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Glaubenskrieg im Treppenhaus

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Recht und Gerechtigkeit mögen nicht immer das Gleiche sein. Manchmal aber gibt es sie: Urteile, die in weiten Teilen der Bevölkerung für zufriedene Genugtuung sorgen.

Eines davon hat im Januar das Amtsgericht Düsseldorf gefällt und entschieden: Mieter dürfen auf der Toilette ihrer Wohnung im Stehen urinieren. Die Verrichtung der Notdurft in aufrechter Haltung gehöre „zum vertragsgemäßen Gebrauch einer Mietwohnung“ (Az.: 42 c 10583/14).



Früher ging es um Kinderlärm oder Haustiere. Da diese Themen jedoch mittlerweile gerichtlich geklärt sind, wenden sich Mieter spezielleren Angelegenheiten zu.

Im konkreten Fall wollte der Vermieter eines bekennenden Stehpinklers 1900 Euro der Kaution einbehalten, weil der Marmorboden der Toilette seinen Glanz verloren hatte. Als Ursache dafür hatte ein eigens eingeschalteter Gutachter Urinspritzer ausgemacht, die der Unbeugsame dort hinterlassen hatte. Der Richter hielt das für glaubwürdig. Dennoch schlug er sich auf die Seite des Mieters. Begründung: „Trotz der in diesem Zusammenhang zunehmenden Domestizierung des Mannes ist das Urinieren im Stehen noch weit verbreitet. Jemand, der diesen früher herrschenden Brauch noch ausübt, muss zwar regelmäßig mit bisweilen erheblichen Auseinandersetzungen mit – insbesondere weiblichen – Mitbewohnern, nicht aber mit einer Verätzung des Marmorbodens rechnen.“

Ein Anlass findet sich immer . . .

Die Männerwelt feixte. Für Fachleute sind Verfahren dieser Art indes nichts Ungewöhnliches. „Die Toleranz, Belästigungen durch die Nachbarn zu tolerieren, sinkt konstant“, beobachtet Christian Langgartner, Rechtsanwalt aus München. „Konflikte, bei denen es um die persönliche Lebensführung geht, gehören zu den modernen Klassikern des Miet- und Nachbarschaftsrechts“, sagt auch Inka-Marie Storm, Referentin für Miet-und Immobilienrecht beim Eigentümerverband Haus & Grund.

Die Gründe für diese Entwicklung: Viele Sachfragen – Kinderlärm, Haustierhaltung, Berechnung der Quadratmeterzahl – sind inzwischen geklärt und bieten kaum noch Raum für eine gerichtliche Auseinandersetzung. Wer seinen Vermieter oder Nachbarn vor Gericht bringen will, muss also kreativer werden. Zudem schließen immer mehr Menschen eine Rechtsschutzversicherung ab. Dadurch steigt die Bereitschaft zu klagen, während die Schamgrenze weiter sinkt.

Mehr als ein sanftes Plätschern

„Ein öffentliches Verfahren, in dem es um primäre Körperfunktionen geht, ist heute niemandem mehr peinlich“, sagt Anwalt Langgartner. Im Gegenteil. Fragen, die die Verrichtung der Notdurft betreffen, haben es streitlustigen Mietern derzeit besonders angetan. Das Landgericht Berlin etwa musste sich vor einiger Zeit mit der Frage beschäftigen, ob die Mieterin einer Altbauwohnung, die sich durch Urinstrahlgeräusche ihres Nachbars gestört fühlte, vom Vermieter eine schallschutztechnische Aufrüstung verlangen oder die Miete mindern könne.

Das Gericht verneinte beides. Immobilienbesitzer seien in der Regel nur verpflichtet, jenen Schallschutz zu gewährleisten, der zur Zeit der Errichtung des Gebäudes üblich war (BGH Az.: VIII ZR 85/09). Das gelte insbesondere, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um eine nicht modernisierte Altbauwohnung aus den Fünfzigerjahren handle. Hier dürfe der Mieter nur den Standard erwarten, der in Bauwerken dieser Zeit üblich war.

Unabhängig davon hätte der Harnstrahl auf der Keramik lediglich Geräusche von 27 dB (A) verursacht und damit unterhalb des aktuell gültigen Grenzwerts von 30 dB (A) gelegen. Nur der Schall, der durch das direkte Auftreffen des Strahls auf das Wasser entstanden sei, habe den erlaubten Wert überschritten. Solche Belästigungen müsse der Mieter aber ertragen.

Erhebliche Belästigung


Weniger klar ist die Rechtsprechung bei einem anderen Dauerbrenner des Nachbarschaftsstreits. „Spätestens, seit in vielen Bundesländern Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten gelten, versucht so mancher Nichtraucher, auch im privaten Umfeld den Nikotinkonsum einschränken zu lassen“, beobachtet Expertin Storm. Einfach ist das nicht. Zigaretten sind in Deutschland nach wie vor ein erlaubtes und frei verkäufliches Genussmittel für Erwachsene. Rauchen in privaten Wohnungen kann also nicht ohne weiteres verboten werden.

Die jüngste Entscheidung zu diesem Thema lässt allerdings aufhorchen. Die Bewohner einer Wohnung im ersten Stock hatten ihre Nachbarn aus dem Erdgeschoss verklagt, weil diese mehrmals täglich auf der Terrasse rauchten. Der aufsteigende Tabakrauch störte die Mieter der Etagenwohnung. Zudem befürchteten sie Gesundheitsschäden durch das Passivrauchen und verlangten, den Nachbarn das Rauchen auf der Terrasse zumindest zeitweise zu untersagen.

Anders als die Vorinstanzen lehnte der Bundesgerichtshof (BGH) dieses Ansinnen nicht grundsätzlich ab. Bei „erheblichen Belästigungen“ sei es durchaus denkbar, Raucher auch auf dem eigenem Balkon zur Mäßigung zu zwingen. Ob eine solche schwerwiegende Belastung im konkreten Fall vorliegt, muss jedoch noch ermittelt werden – maßgeblich, so das Gericht, sei insofern das Geruchsempfinden eines objektiven Dritten. Auch die schiere Behauptung einer Gesundheitsgefährdung durch den aufsteigenden Tabakrauch genügte dem BGH nicht. Er verwies den Fall zurück ans Landgericht Potsdam. Dort geht der Streit nun weiter – mit offenem Ausgang.

Viel Rauch um nichts?

„Ein Beibehalten des Status quo ist ebenso denkbar wie die Anordnung rauchfreier Zeiten oder ein weiteres Verfahren vor dem BGH“, kommentiert Expertin Storm die Entscheidung. Sie hält es sogar für möglich, dass der Fall am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht landet. „Gerade beim Thema Rauchen sind die Fronten oft sehr verhärtet und Kompromisse schwer zu finden“, so die Juristin.

An diesem Zustand wird wohl auch die Entscheidung aus Karlsruhe nichts ändern. „Das Urteil des BGH ist zwar sehr salomonisch. In der Praxis könnte es jedoch unschöne Nebenwirkungen haben“, fürchtet Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbunds in Berlin. Der Grund: Ebenso, wie ruhebedürftige Mit-Mieter die Schallbelastung aus der Toilette des Nachbarn per Gutachten belegen müssen, trifft gesundheitsbewusste Menschen die Pflicht, das Ausmaß der Rauch-Belästigung nachzuweisen und zu dokumentieren. Aussagekräftige Messungen der Luftverunreinigung sind beim Rauchen im Freien jedoch nur schwer zu erhalten.

„Wer vor Gericht nicht mit leeren Händen dastehen will, muss daher entweder ein Tagebuch über die Rauchzeiten seiner Mitmenschen führen oder die Zigaretten zählen, die dieser täglich konsumiert“, sagt Ropertz. Dafür müssten sich Nachbarn schlimmstenfalls mit dem Feldstecher und einer Stoppuhr observieren. Für die Stimmung in der Hausgemeinschaft sei das der endgültige Todesstoß.


Zwei Juristen – drei Meinungen

Auch das Verhältnis zum Vermieter leidet in solchen Konstellationen – vor allem, wenn Mieter wegen rauchender Nachbarn weniger zahlen wollen. Die Rechtslage hier ist kompliziert. So entschied etwa das Landgericht Berlin vor einigen Jahren: Rauchen gehört zum vertragsgemäßen Gebrauch einer Wohnung. Nachbarn, die sich durch den blauen Dunst belästigt fühlen, haben kein Recht auf eine Mietminderung (Az.: 63 S 470/08). Eine andere Kammer des Gerichts befand hingegen: Rauchen auf dem Balkon ist zwar erlaubt. Wenn der Nachbar exzessiv qualmt, kann das aber sehr wohl als Mietmangel gelten, der zur Minderung berechtigt (Az.: 67 S 307/12). Ähnlich entschied das Landgericht Hamburg (Az.: 311 S 92/10) und billigte einem genervten Nichtraucher ein Minderungsrecht zu.

Ebenfalls offen ist die Frage, unter welchen Umständen Vermieter einen unbelehrbaren Kettenraucher aus der Wohnung werfen können, wenn dieser statt durchs Fenster lieber ins Treppenhaus lüftet. Über den Fall eines Düsseldorfer Rentners, dem aus diesem Grund im Alter von 75 Jahren gekündigt worden war, muss der BGH erst noch entscheiden.

Das Gericht hat den Termin – passend zum Thema – für Aschermittwoch angesetzt.


Abstimmen mit dem Geldbeutel

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Am Montag um 8.54 Uhr waren sie wieder da, pünktlich wie Hui Buh: Der medienkritische Bildblog stellte seine Presseschau 6 vor 9 ins Netz, das erste Lebenszeichen seit Heiligabend. Die Zwangspause legte das Dreierteam um Mats Schönauer aus Geldmangel ein – und rief die Leser zur Hilfe. Es geht nicht um große Summen. Die Wohnungsmiete für eineinhalb Leute, zweitausend Euro im Monat, müsse durch Spenden und den kleinen Anteil Werbung mindestens reinkommen, sagt Schönauer. Sonst müssen sich die Bildblogger bei anderen Medien verdingen. Die Arbeit für Bildblog, für das bissige Korrektiv der Medienbranche, konnten sich die Macher zuletzt nicht mehr leisten.

Das ist auch den Lesern klar geworden, sie zückten das Portemonnaie. Ende Januar konnte Schönauer bilanzieren, dass die Grundfinanzierung für 2015 steht. Spenden und Daueraufträge lassen es wahrscheinlich zu, das Team zu vergrößern und freie Autoren zu honorieren. Das zeigt, Leser sind bereit, für Independent-Journalismus im Netz zu bezahlen – wenn sie einen Bedarf sehen.

Krautreporter ist ein anderes Beispiel. An der selbstgefühlten Wichtigkeit ließen die Macher beim Crowdfunding keinen Zweifel. Der Online-Journalismus sei „kaputt. Wir kriegen das wieder hin.“ So fanden sich mehr als die erhofften 15 000 Unterstützer-Abos zu mindestens 60 Euro, aber neulich gab es eine viel beachtete Fundamentalkritik der Bloggerin und Krautreporter-Abonnentin Meike Lobo. Sinngemäß stand da: Ihr seid euer Geld nicht wert. Zu viele „recycelte“ Markenjournalisten wie Tilo Jung (Jung & naiv), zu viele Linksammlungen, zu wenig Relevanz.

Wenn man mit Herausgeber Sebastian Esser spricht, dann sagt er, dass über viele der Kritikpunkte auch intern gesprochen werde, dass es aber schwierig sei, „zwischen dem Buzz und der Twitter-Filterbubble Rückschlüsse zu ziehen auf die tatsächliche Zufriedenheit unserer Mitglieder“. Deshalb führe man Befragungen durch. 1335 neue Mitgliedschaften seien vom Start am 24. Oktober bis Ende Januar verkauft worden, gut 80 000 Euro Umsatz. Die Artikel sind bei Krautreporter frei, der Zugang zur Community kostet.

Esser spricht viel von Dialog, mit gutem Grund. Er sagt zum Beispiel: „Natürlich gehört es zum Crowdfunding-Journalismus dazu, dass man ständig im Dialog ist mit den Leuten. Dass das vielleicht auch manchmal heftig ist, gehört zum Internet dazu.“ Man habe sich „von Anfang an vorgenommen, da total demütig zu sein. Das sind die Leute, die uns beschäftigen und bezahlen und die haben jedes Recht auf Kritik und zum Nachfragen.“ Mitgliedermodelle wie Krautreporter seien im Trend, glaubt Esser und führt Konzepte ins Feld wie die des Guardian, den man als „Partner“ oder „Patron“ unterstützen kann oder der New York Times, die Käufern des „Premier“-Angebots „Insider-Erfahrungen“ verspricht.

„Die Leute zahlen, weil sie die Idee und das Projekt wichtig finden. Die wollen nicht etwas erwerben, sondern etwas unterstützen“, sagt Esser, und darum glaubt er, dass die Bildblog-Kollegen mit Crowdfunding „sehr viel Geld zusammenkriegen könnten“, um die Seite wirtschaftlicher zu betreiben. „Ich vermute, es geht weniger darum, dass die Leute das Geld nicht geben würden, sondern dass man sie auch darum bitten muss.“ Darüber denken sie bei Bildblog nach. „Ein Crowdfunding- oder Abomodell“ könne er sich vorstellen, sagt Mats Schönauer.

Mit Journalismus im Internet Geld zu verdienen ist besonders schwierig, viel besser aber geht es anderen Branchen auch nicht. Sagt auch Peer Wandinger. Der gelernte Webentwickler, Jahrgang 1974, verheiratet, zwei Töchter, verdient sein Geld mit einem Blog, der erklärt, wie man mit Blogs Geld verdient. Nur seinen Gehaltszettel will er nicht mehr veröffentlichen. Bis November 2011 hat er das immer getan, er war stolz darauf, er hielt das für eine gute Idee. Wenn man über das Geldverdienen im Netz schreibt, dachte er, ist es nur konsequent, zu zeigen, wie weit man selbst damit kommt. Also tippte er Monat für Monat auf selbststaendig-im-netz.de, was unterm Strich dabei rumkommt. 3884,57 Euro waren es etwa im November 2011. Das entspräche bei rund 80 Arbeitsstunden im Monat einem Stundenlohn von knapp 49 Euro. Es war die totale Glaubwürdigkeit, aber inzwischen macht Wandiger das nicht mehr, denn „es gibt immer Neider und Menschen, die dem Blog schaden wollen“.

Vermutlich ist er deswegen so erfolgreich, weil seine Seite als eine der wenigen seriösen Infoquellen zum Thema erklärt, dass es schwierig ist und lange dauert, bis eine Internetseite Gewinn abwirft. „Es gibt da sehr viele falsche Erwartungen“, sagt Wandinger.

