Sparkasse wirkt, ihre Werbung mit einem Skateboard in der Ecke auf jung zu trimmen. Staumeldungen sind aber am Ende auch nur – Staumeldungen.

Gleichzeitig machen die jungen Sender der ARD die gleichen Fehler wie die erwachsenen: Sie trauen ihren jungen Hörern wenig Journalismus zu und machen stattdessen schlechte Witze. Das Ding zum Beispiel sendet dreimal pro Woche den unfassbar unlustigen Alltagswahnsinn mit den Geissens (ja, die von RTL2). Auch bei der Musik machen die jungen ARD-Wellen kaum etwas anders. Zu oft läuft austauschbare Mainstream-Musik. Wenn N-JOY etwa mit dem Slogan „Enjoy the music“ wirbt, wirkt das wie ungewollte Satire.

Radio Fritz rühmte sich lange damit, Bands wie Kraftklub und Seeed zum ersten Mal gespielt zu haben, heute präsentieren sie Konzerte von Katy Perry. Puls war mal ein reiner Indiesender, inzwischen spielen sie auch, was in den Charts läuft. Einslive, N-JOY und YOU FM verbreiten, oft in Doppelmoderation, Partystimmung mit wummernder Tanzmusik. Die jungen Wellen spielen immer mehr Musik für die Massen, die Hörermassen für die Werbekunden anziehen soll. Doch in dem Bereich können sie sich nicht gegen die vielen privaten Popwellen (da wird noch weniger zwischen den Nachrichten gesprochen) oder den Internetmusikdienst Spotify (da kann man Cool Kids gleich zehnmal hintereinander hören) behaupten.

Natürlich gibt es Ausnahmen, aber man muss sie schon suchen. In der Fritz-Sendung Unsigned wird etwa Musik von lokalen Bands ohne Plattenvertrag vorgestellt. Puls bringt die Sendung Plattenbau, in der viel allgemein über Musik oder mit Bands über Musik gesprochen wird.

Redaktionelle Beiträge, die das öffentlich-rechtliche Radio, auch das junge, eigentlich ausmachen sollten, sind selten und wirken wie ein Alibi. Mal laufen vier kurze Beiträge pro Stunde, oft nur einer. Die wenigsten trauen sich außerhalb der Nachrichten an den Journalismus ran, und wenn, dann meist ideenbefreit. Oft geht es um Kinostarts, oft um Boulevard. Wenn der Redaktion gar nichts einfällt, rufen Hörer an und erzählen Banalitäten zu einem banalen Thema, und ein Experte sagt kurz, wie ein Lehrling die verschüttete Gulaschsuppe am besten beim Chef beichtet.

Nur manchmal erkennt man, was Jugendradio eigentlich leisten könnte. So läuft auf Fritz ein Mal pro Woche die Netz-Sendung Trackback („Die Show mit Internet und so“) und auf Puls regelmäßig die Sendung Netzfilter, die beide mit klugen Beiträgen Phänomene aus dem Internet und Netzpolitik auseinandernehmen. Einslive sendet auch längere, ausgeruht recherchierte Features und Dossiers, verbannt die aber ins Spätprogramm. Auf Puls sind sie stolz auf den hohen Wortanteil, 30 Prozent ist das Ziel. Tagsüber ist es oft mehr. Im Format Die Frage werden Fragen wie „Woher kommt der Hass der Islamisten?“, „Warum haten wir so viel im Netz?“ und „Wie porno bist du?“ mit mehreren so fundierten wie unterhaltsamen Beiträgen behandelt, für die Reporter wochenlang recherchieren. Puls ist übrigens die einzige ARD-Jugendwelle, die nicht auf UKW gesendet wird, abgesehen von einem kleinen Sendefenster auf Bayern 3. Erst ab 2018 soll das vielleicht anders werden.

Dabei schafft es vor allem Puls, selbst Nachrichten anders klingen zu lassen. Weil den Machern das seltene Kunststück gelingt, zwischen aufgesetzter und authentischer Jugendsprache zu unterscheiden. Wie das geht? Die Texte sind so geschrieben, wie man eine Nachricht abends in der Bar einem Freund erzählen würde. Auf einem „erwachsenen“ Radiosender würde kein Nachrichtensprecher etwa „krasse Nachricht“ sagen. Oder etwa „Deppen“. Oder wie ein Moderator auf YOU FM über den Tod einer 19-Jährigen: „Ich muss bei solchen Meldungen immer fast heulen.“ Diesen Kommentar kann man als Nachrichtenpurist natürlich unnötig finden. Ebenso die „extralange Penis-Stunde“, die kürzlich frühmorgens auf Radio Fritz lief, mit Umfragen und einem Interview über Penisverlängerungen. Aber genau in diesen Momenten ist öffentlich-rechtliches Jugendradio anders als Erwachsenenradio und anders als die vielen privaten Dudelsender. Das ist gut so. Und ziemlich selten.

Mysteriöse Flugobjekte

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Seit den Terroranschlägen von Anfang Januar herrscht in Paris die höchste Alarmstufe. Umso mehr Aufsehen erregt es jetzt, dass in der Nacht auf den Dienstag und dann erneut in der Nacht auf den Mittwoch etliche Drohnen-Flüge über sensiblen Orten der Hauptstadt ausgemacht wurden. Betroffen waren unter anderem die US-Botschaft, die Place de la Concorde, der Invalidendom sowie Verkehrsknotenpunkte an der großen Ringautobahn. Polizisten versuchten, die Herkunft dieser unbekannten Flugobjekte zu ermitteln, jedoch erfolglos.



Drohnen zum privaten Gebrauch gibt es vielerorts in Europa schon für wenige hundert Euro frei zu kaufen.

Zwar wurden am Mittwoch drei Journalisten des arabischen TV-Senders Al-Dschasira festgenommen, die eine Drohne über dem Wald von Boulogne im Westen der französischen Hauptstadt fliegen ließen. Ein Zusammenhang mit den anderen illegalen Drohnenflügen der vergangenen Tage sei jedoch unklar, meldete die französische Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Sicherheitsbehörden.

Regierungssprecher Stéphane Le Foll sagte, es bestehe zwar kein Grund zur Beunruhigung, aber man nehme die Drohnenflüge sehr ernst. Eine Sondereinheit der Lufttransport-Gendarmerie untersucht die Fälle. Unklar ist bislang, ob es sich bei den vielen Drohnenflügen in kurzer Zeit über Paris um eine koordinierte Aktion handelt und was der Zweck einer solchen sein könnte.

Frankreich wird bereits seit Oktober immer wieder mit mysteriösen Drohnen-Flügen konfrontiert. Seither wurden mindestens 17Nuklearanlagen überflogen, ohne dass die Hintergründe aufgeklärt wurden. Die Betreiber haben jeweils Anzeige erstattet. Auch eine Basis mit Atom-U-Booten im Westen des Landes bekam Besuch von einem Flugobjekt. Denis Mercier, der Generalstabschef der Luftwaffe, sagte unlängst zu den Flügen: „Das ist beunruhigend für die Zukunft, aber ich bin überzeugt, dass wir eine Lösung finden werden.“ Am 20.Januar wurde eine Drohne über dem Élysée-Palast gesichtet. Innenminister Bernard Cazeneuve versicherte, man habe Möglichkeiten, um Drohnen zu zerstören. Details nannte er nicht.

Bei den bislang gesichteten Drohnen handelt es sich offenbar stets oder doch in den meisten Fällen um kleine Geräte, die kaum etwas transportieren könnten. Ein terroristischer Hintergrund wird daher ausgeschlossen. Auch Spionage erscheint als Motiv unwahrscheinlich, da zum Beispiel die überflogenen Orte in Paris auch auf Google Earth im Internet zu sehen sind. Greenpeace, das vor einigen Jahren schon einmal mit Drohnen über Atomkraftwerke flog, lehnt diesmal jegliche Verantwortung ab. Bleibt die Hypothese, dass sich Privatleute einen Spaß mit den Flügen machen wollten. Einige der Drohneneinsätze über den Kernkraftwerken waren aber offenbar sorgfältig aufeinander abgestimmt. Zudem sind die Strafen für das Überfliegen von Ortschaften und Sperrgebieten sowie für Nachtflüge mit Drohnen relativ hoch – bis zu ein Jahr Gefängnis oder 75000 Euro Geldstrafe können die Richter verhängen.

Drohnen zum privaten Gebrauch gibt es in Frankreich und anderswo schon für wenige Hundert Euro frei zu kaufen – sie gelten als Spielzeug. Gesteuert werden sie in der Regel mit Smartphones oder Tablets, dazu wird ein Funknetz aufgebaut. Über dieses erhält das Fluggerät nicht nur Befehle, wie hoch und in welche Richtung es fliegen soll. Es übermittelt darüber auch Live-Bilder, die die eingebaute Kamera aufnimmt. Die kleinen Drohnen, die mit einer Akkuladung etwa zehn bis zu 15 Minuten in der Luft bleiben und 50 Meter hoch fliegen können, eignen sich dazu, Einblick zu nehmen in Areale, in die man von der Straße aus nicht sehen kann. Sie dafür zu benutzen, ist aber illegal. Wer in Deutschland Drohnen außerhalb des eigenen Gartens oder öffentlicher Wiesen einsetzen will, muss bei den Luftfahrtämtern des jeweiligen Bundeslandes eine Genehmigung einholen.

Die Leiden der Langschläfer

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Zu wenig Schlaf tut nicht gut, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Wer seinem Körper chronisch nicht genug Ruhe gönnt, nimmt leichter an Gewicht zu, wird eher krank und hat ein schlechteres Gedächtnis. Dass aber auch zu viel Schlaf mit diversen Risiken einhergeht, ist hingegen weniger bekannt. Forscher der Universität Cambridge zeigen im Fachmagazin Neurology vom heutigen Donnerstag, dass Menschen, die nachts länger als acht Stunden schlafen, häufiger einen Schlaganfall erleiden (Bd.84, S.1, 2015).



Ein Patient im Schlaflabor

Die Wissenschaftler um Yue Leng hatten fast 10000 Menschen im Alter zwischen 42 und 81 Jahren untersucht und nahezu zehn Jahre lang ihre Gewohnheiten und Leiden erfasst. Während etwa zwei Drittel der Teilnehmer angaben, jede Nacht zwischen sechs und acht Stunden zu schlafen, betrug die Nachtruhe bei jedem zehnten mehr als acht Stunden. Letztere hatten ein um 46 Prozent erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall verglichen mit dem Durchschnitt. Kurzschläfer mit weniger als sechs Stunden Ruhe pro Nacht erlitten ebenfalls etwas häufiger einen Schlaganfall, allerdings war dieser Unterschied statistisch nicht aussagekräftig.

„Es gibt offenbar einen Zusammenhang zwischen längerem Schlaf und der Neigung zum Schlaganfall“, sagt Yue Leng. „Wir wissen allerdings nicht, ob vermehrter Schlaf ein Symptom, ein frühes Anzeichen oder die Ursache für die Herzkreislaufprobleme ist.“ Wer krank ist oder bei wem sich ein Leiden anbahnt, entwickelt naturgemäß ein größeres Schlafbedürfnis. Es könnte aber auch sein, dass es der Schlaf selbst ist, der – im Übermaß genossen – die Krankheitsneigung erhöht. Der entsprechende Mechanismus ist allerdings noch unklar.

Womöglich ist die lange Ruhephase in der Horizontalen nicht optimal für die Blutgefäße. Forscher haben schließlich beobachtet, dass bei Langschläfern Entzündungsstoffe im Blut erhöht sind und diverse Herzkreislaufleiden wie verdickte Halsarterien, Vorhofflimmern und Bluthochdruck häufiger vorkommen.

„Da jene Menschen, die ihre Gewohnheiten verändern und zunächst nur wenig Schlaf brauchen, irgendwann aber länger schlafen, ein fast vierfach so hohes Risiko für einen Schlaganfall haben wie der Durchschnitt, könnte der vermehrte Schlaf auch ein frühes Warnzeichen sein“, sagt der Neurologe Alberto Ramos von der Universität Miami. „Bei diesen Patienten bietet es sich an, dass sie ihr Risiko für einen Schlaganfall verringern und beispielsweise den Blutdruck senken.“

Auf der Suche nach möglichen Erklärungen gibt es noch keine eindeutige Tendenz, ob der lange Schlaf Ursache oder Folge diverser Leiden ist. Einig sind sich Schlafforscher allerdings darin, dass die mittlere Schlafdauer quer durch die Kontinente und Jahrhunderte erstaunlich konstant geblieben ist und etwas mehr als sieben Stunden beträgt.

Der Goldjunge der israelischen Politik

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Die hochgekrempelten Hemdsärmel sind sein Markenzeichen, fast so wichtig wie die Kippa auf dem Kopf. Naftali Bennett, das soll man auf den ersten Blick erkennen, ist ein Macher vor dem Herrn. „Ich bin so stolz, jüdisch zu sein“, sagt er und wandert dabei über die Bühne wie ein amerikanischer Fernsehprediger. „Diese Nation ist ein Wunder.“ Und weil dieses Land so wunderbar und das Volk so großartig ist, hat er sich aufgemacht, das biblische „Erez Israel“ in eine blühende Zukunft zu führen. Locker, lässig, lächelnd – und natürlich mit eiserner Faust.