Wer sich für Werbung als Finanzierungsmittel eines Blogs entscheidet, hat mehrere Möglichkeiten. Eine davon sind Banner auf der Seite, je mehr Klicks, desto mehr Geld. Am populärsten ist das Programm AdSense von Google, lukrativer ist es aber, wenn man die Werbung selbst vermarktet, wie Wandinger das in großen Teilen tut. Ein weitere Möglichkeit ist das sogenannte Affiliate Marketing. Das geht so: Man postet einen Link auf seiner Homepage zu einem beliebigen Online-Shop. Wenn der Nutzer auf diesen Link klickt und das Produkt im Online-Shop kauft, erhält der Blogger eine Provision. Das ist vor allem für Blogs geeignet, die sich in weitester Form mit Produkten befassen, Modeblogs etwa.


Anne Höweler hat sich dieses Prinzip zu nutze gemacht. Sie verdient nicht direkt Geld mit Bloggen, sondern sie hilft Modeblogs, das zu tun. Viele Firmen wollen, dass ihre Kleider da vorgestellt werden und zahlen dafür. Höweler vermittelt. Das hört sich nach Schleichwerbung an, ihre Agentur achte aber darauf, dass „Kooperationen“ gekennzeichnet würden, sagt Höweler. Das Geschäft läuft nicht schlecht. „Etwa 30 bis 40 Modeblogger können in Deutschland davon leben“, sagt Höweler. Richtig gut verdienen würden aber nur drei oder vier. Unter richtig gut versteht sie Monatseinnahmen von 5000 bis 6000 Euro.

Von solchen Beträgen können die Bildblogger nur träumen. Derzeit jedenfalls noch.

Tumblr-Treibjagd

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Eigentlich ist die Idee alt. Bereits im Jahr 1973 startete Amnesty International die erste „Urgent Action“ und ließ zahlreiche Menschen Briefe an die brasilianische Militärjunta schreiben, die einen unschuldigen Mann foltern lassen wollte. Die Idee dahinter: Wenn bei "den Bösen" die Postfächer überquellen und sie spüren, wie viele ihr Handeln verurteilen, steigt der Druck, sich anders zu verhalten. Die Aktion war erfolgreich, der Mann wurde 1974 entlassen.




Auf absurde Art und Weise ist das auch schon wieder Diskriminierung.

Seitdem ruft Amnesty immer wieder zu Urgent Actions auf, wenn ein Verstoß gegen die Menschenrechte droht. Zuletzt bei dem Saudi Arabischen Blogger Raif Badawi, der wegen regierungskritischer Aussagen zu 1000 Peitschenhieben verurteilt worden war. Das Urteil wurde vor Kurzem ausgesetzt. Nach eigenen Angaben ist Amnesty mit 40 Prozent der Urgent Actions erfolgreich.

Was Amnesty tut, haben sich auch auf digitaler Ebene immer mehr Leute abgeschaut. Denn noch nie war es so einfach, alles, was ein Mensch tut und sagt, öffentlich anzuprangern. Und noch nie war es so einfach, dabei kolossal danebenzuhauen.

Jüngstes Beispiel dafür ist der amerikanische Tumblr„Racists getting fired“. Auf der Seite werden als rassistisch empfundene Äußerungen aus sozialen Netzwerken mit Klarnamen veröffentlicht, inklusive der Adresse des Arbeitgebers. Die Leserschaft wird dazu aufgerufen, den Chef des mutmaßlichen Rassisten mit dessen Äußerungen zu konfrontieren – was in fast allen Fällen zur fristlosen Kündigung führt.


Screenshot vom Tumblr "Racists getting fired"



Man könnte argumentieren, dass das okay ist. Dass Banker, die wie oben Bilder von Schwarzen mit „Geh zurück in deine Schlammhütte“ kommentieren, es nicht besser verdient haben. Aber das ist es nicht. Was auf Seiten wie „Racists getting fired“ passiert, ist eine Treibjagd - wobei passenderweise die Gejagten auch noch in „Gettin‘“, also noch nicht Entlassene, und „Gotten“ unterteilt werden. Wer mit seinem Klarnamen auf dieser Seite auftaucht, wird sozial und beruflich erschossen. Die Jäger kommentieren dabei jede Entlassung mit Sätzen wie „Love it“. Manche fahren sogar persönlich bei den Betrieben vorbei, um sich zu versichern, dass die betroffene Person auch wirklich entlassen wurde.

Und wie bei jeder Jagd gehen auch bei „Racists getting fired“ Schüsse daneben. Da ist die Geschichte von Brianna Rivera, deren Ex-Freund einen rassistischen Fake-Account unter ihrem Namen kreiert hat, um sie anschließend auf dem Tumblr zu denunzieren. Bei Briannas Arbeitgeber, einem Theater, gingen daraufhin zahlreiche Hassanrufe gegen ihre Mitarbeiterin ein. Nur, weil Brianna nachweisen konnte, dass der Account gefälscht war, wurde sie nicht entlassen.

Die anonyme Betreiberin des Tumblrs hat seit dem Vorfall zwar nach eigenen Angaben Maßnahmen zur Qualitätssicherung betrieben, aber wer kann schon überprüfen, was ein Hoax ist und was real? Auch die Aufforderung, nur Posts von volljährigen Personen einzureichen, ist zwiespältig. Woher soll man von einem Twitter-Foto wissen, ob jemand 16 oder 21 ist? Der als Fake entlarvte Post über Brianna Rivera ist immer noch auf dem Tumblr zu finden, angeblich kann er nicht gelöscht werden. In den Kommentaren darunter wurde mittlerweile die Telefonnummer ihres Ex-Freundes veröffentlicht.

Die Rassisten-Jagd ist kein amerikanisches Problem. Angetrieben durch Bewegungen wie Pegida sammeln auch in Deutschland  immer mehr Blogs die rassistischen Äußerungen von Privatpersonen. Auch mit Klarnamen. Es gibt Facebook-Anwendungen, mit denen man alle Freunde, die Pegida liken, entfreunden kann. Twitter-Bots melden jeden Tweet, der mit „Ich bin ja kein Rassist, aber…“ beginnen. Teilweise schreiben die Betreiber dieser Seiten, dass sie mit dem Erstatten von Anzeigen gegen die Rassisten überhaupt nicht mehr hinterherkämen – wie sollen sie dann Zeit finden, jeden Vorwurf genau zu prüfen?

Abgesehen davon, ist der Begriff „Rassist“ kein juristischer. Anders als bei den von Amnesty International angeprangerten Verletzungen von Menschenrechten gibt es keinen eindeutigen Bewertungsmaßstab, ob jemand ein Rassist oder einfach nur ein Trottel ist. Zwar kann man auch Menschen wegen ihrer Äußerungen auf Twitter oder Facebook wegen Volksverhetzung oder Beleidigung anzeigen, ob man vor Gericht damit durchkommt, ist allerdings fraglich. Die soziale Ächtung, wenn man einmal auf einem derartigen Blog gelandet ist, bleibt.

Bleibt die Frage, was diese Blogs mit ihrem öffentlichen Denunziantentum erreichen wollen? Natürlich fühlt es sich für die Jäger wie ein Erfolgserlebnis an, wenn der rassistische Lehrer nicht mehr an der öffentlichen Schule unterrichten darf. Erfahrungsgemäß ändert sich in den Gejagten allerdings wenig, wenn sie wegen ihrer Ansichten geschnitten und entlassen werden. Es führt eher zu einer Radikalisierung. Dass die Jäger danach den Dialog mit ihrem Opfer suchen, ist eher unrealistisch. Am Ende bleibt also nur das kleingeistige Gefühl, es "dieser Gruppe rassistischer Arschlöcher" mal richtig gegeben zu haben. Auf absurde Art und Weise ist das auch schon wieder Diskriminierung.

Wen muss ich in die Wohnung lassen?

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Ein Wochentag morgens um halb 11 in München, Schwabing. Es klingelt an der Wohnungstür des etwas herunter gerockten Altbaus, in dem ich wohne. Ich denke, dass das bestimmt jemand aus der befreundeten WG im Haus ist, der Kaffee trinken will, also öffne ich, obwohl halb im Schlafanzug - und bin geschockt.

Vor mir steht ein junger Typ mit akkuratem Scheitel, Aktentasche und Anzug und einem zerknirscht wirkenden älteren schnauzbärtigen Mann im Gepäck. Er sei von der Hausverwaltung und zuständig für unser „Anwesen“ (das hat er wirklich so gesagt!), der andere der neue Hausmeister. „Können wir kurz reinkommen?“, fragt er mit strengem Blick. Ich weiß nur, dass unser Haus drei Monate zuvor verkauft wurde und wir jetzt durch eine Immobiliengesellschaft verwaltet werden. Verwirrt antworte ich: „Klar, Sie können schon reinkommen, es ist halt nicht aufgeräumt“. Was soll man auch sagen.

Die beiden marschieren rein, der Anzugmann blickt sich forsch um und fragt, ob er den Mietvertrag einmal sehen könne. Dann spricht er eindringlich: „Ja, Frau Heller, Ihnen war doch sicher klar, dass das hier nicht ewig so weitergehen kann.“ Das Haus sei ja so heruntergekommen und in keinem Zustand mehr. „Wir wollen Sie ja nicht einfach so rauswerfen, sondern versuchen, einen Kompromiss zu finden, der für alle passt. Aber wenn Sie so in sechs, sieben Monaten ausziehen würden, das müsste doch für Sie in Ordnung gehen. Oder?“ Er rät mir dringend, möglichst schnell die anderen Bewohner zusammen zu trommeln und ein Treffen mit ihm zu organisieren, wo wir unseren idealen Auszugstermin besprechen können.

Fassungslos verabschiede ich die beiden. Ich hatte eigentlich nicht vor, demnächst auszuziehen. Dann durchfährt es mich: Hätte ich diesen Menschen eigentlich hineinlassen müssen? Wie reagiert man am besten, wenn ein Anzugaktentaschenmann an der Tür klingelt und rein will? Wen also muss man wirklich in die Wohnung lassen?

Ich frage Anja Franz, die Pressesprecherin des Münchner Mietervereins. „Rein rechtlich sind das nicht viele Personen“, sagt sie. Der Mieter hat ein sogenanntes Besitzrecht über die Wohnung. In unserem chaotischen Uralt-Mietvertrag steht unter Anderem der kleine Hinweis: ‚Der Vermieter hat einmal pro Jahr das Recht, unangekündigt die Wohnung zu besichtigen.’ „In vielen Mietverträgen steht so ein Satz“, meint Frau Franz. „Aber nicht unangekündigt. Der Vermieter muss sich immer ankündigen.“ Dies sollte mindestens zwei bis drei Tage vorher erfolgen. „Außer es gibt einen Grund, z.B. wenn etwas kaputt ist oder in Notfällen.“ Bei Feuer, Wasserrohrbruch etc. gilt Gefahr im Verzug. Wenn es allerdings keinen Grund gibt und der Vermieter kommt herein, ist das Hausfriedensbruch.

Ist der Mieter nicht zu Hause, gilt analog: Wenn Gefahr im Verzug besteht, kann der Vermieter auch die Türe aufbrechen lassen. Wenn es keinen Grund gibt, ist das erst recht Hausfriedensbruch, auch, wenn der Vermieter mit einem Ersatzschlüssel eindringt. Weder Vermieter noch Hausverwaltung haben übrigens Anspruch auf einen Wohnungsschlüssel. Nun ist es in meinem Fall aber nicht der Vermieter, der klingelt, sondern ein Typ, der sagt, er sei Herr Soundso von der Hausverwaltung. Die Hausverwaltung repräsentiert den Vermieter. In diesem Fall macht es also keinen Unterschied, ob der Vermieter persönlich da steht oder besagter Anzugmann.

Wie sieht es bei einer Kündigung aus? „Das Mietverhältnis läuft bis zum Zeitpunkt der Kündigung. Rein rechtlich hat der Vermieter also bis dahin keinen Zutritt, auch nicht zu einer Vorbesichtigung, was viele meinen.“

Auch Herr Böhm, Justiziar der Initiative Mieter helfen Mietern (MHM) München (seit 1982) sagt: „Schon im Grundgesetz (Art. 13) ist die Unverletzlichkeit der Wohnung festgelegt. Sein Recht auf Duldung, einmal pro Jahr mit Voranmeldung vorbeizukommen, kann der Vermieter vor Gericht einklagen. Wenn der Mieter sich immer noch weigert, kann der Vermieter mit Gerichtsvollzieher erscheinen.“ Im Zweifelsfall muss der Mieter dann die Gerichtskosten tragen. Dies ist allerdings kein Kündigungsgrund.

Was ist mit der Polizei? Dem Gas-Wasser-Installateur? Dem Stromableser? Frau Franz empfiehlt generell, „um des Friedens willen“, Handwerker etc. hereinzulassen. Diese sollten eigentlich immer angekündigt werden. Wenn etwas kaputt ist und der Mieter verweigert den Eintritt, muss er damit rechnen, für den Schaden aufkommen zu müssen, der dadurch entsteht. Wer sich wiederholt weigert, den Strom ablesen zu lassen, für den wird der Verbrauch geschätzt, was sich ungünstig auf die Kosten auswirken kann. Rechtlich ist es in Ordnung.

Bei der Polizei kommt es darauf an, was vorliegt. Carsten Neubert von der Pressestelle der Münchner Polizei meint: „Bei Gefahr im Verzug muss man die Polizei hereinlassen, andernfalls werden sich die Beamten ohnehin Zutritt verschaffen, auch wenn der Mieter nicht da ist.“ Gefahr im Verzug meint hier entweder eine „Gefahr für Mensch, Leib und Leben (Hilferufe, Feuer) oder für Sachen von bedeutsamem Wert, z.B. bei einem Wasserschaden, wenn es bei den Nachbarn durch die Decke tropft“, oder eine Verhinderung von Straftaten. Oft sei es allerdings Abwägungssache und läge in der Entscheidungsmacht des jeweiligen Beamten. „Es kommt immer auf die Verhältnismäßigkeit an.“


Liegt ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vor, muss man sie auch hereinlassen. Man sollte sich diesen zeigen lassen und nachlesen, wonach genau bei wem gesucht wird. In beiden Fällen kann man im Nachhinein immer einen Anwalt konsultieren und evtl. Beschwerde einreichen! Denn wenn kein Durchsuchungsbeschluss vorliegt und keine hinreichendeb Gründe vorlagen, begeht auch die Polizei Hausfriedensbruch, wenn sie ohne die Erlaubnis des Mieters seine Wohnung betritt. Die Kölner Kanzlei für Strafverteidigung Breidenbach hat auf ihrer Homepage auch einige Tipps dazu.

Ich hätte den Menschen also auf jeden Fall nicht in die Wohnung lassen müssen. In diesem Fall wäre es geschickter gewesen, nach dem Anliegen zu fragen und darum zu bitten, alles Weitere schriftlich zu klären. „Der Sekretär des Mieters ist sein Briefkasten“, rät uns ein Mieterverein.

Auf der Homepage der MHM Initiative gibt es als Richtlinien zu diesem und vielen anderen Themen Merkblätter zum herunterladen mit allgemeinen Tipps. Dies sei gut als „Erste Hilfe“, wie Herr Böhm es nennt. Ansonsten  komme es immer sehr auf den Einzelfall an. Außerdem empfiehlt er das Mieterlexikon des deutschen Mieterbunds.

Die Erstberatung durch einen Anwalt kann einige hundert Euro kosten. Der Eintritt in einen Mieterverein ist weitaus günstiger und daher empfehlenswert. Der Mieter kann sich übrigens auch an die Stadt wenden, Mietberatung gibt es zum Beispiel beim Amt für Wohnung und Migration.


Lucia, 27, ist jetzt Mitglied in einem Mieterverein und öffnet nur noch selten die Türe im Schlafanzug.


Fünf Tipps, wenn es klingelt:

1.  Der Mieter hat das Besitzrechtüber seine Wohnung. Die Polizei mit richterlichem Durchsuchungsbeschluss oder bei Gefahr im Verzug muss er allerdings hereinlassen.

2. Der  Vermieter muss sich vorher ankündigen, außer es besteht Gefahr im Verzug.

3.  Wenn möglich, alle Vereinbarungen schriftlich klären. Vorher Anwalt konsultieren.

4.  In einen Mieterverein eintreten, sich über seine Rechte informieren

5.  Handwerker, Stromableser & Co. müssen sich auch ankündigen. Erst wenn man wiederholt nicht da  ist und keinen neuen Termin vorschlägt, wird der Verbrauch geschätzt.

Das ist doch gar nicht echt!

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Sonntagabend habe ich die Preshow des Superbowl gesehen. Schnelle Schnitte, Moderatoren in schlecht sitzenden Anzügen, eine Moderatorin, die den Präsidenten in einer Großküche zur wirtschaftlichen Lage des Landes interviewt, halbnackte Cheerleader, aufwändig produzierte Werbespots und „God Bless America“-Plakate auf der Tribüne. Und alles in Live-Übertragung. Aber ich hatte komischerweise das Gefühl, dass mir jemand eine Geschichte erzählt. Dass das alles gar nicht wirklich passiert gerade, drüben in den USA.

Das hat mich verwirrt. Und da fiel mir auf: Ich kenne amerikanisches Fernsehen eigentlich nur aus dem amerikanischen Fernsehen. Aus Serien und Sitcoms. Wenn es darin vorkommt, wenn dort jemand fernsieht. Ich kenne es nur aus zweiter Hand, als Abbild. Darum wirkt es auf mich ausgedacht.



Mindfuck!

Noch nie hatten wir Zugriff auf so viele Geschichten aus aller Welt. Das Internet ist voll davon. Vor allem aus den USA schwappt jede Menge Popkultur zu uns herüber. Seit dem großen Serien-Hype hat diese Popkultur einen noch größeren Hang zu realistischen und detailreichen Geschichten. Wenn wir nächtelang US-Serien schauen, saugen wir diese Details in uns auf und speichern sie ab als Teile einer Erzählung.

Aber gerade die Details haben sich die Serienschreiber oft gar nicht ausgedacht, sondern aus dem Leben kopiert. Ganz automatisch sieht eine TV-Berichterstattung in „House of Cards“ aus wie eine TV-Berichterstattung, die der Autor Beau Willimon und seine Kolleginnen und Kollegen kennen. Ein Werbespot in den „Simpsons“ ist ein ziemlich genaues Abbild eines echten amerikanischen Werbespots, in etwas überzogen und karikiert. Eine Superbowl-Übertragung in „King of Queens“ ist der echten Superbowl-Übertragung nachempfunden. Denn das Fernsehen in den Serien ist Teil der Realität der Serien-Autoren. Die nicht meine ist.

Während ich darüber nachgedacht habe, hat sich in meinem Kopf ein Knoten gebildet. Wir alle schauen mittlerweile Serien, Serienschauen ist unsere Lieblingswissenschaft geworden. Aber wenn man sich so sehr auf all diese Geschichten einlässt, kriegt man ein Problem mit der Realität. Oder besser gesagt: mit der Realität der anderen. Da setzt sich aus vielen Details vieler Serien ein Bild zusammen, das „Serien-Realität“ heißt – und wenn man dann in der echten Welt auf eines dieser Details stößt, traut man ihm nicht über den Weg. Ich war nie in den USA, aber sollte ich mal hinreisen, dann weiß ich jetzt schon, dass ich diesem Land die Hälfte nicht glauben werde. Die großen Autos oder Thanksgiving zum Beispiel. Ich werde das Gefühl haben, durch eine einzige große Geschichte zu laufen, vielleicht sogar Teil dieser Geschichte zu sein.

Die Sache ist: Meistens ist die Realität in den USA ja sehr weit weg. Letzten Sonntag war das anders. Ich kenne den Superbowl aus Serien, jetzt habe ich ihn zum ersten Mal in echt angeschaut. Weil ich durch das Internet ja nicht nur Zugriff auf Geschichten aus aller Welt habe, sondern auch auf Berichterstattung aus aller Welt. Nur darum kann ich Sitcoms schauen, in denen es mindestens eine Superbowl-Folge gibt. Nur darum kann ich aber auch den echten Superbowl schauen. Nur darum fiel beides zusammen: die Serien-Realität und die Realität. Und nur darum saß ich Sonntagabend mit einem Knoten im Kopf vorm Laptop.

Eigentlich ist es also wie immer: Das Internet ist Schuld. Es bietet mir die ganze Welt an, einfach so, während ich daheim bin und eine Jogginghose trage. Alles ist ganz nah, gleichzeitig ist es ganz weit weg. Das Internet erzählt mir Geschichten, die von fremden Realitäten geprägt sind, es zeigt mir aber auch diese fremden Realitäten selbst. Und ich weiß manchmal nicht mehr, was das eine und was das andere ist. Was nur eine Ebene weit entfernt ist und was zwei.

Vielleicht muss ich bald in die USA reisen. Und dort amerikanisches Fernsehen schauen. Nein, damit sich der Knoten auflöst, muss ich wahrscheinlich sogar noch einen Schritt weitergehen. Weiß hier jemand, wie man an Karten für den Superbowl kommt?

Die schillernde Blässe des Wahlkämpfers

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Die Aula des Gymnasiums Dörpsweg in Hamburg-Eidelstedt liegt im Lichte einer freundlichen Farblosigkeit, und die Leute im Publikum schauen mit ungeteilter Aufmerksamkeit in sie hinein. Auf dem Podium steht Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, bei einem seiner sogenannten Bürgergespräche. Sein Anzug ist grau. Die Stellwand hinter ihm ist auch grau. Und seine Rede plätschert dahin wie ein Feng-Shui-Bächlein, beruhigend, harmonisch. Scholz spricht über Arbeitsmarktpolitik, Bildungschancen, Flüchtlinge. Manchmal streut er ein, dass seine Regierung etwas „ganz gut hingekriegt“ oder „eine ganz gute Entscheidung“ getroffen habe. Mit der Macht seiner Ruhe zähmt er die Aufregung eines Mannes, der im geplanten Freihandelsabkommen Europas mit Kanada einen Fluch sieht („Da sind wir anderer Meinung“). Und am Schluss stellt Olaf Scholz zufrieden fest, dass er die Veranstaltung pünktlich um neun beenden kann. „Wie ich es vorher angekündigt habe.“ Dann sagt er noch: „Gehen Sie am 15.Februar wählen. Und wenn Sie noch einen Tipp brauchen: Ich habe einen.“



 Als rot gefärbter Neoliberaler gilt Olaf Scholz nicht einmal mehr beim linken Flügel der SPD.

Wahlkampf mit Olaf Scholz. Das ist so, als gäbe es gar keinen Wahlkampf, denn der Bürgermeister Scholz macht in diesen Tagen des Stimmenfangs nie den Eindruck, als kämpfe er um irgendwas. Andere Wahlkämpfer inszenieren ihre Hingabe, bis ihnen der Schweiß von der Stirn perlt. Sie schwingen geballte Fäuste, wenn sie ihre Reden brüllen, sie wirken wie Boxer, die jede Stimme einzeln aus dem Volk rausprügeln wollen. Scholz hingegen steht nur da und redet. Zählt die Erfolge seiner Amtszeit auf. Spricht über die Aufgaben der Zukunft. Setzt allenfalls mal eine Spitze gegen jene, deren Irrtümer er begradigt habe. Dann geht er, und man fragt sich: War da wer? Wer war da? Warum hatte das Kraft, was dieser leise, kantenlose, eher klein gewachsene Mensch mit seiner dünnen Stimme in den Raum gesetzt hat?

Es heißt, Olaf Scholz, 56, habe kein Charisma. Das stimmt, wenn Charisma für eine Ausstrahlung steht, die aus jeder Regung ein Spektakel macht. Aber ganz richtig ist es auch nicht, denn diese Sachlichkeit des Olaf Scholz kommt keineswegs ohne Witz daher. Sie ist der Ausdruck einer Souveränität, die keiner auf die leichte Schulter nehmen kann. Eine schillernde Blässe geht von Olaf Scholz aus, eine natürliche Autorität und Geistesschärfe, mit der man bestimmt keinen Fernsehpreis gewinnt. Sehr wohl aber Machtkämpfe in der Politik und Wahlen in Hamburg.

Scholz wird Bürgermeister bleiben. Die jüngste Umfrage im Auftrag des NDR sah seine SPD mal wieder bei 44 Prozent Zustimmung. Die absolute Mehrheit wäre damit verloren, aber die erreichte Scholz 2011 ja auch in einer Art Notfall-Wahl, nachdem die schwarz-grüne Koalition zerbrochen war und Chaos herrschte im Rathaus. Scholz weiß die hohen Werte zu schätzen. „Ausdrücklich“, sagt er, „dass ich beeindruckt und auch persönlich berührt bin, dass die SPD und ich so lange über so einen langen Zeitraum und so oft derart hohe Umfragewerte haben“. Vergeblich rüttelt die Opposition an seinem Thron. Scholz hat zu wenige Fehler gemacht, als dass sie ihn zu fassen bekäme. Und Hamburgs Wirtschaft ist derart begeistert davon, wie Scholz die Senatspolitik wieder auf Linie gebracht hat, dass einige Gewerbe-Vertreter richtig Werbung machen für eine weitere SPD-Alleinregierung. CDU-Spitzenkandidat Dietrich Wersich nennt den Stil des Bürgermeisters gerne „autokratisch“. Hans-Jörg Schmidt-Trenz, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer, dagegen lobt die „Dialogbereitschaft“ von Scholz: „Herr Scholz hört zu, verliert keine unnötigen Worte und setzt um.“

Olaf Scholz ist in Osnabrück geboren, aber seit seiner frühen Kindheit in Hamburg. Abitur in Rahlstedt, Jura-Studium an der Universität in Rotherbaum, erster SPD-Vorsitz 1994 im Bezirksverband Altona. Und er ist so, wie man es in der Hansestadt mag: diskret, zweckorientiert, fleißig – und ausgestattet mit einem klaren Bewusstsein für die Bedeutung der Wirtschaft. Die Hamburger SPD ist in dieser Hinsicht schon immer konservativer gewesen als andere Landesverbände. Wer die Wirtschaft in Schwung hält, bekommt das Geld, das wiederum die Sozial- und Bildungspolitik in Schwung hält, so denkt Scholz. „Ja“, sagt er, „gute wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht eine Politik, die mehr Zusammenhalt schafft.“ Und er nimmt es in Kauf, dass seine hanseatische Kühle ihn nicht gerade zum Sozialdemokraten der Herzen macht. Bei seiner Wiederwahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-SPD bekam Scholz Ende 2013 nur 67,3 Prozent der Stimmen. Ist Scholz zu konservativ für die SPD?

Auch in der Hamburg-SPD soll es mal eine Scholz-Skepsis gegeben haben. Aber davon ist nicht mehr viel zu spüren. Scholz ist ein geschickter Moderator seiner Macht, er hat die Partei im Griff. Auch an ihrem linken Rand kann man dieser Tage das Bild eines Parteivaters gezeichnet bekommen, der sich Zeit für Positionen nehme und keineswegs einen rot gefärbten Neoliberalismus pflege. Der Scholz-Senat hat Studien- und Kita-Gebühren abgeschafft, er hat flächendeckend Jugendberufsagenturen eingeführt. Das seien ja linke Positionen.

Erst wenn man sich aus der SPD herausbewegt, erscheint Scholz als ein Mann, der die falschen Farben trägt. „Von links kann ich da nicht die Spur erkennen“, sagt Dora Heyenn, Fraktionsvorsitzende der Hamburger Linkspartei, einst selbst Sozialdemokratin, „er ist nicht kritisch. Schon gar nicht systemkritisch. Und er ist nicht in erster Linie für die Menschen da, die besonders viel Hilfe brauchen. Sondern er ist in erster Linie ein guter Partner für die Handelskammer.“ Sie nennt Scholz den „Architekten der Agenda 2010“, niemals werde ihre Partei ihn deshalb zum Bürgermeister wählen und niemals mit der Scholz-SPD koalieren. In letztere Verlegenheit wird sie allerdings auch nie kommen. Dora Heyenn lacht und nickt. „Diese gegenseitige Abneigung ist tief verwurzelt.“

Links. Nicht links. So einfach ist das nicht bei Olaf Scholz. In der Tat hat er einst als SPD-Generalsekretär die umstrittene Agenda 2010 des Bundeskanzlers Gerhard Schröder mitinstalliert. Den Umbau des Sozialsystems und Arbeitsmarktes mit den Hartz-Gesetzen hat er damals mit einer derart mechanischen Beharrlichkeit verteidigt, dass viele in ihm die Symbolfigur einer neuen, herzlosen Sozialdemokratie sahen. „Als Offizier“ seiner Partei habe er sich seinerzeit empfunden, hat Scholz mal in der Zeit gesagt. Wenige Jahre später, als Arbeitsminister der schwarz-roten Koalition unter Angela Merkel, hörte er dann, er weiche die Agenda 2010 auf, weil er das Arbeitslosengeld für Ältere verlängerte. Und jetzt steht Scholz als der Hamburger Rathaus-Streber da, dem selbst Kritiker nicht absprechen, dass er mit seinem Pragmatikerstil auch was erreicht hat: 6000 neue Wohnungen pro Jahr, zahlreiche neue Flüchtlingsunterkünfte, einen Haushaltsüberschuss 2014, neue Impulse für den Forschungsstandort wie den am Dienstag neu eröffneten Energie-Campus der Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Vernunft ist keine Frage von Parteiflügeln – für diese Haltung steht Scholz. „Er ist der Exponent des Flügels Scholz“, sagt Ralf Stegner, SPD-Chef in Schleswig-Holstein, wie Scholz stellvertretender Vorsitzender der Bundes-SPD und eher links im Spektrum. Scholz spielt in seiner eigenen Liga, soll das heißen, und die Partei macht sich das zunutze. Scholz ist für sie eine Art Libero. Wenn Kompromisse gefragt sind, schlägt seine Stunde in Berlin. Scholz ist Chef der SPD-Antragskommission. Mit Bundesfinanzminister Schäuble hat er die Haushaltspolitik der großen Koalition ausgearbeitet. Mit Schäuble verhandelt er als Vertreter der Ministerpräsidenten auch über den Länderfinanzausgleich.