Die Videos von Bennett sind Klick-Hits, besonders bei jungen Menschen ist der Politiker beliebt.

Naftali Bennett, der seit zwei Jahren in Jerusalem als Wirtschaftsminister ans Werk geht, ist der Goldjunge der israelischen Politik. Ein messianischer Entertainer, der eine einst sektiererische Siedlerpartei zur Massenbewegung ummodelt und dabei in diesem Wahlkampf seinen Konkurrenten mit Genuss die Show stiehlt. Premierminister Benjamin Netanjahu macht den Leuten Angst mit seinem ständigen Alarmgebrüll, sein grundsolider Herausforderer Isaac Herzog macht sie müde – Bennett aber macht ihnen Mut. „Seid nicht pessimistisch, seid optimistisch“, ruft er ins Publikum. „Die Zeit ist auf unserer Seite.“

Mit ziemlicher Sicherheit ist sie zumindest auf seiner Seite: Bennett ist erst 42 Jahre alt, und er selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er ganz nach oben will. Pardon, fast ganz: „Gott ist mein Boss“, sagt er, aber darunter ist gewiss noch reichlich Platz für sein Ego und die Ambition aufs Premiersamt. Bei der Parlamentswahl am 17. März dürfte es dazu zwar noch nicht reichen. In allen Umfragen liegt seine Partei Jüdisches Heim mit 12 bis 14 der insgesamt 120 Mandate auf dem dritten Platz – hinter Herzogs Arbeitspartei, die nun als Zionistische Union firmiert, und Netanjahus Likud. Er wird sich also damit begnügen müssen, als Königsmacher für Netanjahu den Sieg des rechten Blocks zu sichern. Königsmörder kann er dann später immer noch werden.

Dazu jedoch muss er der Partei neue Wählerschichten erschließen, und deshalb lässt er sich nun hier in dieser Halle im schicken Hafen von Tel Aviv von mehr als

500 Anhängern und Neugierigen feiern. Das urbane Publikum, das zumeist aus jungen Neu-Einwanderern besteht, hat kaum einen Berührungspunkt mit den national-religiösen Siedlern, die sich im Jüdischen Heim sammelten, bevor Bennett vor gut zwei Jahren die Führung übernahm. Tel Aviv ist die Heimstatt des anderen Israel – links, liberal, libertinär. Doch selbst auf diesem fremden Terrain sammelt Bennett Punkt um Punkt.

Hier ist er der Mann für alle Fälle: der Vorzeigesoldat aus der Eliteeinheit Sajeret Matkal; der Start-up-Unternehmer, der mit dem Verkauf seiner Software-Firma für 145 Millionen Dollar schon in jungen Jahren ausgesorgt hat; der Politiker, der fern jeder rechtslastigen Ideologie pragmatische Lösungen für all die komplexen Probleme des Landes anbietet, der Kartelle aufbricht und Monopole auflöst, um von der Sojamilch bis zum Eigenheim die drückend hohen Preise zu senken.

Nicht immer folgt ihm die verknöcherte Partei auf diesem Kurs. Fast eine Revolte hat er ausgelöst, als er ohne Vorwarnung einen prominenten Ex-Fußballer auf einen sicheren Listenplatz hieven wollte. In den parteiinternen Vorwahlen scheiterte auch sein Vorhaben, als Feigenblatt fürs Jüdische Heim eine Araberin ins Parlament zu schicken. Das waren Rückschläge im Masterplan für die Volkspartei, ohne die er in den Umfragen wohl noch besser dastünde. Doch je größer der Erfolg wird, desto mehr wird das Jüdische Heim ohnehin zur reinen Bennett-Partei.

Bei aller Offenheit nach vielen Seiten sollte man Bennett jedoch keinesfalls Beliebigkeit unterstellen. Es gibt Grenzen – und die gelten vor allem für sein Projekt von Groß-Israel. Das soll vom Mittelmeer bis zum Jordan reichen, für einen Palästinenserstaat bleibt da kein Platz. Stattdessen propagiert Bennett die Annektion großer Teile des seit 1967 besetzten Westjordanlands – und bekommt dafür auch in Tel Aviv Applaus, wo die jüdischen Siedler ansonsten oft auf einem fernen Planeten, jedenfalls nicht in der eigenen Lebenswelt verortet werden. „Wir sind nicht bereit, auch nur einen Zentimeter Land an die Araber abzugeben“, poltert Bennett. Diese Kriegserklärung an alle Friedensbemühungen nennt er dann „Stabilitätsplan“.

Für Israels Nachbarn und für Israels Verbündete von Washington bis Berlin sind solche Pläne schlicht ein Albtraum. Doch Bennett ficht das nicht an, im Gegenteil: „Ansehen in der Welt gewinnen wir nur, wenn wir genug von unserem Land abgeben“, erklärt er. „Dann bekommen wir drei Tage Sympathie – und am vierten Tag bekommen wir Raketen.“

Als Paradebeispiel dafür dient ihm Israels Rückzug aus dem Gazastreifen anno 2005. Dort herrscht nun die Hamas, von dort droht immer wieder Gefahr. Mit ihm an der Spitze wäre auch diese Bedrohung schnell gebannt, das hat er schon während des Gaza-Kriegs im Sommer lautstark versprochen. Er propagiert ein „selbstbewusstes Israel“, das sich weder seinen Feinden noch seinen Freunden beugt. Dazu passt der Wahlkampf-Slogan, der auch in der Tel Aviver Halle überall die Wände ziert: „Keine Entschuldigungen mehr. Wir lieben Israel.“

Ein Mann mit Durst

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Sein Blut riecht nach Parfum. Die Polizei verhört ihn oft, weil sie seine Geschichten so interessant findet. Er spricht fließend alle Sprachen, die es gibt – und dazu noch drei, die nur er kennt. Seine Unterschrift hat den Pulitzerpreis gewonnen. Der Heilige Gral sucht nach ihm. Er hat Chuck Norris in Kampfkunst unterrichtet. Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand da ist, dann hört er dennoch das Geräusch. Auf seiner Visitenkarte steht nur: „Ich rufe dich an.“ So ist er, der interessanteste Mann der Welt.



Schauspieler Jonathan Goldsmith hat sich auf Bierwerbung verlegt- für Heineken ist er zum Internetphänomen geworden.

Jonathan Goldsmith verkörpert seit acht Jahren diese Figur mit dem prächtigen Vollbart, diesen Gentleman aus einer längst vergangenen Zeit, diese Mischung aus James Bond und Ernest Hemingway. Stets bestens gekleidet und gesegnet mit einem Gesicht, bei dem jede einzelne Falte andeutet, dass die blauen Augen in der Mitte schon einiges gesehen haben. Die Figur ist in den Werbefilmen für die Biersorte Dos Equis der mexikanischen Brauerei Cervecería Cuauhtémoc-Moctezuma zu sehen, an deren Ende dieser Mann zwischen zwei zauberhaften Frauen sitzt und sagt: „Bleibt durstig, meine Freunde.“

Freilich sind bekannte Werbegesichter nicht neu, hierzulande gab es Frau Antje, Herrn Kaiser, den Melitta-Mann, den Ich-habe-gar-kein-Auto-Typen – und seit letztem Jahr kennt man Friedrich Liechtenstein, den „Supergeil“-Mann der Lebensmittelkette Edeka, der Goldsmith übrigens recht ähnlich sieht. Doch der immense Erfolg der „Most-Interesting-Man“-Kampagne stellt alles andere in den Schatten. Die Selbstverständlichkeit der Übertreibung, die Coolness der Hybris, das Augenzwinkern in der Arroganz machen diesen Kerl derart beliebt, dass sich neue Spots im Internet verbreiten wie sonst nur Skandale. Würde Dos Equis auf Edeka reagieren, dann wohl mit diesem Spruch: „Er hat Friedrich Liechtenstein beigebracht, wie man supergeil ist.“

Die Kampagne wird auch als Beweis für die Wirksamkeit von Werbung gesehen. Das Bier gibt es seit 1897 und wurde exakt 110 Jahre lang kaum beachtet. Mittlerweile gilt Dos Equis als die am schnellsten wachsende Biermarke der USA, obwohl das Bier noch immer so schmeckt wie vor zehn oder 50 Jahren. Die Verkäufe sind seit der Einführung dieser Figur im landesweiten Fernsehen vor fünf Jahren um mehr als das Doppelte auf 192 Millionen Liter Bier pro Jahr gestiegen. Im kommenden Jahr wird der Mutterkonzern Heineken deshalb auf dem Cannes Lions International Festival of Creativity als bester Vermarkter weltweit ausgezeichnet.

Es zeigt aber auch, dass sich Auftritte für Schauspieler in Werbefilmen durchaus lohnen können: Stephanie Courtney, die Versicherungs-Frau von Progressive, erhält etwa 500000 Dollar im Jahr, Carly Foulkes soll als T-Mobile-Girl etwa eine Million Dollar bekommen haben. Goldsmith wurde durch die virale Verbreitung der witzigen Werbefilme zum Star – Michael Jordan bat ihn um ein gemeinsames Foto – und zu einem reichen Mann: Er hat durch die Verkörperung dieses wunderbaren Mannes bislang mehr als zehn Millionen Dollar verdient.

„Ich wollte nie in Werbefilmen auftreten, ich habe das immer abschätzig betrachtet“, sagt Goldsmith, 76. Klar, ein Schauspieler will auf dem Broadway auftreten, in Hollywood-Filmen oder zumindest in bedeutenden Fernsehserien. Das hat er alles geschafft, doch meist war er der Typ, der irgendwann vom Helden abgeknallt wurde; im Film „The Shootist“ etwa von John Wayne. 1976 war das, und weil ihn Wayne immer wieder mit Platzpatronen an der Stirn verletzte, habe ihn Regisseur Don Siegel zu trösten versucht: „Er hat gesagt: ‚Jeder, der von John Wayne das Gesicht weggepustet bekommt, wird danach reich und berühmt.‘ 30 Jahre später kommt Dos Equis daher.“

Die Biersorte wurde bis zum Jahr 2006 nur in Kalifornien und Texas verkauft, Goldsmith war ein Schauspieler, der keine Lust mehr hatte auf Nebenrollen in Serien wie „Dallas“, „Knight Rider“, „Magnum“. Er lebte auf einem Segelschiff im Hafen von Marina Del Rey und kümmerte sich um seine Marketingfirma. Seine Agentin und heutige Ehefrau Barbara erfuhr von der Kampagne und schickte ihn zum Vorsprechen. „Da saßen 500 Männer rum, alle jünger als ich und mit südländischem Einschlag“, sagt Goldsmith: „Ich wusste, dass ich keine Chance hatte.“

Er sollte beim Casting spontan eine Geschichte erzählen, die mit dem Satz endete: „Und so kam ich zum Armdrücken mit Fidel Castro.“ Goldsmith zog seine Schuhe aus und legte seine Füße auf den Tisch. Dann berichtete er den Produzenten mit mexikanischem Akzent davon, wie er in Südamerika wilde Tiere gejagt und wie er in Malibu ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken gerettet habe. „Die erste Geschichte war erfunden, die zweite nicht“, sagt er. Goldsmith bekam die Rolle, zunächst wurden die Filme nur im regionalen Fernsehen gezeigt. Keine große Sache also.

Die Sprüche, eine Weiterführung und Überhöhung der Chuck-Norris-Tatsachen, waren jedoch derart einprägsam, dass sie sich rasant auf sozialen Netzwerken verbreiteten und im kollektiven Gedächtnis verankerten. Plötzlich kannten alle diesen Mann, der so war, wie Männer heutzutage nicht mehr sein dürfen. Seit 2009 laufen die Spots im landesweiten TV. Seine Werbebotschaft („Ich trinke nicht immer Bier. Aber wenn ich es mache, dann bevorzuge ich Dos Equis.“) wurde zu einem Internet-Phänomen – es gibt eine eigene Homepage, auf der Nutzer ihre eigenen Ideen einstellen können. Mehr als 40000 sind dort mittlerweile gesammelt, die beliebteste derzeit: „Ich bin nicht immer bei Facebook. Aber wenn ich dort bin, verliere ich ein paar IQ-Punkte.“

Goldsmith ist mittlerweile von seinem Segelboot umgezogen auf eine Ranch in Vermont, er hackt Holz und sitzt am liebsten vor dem Kamin im Wohnzimmer. „Ich bin nicht der interessanteste Mensch der Welt“, sagt er. Das seien vielleicht Nelson Mandela, oder Richard Branson. Er geht durchaus selbstironisch damit um, dass es 40 Jahre lang gedauert hat, bis er endlich berühmt wurde – und das als Werbeschauspieler: „Es ist das Beste, was mir jemals passiert ist.“ Warum auch nicht?