Und in Hamburg gleicht er neue Ideen mit der Wirklichkeit ab. Setzt auf Verlässlichkeit. Regiert ordentlich. Spinnt nicht rum. Ob es ihn ärgert, dass ihm manche diese Haltung als trocken und wenig visionär auslegen, obwohl er ständig an Zukunft denkt? Das weiß wohl nur seine Frau, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Britta Ernst. Olaf Scholz ärgert sich nie öffentlich. „Ich habe eine gnadenlos konstruktive Sicht auf die Welt“, sagt er. Jede Regung hält er verborgen hinter einer Professionalität, die für die ganz große Polit-Show ungeeignet ist. Aber die seine Gegner zur Verzweiflung bringen kann.

Tagesblog - 04. Februar 2015

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11:45 Uhr: Jimmy Fallon's "Tonight Show" wird diese Woche von LA aus gesendet. Um das angemessend zu würdigen, hat Fallon die Eröffnungssequenz der Serie "Prince of Bel Air" (die Älteren werden sich erinnern, Will Smith als er noch cool war und so) nachgestellt. Und den Typen in Minute 0:45 kennt man doch...
https://www.youtube.com/watch?v=qL6baIiRkSg

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11:20 Uhr: Das ging jetzt lang, ich weiß, sorry. Da es gerade viel diskutiert wird im Kosmos: Die Benachrichtungen bei jetzt.de scheinen zu spinnen, ich mache jetzt mal einen Bugreport fertig. Userin jurette_ sammelt übrigens momentan auch Bugs aus der Mobilversion, die nehmen wir dann gleich auch noch mit. Danke für's Feedback geben!

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09:55 Uhr: Und damit ihr euch auch schön die Zeit vertreiben könnt, während ich gleich Skype-konferiere: Mal auf Spotify "78 Songs" bei der Playlistsuche eingeben. Dort stellen momentan nämlich viele Menschen ihre 78 Lieblingssongs ein (ulkige Zahl, finde ich), hier kann man auch selber mitmachen. Und diese hier mag ich besonders gern.

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09:45 Uhr:
Ich warte ja immer noch darauf, dass mir jemand so eine Do-it-yourself-Sendung anbietet, bei der ich dann andere Menschen rumkommandiere, Heimwerkerprojekte für mich zu realisieren. Mit meiner Wohnung fangen wir dann natürlich an und dann hätte ich gerne das hier: Einen Sternenhimmel im Badezimmer!
[plugin imagelink link="http://static.boredpanda.com/blog/wp-content/uploads/2015/02/bathroom-design-star-floor-baldr-1.jpg" imagesrc="http://static.boredpanda.com/blog/wp-content/uploads/2015/02/bathroom-design-star-floor-baldr-1.jpg"] via bored panda

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09:15 Uhr: Und jetzt zu den Nachrichten

  • In der taiwanischen Hauptstadt Taipeh gab es einen Flugzeugabsturz. Die Passagiermaschine streifte eine Brücke und stürzte daraufhin in einen Fluss, 50 Personen waren an Bord, momentan ist von 13 Toten die Rede. Und die Bilder, die eine Dashcam zufällig von dem Unglück aufgenommen hat, sind surreal [plugin imagelink link="http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2335093.1423035928/860x860/taiwan-absturz-taipeh.jpg" imagesrc="http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2335093.1423035928/860x860/taiwan-absturz-taipeh.jpg"]

  • In Jordanien wurden zwei zum Tode verurteile Terroristen exekutiert - als Reaktion auf die Tötung eines jordanischen Piloten durch den IS

  • Krimi in Argentinien: Beim vor zwei Wochen verstorbenen Staatsanwalt Alberto Nisman wurde im Müll (!) ein Haftbefehtbefehl gegen die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner gefunden. Ob er sich wirklich selber getötet hat, steht nun wieder infrage

  • Der chinesische Protestkünstler Ai Weiwei will von Peking aus einen Film über Berlin drehen. In dem Film spielt auch Til Schweiger mit. Kann man sich nicht ausdenken

09:00 Uhr: Guten Morgen Kosmos. Eigentlich wollte ich diesen Morgen ja mit einer Schimpftirade beginnen. Weil die BVG gestern nicht nett zu mir war. Aber jetzt bekam ich eben einen Anruf von einer Freundin: Wiederum eine Freundin von ihr hat meine EC-Karte gefunden, die ich heute morgen in der Eile im Bahnautomaten habe stecken lassen, ich kann sie später abholen. Krasser Zufall, so in Berlin. Und ich so:
[plugin imagelink link="http://www.reactiongifs.com/r/qa6.gif" imagesrc="http://www.reactiongifs.com/r/qa6.gif"]

Der Zorn Gottes

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Die Zahl der Kirchengemeinden, die Flüchtlingen Asyl in Kirchenräumen gewähren, steigt rapide. Es bahnt sich ein Konflikt an, wie es ihn so in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat: christliche Kirchen gegen christliche Parteien, katholische und evangelische Kirche gegen die zwei deutschen Parteien, die das „C“ im Namen führen. Es ist dies kein Konflikt zwischen den Hierarchen und Funktionären von Kirche und Staat, wie einst bei der Abtreibung. Es ist ein Konflikt der christlichen Basis, an deren Spitze sich nolens volens die Bischöfe gestellt haben, mit dem Staat und seinen Ausländerbehörden.



 In einem Pfarrhaus in Tübingen wurde der kurdischen Familie Güler bereits im Jahr 2000 Kirchenasyl gewährt. Bis heute ist die Abschiebungspolitik des Staates stark umstritten.

Konflikt schwelt seit Langem, jetzt lodert er auf. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, selbst evangelischer Christ, hat jüngst den katholischen Bischöfen in ungewöhnlich harscher und harter Form erklärt, dass er als Verfassungsminister das Kirchenasyl „prinzipiell und fundamental“ ablehne. Dem neuen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, dem Münchner Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hat er bei dessen Antrittsbesuch im Ministerium Ähnliches bedeutet. Kurz: Die Kirchen mögen dem Staat doch bitte nicht ins Handwerk pfuschen.

Das Staatshandwerk, um das es geht, ist die Abschiebung von Flüchtlingen aus Deutschland. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist bei der Prüfung der Einzelfälle offensichtlich überfordert; womöglich ist diese Überforderung, so argwöhnen manche Kirchenvertreter, auch politisch gewollt: Die Abschiebemaschinerie, zumal bei den sogenannten Dublin-III-Abschiebefällen, läuft wie geschmiert, um Härtefälle kümmert sich das Bundesamt kaum. Als Dublin-III-Fälle gelten die Flüchtlinge, die bei ihrer Flucht nach Deutschland schon ein anderes EU-Land betreten hatten – Bulgarien, Ungarn oder Italien beispielsweise. Eigentlich sollten dem Gesetz nach auch hier „Härtefälle“ berücksichtigt werden. In der Praxis ist das nicht so. „Die Durchführung der gesetzlich vorgesehenen humanitären Einzelfallprüfung durch das Bundesamt ist nicht erkennbar“, sagt Stephan Theo Reichel, der im Auftrag der evangelisch-lutherischen Landeskirche seit 1. Oktober 2014 die Kirchenasyle in Bayern hauptamtlich koordiniert. „Vorgelegte Gutachten und Eingaben werden ignoriert, mit allen Mitteln werden Abschiebungen juristisch durchgesetzt.“ Er klagt über Abschiebungen „ohne Prüfung und Rücksichtnahme“ – „nach Bulgarien und Ungarn ins Gefängnis oder nach Italien auf die Straße“.

Das wollen immer mehr Kirchengemeinden verhindern: Sie wollen den Flüchtlingen geben, was der Staat des Grundgesetzes ihnen verweigert – Schutz und Hilfe in bedrohlicher Situation. „Die Hilfe für Flüchtlinge ist als Anliegen tief in vielen unserer Gemeinden verwurzelt. Und das ist auch gut so“, sagte Heinrich Bedford-Strohm der Süddeutschen Zeitung. Und: „Das Kirchenasyl bedroht weder das Recht noch taugt es zu einer Grundsatzdebatte.“ Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sagte der SZ, dass er den Kirchengemeinden dankbar sei, „die sich um die Not von Flüchtlingen kümmern“. Die Gemeinden gingen in aller Regel sehr sorgfältig mit dem Kirchenasyl um. Und die Praxis der zurückliegenden Jahrzehnte zeige, „dass während eines solchen Kirchenasyls fast immer eine bessere und rechtsstaatlich einwandfreie Lösung gefunden werden kann“.

Verlässliche bundesweite Fallzahlen gibt es nicht. Der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ wurden 200 Kirchenasyle im Jahr 2014 gemeldet; die tatsächlichen Zahlen werden mindestens doppelt so hoch geschätzt. In Bayern gibt es offizielle Zahlen: 169 Kirchenasyle waren es 2014 (mit 275 Menschen, die dort vorübergehend Schutz fanden) – fünfmal so viel wie im Vorjahr. An die fünfzig Kirchenasyle laufen derzeit, Anfang Februar, in katholischen und evangelischen Pfarreien in Bayern.

Stephan Reichel, der Asylkoordinator der evangelischen Kirche, weiß: Überall, noch im letzten Dorf, gibt es Helfervereine und Helferkreise – „geführt von der Frau des Bürgermeisters“. Die CSU mag erwartet haben, dass mit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen in Bayern, also mit ihrer Verteilung übers ganze Land, ein Aufstand gegen diese Unterbringung beginnt. Begonnen hat stattdessen, so der Kirchenmann Reichel, „ein Aufstand der Empathie“. Die anfängliche Skepsis in vielen Gemeinden gegen die Flüchtlingsunterbringung habe sich oft in kolossale Hilfsbereitschaft verwandelt. Und wenn dann Leute abgeschoben werden sollen, deren Schicksal man nun im Dorf kennt, seien auch schon „ganz konservative Leute zum Tier geworden“, die „ihre“ Flüchtlinge mit allen Mitteln verteidigen. Zu den Mitteln gehört, erzählt Reichel, zuerst die Frage an die Ausländerbehörde: „Weiß das der Seehofer?“ Dazu zählt aber vor allem das Kirchenasyl: die Gewährung von Schutz in kirchlichen Räumen, als „ultima ratio“, als „letztes Mittel“. Die Kirchengemeinden wollen dieses Mittel nicht als kalkulierten Bruch des Rechts betrachten – sondern als dringlichen Appell an die Behörden, als eine lebendige Petition im Sinn des Artikels 17 Grundgesetz.

Die Kirchenasyl-Bewegung ist die lebendigste Basisbewegung, die es derzeit in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gibt. Seit 31 Jahren gibt es ein Kirchenasyl in Deutschland, vor 21 Jahren wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ von evangelischen und katholischen Christen gegründet.

In kaum einer anderen Frage sind Kirchengemeinden so engagiert, in keiner anderen Frage funktioniert Ökumene, die Zusammenarbeit zwischen evangelischen und katholischen Pfarreien so gut. Kirchenasyl ist für sie die Übersetzung des Evangeliums in die Gegenwart. Da steht im Matthäus-Evangelium das Jesus-Wort: „Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt. Ich war verfolgt, und ihr habt mir Schutz gewährt“. Und: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Darauf antworten die Regierungspolitiker gern mit Sätzen, die sich an den Apostel Paulus halten, bei dem steht: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“. Intern galt aber bisher zumeist eine stille Übereinkunft, das Kirchenasyl zu achten und nicht mit Polizeigewalt zu brechen.

Das beste Argument der Kirchengemeinden sind nicht Bibelzitate, sondern Erfolgsraten: Fast alle Flüchtlinge, die ins Kirchenasyl genommen werden, kommen sodann ins ordentliche Asylverfahren – und fast neunzig Prozent dürfen letztendlich in Deutschland bleiben. Koordinator Reichel berät die Pfarreien und rät, sich auf wirkliche Härtefälle zu beschränken. Was ist ein Härtefall? Dieser zum Beispiel: Der Flüchtling aus Syrien ist von Splitterverletzungen übersät; neben ihm war eine Granate explodiert. Auf seiner Flucht kam er nach Bulgarien als erstes EU-Land. Er blieb dort ohne jegliche ärztliche Hilfe, schlug sich weiter nach Deutschland durch. Dort angekommen soll er sogleich wieder abgeschoben werden – nach Bulgarien, weil nach den Dublin-III-Regeln das erste EU-Land, das der Flüchtlinge betritt, für das Asylverfahren zuständig ist. Oder: Eine evangelikal-konservative Kirchengemeinde gewährte einem verletzten Peschmerga-Offizier Kirchenasyl und schützte ihn vor der Abschiebung ins Lager nach Bulgarien. Eine andere Kirchengemeinde bewahrte einen schwulen jungen Mann aus Tansania vor der Rückschiebung ins Gefängnis – wo ihn wegen seiner Homosexualität 14 Jahre Haft erwartet hätten. „Ich falle ab vom Glauben an unseren Rechtsstaat“, schreibt da die Leiterin eines katholischen Frauenbunds im Allgäu angesichts solcher Fälle an den Kirchenasyl-Koordinator.

Die kirchliche Basis kocht – einer neuen Entscheidung des Bundesamts wegen: Es will künftig Flüchtlinge im Kirchenasyl als „untergetaucht“ behandeln. Das hätte zur Folge, dass die Behörden viel mehr Zeit haben, sie in die EU-Ersteinreiseländer abzuschieben – nicht nur sechs Monate wie bisher, sondern 18 Monate. So lange müssten Kirchengemeinden künftig Flüchtlinge im Kirchenasyl beherbergen. Hinter den Kulissen laufen Verhandlungen, um das abzuwenden. Das Ziel: Härtefälle sollen, auf Hinweise aus den Kirchen hin, beim Bundesamt für Flüchtlinge sorgfältig geprüft werden, um Kirchenasyle künftig möglichst zu vermeiden. Wenn diese Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, helfen womöglich die Gerichte: Es gibt bereits zwei Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, die es ablehnen, Flüchtlinge im Kirchenasyl als untergetaucht zu betrachten.


Alternative zur Alternativlosigkeit

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Als der junge, forsche Präsident sein Amt antrat, legte er sich als Erstes mit den mächtigen Ausländern an, die seiner Meinung nach zu lange die Geschicke des Landes bestimmt hatten. Seine Vorgänger, verkündete er, hätten sich von neoliberalen Dogmatikern leiten lassen. Weltbank und IWF setzte er erst einmal vor die Tür, er kündigte Verträge für ausländische Armeebasen und Rohstoffabkommen. Anstatt mit alten Kadern umgab er sich mit jungen, dynamischen Beratern und Ministern, die in Nichtregierungsorganisationen groß geworden waren. Die Altparteien der Eliten, die sich bis dahin an der Macht abgelöst hatten, verschwanden in der Versenkung. Der junge Präsident wurde zweimal wiedergewählt.

Rafael Correa wurde 2007 erstmals Präsident von Ecuador. Da war er in etwa so alt, wie Alexis Tsipras jetzt ist. Auch sonst gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Ecuadorianer und dem Griechen: das smarte Auftreten, die zu Unbelehrbarkeit neigende Forschheit, die kritische Haltung zu gängigen wirtschaftspolitischen Dogmen, die Lust an der Provokation. Und den trotzigen Willen, der Welt zu zeigen, dass ihre kleinen, krisengeschüttelten Länder es schaffen könnten, wenn man sie nur ihren Weg gehen ließe. Diesem Willen opfern sie sogar die linke politische Korrektheit: Correa überwarf sich mit den NGOs, die ihn groß gemacht hatten. Tsipras verprellte europäische Sympathisanten, indem er sich einen rechtspopulistischen Koalitionspartner nahm, den er kontrollieren kann und den er mit dem unbedeutenden Verteidigungsministerium abspeiste.



Die Entwicklungen in Südeuropa weisen Parallelen zu denen Südamerikas in den letzten Jahrzehnten auf. Wie auch
der neue griechische Premier Alexis Tsipras, so kam auch Ecuadors Präsident Rafael Correa (hier im Bild vom Januar 2014) sehr jung ins Amt und legte eine kritische Haltung zu gängigen wirtschaftspolitischen Dogmen an den Tag.


Die Parallelen zwischen Tsipras und Correa sind zum Teil dem Zufall geschuldet – die zwischen dem Ecuadorianer und der spanischen Podemos-Bewegung nicht. Deren Anführer Pablo Iglesias, der „spanische Tsipras“, beruft sich ausdrücklich auf die lateinamerikanische Linke, er findet Brasilien und Ecuador als Vorbilder „interessant“. Es gibt auch personelle Verbindungen zwischen Podemos und dem Chavismus in Venezuela. In Spanien wurde Iglesias von der konservativen Presse schon als europäischer Chávez geschmäht, was angesichts der Temperamentunterschiede übertrieben erscheint, und was Iglesias auch gar nicht mehr so gerne hört, seit Venezuela taumelt. Doch seine Anhänger sind weiterhin voller Bewunderung dafür, wie die ehemaligen Kolonien sich unter linker Ägide seit der Jahrtausendwende emanzipiert haben.

Sie kommen aus allen Teilen der spanischen Bevölkerung. Zu den Kundgebungen von Podemos gehen Alte und Junge, Rentner und Arbeitslose, vor allem Akademiker, die mobil und hochgebildet sind, und trotzdem vor dem Nichts stehen. Der Essayist und Journalist Enric Juliana warnte vor Jahren vor einer „Mexikanisierung“ Südeuropas. Spaniens Zukunft sei atlantisch, prognostizierte er damals, und meinte die Exportchancen. Nun mehren sich aber die Anzeichen, dass sich sogar die Politik Spaniens lateinamerikanisieren könnte. Eine umgekehrte Conquista sozusagen.

Die Ähnlichkeit beginnt beim Nationalismus. Juliana wies jetzt darauf hin, wie selbstverständlich die neue Linke Spaniens das Wort „patria“ im Munde führe, das seit der Franco-Zeit tabu war. Ähnlich klingt es bei Chávez und Correa, inzwischen aber auch im Griechenland von Tsipras und sogar in Renzis Italien. Es ist die Reaktion auf das Gefühl, dem hegemonialen Diktat Brüssels ausgesetzt zu sein.

Der Europa-Gedanke wird zum Glück nicht ganz untergepflügt. Es gibt sogar den Glauben, dass im Süden die Alternative zur Alternativlosigkeit heranwachse. „Das Europa der Händler, das Europa Angela Merkels und der Finanzhaie ist nicht unser Europa“, sagt Podemos-Chef Iglesias. Mit ähnlicher Rhetorik kündet die lateinamerikanische Linke davon, dass „Nuestra América“ nun nicht mehr der Hinterhof der USA sein solle, sondern ein Partner.

In Lateinamerika wurde viel vorweggenommen, was derzeit in Europa passiert. US-Präsident Ronald Reagan hatte den südlichen Teil des Kontinents in den Achtzigerjahren als Experimentierfeld für die marktliberale Revolution auserkoren. Zum Teil noch unter Deckung der Diktaturen, aber auch nach der Demokratisierung hatten US-amerikanische Wirtschaftsstrategen freie Hand. Ihr Rezepte waren den heutigen der EU-Troika nicht unähnlich. In Bolivien wurde der Bergbau privatisiert, in Argentinien die Eisenbahnen, Ecuador führte gar den US-Dollar ein. Das erbrachte Wachstum, allerdings auch einen Verfall der Infrastruktur, die nur dann bedient wurde, wenn es sich rentierte. Nichts trug das Wachstum zum Abbau der Armut bei, weil die Erlöse meist bei den postkolonialen Eliten und internationalen Konzernen blieben. In Bolivien und Ecuador leerten sich ganze Landstriche, Hunderttausende suchten das Heil in der Auswanderung.

Die Daheimgebliebenen begannen, links zu wählen. In Argentinien kam Néstor Kirchner, in Bolivien Evo Morales, in Brasilien Lula da Silva und in Ecuador Rafael Correa an die Macht. Sie machten Rohstofferlöse erstmals breiten Schichten zugänglich. Spanische und griechische Geld-Eliten unterscheiden sich von lateinamerikanischen nur dadurch, dass sie keinen Zugriff auf Rohstoffe haben. Ihr Rentenkapitalismus ist ganz von Immobilienblasen, EU-Geld und Korruption abhängig. In diesen Klientelismus sind die Traditions-Sozialisten wie die spanische PSOE oder die griechische Pasok genauso verstrickt wie die Konservativen. „La Casta“, die Kaste, werden sie in Spanien genannt – aus Podemos-Sicht sind sie neben der EU-Troika das Haupthindernis für eine Erneuerung.

Wie diese aussehen soll, ist bisher nur in Konturen zu erkennen. Die Abhängigkeit von Öl und Erz hat sich in Lateinamerika durchaus auch negativ ausgewirkt. Jetzt, da die Preise fallen, ist das Umverteilungsmodell gefährdet – auch wenn Ecuador immer noch ein Wachstum von fünf Prozent aufweist und die meisten Ecuadorianer sagen, es gehe ihnen besser als früher. Doch allgemein wurde während der Boomjahre zu wenig in Produktivität investiert.

Genau daran wird die neue Linke Südeuropas gemessen werden: ob es ihr gelingt, nicht nur „venceremos“ zu rufen – sondern ihr Selbstbewusstsein über die mediterrane Rhetorik hinaus in produktive zählbare Erfolge zu überführen, die dann auch Menschen ernähren. Der Verbund im Euro bietet dafür Voraussetzungen. Doch es kann nur klappen, wenn Europa gemeinsam am Aufschwung arbeitet, und es nicht zulässt, dass die Länder des Südens sich am argentinischen Autarkismus orientieren. Dafür aber wird mehr Dialog und deutlich weniger Direktive nötig sein als bisher.

Killerviren im Wedding

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Es braucht Geduld in der Forschung, aber noch mehr Geduld braucht es, um Platz für die Forschung zu schaffen. Kaum jemand dürfte das besser wissen als der Präsident des Robert-Koch-Instituts. Sichtlich erleichtert und gerührt wirkte Reinhard Burger am Dienstag, als er nach 14 Jahren Planung in Gegenwart der Bundeskanzlerin das neue, 170 Millionen Euro teure Hochsicherheitslabor des Instituts einweihen konnte. Es ist zwar bereits das vierte Labor dieser höchsten mikrobiologischen Sicherheitsstufe in Deutschland, aber das erste einer Bundesbehörde. Zu den dort untersuchten Keimen zählen vor allem Viren, die hämorrhagische Fieber auslösen, also die Blutgefäße schädigen und innere Blutungen auslösen. Der prominenteste Vertreter der sogenannten L4-Viren heißt Ebola.



Vor allem an tödlichen Viren wie Ebola soll am neuen Robert-Koch-Institut in Berlin Wedding geforscht werden.


Das neue Labor liegt mitten in der Bundeshauptstadt, unmittelbar angegliedert an die größte Isolierstation der Republik auf dem Virchow-Campus der Charité. Es ist als Gebäude im Gebäude angelegt, ein vierstöckiger Kubus im Seitenflügel des Komplexes, der auf drei Etagen ausschließlich Technik beherbergt, eine „Maschine mit ein bisschen Beton drumherum“, wie Reinhard Burger sagt. 80000 Meter Kabel sind darin verlegt, es gibt sogar ein eigenes Blockheizkraftwerk. Das Labor selbst wirkt – abgesehen natürlich von bruchfester Verglasung, einer vollständigen Edelstahlverkleidung, Desinfektionsduschen, Schleusen und belüfteten Gummischutzanzügen – wie ein normales, nagelneues Laboratorium. Es wurde allerdings so angelegt, dass ohne Auszeiten gearbeitet werden kann: Jedes Labor ist doppelt vorhanden. Wird die eine Seite wie vorgesehen jährlich gewartet, kann es auf der anderen weitergehen.

Womit sich die Wissenschaftler im neuen Schmuckstück des Instituts genau befassen werden, darüber halten sich die Beteiligten allerdings ein bisschen bedeckt. Viele Projekte seien noch gar nicht entschieden. Fest steht, die Einrichtung soll sich vor allem an den Aufgaben der Behörde orientieren. Die liegen im Bereich der Seuchenkontrolle und -überwachung. „Das bedeutet für uns, dass wir uns zunächst mit Diagnostik befassen und die Eigenschaften von Erregern untersuchen“, sagt der Laborleiter. Für viele Erreger gebe es zum Beispiel kaum Daten darüber, wie lange sie auf Oberflächen oder in der Umwelt ansteckend bleiben. Zugleich ist klar, dass es bei solch einfach anmutenden Fragen nicht bleiben kann. So können in dem neuen Labor auch genetisch veränderte Erreger untersucht und sogar Keime mit künstlich hinzugefügten Eigenschaften hergestellt werden. Solche „gain of function“-Experimente sind zur Zeit heftig umstritten, nachdem Forscher mithilfe der Genetik extrem gefährliche Grippeviren im Labor erschaffen haben. Kurth kann nicht ausschließen, dass es auch in Berlin „gain of function“-Experimente geben wird. Derzeit stünden sie aber nicht auf der Agenda.

„Mich interessiert, wie Infektionen zum Menschen gelangen“, sagt Kurth, der selbst erst seit vier Jahren in Hochsicherheitslabors arbeitet, aber zusammen mit anderen Forschern in Afrika Tiere gesucht hat, die als Reservoirs für Erreger wie Ebola oder Marburg dienen könnten. Er kann sich deshalb vorstellen, dass in dem kleinen Tierstall des Labors neben Mäusen irgendwann auch exotische Nagetiere oder Fledermäuse einziehen.

Dass das Robert-Koch-Institut nun über eine solche Einrichtung verfügt, ist wohl auch ein politisches Signal an die Behörde, sich nach Jahrzehnten vorwiegend national orientierter Fürsorge zunehmend auch globalen Gesundheitsproblemen zu widmen. So klang es auch am Tag der Einweihung in der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die eine „noch wichtigere Rolle“ Deutschlands in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten wünschte. Und nicht ganz zufällig dürfte die Wahl des zweiten Festredners auf eine der wichtigsten Figuren des internationalen Gesundheitsmanagements gefallen sein: Der amerikanische Epidemiologe David Heymann war für die Seuchenbehörde der USA und die Weltgesundheitsorganisation tätig, erlebte die ersten zwei großen Ebolaausbrüche in Afrika mit und betonte in Berlin ebenfalls Deutschlands Rolle im Kampf gegen Ebola und andere Viren.

Ob das für die Bewohner der Hauptstadt ein Kriterium ist? Andreas Kurth muss sich immer wieder Fragen nach der Sicherheit des Labors stellen lassen. Der Laborleiter hat für die Sorge zwar Verständnis, allerdings gibt er sich überzeugt, dass gerade in diesem neuen Labor für jeden auch nur denkbaren Notfall gesorgt ist: Fällt die Lüftung aus, springt eine zweite an. Gibt es einen Stromausfall, übernehmen die Notstromaggregate. Wird im Labor jemand ohnmächtig, schleppt ihn ein Kollege zur Desinfektion in die Materialschleuse. Verletzt sich ein Mitarbeiter mit einer infektiösen Nadel, gibt es im angrenzenden Virchowklinikum ein Spezialteam, das den Betroffenen versorgt, sobald er desinfiziert und aus dem Schutzanzug befreit ist. „Wir würden dann versuchen, experimentelle Medikamente zu bekommen“, sagt Kurth.


Die Angst davor, dass ein Erreger in die reich bevölkerte Umwelt ausbüxt, teilen die Mitarbeiter des RKI nicht. „Es hat so etwas bislang noch nie gegeben“, sagt Andreas Kurth. Ob das für die Bewohner des Stadtteils Wedding eine Beruhigung ist, muss sich aber zeigen. Bis die ersten Ebolaviren in die blitzblanken Probenschränke des neuen Labors einziehen, dauert es ohnehin noch eine Weile. Zunächst beginnen die technischen Testläufe, danach wird erst einmal mit weniger gefährlichen Keimen der Sicherheitsstufe 2 geprobt. Wenn alles glatt geht, können Kurth und seine Mitarbeiter am Ende dieses Jahres mit den echten Killern loslegen.

Das große Schuldenspiel

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Möglicherweise liegt das Problem darin, dass es in Athen am Sonntag voriger Woche keinen normalen Regierungswechsel gab. Wobei „normal“ bedeutet hätte: Die ausscheidende Regierung bereitet in einer Übergangszeit alles vor, damit das neue Team möglichst reibungslos mit dem Regieren beginnen kann. Tatsächlich lief der Wechsel so ab: Wie bei einer Revolution verließ die Mannschaft des abgewählten konservativen Ministerpräsidenten Andonis Samaras noch am Abend des 25. Januar ihre Büros, die neuen Leute des linken Populisten Alexis Tsipras rückten tags drauf ein. Weil eine Einarbeitungsphase fehlte, hatten die Neuen herzlich wenig Ahnung von den Dingen, die sie erwarteten. Daher ist die Vermutung nicht abwegig, dass der radikale Finanzminister Yanis Varoufakis nicht nur aus revolutionärem Eifer, sondern auch aus Unwissenheit einen Schuldenschnitt für Griechenland forderte und so die Angst vor einer Staatspleite und vor „Grexit“ nährte, dem Ausstieg Griechenlands aus dem Euro.