Er bekommt sehr viel Geld dafür, damit er über sich erzählt, dass Superman einen Schlafanzug mit seinem Logo besitzt und dass er die Tour-de-France auf einem Einrad gewonnen hat. Sein Lieblingsspruch ist übrigens: „Er besuchte einmal eine Wahrsagerin – um sie zu warnen.“

So prüde ist das Internet

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12/2008
Stillende Mamis sind Pornografie
Facebook nimmt Bilder von stillenden Müttern aus dem Netz – zumindest, wenn die Brustwarze zu sehen ist. Eine betroffene Mutter schreibt daraufhin einen Brief an Facebook. Sie erhält einen Verweis auf die Richtlinien: Brustwarzen sind als pornografisches Material anzusehen und damit verboten. Auf dem beanstandeten Bild ist die aber nicht einmal zu sehen – nur eine Mutter mit hochgeschobenem Top und ihren zwei Söhnen an der Brust. Stephanie Muir, eine der Zensierten, organisiert deswegen zusammen mit 11.000 anderen Usern ein „virtuelles Stillen“, bei dem die Nutzer ein Profilbild einer stillenden Frau hochladen. Gleichzeitig versammeln sich etwa zehn Frauen vor der Facebook-Zentrale in Palo Alto zum öffentlichen Stillen.                                       

02/2010
Zu viel nackte Haut in Apps
Apple räumt in seinem Appstore auf und entfernt allein an einem Wochenende 5000 „anstößige“ Anwendungen. Anstößig bedeutet in diesem Fall: alle Applikationen, die Bilder von Frauen oder Männern in Badeanzügen, Bikinis oder Badehosen zeigen. Betroffen ist die App „Wobble“. Sie wurde entfernt, weil man auf Fotos Brüste wackeln lassen konnte. Seitdem die Macher jetzt aber auch Ohren und Augen wackeln lassen können, ist sie wieder erhältlich.




Zuviel nackte Haut tut der Öffentlichkeit nicht gut - so lautet das Credo zensierender Konzerne wie Google.

10/2010
Kanye West-Cover zensiert
Kanye West sorgt mit seinem Album-Cover von „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ für Aufsehen. Abgebildet ist ein Gemälde des amerikanischen Künstlers George Condo. Ein Paar in eindeutiger Pose: eine Art nackte Wolfs-Version von Kanye auf der Couch, auf dem eine nackte Frau mit Flügeln und einem gepunkteten Schwanz sitzt. Schon vor Erscheinen des Albums twitterte der Rapper: „Yoooo, die haben mein Album-Cover verboten!“ und fügte einen Tag später hinzu: „Verboten in den USA! Die wollen nicht, dass ich auf der Couch mit meinem Phoenix chille.“ Von dem Cover gibt es nun zwei Versionen. Bei iTunes ist das Originalbild zu sehen, allerdings verpixelt.

07/2012
Cover-Penis unerwünscht
Ein Mann in weißer Unterhose ziert die Titelseite des ZEIT-Magazins. Auf der zweiten Seite ist sein nackter Unterleib zu sehen – mit Penis. Der Anlass: Über die weiblichen Geschlechtsorgane berichten die Medien mehr als über den Penis. Als die Redaktion beide Bilder auf ihrer Facebook-Seite hochlädt, löscht Facebook die Bilder. Verwiesen wurde wieder auf die Community-Regeln. User luden das Cover auf ihren eigenen Webseiten hoch und verlinkten es.

11/2012
Ellenbogen für Brüste gehalten – Bild gelöscht
Man könnte denken, es handelt sich um ein Blondine mit großen Brüsten – schaut man aber genauer hin, sind es wohl doch eher Ellenbogen. Mit diesem optischen Trick wollte das Webmagazin Theories of the Deep Understanding of Things testen, ob die Anstands-Wauwaus von Facebook auf diese Täuschung hereinfallen. Es funktioniert, denn schon kurz Zeit später posten die Macher des Magazins einen Screenshot, der zeigt, dass Facebook das Bild entfernt hatte, weil es gegen seine Richtlinien verstoße. Facebook entschuldigt sich später für den Fehler und stellt das Bild wieder online.

11/2012
Zu viel Haut für Ebook
Apple teil-zensiert den Titel von Naomi Wolfs Sachbuch Vagina durch Sternchen und nimmt kurz darauf The Proof of the Honey der syrischen Autorin Salwa Al Neimi aus dem Ebook-Verkauf. Grund dafür ist das Umschlagbild, das einen weiblichen Akt von hinten zeigt. Medienberichten zufolge wurden allerdings beide Änderungen wieder rückgängig gemacht. Die Bücher sind seitdem unzensiert bei iBooks im Angebot.

03/2013
Facebook sperrt Museumsseite
Was Kunst und was Pornografie ist, interessiert auch Facebook wenig: Das soziale Netzwerk sperrt die Seite des Pariser Museums „Jeu de Paume“ für 24 Stunden, weil es mit Brüsten für eine Ausstellung warb. Die Ausstellung des auf historische und moderne Fotokunst spezialisierten Museums zeigt eine schwarz-weiß Retrospektive der französischen Fotografin Laure Albin Guillot (1879-1962). Auf dem zensierten Bild ist eine nackte, blonde Frau zu sehen. Nur ihr Schambereich ist durch ein Tuch verhüllt, ihre Brüste sind gut sichtbar. Gemälde von Nackten seien erlaubt, Fotos nicht, erklärt das Untenehmen – auch wenn das Foto von 1940 ist.

02/2014
#dontfearthenipple
Designer Anthony Vacarello war wohl nicht bewusst, dass sein Outfit zu einem politischen Statement werden würde: Er lässt Model Anja Rubik in einem transparenten Top mit einem hochgeschlitzten Rock und spitzen Lackschuhen über den Pariser Laufsteg laufen. Als Rubik das Bild auf Instagram teilt, löscht der Anbieter es. Die voll entblößte Brust scheint nicht mit den Richtlinien von Instagram übereinzustimmen, denn als Rubik das Foto nochmals mit schwarzem Balken über den Nippeln hochlud, wurde es nicht gelöscht. Seitdem twittern User unter Rubiks Hashtag #dontfearthenipple zum Thema. 

04/2014
Liberale spielen Kommune 1 nach
Auf einem Wahlkampf-Bild der Jungen Liberalen sieht man die nackten Rückseiten von sieben Mitgliedern in einer Reihe an eine Wand stehen. Damit erinnern sie an das berühmte Foto der „Kommune 1“ aus dem Jahr 1967. Wie die „Kommune 1“ wollen auch die Julis damit gegen Prüderie und Spießbürgerlichkeit angehen. Facebook, ganz spießbürgerlich, zensiert das Bild und legt einen schwarzen Balken über die nackten Hinterteile.

02/2015
Google zähmt Blogger
Google will auf seiner Plattform Blogger keine sexuellen Inhalte mehr haben und entfernt öffentliche Blogs, die nach dem 23. März erstellt werden. Bestehende Blogs betrifft das nicht – diese werden auf „privat“ umgestellt. Ihr Inhalt ist dann nur noch für Seiteneigentürmer und freigeschaltete Leser sichtbar. "Wenn es in Ihrem Blog keine Bilder oder Videos gibt, die sexuell eindeutig sind oder sexuell explizite Nacktheit darstellen, ändert sich für Sie nichts", verkündet Google in seinen Richtlinien für nicht jugendfreie Inhalte auf Blogger. Komplett schließt Google Nacktheit aber nicht aus: „Nacktheit ist weiterhin erlaubt, wenn der Inhalt der Öffentlichkeit einen wesentlichen Nutzen bietet, zum Beispiel im künstlerischen, erzieherischen, dokumentarischen oder wissenschaftlichen Kontext.“ Was einen wesentlichen Nutzen hat, entscheidet dabei aber natürlich Google.

Mit jetzt.de zum Wortspiele-Festival

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Wir präsentiert zusammen mit Bayern 2 und Volltext ein Festival für junge Literatur. Wortspiele heißt es und bringt in München (4.-6. März) und Wien (19./20. März) 18 Autoren ins Muffatwerk beziehungsweise ins Porgy & Bess. Mit dabei sind unter anderem Benjamin Lebert („Crazy“), der aus seinem neuen Roman "Mitternachtsweg" liest, Julia Wolf („Alles ist jetzt“) und Michael Fehr („Simeliberg“).

Am Mittwoch, 4. März, kommt Lisa Kränzler nach München - mit ihrem Roman „Lichtfang“ (Suhrkamp). Sie hat 2012 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den 3Sat-Preis gewonnen und stand auf der Shortlist der Leipziger Buchmesse. Und sie hat unseren Kommen&Gehen-Fragebogen ausgefüllt.




 
Woher kommst du und was machst du da den ganzen Tag über?
Aus Karlsruhe, wo ich Montag bis Samstag von 9.30 bis 18.30 Uhr im Atelier stehe, schreibe und/oder male beziehungsweise auf den Moment warte, in dem Schreiben und/oder Malen möglich wird. Bis es so weit ist, versuche ich, nicht wahnsinnig zu werden, indem ich Songs aus Disney-Klassikern singe („Verspür’ ich Wanderlust/ na, da werd’ ich kühn./Wo ich hinschau’ weit und breit/ wächst das Gras so grün!“).
 
Was bringst du uns mit?
Eau de Kränzler – riecht nach Kaffee und Carbonband, Kopierpapier, Chlor und Kaugummi zuckerfrei, sowie dem Parfum Versace Versense, Verklärung, Nonsens und Verzweiflung Intense.
 
Was ist der größte Unterschied zwischen München und deiner Heimatstadt?
In der Isar kann man sich leicht, im Baindter Dorfbach „Bampfen“ nur unter größten Schwierigkeiten ertränken.
 
Und was die größte Gemeinsamkeit?
Römisch-katholische, St.-Johannes-Baptist geweihte Gotteshäuser.
 
Was denken wir alle über dich, das gar nicht stimmt?
Dass ich den Zahlenraum bis 100 immer sicherer beherrsche.
 
Welchen Münchner, welche Münchnerin würdest du gerne kennenlernen?
Einen Mäzen oder eine Mäzenatin, der mein Kunst-/Literaturprojekt „Riesenschreibmaschine“ fördert.
 
München bei Nacht – wo geht’s hin?
Ins Hotel, zu Jogginghose, Minibar und Late-Night-Talk.
 
Was soll dir mal nachgesagt werden?
Sie hatte ’ne verdammt harte Rechte.

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Reise nach Gaza

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Ein Mann mit Jeans, Kapuze und Schablone besprüht die einzig stehende Tür inmitten einer Landschaft aus Ruinen. Die Kamera filmt den Mann von hinten, nach einem Schnitt sieht man das fertige Bild: Die griechische Göttin Niobe, die um ihre Kinder trauert. Hinter dem Stencil steckt der britische Streetart-Künstler Banksy. Die Aufnahme stammt aus einer vor Kurzem veröffentlichten Mini-Dokumentation auf Banksys Webseite, die den zunächst verwirrenden Titel „Make this the year YOU discover a new destination“ trägt. Und mit der der Künstler momentan neben der Zerstörung seines letzten Graffitis in Deutschland Schlagzeilen macht.

http://www.youtube.com/watch?v=3e2dShY8jIo

Wenn man den knapp zweiminütigen Film anschaut, wird klar: Die gesamte Dokumentation ist Satire. Die angeteaserte "new destination" ist nämlich der Gaza-Streifen, der seit Jahren von der israelischen Regierung abgeschottet wird. Der mutmaßliche Banksy erreicht sein Reiseziel deshalb auch nur über einen Schmugglertunnel. Alle folgenden Bilder sind mit zynischen Kommentaren unterlegt. Auch Palästinenser kommen in dem Film zu Wort. Sie sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder, die in einer nächsten Szene spielend vor einem übergroßen Katzen-Graffiti von Banksy gezeigt werden.
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Über dieses Graffiti schreibt Banksy auf seiner Webseite:

„A local man came up and said 'Please - what does this mean?' I explained I wanted to highlight the destruction in Gaza by posting photos on my website – but on the internet people only look at pictures of kittens.“


Dass Banksys Bilder häufig eine politische Message haben, ist bekannt. Der Nahostkonflikt scheint ihm dabei aber besonders wichtig zu sein. Bereits 2005 hatte Banksy sich in Bethlehem in der Westbank verewigt. Er sprühte unter anderem eine Taube und ein Mädchen, das versucht, mithilfe von Luftballons über die Mauer zwischen Palästina und Israel zu fliegen. 

Der neue Dokumentarfilm ist in seiner Message radikaler. Er sagt: Israel ist der Feind. Filmaufnahmen von israelischen Soldaten sind mit Untertiteln versehen, die besagen, dass die Menschen aus Gaza ihr Land nie verlassen würden, weil sie nicht ausreisen dürfen. Andere Bilder zeigen zerstörte Städte in Gaza und geben die Schuld daran den "friendly neighbours", die bei der "Operation Protective Edge" vergangenes Jahr 18.000 Wohneinheiten zerstört hätten. Dazwischen immer wieder: Kinder und Banksys Graffitis.

In der letzten Einstellung des Films sieht man dann eine Zeile, die mit roter Farbe an eine Mauer in Gaza geschrieben wurde. Sie besagt, dass wir angesichts von Konflikten nicht neutral blieben. Für Banksys Film gilt das auch.

Die schwierigen Ponys

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Am berühmtesten ist „Fury“. Fury ist der Held eines Romans aus den Vierziger Jahren, ein schwarzer Mustang, den ein Rancher in den USA einfängt und der nicht zu bändigen ist. Nur einer schafft’s, nur einer kann Fury reiten, nur auf die Rufe eines einzigen Menschen hört er. Und dieser Mensch ist das Gegenteil des sehr großen und sehr wilden Pferdes. Es ist Joey, ein kleiner Waisenjunge.