Der griechische Finanzminister Varoufakis besteht nicht mehr auf einen Schuldenschnitt. Stattdessen legte er zwei pragmatische Vorschläge vor, um das Land wirklich reformieren zu können.

Für die These vom Anfänger-Dilettantismus spricht, dass sich Varoufakis inzwischen sehr viel milder äußert. Nein, er wolle keinen Großkonflikt mit den Gläubigern, er bestehe nicht einmal auf einem klaren Schuldenschnitt. Auf seiner Europatour legte er in London zwei sehr pragmatische Vorschläge vor: Athen wolle neue Anleihen ausgeben, deren Zins an das Wachstum Griechenlands gekoppelt ist. Außerdem sollen Anleihen ohne begrenzte Laufzeit eingeführt werden, sogenannte Ewigkeits-Bonds. Der Financial Times sagte der Minister: „Helft uns, unser Land zu reformieren und gebt uns ein wenig Finanzspielraum, um dies zu tun. Sonst ersticken wir und werden ein deformiertes und kein reformiertes Griechenland.“ Alexander Kritikos, Ökonom beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), meint: „Anleihen, die ans Wachstum gekoppelt sind, könnten tatsächlich der Ausweg aus dem Dilemma sein.“ Wahrscheinlich stammt die Idee von Matthieu Pigasse, dem linken französischen Banker der Varoufakis berät. Die Börsen reagierten jedenfalls erleichtert, die Kurse stiegen.

Momentan hat Griechenland nach Angaben der Regierung in Athen Außenstände von 322Milliarden Euro. Das entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 175 Prozent. Ein Land mit hoher Sparquote und starker Exportwirtschaft könnte so eine Schuldenlast bewältigen. Beides hat Griechenland offenkundig nicht, daher gilt die Staatsschuld Athens allgemein als untragbar. Aus diesem Grund gibt es auch, bei allem Ärger über das zunächst rüpelhafte Auftreten von Varoufakis, eine gewisse Sympathie für dessen Anliegen.

Was dabei meist vergessen wird ist, dass Griechenlands Partner in der Euro-Zone auf die prekäre Lage des Landes längst Rücksicht genommen haben: Sie streckten die Laufzeit der Kredite so weit, dass der Schuldendienst gegenwärtig kaum ein Problem für die griechische Staatskasse darstellen dürfte, aus ökonomischer Sicht jedenfalls. Politisch allerdings hat der Minister die Finanzmärkte mit seinen kühnen Worten in den ersten Tagen so aufgeschreckt, dass Athen zunächst einmal kein Geld auf dem Kapitalmarkt mehr bekommen dürfte. „Der Regierung steht das Wasser bis zum Hals“, sagt Ökonom Kritikos.

Gläubiger der Regierung sind seit 2012 überwiegend öffentliche Institutionen: der europäische Rettungsschirm EFSF mit 44 Prozent, nationale Regierungen (18 Prozent), der Internationale Währungsfonds (IWF) zehn Prozent und die Europäische Zentralbank (EZB). Der Rest sind private Kreditgeber. Größte Gläubigernation ist Deutschland über bilaterale Kredite und den deutschen Anteil am EFSF mit etwa 54 Milliarden Euro. An zweiter Stelle kommt Frankreich mit 40 Milliarden Euro.

Die öffentlichen Gläubiger sind Griechenland bei Zins und Tilgung weit entgegengekommen: Tilgung für die bilateralen Kredite wird erst von 2020 an mit einer Jahresrate von zunächst 706 Millionen Euro fällig, die Tilgung für EFSF-Kredite beginnt 2023 mit 2,3 Milliarden Euro.

Lediglich für den IWF-Kredit werden bereits in diesem Jahr 8,5 Milliarden Euro fällig, was mit der besonderen Rolle des Fonds als Gemeinschaft von 188 Ländern aus der ganzen Welt zusammenhängt. Außerdem werden Anleihen im Wert von 6,7 Milliarden Euro fällig, die meisten davon bei der Europäischen Zentralbank. Diese will Varoufakis durch seine „Ewigkeits-Bonds“ mit unbegrenzter Laufzeit ersetzen. So würde der Athener Staatshaushalt erst einmal geschont.

Auch die Zinsen sind für Athen extrem günstig. Für bilaterale Kredite galt 2014 ein Zinssatz von 0,582 Prozent, beim IWF muss die Regierung 3,77 Prozent an Zins und Gebühren zahlen, für den größten Teil der EFSF-Kredite gilt ein Zinsmoratorium bis 2022.Die niedrigen Zinsen und Streckung der Tilgung kommen faktisch einem Schuldenschnitt gleich, auch wenn die Schuldensumme nominell nicht sinkt. Nicht zu vergessen ist auch, dass Griechenland bereits 2012 von den privaten Gläubigern einen Schuldenschnitt von 107 Milliarden Dollar erhalten hat, was damals ungefähr der Hälfte des griechischen Bruttoinlandsprodukts entsprach. Im Verhältnis ist dies einer der höchsten Schuldennachlässe der Geschichte.

Jetzt geht es allerdings auch um kurzfristige Probleme: Athen hat zur Finanzierung des Haushalts im vergangenen Jahr 14 Milliarden Euro an kurzfristigen Anleihen begeben. Die Anleihen liegen überwiegend bei griechischen Banken; auch einige internationale Hedgefonds haben dort ihr Geld angelegt. Diese Form der Finanzierung dürfte der Regierung Tsipras bis auf weiteres versperrt sein. Griechenlands Banken haben mit anhaltender Kapitalflucht zu kämpfen. Der Zins auf zehnjährige griechische Staatsanleihen, ein Maß für das Vertrauen am Kapitalmarkt, ist seit Mitte Januar von 8,4 auf mehr als elf Prozent gestiegen.

Und dann das Problem der „Troika“. Das Gremium aus EZB, IWF und Vertretern der EU-Kommission, das die im Rahmen der Rettungspakete vereinbarten Reformen überwachen soll, ist unter Griechen verhasst. Es war unter anderem dieser Hass, der zum Wahlsieg der linkspopulistischen Syriza beigetragen hatte. Folgerichtig hatte die neue Regierung als einen ihrer ersten Schritte die Zusammenarbeit mit der Troika gekündigt. Aber was nun?

Klar ist, dass der IWF aufgrund seiner Statuten nur dann einem Mitgliedsland helfen darf, wenn dieses sich auf Reformen einlässt und wenn diese Reformen von Fachleuten des IWF überwacht werden . Das ist ein Eingriff in die Souveränität eines Landes, aber der ist unvermeidbar, wenn dieses Land internationale Hilfe in Anspruch nimmt. Auch die Europäer müssen darauf bestehen, dass ihre Hilfe nicht unkontrolliert vergeben wird. Etliche Experten bleiben sehr skeptisch: „Tsipras will die Schulden loswerden, weil er Zugang zum Kapitalmarkt braucht, um seine Wahlversprechen zu erfüllen“, sagt Commerzbank-Analyst Christoph Weil. Andere trauen Syriza zu, endlich den Kampf gegen die Korruption aufzunehmen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte, die EU-Mitgliedstaaten sollten die neue Athener Regierung unterstützen, indem sie Konten griechischer Steuerbetrüger einfrieren. „Wenn jetzt die neue griechische Regierung ernst macht mit der Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung, dann sollte die gesamte Europäische Union das aktiv unterstützen“, sagte Gabriel der Bild-Zeitung.

Italiens Regierungschef Matteo Renzi geht davon aus, dass die EU und Griechenland im Schuldenstreit eine gemeinsame Basis finden können. Die Bedingungen dafür seien gegeben, sagte Renzi am Dienstag nach einem Treffen mit Tsipras in Rom. Dieser bat um Zeit, damit seine neue Regierung ihre Pläne zur Neuordnung der Wirtschaft und für Reformen vorbereiten könne. Es werde keine neuen Haushaltsdefizite geben.

Ein barbarisches Exempel

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Manchmal abends, bevor sie einschläft, denkt sie, es wäre am einfachsten, irgendein ausländischer Staatsmann würde ihr Land besuchen, ein vernünftiges Wort mit dem König reden und ihren Mann dann mitnehmen, außer Landes schaffen. Aber so leicht, das weiß Ensaf Haidar, ist das nicht: Ihr Ehemann Raif Badawi ist inzwischen mehr als Saudi-Arabiens bekanntester Gesinnungshäftling. Den fragwürdigen Ehrentitel dürfte der Blogger jetzt weltweit tragen. Für das Königshaus ist er zur personifizierten Prinzipienfrage geworden. Das Schicksal Badawis sorgt international für Aufsehen, weniger wegen der vermeintlichen Tat als wegen der realen Strafe. 1000Peitschenhiebe, öffentlich, freitags nach dem Gebet vor der Moschee.

Der Fall ist bekannt. Der 31-jährige Aktivist und Blogger Badawi, der das Königshaus vor gut zwei Jahren mit seinem Internetforum Die saudischen Liberalen herausgefordert und die Macht der islamischen Gelehrten infrage gestellt hatte, soll als verurteilter „Beleidiger des Islam durch elektronische Mittel“ die ganze Härte des Gesetzes spüren. Zehn Jahre Haft, umgerechnet 200000EuroGeldstrafe und eben jene 1000Peitschenhiebe: 20mal 50Schläge, verteilt auf ein gutes halbes Jahr. Ein selbst für saudische Maßstäbe barbarisches Vorgehen, wie nicht nur der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung zu Protokoll gab, nachdem die Strafe am 9. Januar das erste – und bisher letzte Mal – vollzogen wurde. Für Amnesty International war es der Beweis, „dass Saudi-Arabien in erschreckender Weise selbst die grundlegendsten Menschenrechtsprinzipien missachtet“.



Amnesty-Mitglied hält ein Bild des zu 10 Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilten saudi-arabischen islamkritischen Blogger Raif Badawi


Badawis Ehefrau Ensaf Haidar, Menschenrechtler sowie Regierungen weltweit setzen nun auf öffentliches Aufsehen oder diplomatischen Druck, auf Kampagnen, Demonstrationen und Pfeifkonzerte vor Riads Botschaften oder scharfe Erklärungen aus den Hauptstädten. Saudi-Versteher wie die liberale Journalistin Somayya Jabarti hingegen bevorzugen diskrete Gespräche hinter verschlossenen Türen. Sie betrachten die zweimalige Aussetzung der Körperstrafe aus angeblich medizinischen Gründen als gutes Zeichen: Die Regierung öffne sich da erkennbar eine Hintertür, mit der sie sich „gesichtswahrend aus der Affäre ziehen“ könnte. Am Telefon widerspricht Badawis Ehefrau: „Das stimmt nicht. Die Schläge sind nur aufgeschoben worden, sie sind nicht aufgehoben.“

Derzeit jedenfalls herrscht Stillstand. Wie es Badawi wirklich geht, weiß keiner so richtig. Ab und an ruft der Häftling seine Ehefrau aus dem Gefängnis an, „es sind Gespräche von zwei, drei Minuten. Er sagt mir, dass es ihm nicht gutgeht, er leidet an hohem Blutdruck. Natürlich ist er von den Peitschenhieben verletzt. Aber er spricht nicht darüber.“ Die Ehefrau, die mit ihren drei Kindern inzwischen in Kanada lebt und dort Asyl sucht, sagt, man habe der saudischen Botschaft 100000Unterschriften für einen Gnadenerweis geschickt: keine Antwort, kein Resultat. „Ich bin nicht optimistisch, dass Raif freikommt.“

So spricht alles dafür, dass an dem widerspenstigen Blogger ein Exempel statuiert wird, eine Warnung an die internetaffine Jugend in einem Land, in dem 70Prozent der Menschen jünger als 30Jahre alt sind. Schon Saudi-Arabiens kürzlich verstorbener König Abdullah, der im Ruf des vorsichtigen Reformers stand, hatte dem heute 31-jährigen Blogger und Macher der Saudischen Liberalen keine Gnade erwiesen. Das Wort „liberal“ hat in der arabischen Welt einen üblen Beiklang. In den Augen vieler steht es für Säkularismus und damit für Gottlosigkeit. Beim Prozess hat das dann auch eine Rolle gespielt, aus Sicht hartleibiger saudischer Prediger und Islamgelehrter hätte Badawi noch härter bestraft werden müssen. Der junge Aktivist habe Christen, Juden und Muslime gleichgestellt, den Überlegenheitsanspruch des Islam infrage gestellt. Das, so die Richter, komme einer Infragestellung des Islam insgesamt gleich, worauf die härtesten Strafen stünden bis hin zum Tod.

Dass sich die vollständigen Protokolle des Badawi-Blogs nach mehr als zwei Jahren im Internet nicht mehr auffinden und die angeblich gotteslästerlichen Äußerungen sich daher nicht zweifelsfrei belegen lassen, scheint die Richter wenig gestört zu haben. Ebenso, dass Badawis Kritik offenbar nicht der Religion selbst, sondern der in ihrem Namen gemachten Politik gegolten hat: Er soll die mächtigen Religionsgelehrten kritisiert haben, die in Saudi-Arabien weniger über einen zeitgemäßen Islam nachdenken als darüber, wie sie ihre puritanischen Moralvorstellungen als gottgewollt verkaufen können. So trügen sie bei zum Machterhalt des Königshauses.

Wohl deshalb hatte der gerade verstorbene König Abdullah zugelassen, dass der Körperstrafen-Teil des Urteils vollzogen wird. Der König lag da schon auf dem Sterbebett, entschieden haben werden demnach andere. Der als Scharfmacher und Anti- Terror-Kämpfer bekannte Innenminister Mohamed Bin Naif etwa, die undurchsichtige Entourage am Hof, die Geistlichen natürlich.

Politik im Königreich am Golf ist weniger ein Geben und Nehmen als ein ewiges, ziemlich bigottes Tarieren, ein Verschieben vermeintlich islamischer Gewichte und Gegengewichte. Eine Uni für die Frauen hatte König Abdullah gebaut, trotz Protesten ein Post-Graduate-Institut dazu, in dem Frauen und Männer gemeinsam forschen. Das Autofahren hat er den Frauen dennoch beharrlich verweigert, es ist der ewige saudische Balanceakt, das Perpetuum Mobile einer sich gelegentlich selbst karikierenden Reformpolitik mit ihren dauernden Zugeständnissen an die Konservativen. Badawi könnte leicht als nützliches Gegengewicht im Bemühen um minimale Reformen und die versuchte Modernisierung von oben enden: ein Bauernopfer zur Beruhigung der Hardliner, falls denn auch der neue König Salman wirkliches Interesse an einer Fortsetzung der ultralangsamen Reformpolitik Abdullahs hat.

Alle Hoffnung knüpft sich jedenfalls an den Nachfolger auf dem Thron, den ebenfalls greisen Salman. Der neue Herrscher kann zum Amtsantritt eine Amnestie für Hunderte Häftlinge aussprechen, solch termingerechter Großmut hat Tradition im Königreich. Badawis Ehefrau hat den Monarchen über die BBC bereits wissen lassen, dass er doch bitte einen Gnadenerweis aussprechen soll. Passiert ist bisher wenig. Salman soll zwar eine generelle Amnestie eingeleitet haben, ob auch Badawi darunter fällt, ist aber unklar.

Einiges spricht dagegen. Seit Salman den Thron bestiegen hat, sind mindestens drei Menschen hingerichtet worden, öffentlich, geköpft mit dem Schwert. Die mittelalterliche Exekutionsmethode wird seit Jahren weltweit angeprangert, was die Saudis nicht weiter schert. Eine Abkehr vom Gebrauch der Körperstrafen, ob mit der Peitsche oder dem Henkersschwert, sähe jedenfalls anders aus als gleich drei Hinrichtungen in nur einer Woche unter dem neuen König.

Die Hoffnung auf Gnade für den Internetaktivisten Badawi hält sich also in Grenzen. Innenminister Naif, bekannt für Härte gegenüber Aktivisten, Dissidenten und Freigeistern, ist durch den Thronwechsel noch mächtiger geworden. Und der Prinz – in diesem Land sind alle Spitzenpolitiker Prinzen – hat mit dem Blogger möglicherweise sogar eine Rechnung offen, indirekt jedenfalls. Badawis Anwalt beim Prozess wegen der angeblichen Islam-Beleidigung war der bekannte Menschenrechtler Walid Abulkheir – und der ist mit Badawis Schwester Samar verheiratet. Der Anwalt steht seit Jahren selbst für den gelebten Ein- und Widerspruch, er sitzt derzeit ein, verurteilt zu 15 Jahren Haft.

Möglicherweise sieht der saudische Staatsapparat in der Badawi-Familie inzwischen eine regelrechte Dissidentensippe, als seien die unterschiedlichen Fälle ein Paket. Denn auch auf Badawis Schwester Samar wird der Polizeiminister schlecht zu sprechen sein: Sie hatte den Innenminister in ihrer Rolle als Menschenrechtsaktivistin zu verklagen versucht – wegen seines Vorgehens gegen autofahrende Frauen.

Fünf Songs für den Mittwoch

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Natalie Prass – Bird of Prey

https://www.youtube.com/watch?v=h50Q47W80ao

Ist das was Hormonelles? Oder hat es mit dem Wetter zu tun, dass wir Anfang Februar für so wolligen Seventies-Pianopop superempfänglich sind? Als diese Dame jedenfalls Mitte letzten Jahres mal auf ein paar Empfehlungs-Listen auftauchte, war sie uns noch wi-wa-wurscht. Jetzt ist ihr Album da, und auf einmal würden wir doch ganz gern eine große Schale Milchkaffee im Takt auf dem Schoß wiegen. Oder einen kleinen Eisbären.

Heinz Strunk – Geht ja gar nicht

https://www.youtube.com/watch?v=WSKGdG0Lcd0

Schluss mit der Starbucks-Stimmung, es geht vier Stufen die Eskalationstreppe nach oben. Hier, zack, neuer Song von Heinz Strunk, der auf anderthalb Minuten beweist: Die Formel „XY geht gar nicht“ ist so universell anwendbar wie ein Stück Knete (hatten wir ja schonmal angemerkt). Und außerdem, wie dringend es nötig war, dass endlich mal jemand ein Video in der Ästhetik von Die Antwoord in Deutschland dreht. Applaus!

Death Cab For Cutie – Black Sun

https://www.youtube.com/watch?v=3zlHvrKQoJw

Puha, wo sollen wir anfangen? Vier Gründe, dieses Live-Video zu klicken:


  1. Die neue, sehr solide Single der Band, die ich früher gern als große Brüder gehabt hätte.

  2. Die Frisur des Sängers, die sich erstaunlich nah an Placebo-Frontmann Brian Molko rangescheitelt hat.

  3. Die lustigsten Gesten, mit denen je ein Musiker den Titel eines Albums erklärt hat.

  4. David Letterman.

Olli Schulz – Phase

https://www.youtube.com/watch?v=oJTlNHGLmjU

Das System Olli Schulz ist ja nun wirklich von allen Seiten ausgeleuchtet. Deshalb hier mit der ersten Album-Auskopplung (zu der es jetzt endlich auch das Video gibt) nur nochmal der Beweis, dass schon stimmt, was alle sagen: Es schreibt zur Zeit einfach wirklich keiner so beschwingte Songs über die schwindeltiefen Fugen zwischen Mensch und Mensch. Und: Palina kann schauspielen!

Kante – Lied von der Zuckerfabrik

https://soundcloud.com/kantemusik/01-lied-von-der-zuckerfabrik

Obacht: Gitarrenband. Alte Hamburger Schule. Schreibt Songs fürs Theater. Macht Album draus. Wie klingt das? Bisschen nach Umhängetasche und Reclam-Heft, gell? Dachte ich auch, bin aber nun umgestimmt. Das neue Kante-Album, ab dieser Woche erhältlich, geht straight an der Nahtkante zwischen Rock’n’Roll und Artsy-Fartsyness entlang. Ohne irgendwo zu tief reinzutapsen. Well done!

Jünger, rechter und die Zukunft der AfD

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Seit der Parteigründung vor zwei Jahren setzt sich der junge Parteienforscher David Bebnowski mit dem Phänomen AfD auseinander. Unter dem Titel „Wettbewerbspopulismus. Die Alternative für Deutschland und die Rolle der Ökonomen“ beantwortet er in einer Studie die Frage: Welche ideologische, politische und personelle Konstellation sorgte dafür, dass die AfD entstehen und sich etablieren konnte? Außerdem forscht Bebnowski am Göttinger Institut für Demokratieforschung zu politischem Engagement, Generationen und widmet sich dabei auch der nachwachsenden Generation in der AfD.


David Bebnowski, Demokratieforscher an der Uni Göttingen



jetzt.de: Vergangenes Wochenende war der Parteitag der AfD in Bremen. Unter den Zuschauern waren auffällig viele junge Leute. Trotzdem gilt die AfD als Rentnerpartei. Was ist denn jetzt richtig?
David Bebnowski: Die AfD unterscheidet sich vom Durchschnittsalter der Mitglieder kaum von den Volksparteien. Ziemlich wahrscheinlich sind die Mitglieder sogar noch ein Stück älter. Als Besonderheit kommt bei der AfD allerdings hinzu, dass sie ihre Jugendorganisation offiziell nicht anerkennt. Die Junge Alternative (JA) darf also vorpreschen, ohne dass es die Gesamtpartei bei krassen Tabubrüchen zu sehr belastet. Das ist Strategie.

Die Junge Alternative gilt als noch rechter als die AfD. Sie fordert beispielsweise eine radikalere Auflösung der Europäischen Union. Warum ist das so?
Alle Jugendorganisationen von Parteien schießen tendenziell über das hinaus, was die offizielle Partei macht – das ist auch in der AfD so. Das zeigt aber auch, wo die Zukunft und das Potential der AfD liegen.

Und diese Positionen verfangen sich vor allem bei jungen Menschen?
Offenbar. Vielleicht finden es jüngere Leute auch normaler, an angeblichen politischen Tabus zu kratzen. Für die AfD ist das Fluch und Segen zugleich. Segen, weil man sieht, dass da Leute sind, die das noch weiter treiben könnten und Fluch, weil da teilweise auch wirklich Rechte dabei sind. Es ist teilweise schon sehr problematisch, was da in die Partei und die Landtage strömt.

Forderungen wie "zurück zur D-Mark" klingen von einer Jugendorganisation, bei denen viele die D-Mark kaum noch erlebt haben, kurios. Warum ist der Jungen Alternative das Thema wichtig?
Die Sache mit der D-Mark ist eine Position, die sonst nirgendwo in der deutschen Parteienlandschaft zu finden ist, weil sie stark provoziert und das ist es, was die JA will. Vor allem spielt sie da mit klaren Symbolen, die für ein vermeintlich gutes und funktionierendes Deutschland stehen – also ein vertrautes und unabhängiger, souverän wirkendes Deutschland. Das ist eine Forderung, mit der man ein rechtskonservatives Spektrum auch gut anspricht.


"Menschen abzuwerten ist gesellschaftsfähig geworden."


Friedrich, der Sohn von Parteigründer Bernd Lucke, hat mit sechs Kommilitonen an der Uni Freiburg eine Hochschulgruppe gegründet und wirbt um AfD-Mitglieder. Sind Studenten potentielle AfD-Mitglieder?
Momentan sind AfD-Hochschulgruppen noch die Ausnahme, aber das muss nicht so bleiben. Es ist ja längst nicht mehr so, dass die meisten Studenten eher links sind.



Trotzdem bekommt Friedrich Lucke in Freiburg Gegenwind...
Na klar, ich kann mir schon denken, dass die AfD an der Hochschule noch sehr viel stärker bekämpft wird. Es ist ja doch auch ein Tabu. Das Interessante an der ganzen Sache ist aber, dass die AfD das gar nicht braucht, um junge Leute zu bekommen. Es deutet sehr viel darauf hin, dass aus den rechten Burschenschaftsmilieu jetzt schon viele junge Leute die AfD unterstützen. 

Man vermutet ja ersteinmal, dass sich in der AfD vor allem Studenten aus wirtschaftsorientierten Studiengängen engagieren. Ist das tatsächlich so?
Was man seit der Parteigründung sieht ist, dass jüngere Leute recht häufig aus der erwähnten Fachrichtung kommen. Es gibt aber auch die Philosophen, Geschichtswissenschaftler und andere Absolventen. Auch das deutet auf ein generelles Erstarken des Konservatismus über alle möglichen Fächer hin.

Heißt das, die Partei ist gesellschaftsfähig geworden?
Das wird sich zeigen. Ganz nüchtern könnte man sagen, es ist wünschenswert, wenn eine neue Partei eine Repräsentationslücke in Politik und Gesellschaft schließt. Das darf man auch wirklich nicht als irrational oder verrückt interpretieren, sondern so, dass es Gründe gibt dafür, dass man mit Europa, dem deutschen Parlamentarismus und den etablierten Parteien unzufrieden ist. Es ist allerdings schon ziemlich traurig, dass es mit der AfD ausgerechnet eine rechte Partei ist, der es gelingt, das zu artikulieren und nutzen. Denn es bedeutet dann, dass es zumindest gesellschaftsfähiger geworden ist, Menschen abzuwerten.

Da muss Spezi rein!

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Es gibt in München eigentlich nur zwei Gewissheiten. Erstens: Die Isar fließt von Süden nach Norden. Zweitens: Alle Münchner mögen Spezi. Kein Getränk schweißt mehr zusammen, denn außerhalb Bayerns ist das Spezi nur schwer zu bekommen. Auf Münchner Facebook-Seiten oder Instagram-Accounts sind Spezifotos deshalb Like-Magneten. Und im Gegensatz zum Hellen, dem anderen Münchner Getränkeklassiker, passt ein Spezi in jeder Lebenslage, in jedem Alter und zu jeder Uhrzeit (Übrigens: Über die Frage, ob es der, die oder das Spezi heißt, konnte sich die Redaktion nicht einigen. Aus Neutralitätsgründen haben wir uns für das Neutrum entschieden.).





Nur eines hat uns gewundert: Warum gibt es, obwohl die Münchner doch ihr Spezi so lieben, quasi keinen ordentlichen Spezi-Drink? Was alleine schon so grandios schmeckt, muss doch auch in Mixgetränken brillieren! Was so viel Münchner Seele in sich trägt, muss doch die Barkeeper der Stadt inspirieren!
 
Wir haben den Mangel erkannt und beschlossen, ihn zu beheben. Dazu haben wir ein paar der besten Barkeeper Münchens besucht und ihnen eine Aufgabe gegeben: Erfindet uns einen Drink mit Spezi. Die Ergebnisse, das sei schon verraten, waren überraschend und geschmacklich ziemlich grandios. Und die Recherche hat ganz nebenbei noch den ultimativen Beweis erbracht, dass Spezi das beste Getränk des Planeten ist. Selbst wenn man so viele Spezidrinks getrunken hat, dass man mit einem ordentlichen Kater aufwacht, wünscht man sich in der Früh nichts sehnlicher als: ein kaltes Spezi.

Klaus St. Rainer, Die Goldene Bar: „Minga 75“





Die erste Station ist die Goldene Bar. Denn wenn’s hier nicht klappt, dann gar nicht. In der Goldenen Bar können Kunstkenner im Anzug und Eisbachsurfer in Badehose nebeneinander sitzen. Der Chef, Klaus St. Rainer, hat früher bei Charles Schumann gearbeitet, trägt aber (unter anderem) ein 1860-Tattoo auf dem Unterarm. Zur Begrüßung stellt er erst mal einen Steinkrug auf die Theke. Eis rein, Spezi drauf, ein paar Tropfen „Sexy Bitters“ (die hauseigene Variante des Bitterlikörs Angostura, den viele Barkeeper benutzen) und frische Orange. „Das ist der Sexy-Spezi, den haben wir schon auf der Karte“, sagt er. Einen richtigen Drink will er sich aber auch einfallen lassen.
 
Er überlegt kurz, erklärt die Aufgabe seinem Kollegen an der Bar, woraufhin aber erst mal ein allgemeines Gespräch über die Großartigkeit von Spezi beginnt. Dabei fällt der Satz, der Klaus die Idee liefert: „Spezi ist der bayerische Champagner.“ Und dann geht alles ganz schnell: „Wir machen einen Minga 75, also eine Variante des French 75. Das ist ein Cocktail-Klassiker aus den Dreißigerjahren: Gin, Zitronensaft, Zuckersirup, zwei Spritzer Bitters. Eigentlich füllt man dann mit Champagner auf. Aber wir nehmen stattdessen Spezi.“
 
Den ersten Versuch schüttet Klaus in ein Sektglas. Mit dem Geschmack ist er zufrieden – frisch, der Gin kommt durch, das Bittere passt sehr gut zu der Orangennote des Spezi – nur „die Farbe ist halt echt schlimm“. Für einen Barkeeper zählt eben auch die Optik. Aber auch dafür hat Klaus eine Lösung. Er verschwindet kurz im Keller und kommt mit einer Kiste goldener Kelche zurück. Gold schlägt braun. Hier natürlich erst recht.