Es gibt viele dieser Geschichten. Sanftes Kind bändigt wildes oder rettet vom Tode bedrohtes Pferd. Ganze Jugendbuchregalmeter sind voll davon, von „Black Beauty“ bis „Das Mondpferd“. Robert Redford hat mit „Der Pferdeflüsterer“ die Chose sogar noch für Erwachsene verfilmt. Vermutlich hauptsächlich für Frauen. Wie auch die Bücher hauptsächlich von Mädchen gelesen werden. Und diesen Mädchen wird mit diesen Geschichten eine verklärend-romantische Einstellung eingeimpft: Es sind die schwierigen Ponys, die am interessantesten sind – und du bist am interessantesten, wenn du mit ihnen umgehen kannst. Manche tragen diese Einstellung ihr Leben lang mit sich herum. Und ersetzen „Ponys“ durch „Menschen“.

Meistens dann, wenn Jungs allmählich interessanter werden als Haflinger. Auch dafür gibt es ein literarisches Beispiel: Anna Todd, die Autorin, die mit ihren Fan-Fiction-Storys über die Boyband „One Direction“ bekannt wurde, machte aus Harry Styles, dem Sänger der Band und Protagonisten ihrer Geschichten, ein ziemliches Arschloch. Einen schwierigen, launischen Typen, der Tessa, die natürlich sehr sanft und sehr süß ist, immer wieder sitzen lässt. Aber sie ist total fasziniert von ihm und will unbedingt sein wahres Ich finden. Ihn zähmen eben. Die Roman-Reihe „After“, die daraus entstanden ist, ist wahnsinnig erfolgreich. Millionen Mädchen und sicher auch einige Jungs träumen vom Typ „schwieriges Pony“ und seiner Zähmung.





Dieses Zähmungs-Szenario ist so beliebt, dass es schon in ganz alltäglichen Situationen auftaucht. Denn mittlerweile bist du der Star in deinem Freundeskreis, wenn du es schaffst, dich in dem hippen Café, in dem die Gäste aus Prinzip schlecht behandelt werden, zum Stammgast hochzuarbeiten. Durch stete Präsenz und eine Art, die man am besten wohl als „sanftes Selbstbewusstsein“ beschreiben könnte. Bis der Kellner mit dem sonst so bockigen Gesichtsausdruck dich irgendwann freudig begrüßt. Deine Freunde aber weiterhin ignoriert. Sieg für dich.

Das ist das Gleiche wie früher auf dem Ponyhof, als alle staunten, wenn Lena die Stute, die eigentlich immer gegen die Bande tritt, wie eine Eins durch die Bahn ritt. Und es ist auch das Gleiche, wenn die Freundinnen heute in der Kneipe darüber sprechen, dass sie erst gar nicht verstehen konnten, wieso Jana mit Philipp, wo der doch immer so mies drauf, aber jetzt und mit ihr scheint er ja ganz anders, sie tut ihm so gut etc. pp. Sieg für Lena und Jana, die anscheinend innerlich so ausgereift und mit sich und allem anderen so im Reinen sind, dass sie noch genug Kapazität übrig haben, eine Stute oder einen Mann aufzurichten. Das alles natürlich nur unter der Vorgabe, dass sie die Stute oder den Mann sehr mögen, eh klar. Die machen das ja nicht für jeden.

Hinter der Faszination für das „schwieriges Pony“-Phänomen steckt zum einen der Gedanke, dass wer wild und schwierig ist, auch irgendwie edel und stolz ist. Wie Fury eben, der den Kopf immer sehr hoch trug und dessen Fell immer glänzte. Und jeder möchte ja lieber mit edlen und stolzen Menschen zu tun haben als mit Würstchen ohne Rückgrat.

Zum anderen spielt da ein Gefühl mit hinein, das eigentlich nie eine gute Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen ist: Mitleid. Die schwierigen Ponys aus den Büchern sind ja meist nicht ohne Grund schwierig. Irgendjemand war mal nicht gut zu ihnen, sie haben schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, sie sind verstört und ängstlich. Aber weil sie nun mal Pferde sind äußert sich das nicht durch Rückzug und Kopf-unter-die-Decke-Stecken, sondern leider, indem sie treten und beißen. Das Leid wird in Kraft umgewandelt, ein Effekt, den man schon spannend finden kann und der Pferden erlaubt ist. Und ja, anscheinend auch Menschen (vor allem Männern, denen zumindest immer noch mehr als Frauen). Da greift die alte Phrase von der harten Schale und dem weichen Kern. Die harte Schale wird mit der schwierigen Vergangenheit entschuldigt – und herzlichen Glückwunsch an denjenigen, der es schafft, sie zu knacken und zum weichen Kern durchzudringen.

Das ist der nächste Punkt, der die Sache mit den schwierigen Ponys so reizvoll macht. Nämlich der Gewinn für denjenigen, der die Schale knackt. Die Menschen, die die schwierigen Ponys zähmen, sei es nun Joey, der Weisenjunge, oder die sanftmütige Tessa, sei es nun Lena oder Jana, sie alle haben so eine Aura von Ruhe, Opferbereitschaft und Selbstaufgabe. Sie sind wie Heilige oder Magier, die ganz selbstlos handeln, ohne sich dabei zu verlieren oder daran zu zerbrechen. Sie machen die Welt ein bisschen besser, indem sie das Pony oder den anderen Menschen besser machen. Die Mär von diesen guten Menschen ist vielen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie allen, die gut mit schwierigen Charakteren können, automatisch eine positive Ausstrahlung und kraftvolle Ruhe zuschreiben. Sie machen wohl etwas richtig, das man nicht lernen kann, das angeboren ist, denkt man. Und die heiligen Dompteure selbst wissen das auch. Der Stammgast im Café ist stolz auf seine Sonderstellung und Jana ist stolz, dass Philipp ihr alleine aus der Hand frisst und die anderen darüber staunen.

Das Problem am „schwieriges Pony“-Phänomen ist, dass damit schlechtes Benehmen entschuldigt wird. Hufeisenabdrücke auf dem Oberschenkel genauso wie miese Laune, die man an jemand anders auslässt. Am Ende geht es bei all dem wohl um Macht – oder zumindest um ein Gefühl von Macht. Das schwierige Pony hat immer erstmal mehr Kraft und mehr Macht als du. Aber dann kommt die sanfte Hand ins Spiel und zeigt, dass sie eigentlich viel mächtiger ist. Scheinbar. Manchmal siegt das Sanfte ja wirklich. Aber manchmal belügt man sich auch einfach nur selbst und lässt alles mit sich machen, um einer der heiligen Dompteure zu sein.

In der Fernsehserie zum Fury-Roman gibt es immer wieder diese Szene, in der man das Verklärende uns leicht Kitschige am „schwieriges Pony“-Phänomen gut sieht: Joey ruft das Pferd und es kommt angaloppiert, die Mähne weht, die Steine spritzen. Dann stoppt es. Und damit der sehr kleine Junge auf den sehr hohen Pferderücken steigen kann, geht Fury vor ihm in die Knie.

Tagesblog - 27. Februar 2015

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17:09: Und jetzt stell ich euch noch schnell eine backwarme Jungsfrage in die Auslage ("Mädchen, wie viel Gentleman sollen wir noch sein?") und dann sage ich, galant und leise, wie's meine Art ist: Küss die Hand, baba und servus ...





16:04 Uhr:
Ah, neuer Kram von Sepalot, diesem umfassend eleganten Sample-Monster, das sonst bei Blumentopf Platten auflegt:

https://www.youtube.com/watch?v=S6VAXbEbxqw

++++

15:50 Uhr:
Oder doch Edding?

++++

15:40 Uhr:
Himmel, hilf mir!!! Eben habe ich die Pentatones noch ganz unschuldig mit ihrer wunderschönen Single "Ghost" in die Fünf Songs gepackt.

http://www.youtube.com/watch?v=lg7onI48PDQ

Und jetzt schickt der Kollege dies:





Das Schwarze in ihrem Gesicht, das ist ein Tattoo ...

++++

14:25 Uhr:
Ich weiß, ich weiß. Drei Stunden sind Rekord. Aber: Erstens musste ich ein Interview führen. Zweitens wurde technisch etwas getan, das ich nicht verstehe, von dem es aber heißt, es sei wichtig. Und drittens habe ich Kathrins Text redigiert und gebaut und auf die Startseite gestellt. Und für den hat sich das Warten aber mal sowas von gelohnt:




Geld her!

Die Sharing Economy ist tot, sagt sie darin. Genauer kommt in dem Text sogar raus, dass sie noch nie wirklich lebendig war, weil alles, was wir so für Sharing gehalten haben, eigentlich nur Kapitalismus im Schafspelz war. Und dass das schade ist, sagt sie auch.

Toller Text! Sage ich.

++++

11:10 Uhr:
Und einen neuen Text gibt es auch noch auf der Startseite: Fünf Songs fürs Wochenende! Darin unter anderem: der gefährlichste Rapper der Welt (mit einem Flammenwerfer), der zweitgefährlichste Rapper der Welt (mit wahnsinnig genial schlechten Vergleichen) und die wunderbaren Alabama Shakes (mit Instrumenten, die so gut klingen, als würde man sie mit dem Stethoskop abhören).





++++

10:55 Uhr:
Wenn ich die Nachrichtenlage richtig überblicke, ist heute nichts wichtiges passiert, außerdem einem Kleid, das je nach Blickwinkel, Farbwahrnehmung, Geschlecht des Blickenden (?) mal blau/schwarz und mal weiß/gold ist (findet sich auch schon in den Kommentaren). Hier übrigens: Team blau/schwarz.

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Und hier wäre dann auch schon die Erklärung. Es ist übrigens blau/schwarz.

  • Ach halt! Eben doch noch was gesehen: Der Bundestag stimmt heute über die Verlängerunmg des Hilfsprogramms für Griechenland ab. Es wird eine deutliche Mehrheit dafür erwartet - vor allem bei der CSU rechnet man aber mit Abweichlern.

  • Wegen eines Umweltskandals an der Elfenbeinküste rechnet man mit einer weiteren Klagewelle. Tanklastwagen der europäischen Ölhandelsfirma Trafigura sollen im Jahr 2006 heimlich Giftmüll in Abidjan abgeladen haben. Etwa 150.000 Menschen brauchten daraufhin ärztliche Hilfe. 30.000 von ihnen hat der Konzern bereits eine Entschädigung gezahlt. Jetzt wollen die klagen, die leerausgegangen sind - knapp 111.000.

  • Das neue Noel-Gallagher-Album ist endlich draußen.


10 Uhr:
Konferenz: jetzt. Gifs: dann.

++++

9:09 Uhr:
Guten Morgen, beziehungsweise eben genau das nicht. Ich hatte heute Nacht nämlich einen Albtraum, der in der Top-3 meiner bisherigen Albträume rangiert. Wahrscheinlich auf Platz eins. Mag jetzt nicht in Details gehen. Aber ich sag mal: Mord, Polizeifahndung, Kollegen - alles dabei. Sons of Anarchy meets Breaking Bad: Hilfsbegriff!

Damit da also wenigstens irgendwas Produktives bei rauskommt - und in Reminiszenz an vergangene Zeiten - vielleicht ein schneller Mini-Ticker: »Was war dein schlimmster Albtraum bislang?«.

Ich sortier mich derweil mal ...

Der Dschihadist, den sie John nennen

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Gegen zehn Uhr am Donnerstagmorgen klingelten Zivilpolizisten am Haus der Eltern von Mohammed Emwasi im Westen Londons. Dass die Beamten auftauchten, lag daran, dass die Washington Post gerade enthüllt hatte, dass Mohammed Emwasi der Mann ist, der als „Dschihadi John“ bekannt ist. In mehreren Videobotschaften der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hatte er sich mit seinen Morden an westlichen Geiseln gebrüstet und mit deren Leichen posiert.

Seit dem Mord an dem US-Journalisten James Foley im August 2014 versuchten Geheimdienste, den Killer zu identifizieren, der stets vermummt auftritt und mit britischem Akzent spricht. Zunächst galt der Londoner Abdel-Majed Abdel Bary als Hauptverdächtiger, der als Rapper LJinny bekannt ist. Bary hat sich dem IS angeschlossen und bei mindestens einer Gelegenheit mit einem abgetrennten Kopf posiert. Offenbar wissen die Geheimdienste aber schon länger, dass nicht er Dschihadi John ist, sondern Emwasi. Aus Ermittlungsgründen machten sie dies nicht öffentlich. Die Post beruft sich nun auf Kontaktpersonen, die ihn identifiziert haben wollen.



Screenshot aus einem IS-Video. Hinter der Maske des "Dschihadi John" soll sich Mohammed Emwasi verbergen, der in Kuwait geboren wurde und in Westminster Informatik studiert haben soll.


Emwasi wurde 1988 in Kuwait geboren. Er kam in den Neunzigerjahren mit seinen Eltern nach London, wo er im wohlhabenden Stadtteil St. John’s Wood die Quintin Kynaston Community Academy besuchte. Anschließend studierte er, 2009 machte er seinen Abschluss in Informatik an der University of Westminster. Im Mai desselben Jahres reiste er mit zwei Freunden – einer von ihnen laut Washington Post ein deutscher Konvertit namens Omar – nach Tansania. Am Flughafen von Daressalam wurden die Männer festgehalten und befragt. Möglicherweise bestand Terrorverdacht. Die Einreise wurde ihnen verweigert.

Über Amsterdam flog Emwasi zurück nach London. In Schiphol befragte ihn offenbar der britische Geheimdienst MI5. Dieser hatte womöglich den Verdacht, dass Emwasi nach Somalia reisen wollte, um sich der Terrorgruppe al-Shabaab anzuschließen. Emwasi sagte später, MI5 habe ihn anwerben wollen. Wenig später zog er nach Kuwait, wo er laut eigenen Angaben bei einer Computerfirma arbeitete. Zweimal kehrte er nach London zurück, beim zweiten Mal offenbar, um letzte Vorbereitungen für seine Hochzeit in Kuwait zu treffen. Im Juni 2010 wurde er jedoch von einer britischen Anti-Terror-Einheit festgenommen. Als Emwazi am nächsten Tag nach Kuwait fliegen wollte, wurde ihm die Ausreise verweigert. Ein Versuch Emwasis, sich eine Existenz als Englischlehrer in Saudi-Arabien aufzubauen, scheiterte; die Gründe dafür sind nicht bekannt, ebenso wenig wie und wann genau er nach Syrien gelangte.

Vermutlich gelang ihm die Reise in den Dschihad im Jahr 2012. Auch wann er sich dem IS anschloss, ist nicht sicher. Ehemalige Geiseln des IS berichteten, er habe sie im Jahr 2013 zusammen mit drei anderen englischsprachigen Dschihadisten in der syrischen Stadt Idlib bewacht, 20 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Sie berichteten, dass er noch immer besessen gewesen sei von al-Shabaab und ihnen Videos der Somalier vorgeführt habe.

Interviews mit den Ex-Geiseln nutzten die Geheimdienste neben Stimmenanalysen, um ihn zu identifizieren. Auch der Name, unter dem er berüchtigt wurde, geht auf sie zurück: Sie nannten ihre Bewacher „die Beatles“ und die vier Männer entsprechend John, Paul, George und Ringo. Die britische Presse machte daraus dann Dschihadi John. Die furchterregendste Karriere der vier Männer machte Emwasi: Er soll sich nicht nur maßgeblich an der Folterung von Gefangenen beteiligt haben, er trat später auch in mindestens sechs Enthauptungsvideos auf, die zum makaberen Markenzeichen des Terrorkalifats wurden.

Sein mutmaßlich erstes Opfer war Foley, der in einem orangenen Overall in der Wüste knien musste. Dann tauchte er in den Videos auf, mit denen der Islamische Staat die Enthauptung eines zweiten US-Journalisten, Steven Sotloff, dokumentierte sowie in den Aufnahmen der Ermordung des britischen Entwicklungshelfers David Haines und später seines Landsmanns Alan Henning. In einem weiteren Video, in dem Emwasi offenbar einen syrischen Soldaten vor laufender Kamera umbringt, war auch die Leiche des US-Entwicklungshelfers Peter Kassig zu sehen. Zuletzt tauchte er im Januar 2015 in einem Drohvideo mit den beiden später ermordeten Japanern Haruna Yukawa und Kenji Goto auf – und in dem Video von der Enthauptung Gotos am 30.Januar.

Jäger und Händler

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Es ist ein höchst ungewöhnlicher Fundort elf Meter tief im Meer vor der Küste Großbritanniens. Man würde erwarten, dass die Taucher dort, vor der Isle of Wight, am Bouldnor Cliff, vielleicht nach Schätzen eines gesunkenen Schiffs suchten. Stattdessen haben sie von dort unscheinbare Sedimentproben mitgebracht, die sich vor 8000 Jahren, als der Meeresspiegel deutlich tiefer lag, an der Mündung eines Flusses abgelagert hatten. Doch diese Proben bergen einen wahren Schatz, wie spätere Erbgutanalysen des darin enthaltenen biologischen Materials zeigen. Paläogenetiker der Universität Warwick entdeckten im Sediment Spuren von 8000 Jahre altem, kultiviertem Weizen. So weit im Norden hatten die Archäologen für die Mittelsteinzeit keine Spuren von Einkorn erwartet, der frühesten von Menschen angebauten Weizenart (Science, Bd. 347, S. 998, 2015).

Der Weizen ist offenbar zweitausend Jahre früher auf der britischen Insel angekommen, als die Archäologen bislang annahmen, und vierhundert Jahre, bevor in Mitteleuropa die ersten Bauern nachweislich sesshaft waren und Felder bestellten. Vor 8000 Jahren bestand noch eine Verbindung zwischen dem europäischen Festland und der heutigen britischen Insel, sowohl Handel wie Migration waren also leicht möglich. Die Gletscher hatten sich nach der Eiszeit längst in den hohen Norden zurückgezogen. In den folgenden Jahrtausenden stieg der Meeresspiegel an, die Nordsee überflutete den Landweg. Ganze Küstenregionen versanken im Meer und mit ihnen die Reste der damaligen Zivilisation. Für Archäologen ist das eine große Chance, denn in gut zehn Metern Tiefe liegen vom Meeressediment geschützt Spuren aus der Frühgeschichte Europas begraben. Die Forscher konnten auch die einstige Küstenlandschaft rekonstruieren, sie war dicht bewaldet, es wuchsen vor allem Eichen, Apfelbäume, Buchen, Erlen, Pappeln, dazwischen gediehen Gräser und Kräuter. In den Wäldern lebten Wölfe, Auerochsen, Hirsche, Moorhühner und zahlreiche Nagetiere.



Elf Meter tief im Meer vor der britischen Küste wurden Spuren von Weizen gefunden. War er etwa vor 8000 Jahren bereits ein Importgut?


Die größte Überraschung ist nun allerdings der Nachweis von Einkorn. Bislang gingen die Forscher davon aus, dass der für Ackerbau genutzte Weizen vom Nahen Osten aus vor allem über die Donau nach Mitteleuropa kam, manche Archäologen halten auch den Weg über das Mittelmeer Richtung Italien und sogar Spanien für denkbar. Die ältesten archäologischen Nachweise im heutigen Deutschland sind 7600 Jahre alt, je näher man der Nordseeküste kommt, umso jünger werden die Spuren. Die Funde von Bouldnor Cliff sind nun aber älter, und die Implikationen weitreichend: Möglicherweise gab es Handelsbeziehungen zwischen den einheimischen Jägern und Sammlern und den frühen Bauern aus dem südlichen Europa. Das würde ein neues Licht werfen auf interregionale Beziehungen und dem entsprechenden Austausch von Wissen.

Letztlich geht um die spannende Frage, wie der Übergang von der Mittelsteinzeit zum Neolithikum geschah, jener Epoche in der auch die Menschen in Europa sesshaft wurden. Dieser Übergang wird gern als Verdrängungswettbewerb geschildert. Die überlegenen Bauern aus dem fruchtbaren Orient, die dort vor 10500 Jahren die Landwirtschaft erfanden, seien im Lauf der Jahrhunderte immer weiter nach Norden vorgedrungen, hätten ihre neue, überlegene Lebensform mitgebracht und die einheimischen Wildbeuter verdrängt. Doch möglicherweise existierten beide Lebensweisen eine Zeit lang nebeneinander und im Austausch. Und irgendwann – möglicherweise erst nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden – übernahmen die Einheimischen die Idee der Landwirtschaft und wurden sesshaft.

Diese Vorstellung wird nun gestützt durch die DNA-Analysen des Paläogenetikers Oliver Smith von der Universität von Warwick. Er bestimmte nicht nur das Alter des Weizens sondern zeigte zudem, dass das Einkorn vom Bouldnor Cliff genetisch betrachtet wohl aus der Region des Fruchtbaren Halbmonds im Nahen Osten stammt. Es zeigt jedenfalls keinerlei Übereinstimmung mit dem Genprofil von Getreide aus Nordeuropa oder Großbritannien.

Auch fanden sich sonst nirgendwo in der Nähe von Bouldnor Cliff irgendwelche Hinweise darauf, dass die Menschen vor 8000 Jahren in größerem Stil Weizen angebaut haben. „Das unerwartet frühe Auftauchen von Weizen in Großbritannien sollte bewirken, dass wir neu über die Intensität der Beziehung zwischen frühen Bauern sowie Jägern und Sammlern nachdenken und generell über die Anfänge der sesshaften bäuerlichen Gemeinschaften in Europa“, schreibt der britische Paläogenetiker Greger Larsen von der Universität Oxford in einem Begleitkommentar zu der Studie in der Zeitschrift Science.

Bestes Weimarer Niveau

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Es geht gar nicht anders – denn so und nicht anders hatte er es doch gewollt –, als jetzt an Kurt Tucholsky zu denken, der sich 1935 im schwedischen Exil das Leben nahm, lebensenttäuscht, krank, ein „aufgehörter Schriftsteller“. Fritz J. Raddatz hat wie kein anderer seinem „Tucho“ nachgeeifert, diesem raren Heiligen des antifaschistischen Deutschland, diesem knallharten linken Romantiker, der stets staatsgefährdender Umtriebe verdächtig war, promoviert zwar, aber im Romanischen Café zu Hause und erst recht bei den Huren, reimfreudiger Couplet-Dichter und allzeit bereit, die Stützen der Gesellschaft zu züchtigen, und nebenbei auch noch Bestsellerautor, auch wenn’s nur Berliner Sonntagsentimentales war wie „Schloss Gripsholm“ und „Rheinsberg“.

Kein größeres Glück deshalb für Tucholskys Jünger, als selber ins Französische übersetzt zu werden und in der Welthauptstadt der Literatur, in Paris, ziemlich groß herauszukommen, aber nicht als reaktionsschneller Eiferer, nicht als großer Debattier, als seitensprengender Feuilletonist, auch nicht als Autor einer meinungsstarken Marx-Biografie oder als Germanist, der Traditionen und Tendenzen der übrigens reichlich öden DDR-Literatur nachweisen konnte, sondern als eigenständiger Erzähler, als Autor von „Kuhauge“. 1984 erschien die autobiografische Geschichte und markierte seinen Abschied vom Feuilleton, der erheblich länger dauerte als seine Amtstätigkeit in diesem Ressort. Als ihn die recht wenig literate, aber machtbewusste Gräfin Dönhoff 1985 nach Gutsherrinnenart von seinem Lieblingsamt entband und öffentlich aus dem Feuilleton der Zeit warf, hätte das sein Glück sein können, doch Raddatz konnte gar nicht anders, als dieser Kränkung bis zuletzt nachzugeben.



Rechts im Bild: Der berühmte Feuilletonist und Literaturkritiker Fritz J. Raddatz (geboren 1931), hier mit Siegfried Lenz und Günter Grass, ist am 26.2.2015 im Alter von 83 Jahren gestorben.


Mit seiner staunenswerten Schnelligkeit hatte er in weniger als zwei Stunden einen ausgefallenen Aufmacher für die Buchmesse zusammengeschustert, sich großzügig beim Einfall eines Kollegen bedient und dabei dessen satirischen Ansatz übersehen. Der Hohn in ganz Deutschland über den Mann, der Goethe noch die ersten Bahnhöfe erleben ließ, war ohrenbetäubend, aber auch ohrenbetäubend dumm. Raddatz hatte nicht nur bei der Zeit überzogen, sondern über die Jahre seines emphatischen Schreibens genug Anlass für die Schadenfreude gegeben, die jetzt verlässlich fällig wurde.

Doch statt sich auf die endlich erlangte Freiheit zum Schreiben zu beschränken, klagte Raddatz beständig über die Ungerechtigkeit der Welt und insbesondere der Zeit, die im Ernst glaubte, auf ihn und seinen Weltliteraten-Adresskalender verzichten zu können.

Den hatte er von Anfang an mit großen Namen zu füllen gewusst. Noch vor dem Abitur hatte der 1931 geborene Fritz Joachim Raddatz seine ersten Artikel veröffentlichen können. Die staatlicherseits und vor allem von der SED geförderte Kultur in der DDR erlaubte ihm eine blitzschnelle Promotion über Herder, und schon war er Lektor beim Verlag Volk und Welt. Dort bemühte er sich um die Ost-Lizenz für den verehrten Tucholsky und kam dabei frühzeitig mit den Rechte-Inhabern beim (damals) Hamburger Rowohlt-Verlag in Verbindung. Als er 1958 nach Westdeutschland übersiedelte, war er nicht vollkommen fremd, aber wie anders sein Bildungsgang verlaufen war, deutete er vor Kurzem in einem Gespräch in der Zeitschrift für Ideengeschichte an. Demnach war und blieb Georg Lukács mit seiner Lehre vom bürgerlichen Realismus sein großer Lehrmeister.

Raddatz’ große Zeit begann bei Rowohlt, wo er als Cheflektor und faktischer Verlagsleiter waltete, den er nur vertreten sollte. Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten zutrifft, die er in seiner Autobiografie „Unruhestifter“ erzählt, muss sich um das vorstädtische Reinbek eine Gelehrten- und Bohème-Republik gebildet haben, die in Triumph und Größenwahn, aber auch in Niedertracht und dem üblichen Kollegengezänk bestes Weimarer Niveau erreichte. Raddatz lancierte den schwulen James Baldwin, druckte gegen den erbitterten Widerstand von Berthold Beitz den „Stellvertreter“ Rolf Hochhuths, fuhr im Porsche dreckspritzend in den Bauernhof ein, in dem der Dorfschullehrer Walter Kempowski an seinem Bautzen-Buch arbeitete und hatte offenbar noch Zeit, seine Autoren nach St. Pauli in den Puff auszuführen und sich selber in Paris, London und New York mit mindestens tausend Liebhabern zu amüsieren.

Der Lektor Raddatz gründete die unendlich verdienstvolle Reihe rororo-aktuell, machte sie zur Dependence der immer politischer agierenden Gruppe 47 und diskutierte selber bei deren Tagungen mit. Hans Magnus Enzensberger brachte ihm das Manuskript, das ein persischer Student über die Zustände in dessen Heimat verfasst hatte, und Raddatz druckte Bahman Nirumands Anklageschrift, die in der Aufforderung gipfelte, den Schah zu ermorden. Diese Pointe wurde gestrichen, aber es war dieses Buch, das die Berliner Studenten und seine Kollegin, die Kolumnistin Ulrike Meinhof, über den Diktator aufklärte, der 1967 zu seinem von den Springer- und den anderen bunten Zeitungen so begeistert besungenen Staatsbesuch nach Berlin kam. Der Demonstrant Benno Ohnesorg wurde von der Polizei umgebracht, und der Publizist Raddatz wurde wie eine ganze Anzahl weiterer Intellektueller zum Brandredner. Im Frühjahr 1968 stand er in Hamburg beim Bahnhof Dammtor auf der Moorweide und rief zur Revolution auf: „Genug argumentiert, widerlegt, bloßgestellt. Was gebraucht wird, ist der Entwurf zu einer Gegenregierung.“

Daraus wurde natürlich nicht viel, aber der Verleger Raddatz lieferte verlässlich weitere Programmschriften für diese unermüdlich herbeigebetete Revolution. Irgendwann wurde es dem Verlag dann doch zu viel, und Raddatz wurde mit ziemlichem Kawumm hinausgeworfen. (Einen Artikel über Cölln’s Austernkeller, ein Hamburger Spesenrestaurant, hat er einmal mit der Bemerkung eingeleitet, dort sei er schon vier Mal entlassen worden.)

Es war Rudolf Augstein, der ihn auffing und ihm sein öffentlich zelebriertes Leben zwischen Marxismus und Lebenskünstlertum in seinem kurzlebigen Spiegel-Institut finanzierte. Raddatz habilitierte sich bei Hans Mayer, dem er beim Verlassen der DDR geholfen hatte, und wurde dann zum Feuilletonchef der Zeit berufen. Es waren, darüber gibt es keinen Zweifel, nicht nur seine besten, sondern auch die besten Jahre der nicht immer nur moralischen Wochenschrift. Sekundiert von Benjamin Henrichs und Rolf Michaelis, unterstützt vom Langmut und der finanziellen Großzügigkeit des Verlegers Gerd Bucerius, konnte Raddatz jeden Autor dieser Welt einladen und bezahlen. Hier brillierte er als Autor langwieriger Abhandlungen über die sogenannte Innere Emigration, aber vor allem als ekstatischer Polemiker, der auf dem Höhepunkt der Terroristenjagd mit thomasmännischem Pathos den „Bruder Baader“ entdeckte. Im Vorsatzblatt seiner Erinnerungen bildete er die Großen der Welt ab, mit denen er zu tun hatte, Willy Brandt, den er verehrte, Hildegard Knef, die ihm als Autorin entging, Helmut Schmidt, den er als Hamburger Ohnsorg-Theater-Aficionado nur verachten konnte. Dabei wäre er doch so gern einer von ihnen gewesen.

Fritz J. Raddatz’ Lebensgeschichte zeigt ein letztes Mal Glanz und Elend der literarischen Bundesrepublik, von der die Nachgeborenen nur mehr träumen können. Auch Raddatz mochte das Träumen nicht lassen. So walzte er sein Leben, seine traumhafte Karriere in Ostberlin und dann in Hamburg in immer neuen, immer talmihafteren Romanen aus. Die Kritiker waren ihm anfangs pflichtschuldig und fast schon peinlich gewogen, doch ließ das Interesse an dem Feuilletonisten, der jetzt selber Romane schrieb, rasch wieder nach. Raddatz schrieb weiter, schrieb vor allem weiter in der Zeit (und in den Tagebüchern war später nachzulesen, wie wichtig ihm das Gehalt und der damit verbundene Status war), er ergänzte die Romane durch seine Autobiografie und lieferte zuletzt noch die scheinbare Rohform der Tagebücher nach. Zu seinem Unglück gehörte, dass er zuletzt ein Gnadenbrot bei der Welt am Sonntag verzehren durfte, in einem Altersheim für abgedankte Feuilletonkräfte, großzügig alimentiert von jenem Springer-Verlag, dessen Enteignung der Rowohlt-Lektor Raddatz einst gefordert hatte. Im vergangenen Jahr hat er sich mit einem bewegenden Schlusswort vom Journalismus verabschiedet. Die gegenwärtige Produktion, und wer wollte es ihm verdenken, interessiere ihn nicht mehr, sie öde ihn an, es gebe für ihn nichts mehr, für das es sich zu schreiben lohne. Nein, so einen wie ihn wird es nicht mehr geben. Am Donnerstag hat Fritz J. Raddatz seine Ankündigung wahr gemacht und ist im Alter von 83 Jahren gestorben.

Der Wert des Klimas

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Bill Clinton war ziemlich frisch im Amt, da erließ er die executive order 12866. Mitte der Neunzigerjahre war sie ein Kind ihrer Zeit, sie sollte Verwaltungshandeln ökonomisieren. „Bei der Entscheidung, ob und wie sie handeln“, so dekretierte der damalige US-Präsident 1993, „sollen Behörden Kosten und Nutzen aller Alternativen überprüfen, inklusive Kosten und Nutzen, wenn sie nichts regulieren“. Nummer 12866 sollte die Bundesbehörden auf Effizienz trimmen. Dass sie mal zu einem Instrument für Klimaschutz werden könnte, hatte selbst Clinton seinerzeit nicht im Sinn.

20 Jahre später befassen sich ganze Arbeitsstäbe mit der Frage, wie sich die Verordnung auf die amerikanische Klimapolitik übertragen lässt, auf Vorgaben für die Effizienz von Fahrzeugen, auf Vorschriften für Zementwerke, auf die Luftverschmutzung von Kohlekraftwerken. Denn auch die amerikanische Umweltbehörde EPA ist der Verordnung von einst unterworfen. Und so errechnet die Regierung in einer eigenen Arbeitsgruppe regelmäßig den Preis des Klimawandels: die social cost of carbon.

Es sind hochpolitische, unglaublich komplexe Berechnungen. Jede Tonne Kohlendioxid bekommt hier einen Preis, der ihren Schaden bemessen soll – und das über Jahrzehnte hinweg. Je höher der Wert angesetzt wird, desto mehr und desto schärfere behördliche Eingriffe lassen sich rechtfertigen. Doch zugleich ist es eine Rechnung mit vielen Unbekannten: Welche Schäden drohen? Wie viel werden sie kosten? Wie entwickeln sich diese Kosten mit der Zeit? Und: Wie entwickelt sich die Wirtschaft, welche Schäden kann sie verkraften?



Dürre in Kalifornien: Ein Problem für die Rinderhaltung. Wie teuer ist der klimatisch bedingte Verlust von Weideland?


Eines ist einmal sicher: Je länger Klimaschutzmaßnahmen hinausgezögert werden, desto teurer werden sie. 2013 rechnete die Arbeitsgruppe die sozialen Kosten neu durch – und erhielt eine höhere Bandbreite als noch drei Jahre zuvor. Demnach könnten die sozialen Kosten einer Tonne Kohlendioxid im Jahr 2020 zwischen 13 und 137 Dollar liegen, viel mehr als noch die Berechnungen drei Jahre zuvor. Da kalkulierte die Arbeitsgruppe, die mit verschiedenen Behörden zusammenarbeitet, eine Spanne von sieben bis 86 Dollar. Der Grund für die Steigerung: Einige Schäden lassen sich in den Rechenmodellen inzwischen besser abbilden, etwa solche durch steigende Meeresspiegel. So steigen auch die Kosten, oder, wie die Arbeitsgruppe das nennt: die „monetarisierten Schäden, die mit einem schrittweisen Anstieg der Emissionen in einem bestimmten Jahr verbunden sind“.

Dahinter steht eine eigene Philosophie des Klimaschutzes. In der EU ist eine zwischen den Mitgliedstaaten ausgehandelte Begrenzung der Emissionen Dreh- und Angelpunkt der Klimapolitik, in den USA ist es die Abwehr von Schäden für die Allgemeinheit. Denn seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes der USA im Jahr 2007 gilt Kohlendioxid als Luftschadstoff, daraus leitet sich die Kompetenz der Umweltbehörde EPA ab – und daraus wiederum die Pflicht, Kosten und Nutzen zu kalkulieren. Die Kosten des Klimawandels geraten damit auch mitten in die politische Auseinandersetzung: Die Industrie etwa hat wenig Interesse an hohen Kosten, aus Angst vor weiteren Eingriffen.

Auch in Deutschland gab es Versuche, die Kosten von Treibhausgas-Emissionen zu quantifizieren. Experten des Umweltbundesamtes kamen auf 80 Euro je Tonne Kohlendioxid. „Die Schätzungen der Umweltkosten machen deutlich, wie teuer das Nichtstun wäre“, sagt Andreas Burger, Fachbereichsleiter für Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Umweltfragen bei der Dessauer Bundesbehörde. „Aber methodisch sind solche Berechnungen eine echte Herausforderung.“

Denn selbst eingefleischte Ökonomen führen die Berechnungen weit hinein ins Reich der Annahmen und Unbekannten, sie stoßen schnell an die Grenzen ihrer Wissenschaft. Nicht nur der Umfang der zu erwartenden Schäden ist unbekannt, sondern auch die künftige Verfassung der Wirtschaft. Eine stark wachsende Wirtschaft kommt mit Kosten besser klar als eine, die von den Schäden ihrerseits in Mitleidenschaft gezogen wird. Zudem wird eine Gesellschaft Schäden, die erst in vielen Jahren auftreten, anders bewerten als solche, die unmittelbar vor der Tür stehen. Ganz anders allerdings geht es der nächsten Generation – sie wird möglicherweise weit größere, teurere Schäden gewärtigen. Jedenfalls dann, wenn die Klimapolitik nicht umsteuert. Allerdings wird diese Generation mutmaßlich auch reicher sein.

Die offizielle Kalkulation der Vereinigten Staaten behilft sich mit Zinsberechnungen, um diese Unsicherheiten aufzufangen – sowohl was den Zeitpunkt der Schäden angeht als auch mit Blick auf Präferenzen und Wohlstand der Gesellschaft. Dadurch entstehen aber auch die gewaltigen Bandbreiten. Für das Jahr 2050 etwa sehen die Kalkulationen im ungünstigsten Fall soziale Kosten von 221 Dollar je Tonne Kohlendioxid vor, berechnet in Preisen von 2007.

Selbst das könnte noch untertrieben sein. In einem vor wenigen Woche im Fachjournal Nature Climate Change veröffentlichten Aufsatz kommen die Ökonomen Frances Moore und Delavane Diaz von der kalifornischen Stanford-Universität zu dem Ergebnis, die sozialen Kosten könnten schon heute noch weit höher sein – wenn die Rechenmodelle in Betracht zögen, dass der Klimawandel auch das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt.

Die gängigen Modelle, die Ökonomen heute für ihre Kosten-Nutzen-Rechnungen nutzen, klammern den Effekt des Klimawandels auf die Wachstumsraten von Ländern nämlich aus. Bislang ist zu wenig darüber bekannt, wie extreme Dürren oder Niederschläge, steigende Meeresspiegel oder die Versauerung der Meere die Wachstumsraten beeinflussen. Als relativ sicher gilt aber, dass der Effekt negativ ist. Moore und Diaz stützen sich auf aktuelle Forschungsergebnisse, wonach es einen negativen Zusammenhang zwischen warmen Temperaturen und dem Wachstum gibt, der in ärmeren Ländern besonders stark ausfällt. Wenn der Klimawandel nicht nur die Wirtschaftsleistung, sondern auch die Wachstumsraten negativ beeinflusse, häufe sich dieser Effekt mit der Zeit an, sagte Moore nach der Veröffentlichung: „Und das führt dann zu deutlich höheren sozialen Kosten.“

Deutlich höher heißt hier: beinahe sechs Mal so hoch wie die offizielle Berechnungsgrundlage der Obama-Regierung. Damit ließen sich viel härtere Maßnahmen rechtfertigen, als der US-Präsident sie in seinem Klima-Aktionsplan angekündigt hat.

Mit ihren Ergebnissen sind die beiden Ökonomen nicht allein. Erst im vorigen Jahr argumentierte eine interdisziplinäre Forschergruppe um den Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow im Journal Nature, trotz aller Unwägbarkeiten würden die sozialen Kosten heute als zu gering angenommen. „Die führenden Modelle unterschätzen wahrscheinlich die zukünftigen Schäden“, schrieben sie. Dazu gehörten etwa negative Folgen für die Produktivität einer Volkswirtschaft oder ganze Gesellschaften, die massive Ernteausfälle nicht verkraften können. Zahlreiche weitere Papiere erschienen in den vergangenen Jahren, deren Ergebnisse in die gleiche Richtung weisen.

Auch der Weltklimarat IPCC kam in seinem vierten Sachstandsbericht zu dem Ergebnis, dass die US-Berechnungen „wahrscheinlich“ die Schäden unterschätzten; und im erst kürzlich veröffentlichten fünften Bericht handelt der Klimarat sie im Kapitel über Ethik ab – wegen der vielen offenen ethischen Fragen: Wie soll man zum Beispiel bestimmen, welchen ökonomischen Wert die Artenvielfalt in einem Korallenriff hat? Wie viel sollte den Europäern fruchtbarer Boden in afrikanischen Agrarstaaten wert sein? Wie viel Verantwortung müssen die industrialisierten Länder für die Weltgemeinschaft übernehmen, sind sie doch für den überwiegenden Teil der bislang angefallenen Treibhausgase verantwortlich? Auch die Frage stellt sich, ob man politische Maßnahmen mit derart unsicheren Rechenmodellen rechtfertigen sollte.

„Die Debatte an sich ist nicht uninteressant“, sagt Ottmar Edenhofer, Chefökonom des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung und Kopf der zuständigen Arbeitsgruppe des IPCC. „Aber letztlich bleibt es dabei, dass die Unsicherheiten bei heutigem Kenntnisstand kaum auflösbar sind. Wir kennen die Schäden in der Zukunft nicht, wir wissen nicht, wann es Sprünge bei den Klimaschäden gibt, und auch nicht, wo für Gesellschaften die Grenzen der Anpassung liegen.“

So lasse sich die Frage, wie eine Gesellschaft mit der unterschiedlichen Betroffenheit verschiedener Generationen umgehe, „auch nicht durch die Wissenschaft wegdiskutieren“. Was gegenwärtige Generationen künftigen hinterlassen, was eine Generation im reichen Amerika der gleichen Generation in einem Entwicklungsland aufbürdet – die social cost of carbon stoßen selbst bei Berechnungen für inländische Maßnahmen an grundlegende ethische Fragen der weltweiten Klimapolitik. Und können sie doch nicht lösen.

Sinnvoller sei es, so schlug auch der IPCC vor, die Kosteneffektivität zu analysieren: Was also der Klimaschutz kosten würde, wenn die Erderwärmung bei einem bestimmten Temperaturplus haltmachen soll. Etwa bei zwei Grad Celsius. „Der Vorteil ist, dass sich daraus ein Emissionsbudget ableiten ließe, und daraus wiederum Preise“, sagt Edenhofer. Das käme dem europäischen Weg näher. Preise für den Ausstoß von Treibhausgasen ergeben sich hier aus einem politisch verbindlichen Ziel, die Emissionen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt um einen festgelegten Anteil zu senken. Den richtigen Preis soll der Markt finden. Wenn nur Europas Instrument dafür, der Emissionshandel, endlich wieder funktionieren würde: Die Tonne Kohlendioxid kostet hierzulande derzeit gut sieben Euro, umgerechnet an die acht Dollar. So niedrig wird sie nach Direktive 12866 in den Staaten schon lange nicht mehr bewertet.

Zocken auf höchstem Niveau

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Wer bei „Space Invaders“ richtig gut sein will, braucht Zeit und Geld. Als das Videospiel 1978 Japan eroberte, wurden die 100-Yen-Münzen knapp, weil sie nun überwiegend an Automaten in den Kampf gegen außerirdische Angreifer flossen. Der Rekordhalter hielt 38 Stunden am Stück durch – vor dem Highscore hatte er selbstverständlich tausende Stunden geübt.

Wenn man einem Computer die Sache überlässt, geht das Lernen deutlich schneller, berichten Forscher der Google-Tochterfirma „Deep Mind“. Das Team hat eine spezielle Software 49 Spieleklassiker der Konsole „Atari“ zocken lassen. Mehr als die Hälfte der Spiele beherrschte das Programm bald auf dem Level eines professionellen Videospieletesters, darunter auch „Space Invaders“. In 14 Spielen betrug der Highscore des Computers mindestens das Doppelte des menschlichen Profis, berichten die Forscher im Fachmagazin Nature.

Dabei ist das „Deep-Q-Netzwerk“ völlig anders aufgebaut als klassische Systeme mit künstlicher Intelligenz. Die Entwickler haben ihm keinerlei Informationen über mögliche Strategien eingegeben. Stattdessen lernt Deep-Qselbstständig, indem es die Bildinformationen der Konsole verarbeitet. Das System bekommt also das zu sehen, was auch ein menschlicher Spieler auf dem Bildschirm sieht, und kann mit den gleichen Befehlen darauf reagieren. Einzig die Punktezahl soll der Computer in die Höhe treiben – wie er das erreicht, bleibt ihm überlassen. Im Spiel „Breakout“ etwa musste Deep-Qmit einer Kugel eine Reihe Steine am oberen Rand des Spielfelds zerstören; die Kugel darf dabei nicht zu Boden fallen. Nach einigen hundert Spieldurchgängen begann Deep Qdamit, die Kugel nur in eine Ecke zu schleudern, um dort einen Tunnel durch die Reihe zu graben. Oben angekommen, zerstörte die Kugel die Steine von ganz allein.

„In manchen Spielen entdeckt Deep-Qeine relativ langfristige Strategie“, schreiben die Entwickler. Ihre Eindrücke gleicht die Software mit Erfahrungen vergangener Highscores und Gameovers ab, um den nächsten Zug zu berechnen. „Herkömmliche Künstliche-Intelligenz-Systeme sind ausschließlich für das jeweilige Spiel geschrieben“, erklärt Stefan Höltgen, Chefredakteur des Spielemagazins Retro. Deep-Qdagegen kann eine ganze Reihe Spiele meistern – die KI kann boxen, schießen, aber auch Autorennen fahren. Schwierigkeiten bereiteten Rätselspiele wie „Montezuma’s Revenge“, in denen der Spieler nach Schlüsseln fahndet und Fallen ausweicht. Ergebnis des Computers bei dieser Knobelei: null Prozent. Videos von Deep-Qfinden Sie unter www.sueddeutsche.de/deep-q

Fürchte dich Welt: Kanye hat einen Flammenwerfer!

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Kanye West – All Day (Live)

http://vimeo.com/120635331
Man kann über ein paar Dinge in diesem Video grübeln: Dass es Menschen mit der geistigen Verfassung von Kanye West tatsächlich möglich ist, mehrere Flammenwerfer in die Finger zu bekommen, zum Beispiel. Aber auch darüber, welche Gravitation dieser labile Zündler schon wieder erzeugt! Der schwarze Mob, das wie mit der Kettensäge eingespielte Synthie-Fanfaren-Intro, die geisterhaft durch die Arrangements huschenden Seelenqualen: Himmel! Wenn es denn stimmt, dass manche Menschen eine engere Verbindung mit den Schwingungen der Welt haben, sollten wir uns vielleicht fürchten. Alternative: Wir werden jetzt auch alle endlich größenwahnsinnig. Möglicherweise lösen wir dann auch ähnliche Verzückung bei Taylor Swift aus!
 
Lemur – Yeah

http://www.youtube.com/watch?v=x0jblAUEt4A
Und damit schnell weiter zum zweitgefährlichsten Rapper der Welt: Lemur. Der war mal Teil des Hip-Hop-Duos Herr von Grau (musst du nicht kennen, ist aber gut). Auf dem seinem Solo-Album „Geräusche“ gibt’s sonst ganz schön (system)kritisch kluge Texte. Und wenn man das weiß, dann ist dieser gezielt danebengehauene Vergleichereigen gleich noch mal schöner.
 
The Prodigy – Wild Frontier

http://www.youtube.com/watch?v=-mS6lvcp_1s&feature=youtu.be
The Prodigy sind inzwischen ja etwas die AC/DC der elektronischen Rumpelkammer: Schwer zu sagen, wie sich „Wild Frontier“ jetzt wirklich trennscharf von früheren Songs (oder auch nur der Vorgängersingle „Nasty“) unterscheiden lässt. Aber ein bisschen egal ist es ja auch. Wenn die Synthies derart die Eingeweide durchpflügen, kann das Hirn ja auch noch mal eine Runde Pause machen. Das ganze Album kommt Ende März. Wahrscheinlich klingt es nach Prodigy.
 
Alabama Shakes – Don’t Wanna Fight

http://vimeo.com/119183363
Die für uns größten Mysterien bei den Alabama Shakes: Wie, zum Teufel, ist es möglich, dass schon allein die abgedämpft lospluckernden Gitarren am Anfang sich so warm und breit und heimelig im Brustkorb ausbreiten? Und wie, in Herrgottsnamen, gelingt es dem Quartett aus Athens, auch die übrigen Instrumente so nah und direkt und organisch klingen zu lassen, als würde man sie direkt mit dem Stethoskop abhören? Dass „Don’t Wanna Fight“ dabei jetzt tatsächlich auch noch unangestrengt sexy klingt, das ist ja quasi schon geschenkt.
 
Pentatones – Ghost

http://www.youtube.com/watch?v=lg7onI48PDQ
Ich dachte eigentlich, wir hätten die Pentatones hier schon mal gehabt. Konnte sie jetzt aber nicht finden. Falls ich mich also irre (was eigentlich unwahrscheinlich ist), sei dieser Missstand hiermit nun dringend behoben. Denn dieser Hauchgesang von Frontfrau Delhia de France (die bürgerlich etwas langweiliger heißt), der in den genau richtigen Momenten und im genau richtigen Maß etwas bricht und knistert und dann ätherisch entschwindet, so, als habe sie ein paar Dinge im Leben schon intensiver gespürt: Also bei mir zündet der schon sehr. Zumal wenn das Drumherum dann auch noch so sphärisch stark und dunkelschwer arrangiert ist. „Ouroboros“, das neue Album der Leipziger, erscheint am heutigen Freitag. Ouroboros ist übrigens die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Ganz altes Symbol. Platon hat schon drüber geschrieben.

Geld her!

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Würde man mit der App „Whyownit“ 20 Euro in der Woche dafür bekommen, seine Bohrmaschine zu verleihen, hätte Philipp Gloeckler heute vielleicht kein Problem. So aber musste der Gründer der Teilplattform diese Woche einen Blogeintrag mit dem Titel „We failed – Warum die Verleih App Whyown it nicht funktioniert hat“ veröffentlichen. Seine Idee, dass Menschen mittels einer App untereinander Dinge verleihen, ist gescheitert.





Obwohl Whyownit in der Presse vom ersten Moment an gefeiert wurde. „Viele fanden die Idee super, das hieß aber noch lange nicht, dass sie auch die App installierten, sich anmeldeten oder geschweige denn Produkte hochluden“, schreibt Philipp heute. Die Resonanz in den Medien und die Nutzerzahlen passten nicht zusammen. Besonders, was das Geben betrifft: Auf Whyownit wollten Nutzer zwar Dinge ausleihen, aber nur jeder hundertste wollte auch etwas verleihen, erzählt Philipp am Telefon.

Seit etwa zwei Jahren etwa ist Tauschen und Teilen ein Lieblingsthema der Medien – auch von mir. Mir gefällt die Idee, dass alle tauschen und teilen und am Ende jeder gewinnt. Nur: Das will eigentlich niemand.

Das Zauberwort Sharing funktioniert offenbar nur, wenn es um Dinge geht, die man loswerden will: wie beim Foodsharing die angebrochene Packung Tortilla-Fladen oder die halbe Schachtel Eier, die während des Urlaubs vergammeln würde. Eigentlich ist das aber ja eine Form von Spende, wie bei einer Kleiderspende oder einem Bücherbasar. Sobald es eine Gegenleistung gibt, wie bei „Food Swaps“, Abenden, an denen Selbstgekochtes oder -gebackenes wie Marmeladen und Kekse getauscht werden, beginnen wir scheinbar zu rechnen: Ist eine Tüte Kekse wirklich ein Glas meiner Marmelade wert?

Sharing funktioniert nur gegen Profit. Das wollte ich lange nicht wahrhaben. Und am besten funktioniert es, wenn es um Geld geht, wie zum Beispiel bei Uber. Der Wert des Unternehmens wurde im Sommer 2014 auf rund 18,2 Milliarden US-Dollar geschätzt.

„Die Sharing Economy hat sich als Miet-Economy herausgestellt. Niemand teilt irgendetwas. Die Leute verdienen schlicht und einfach Geld“, schrieb der Blogger und Risikokapitalgeber Fred Wilson in seinem Jahresrückblick. Kritiker wie der Informatiker und Autor Jaron Lanier warnen schon lange vor dem Phantom der Sharing Economy: „Wir erleben nicht den Beginn einer neuen Welt der Gemeinnützigkeit, sondern ihr Ende“, sagte Lanier kürzlich im ARD-Magazin Panorama. Für ihn bedeutet Teilen Turbokapitalismus. Sharing werde immer als sozialistisch dargestellt, sagt er, in Wirklichkeit werde nichts geteilt, sondern nur vermarktet.

Falls Philipp seine App weiterentwickelt hätte, dann auch in Richtung Vermietung. Logistisch sei das aber fast unmöglich, erklärt er. Wenn man sich eine Bohrmaschine von jemandem ausleiht, der nicht in der unmittelbaren Umgebung wohnt, müsste man sie verschicken oder irgendeine Art von Fahrdienst beanspruchen. Wer soll das zahlen, wenn man eine Einsteigerbohrmaschine schon für ein paar Euro kaufen kann? Da ist es den ökonomiebewussten Sharing-Fans auch egal, dass sie ein Wegwerfteil kaufen.

Den Gedanken, dass nicht jeder ein eigenes Auto oder ein Abo der Brigitte braucht, verfolgen Geschäftsmodelle schon lange. Aber immer steckte jemand dahinter, der Autoverleiher oder der Lesezirkel, der daran verdient. Das ist Kapitalismus. Und soweit ja auch okay. Es als „Sharing“ zu romantisieren, aber nicht. Das ist gefährlich.

Überspitzt hat das vor einiger Zeit die NDR-Satiresendung Extra3 zusammengefasst: „Früher bin ich immer so alleine mit meinem Auto von A nach B gefahren. Aber jetzt mit der Internetplattform Uber kann ich auch Leute mitnehmen“, sagt ein Autofahrer in die Kamera, und ergänzt: „Für Geld.“ Fast wie ein Taxifahrer fühle er sich: „Gut, ein Taxifahrer kriegt auch Urlaubsgeld und Krankengeld. Und Rente. Und wenn ich jetzt mit meinem Fahrgast einen Unfall baue, sind wir alle nicht versichert. Dafür bin ich Teil einer großen Idee. Die Idee ‚Teilen ohne Gegenleistung’. Also bis auf das Geld halt.“

http://www.youtube.com/watch?v=vNm9pHjMIhQ

Die Sharing Economy instrumentalisiert das Gemeinschaftsgefühl, um damit Geld zu machen. Sharing klingt nett, auf keinen Fall nach Ausbeutung. Menschen wie der Airbnb-Gründer Joe Gebbia wissen um diese Magie: „Airbnb will dabei helfen, dass Menschen überall dazuzugehören. Wir meinen damit, dass du egal wo du in der Welt bist, hinreisen kannst, und schon begrüßt dich dort jemand und heißt dich willkommen“, sagte er bei Panorama.

Airbnb verdient viel Geld mit privater Zimmervermittlung und muss kaum investieren, keine Hotels bauen, keine Zimmermädchen einstellen oder für Sicherheitsstandards wie Brandschutz sorgen. So ist es bei vielen Plattformen. Bei Taskrabbit müssen sich die selbstständigen Multijobber selbst um Sozialabgaben und Versicherungen kümmern.

Tauschen und Teilen gegen Geld funktioniert hervorragend. Nur hat es mit Tauschen und Teilen nicht mehr viel zu tun. Menschen „teilen“ ihre Wohnung nicht über Airbnb, weil sie so nett sind, sondern weil sie dafür Geld bekommen, teilweise mehr als eine Nacht im Hotelzimmer kostet.

„Das ist eine Fake Economy“, sagte Jaron Lanier bei Panorama. „Rechte, die über Generationen erkämpft wurden, werden durch Fake-Rechte ersetzt, und die nützen nur ein paar Milliardären.“ Das klingt nach Spielverderbertum und „Sharing“ gleichzeitig so nett. Und ich bin selbst darauf reingefallen.

Mädchen, wie viel Gentleman sollen wir noch sein?

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Die Jungsfrage:

Fallen wir also gleich mit der Tür ins Haus: Halten wir euch die jetzt noch auf oder nicht? Und wenn ja: reflexartig immer? Oder nur, wenn wir euch kennen und mögen? Oder hält inzwischen einfach immer der auf, der gerade als erstes die Hand am Griff hat? Also unisex. Gilt damit dieselbe Logik, die wir Männern gegenüber anwenden würden?





Und wo wir jetzt schon mal drinnen sind: Wie ist’s mit dem Koffer und anderen schweren Dingen? Wer trägt die? Wer hebt sie im Zug in die Gepäckablage? Weiterhin wir, weil wir ja ziemlich stark sind? Oder lieber ihr selbst, obwohl ihr ja eigentlich nicht so stark seid? Und noch etwas weiter zurück im Knigge-Kosmos: In den Mantel helfen? Den Stuhl vom Tisch weg und dann wieder ranrücken (das doch nun wirklich nicht mehr, oder?!)?

Wir bewegen uns also auf dem Feld "gute Manieren" – und zwar bei Männern. Galant hat man das früher wohl mal genannt, was man als Mann Frauen gegenüber zu sein hatte. Und wenn man das heute sagt, klingt es erstens seltsam antiquiert nach Schwalbenschwanz-Frack und Zylinder und fühlt sich zweitens etwas paternalistisch an. Ist es ja auch. Wie selbstverständlich den Koffer zu nehmen, das macht ja tatsächlich irgendwie klein und unselbständig. Und das, haben wir gelernt, habt ihr nicht gerne.

Trotzdem sind wir etwas unsicher, ob es nicht doch noch Grautöne gibt bei dem Thema. Deshalb seien ein paar Fragen gestattet, Gnä’ Frau, die unter dieses Überthema fallen: Wie viel Gentleman sollen wir noch sein?

Und: Was heißt Gentleman für euch inzwischen? Wir fragen, weil es schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn wir eure Reaktionen gänzlich falsch deuten. Und wenn wir sie richtig deuten, dann könnt ihr einem gewissen Maß von dem, was man einst als Kavalierstugenden bezeichnete, schon immer noch etwas abgewinnen. Ein bisschen glühen eure Bäckchen nämlich doch, manchmal jedenfalls, wenn wir zuvorkommend sind. Galant. Wenn wir euch den Vortritt lassen (ohne euch die Hand auf den Rücken zu legen dabei). Oder wenn wir gar hin und wieder Blumen mitbringen.

Oder verstehen wir das alles ganz falsch und ihr sagt: „Tür aufhalten?! Da könnt ihr uns ja auch gleich wieder das Wahlrecht entziehen, ihr Sexistenschweine!“

Wüsste ich gerne mal. Küss die Hand,
Jakob

>>> Die Mädchenantwort kommt von nadja-schlueter.
[seitenumbruch]
Lieber Jakob,

danke für den Handkuss. War aber ironisch gemeint, oder? Weil Handkuss, das ist ja wie ein Knicks, das macht doch heute keiner mehr. Mit dieser Geste kann man allenfalls noch ein bisschen spielen, aber ernst meinen kann man die nicht mehr.





Das ist vielleicht schon der wichtigste Punkt: Die Gesten eines angeblichen „Gentleman“ haben zwar etwas Höfliches an sich, wirken aber so wahnsinnig antiquiert. Wir verbinden sie mit einer Zeit, in der der Umgang zwischen Männern und Frauen generell noch ein ganz anderer war: die Rollen klarer verteilt, der Mann der Machthaber, die Frau das schmückende Beiwerk. Heute ist es ja im besten Falle so, dass wir uns gegenseitig schmücken, und da sind Reminiszenzen an die alten Zeiten eher fehl am Platz. Wir kriegen dann nämlich ein bisschen Angst, ihr könntet das heimlich immer noch gut finden, dieses, wie du ja richtig sagst, Paternalistische. Wenn du mir jetzt dauernd in den Mantel helfen würdest, dann würde ich glaube ich damit rechnen, dass du auch darauf stehst, wenn die Post an deine Freundin an „Frau Jakob Biazza“ adressiert ist. Brrr.

Aber ich verstehe natürlich dein Problem. Denn: Höflichkeit ist ja per se erst mal was Gutes. Und es ist dann natürlich etwas verwirrend, wenn antiquierte Gesten und höfliche Gesten zusammenfallen, wie zum Beispiel beim Türaufhalten. Dann wollt ihr vielleicht wirklich einfach nur höflich sein, habt aber Angst, wir könnten das als Bevormundung empfinden, weil an der Geste eine Symbolik dranhängt, die wir ablehnen. Darum stelle ich jetzt mal folgende Regel auf: Wenn eine Geste abzüglich ihrer Symbolkraft noch als reine Höflichkeit funktioniert, wenn sie also unisex anwendbar ist, dann nur zu, führt sie aus!

Angewandt auf die von dir gebrachten Beispiele, sähe das in etwa so aus:

Tür aufhalten: Klar! Immer der (oder die!), der (oder die!) zuerst an der Tür ist, hält sie auf. Wenn du das bist, hältst du sie auf, wenn ich das bin, halte ich sie auf. Das macht man nämlich, weil es einfacher ist, als sich die Klinke nacheinander in die Hand zu geben, und damit niemandem die Tür vor der Nase zu- oder sogar auf die Nase draufschlägt.

In den Mantel helfen: Nein. Gehört zu den sehr antiquierten Gesten und funktioniert nicht unisex ohne, dass es komisch wirkt. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die einem Mann in den Mantel geholfen hat. Okay, vielleicht könnten wir versuchen, das durchzusetzen, aber mal ehrlich: Ist doch auch bescheuert. In die Jacke hilft man Kindern, die sie sonst falschrum anziehen, Senioren, die sich nicht mehr so gut bewegen können, und vielleicht noch jemandem, der gerade beide Arme im Gips hat. Ansonsten ist das eine überflüssige Geste, die am Ende nur dafür sorgt, dass jemand zu viele Mäntel überm Arm hat und sich alle im Weg rumstehen. Ist also null höflich, sondern bloß krampfig.

Stuhl vom Tisch rücken: Äh, nein. Wirkt sehr bevormundend, bringt das entspannte „Wir sind hier alle zusammen und setzen uns jetzt mal hin“-Prozedere durcheinander und hat das gleiche Geht-nicht-unisex-Problem wie die Mantelsituation.

Koffer tragen oder in die Gepäckablage heben: Oh, ein Grenzfall! Ich bin ja eine Vertreterin der „Pack deinen Koffer niemals schwerer als du tragen kannst“-Devise. Ich mag es auch nicht so besonders, wenn man ihn mir abnimmt, darüber musste ich sogar schon mal streiten. Denn: Es kann bevormundend wirken. Aber: Es kann auch rein höflich sein, wenn der andere physisch nun mal tatsächlich stärker ist, es ihm also weniger Probleme macht, den Koffer zu tragen oder zu heben als mir. Superhöfliche Lösung: einfach nachfragen. Und wenn die Antwort „Nein“ lautet, dann bitte nicht drauf bestehen.

Vortritt lassen: Wenn du als erster an der Tür bist: ja (s.o.). Sonst: nein. Den Vortritt lassen ist was für Leute, die auch „Alter vor Schönheit“ sagen.

Blumen mitbringen: Ernsthaft, Jakob, jemandem etwas mitzubringen hat nichts mit Gentleman-Galanterie und Höflichkeit zu tun, auch nichts mit Bevormundung und Paternalismus – sondern mit Aufmerksamkeit. Es ist einfach schön. Und schön funktioniert besser als alles andere auf der Welt total unisex!

So, und nachdem das geklärt wäre, können wir ja noch ganz kurz über den Begriff „Gentleman“ an sich nachdenken. Vielleicht muss der gar nicht unbedingt was mit „Frauen so oder so behandeln“ zu tun haben. Vielleicht kann er einfach so etwas Gutes bedeuten. Im „Urban Dictionary“ zum Beispiel steht dazu:
„A man of calm demeanor, strong preserve, intellectual thinking, polite yet meaningful speak and a good upbringing.“

Klingt eigentlich bloß nach einem höflichen, gut geratenen Menschen. Von Frauen und In-den-Mantel-helfen steht da nix. 

Dafür aber tollerweise noch das hier: „A fighter for the cause of right with words, not guns.“

Wir haben verstanden: KW 9

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Die Welt sieht nackt und schutzlos aus, wenn alle Büsche und Bäume, die einen Straßenrand säumten, auf einmal weggeschnitten werden.

Die Sonne kann schon wieder Wärme! Geil!

Und falls es doch noch mal richtig kalt wird: Macht nix, macht man sich eben selbst Sommer.

Man kann einen der berühmtesten Drum-Beats der Musikgeschichte eingespielt haben und trotzdem als brankrotter Obdachloser sterben.

Bald gibt’s vielleicht tropische Tiere in Oberbayern.

Es ist superschwer, nach Feierabend noch mal vor die Tür zu gehen, wenn noch Bier im Kühlschrank ist.

Der Name „Bass Sultan Hengzt“ ist schon ganz schön genial.

Blöde Kombination: 30er-Zone, hinter einem Polizeiauto, in Eile.

Gute Kombination: Kamin, Rotwein, Father John Misty.

Ergänzung zur vergangenen Woche: Ein “Grower” ist nicht nur ein Witz, der immer lustiger wird, je öfter man ihn hört. Es ist auch der englische Begriff für Blutpenis.

War auch ein Grower, als wir das gemerkt haben.

Ein schwarzblaues Kleid kann auch goldweiß aussehen.

Es gibt Pizza mit Oskargewinnern drauf!

In Berlin ist der Flughafen die neue Maßeinheit für alles, das sehr teuer ist.



Um ein Psychogram über eine Bürogemeinschaft zu erstellen, muss man einfach nur die Tassen in der Büroküche studieren.

Cafés, in denen man beim Bestellen eines Coffee to go "Mit Keks oder Schokolade?" gefragt wird, sind gute Cafés.

Die Stelle in der Bibel, die angeblich Analverkehr unter unverheirateten Christen gestattet, heißt "Loophole".

Manche Menschen ziehen freiwillig in Plattenbauten.

Wir werden alle wie unsere eigenen Eltern.

Mittellange Bärte fallen am meisten auf, wenn der Träger sich plötzlich die Haare kurz schneidet.
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