Rezept „Minga 75“


3 cl Duke Gin
2 cl frischer Zitronensaft
1 cl Zuckersirup
2 Spritzer Sexy Bitters (alternativ: Angostura)
Shaken, auf Eis in den Silberkelch,
mit Paulaner Spezi auffüllen


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Stefan Gabanyi und Jörg Krause, Bar Gabanyi: „Deer’s Neck“





„Eins sag ich dir gleich: Bei uns wird das pure and simple.“ Stefan Gabanyi ist kein Freund von zu viel Schnickschnack. Er mag seine Bar dunkel und seine Drinks ohne Schäumchen und Chichi. Gabanyi, der aussieht wie eine Mischung aus Lemmy Kilmister und Abraham Lincoln, berät sich mit seinem Barkeeper Jörg Krause in Sachen Spezi. Seiner Stimme hört man an, dass er sich seit 20 Jahren intensiv mit Whiskey beschäftigt, immer wieder dringen Satzfetzen über den Tresen. Von einem Spezi-Sirup ist die Rede und davon, dass man damit eine Variante eines Old Fashioned machen könnte. Dann vertagt man sich. Ein paar Tage später hat er genug experimentiert:
 
Auf dem Tresen steht ein Longdrink-Glas, darin eine Orangenschale, Eis und eine dunkle, prickelnde Flüssigkeit. Gabanyi zählt die Zutaten auf: „Spezi, Jägermeister und zwei Spritzer Chocolate Bitters.“
 
Jägermeister und Spezi? Die Kombination klingt ein bisschen, als hätte jemand auf einer WG-Party die allerletzten Reste zusammengeschüttet. Sie schmeckt aber um Galaxien besser als man denkt: erstaunlich erfrischend, die derbe Kräutersüße des Jägermeisters ist im Hintergrund verschwunden, stattdessen überrascht ein bisschen Schoko-Aroma. „Die Kräuter geben die Verbindung. Es muss da zwischen den Kräutern im Spezi und im Jägermeister irgendeine Überschneidung geben“, sagt Gabanyi. Deshalb funktioniere der Drink so gut. Außerdem passe so ein vergleichsweise simpler Longdrink gut zum Spezi: „Spezi ist ja der Münchner Durstlöscher.“
 
Gekommen sei die Idee seinem Kollegen Jörg Krause, erzählt Gabanyi. Als sie den Sirup für den eigentlich geplanten Old Fashioned mit Whiskey gemischt hatten, habe die Mischung nicht genug nach Spezi geschmeckt. „Dann ist uns aufgefallen: Das hat was von Jägermeister.“ Der Name ist an einen Longdrink-Klassiker namens Horse’s Neck angelehnt. Wegen des Jägermeister-Etiketts ist aus dem Pferde- eben ein Hirschnacken geworden.




Rezept „Deer’s Neck“


Eis und Orangenspirale ins Glas
4 cl Jägermeister
2 Spritzer Chocolate Bitters
Mit Spezi auffüllen, umrühren


[seitenumbruch]

Emanuele Ingusci, Barroom: „Kingston Lemonade“






Emanuele Ingusci zu fragen, ob er einen Drink aus Spezi mixen würde, kostet Überwindung. Sein Barroom ist zwar keine 30 Quadratmeter groß, aber man findet hier so viel geballte Cocktail-Ernsthaftigkeit wie sonst wahrscheinlich nirgends in München. Drinks mixen ist hier Präzisionsarbeit, da wird keine Sekunde kürzer in einem Glas gerührt, als es das Rezept vorsieht. Wer will, bekommt eine Beratung, deren Genauigkeit man sich bei komplexen Aktienkäufen wünschen würde. Bestellt man etwa einen speziellen Lavendel-Drink, weist einen der zweite Barkeeper höflich darauf hin, dass man Bescheid geben solle, wenn das Lavendelaroma überhandnehme. Er werde „den Drink dann korrigieren“. Ob man hier etwas mit Spezi anfangen kann?
 
Man kann. Barkeeper-Ehre. Manuele sagt, er werde sich was einfallen lassen. Ein paar Tage später stellt er eine Blechdose auf den Tresen. „Das ist eine Kingston Lemonade.“ Kingston? Was hat Spezi bitte mit Jamaika zu tun? Nichts. „Aber die Basis des Drinks ist weißer Jamaika-Rum“, sagt Emanuele. „Und auf der Insel habe ich oft erlebt, dass die Leute aus allen möglichen Gefäßen trinken – abgeschnittene Plastikflaschen, Kanister oder eben Dosen. Der Name passt also auch zur Optik.“ Die weiteren Zutaten: Limettensaft und ein bisschen Triple Sec, weil der Orangenlikör gut zum Spezi passt.
 
Emanuele ist zufrieden mit seiner Kreation, vor allem im Vergleich zum ersten Versuch: „Ich hatte diesen Karibik-Gedanken und habe zuerst versucht, Spezi mit Kokosmilch zu mischen.“ Er verzieht das Gesicht. „Grausam! Und sah auch wirklich scheiße aus.“ Jetzt erinnert der Drink ein bisschen an Cuba Libre, schmeckt aber raffinierter. Und er hat tatsächlich Limonaden-Charakter: Passt sehr gut zu heißen Tagen auf schattigen Terrassen. Wahrscheinlich sogar aus Blecheimern.




Rezept „Kingston Lemonade“


5 cl weißer Jamaica Rum
2 cl frischer Limettensaft
2 cl Triple Sec
Shaken, auf Eis in eine Blechdose,
mit Spezi auffüllen,
mit Limetten- und Orangenzesten garnieren



[seitenumbruch]

Lukas Motejzik, Zephyr: „Spezel“





Im Zephyr dauert es am längsten, bis das Rezept für den Spezi-Cocktail feststeht. Das liegt aber daran, dass Lukas Motejzik zu viele Ideen hat und immer noch eine weitere Variante ausprobiert. Das passiert schnell in dem Laden. Lukas mixt seine Drinks sonst gerne mit Popcorn, gibt ihnen Schaumdeckel oder serviert sie in einer Papp-Box, wie man sie vom Asia-Take-Away kennt. Hinter der Bar stehen mehr Früchte und Kräuter als in vielen Küchen. Alle paar Minuten röstet Lukas mit einem Bunsenbrenner Thymianzweige.
 
Jetzt verschwindet er kurz im Hinterzimmer und kommt mit einem kleinen Fläschchen wieder. „Ist noch warm“, sagt er und stellt es auf der Bar ab. „Das ist das Spezel-Cordial“ – ein Sirup, gekocht aus Spezi, Zucker, Zitronensäure und Zimt. Und damit beginnt die Versuchsreihe. Es scheint, als wolle Lukas sein Spezi-Cordial einmal mit jeder Alkoholsorte probieren, die er im Regal hat: mit weißem Rum und Limettensaft – gut. Mit braunem Rum, Limettensaft und etwas Bitterem – auch gut. Mit Tequila, Limettensaft und Salzrand am Glas – erst ziemlich heftig wegen des Salzes. Dann aber auch gut. Dann was ganz anderes: Pimm’s, ein Kräuterlikör auf Gin-Basis, Zitronenschaum und Spezi – auch sehr gut, aber auch sehr sauer.
 
Letztendlich entscheidet Lukas sich für eine Mischung aus den letzten beiden Varianten: Er mischt Tequila Anejo mit Pimm’s, seinem eingekochten Spezi-Cordial und Limettensaft. Der Drink sieht ziemlich edel aus. Geschmacklich unterscheidet er sich von den anderen vor allem dadurch, dass er nicht prickelt, weil das Spezi eingekocht wurde. Dadurch schmeckt der Drink auch, als sei er etwas stärker. Der Rest ist schwer zu beschreiben, weil sich ziemlich viele Aromen anschleichen, ohne dass eines sich nach vorne drängt. Zusammen sind sie auf jeden Fall verdammt köstlich.




Rezept „Spezel“


4 cl Tequila Anejo
2 cl Pimm’s N° 1
3 cl Schwipp-Schwapp-Cordial (dafür Spezi, Zucker,
Zitronensäurepulver und eine Zimtstange
circa 15 Minuten zu einem sauren Sirup einkochen)
1 cl Limettensaft
Shaken und mit Zimtstange und
Orangenzeste auf Eis servieren

Im Zweifel für die Löschung

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Der „Lösch-Beirat“ des Internet-Konzerns Google hat nach sechsmonatiger Arbeit seinen Berichtsentwurf zum „Recht auf Vergessenwerden“ geschrieben. Die Experten plädieren mehrheitlich dafür, Anträge auf Löschungen großzügiger als bisher zu handhaben. Bisher wurden sechzig Prozent der 205 000 Löschanträge abgelehnt, die Bürger in Europa seit dem Google-Urteil des EU-Gerichtshofs gestellt haben. Die Richter in Luxemburg gaben den Nutzern von Google im Mai 2014 ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre und einen Anspruch auf die Löschung von Links zu falschen oder kompromittierenden Daten. Die acht Experten, die Google deswegen sodann als Berater berufen hatte, begrüßen nun das Urteil mehrheitlich als wegweisend. Sie sprechen von einem Recht auf Geschütztsein im Internet und von einem Recht auf Verstecktsein vor der Suche im Netz. Nur einer der acht Sachverständigen äußert im Bericht ausdrücklich Protest gegen ein solches Recht: Jimmy Wales, der Mitbegründer von Wikipedia.



Google erstellt einen Leitfaden für die Entfernung von Daten aus dem Internet - bisher wurde der Großteil der Anträge zur Löschung von Daten abgelehnt.

Uneinig sind sich die Experten allerdings über die Reichweite des Löschungsanspruchs: Sie plädieren mehrheitlich dafür, dass bei einem Anspruch auf Löschung von Links nur die Links auf EU-Domains gelöscht werden, wie es seit dem Luxemburger Gerichtsurteil schon Praxis bei Google ist. Die Löschung betrifft also nur die europäische Variante der Suche, also zum Beispiel Google.de oder Google.fr.

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) als deutsches Beiratsmitglied legt dazu ein abweichendes Votum vor: Sie fordert, dass Google „global für alle Domains“ löschen muss. Sie erklärt: „Wenn ich bei der Google-Suche in Europa über Google.com die Artikel wiederfinde, auf die sich der Löschungsanspruch bezieht, wird der Anspruch umgangen“. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch die sogenannte Artikel-29-Datenschutzgruppe, die vor 20 Jahren als Beratungsgremium der EU-Kommission für Fragen des Datenschutzes eingesetzt wurde. Google ist aber strikt gegen einen so umfassenden Löschungsanspruch, weil er Auswirkungen auf den amerikanischen Markt hätte. Leutheusser-Schnarrenberger fordert den EU-Gesetzgeber auf, sich mit dieser Frage zu befassen.

Die acht Experten, die Google nach dem Urteil des EU-Gerichtshofs bestellt hatte, sollten unter anderem eine Art „Lösch-Leitfaden“ ausarbeiten, also Regeln und Empfehlungen zum Vorgehen bei komplizierten Löschanträgen. Seit dem Urteil stellt der Suchmaschinenkonzern ein Online-Formular zur Verfügung, mit dem Bürger beantragen können, Suchergebnisse aus dem Index zu nehmen. Der Experten-Beirat empfiehlt nun ein verbessertes Formular. Zudem sollen die Entscheidungen von Google über die Löschung differenzierter werden. Google soll sich auch nicht mehr, wie bisher üblich, für ein angebliches Interesse auf Information entscheiden. Es soll, so die Berater von Google, im Zweifel nicht gegen, sondern für die Löschung entschieden werden.

Klare Kriterien, die jeweils für oder gegen Löschung sprechen, stellen die Experten nicht auf. Es komme auf die Gesamtbewertung an: Bei der Abwägung soll unter anderem eine Rolle spielen, ob der Antragsteller die Information selbst preisgegeben hat. Der Zeitfaktor soll besonders bedeutsam sein: Je älter die Information, umso gewichtiger sei der Löschungsanspruch. Personen des öffentlichen Lebens sollen sich jedoch nicht so leicht reinwaschen können. Auch bei einer tatsächlich richtigen Berichterstattung soll es nach Meinung des Beirats ein Löschungsrecht geben – wenn die Fakten nicht mehr aktuell, nicht mehr relevant oder sehr privat sind. Eine Privatperson solle nämlich nicht ein Leben lang mit einem negativen Ereignis in Verbindung gebracht werden. Der „Gedanke des Rechts auf eine zweite Chance“ habe, so Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, bei den Beratungen des Gremiums eine wichtige Rolle gespielt. Der eigentliche Text wird freilich nicht gelöscht, er bleibt auffindbar; gelöscht werden nur die Links, die Hinweise auf diesen Text.

Bisher informiert Google bei jeder Löschung den Betreiber der betroffenen Seite, die Redaktion oder den Webmaster. Diesen Automatismus lehnt der Experten-Beirat ab. Es müsse darauf geachtet werden, dass mit der Information über die Löschung nicht noch einmal das Datenschutzrecht missachtet werde – und der Seitenbetreiber also nicht noch einmal mit der Nase auf die inkriminierte Information gestoßen werde. Bei Google sind seit dem Urteil des EU-Gerichtshofs 205 000 Anträge auf Löschung eingegangen, vierzig Prozent davon wurde stattgegeben. Aus Deutschland kamen 35 000 Löschanträge, die Hälfte davon war erfolgreich. Das sind – bei 500 Millionen EU-Bürgern – weniger Löschanträge als erwartet. Nach einem „ersten Ansturm“, so Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, „pendelt sich das ein“. Sie plädiert dafür, dass Google für strittige Fälle eine unabhängige Schlichtung einführt, um dem Bürger eine Klage zu ersparen.

Das Google-Gremium hat von August bis November in sieben europäischen Städten Experten angehört. Diese Runden wurden zum Teil von Eric Schmidt, dem früheren Google-Chef und jetzigen Verwaltungsratsvorsitzenden des Konzerns moderiert; in Deutschland fand die Anhörung in Berlin statt. Auf dieser Basis und nach weiteren internen Beratungen in London wurde der Berichtsentwurf verfasst, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Der Bericht soll das künftige Verhalten von Google bei Löschanträgen lenken und leiten.

Dem unentgeltlich arbeitenden Gremium gehörten neben Leutheusser-Schnarrenberger der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, Frank La Rue an, des weiteren Luciano Floridi, Professor für Informations-Ethik in Oxford, die frühere Le-Monde-Chefin Sylvie Kauffmann sowie der frühere spanische Datenschutzbeauftragte José-Luis Pinar, die polnische Juristin Lidia Kołucka-Żuk, Beraterin des früheren polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk; sowie Peggy Valcke, Professorin für Medienrecht an der Uni Leuven.

Jimmy Wales, Mitbegründer von Wikipedia und Mitglied des Gremiums, sprach sich in den Beratungen immer wieder grundsätzlich gegen Löschansprüche aus. In seinem Sondervotum zum Bericht des Lösch-Beirats äußerst er sich unglücklich über die vom EU-Gerichtshof geschaffene Rechtslage. Er fordert das Europäische Parlament auf, den, wie er meint, sehr schlechten europäischen Rechtszustand zu verbessern und der Meinungsfreiheit mehr Gewicht zu geben. Bis dahin müsse man dem EU-Gerichtshof Folge leisten.


Tagesblog - 5. Januar

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11:57 Uhr Entschuldigung, wir waren kurz eingenickt. Weiter geht es schon wieder mit verrohter Versextheit, nämlich der Urmutter aller Internet-Quatsch-Linksammlungen: unserer Topsexliste.

[plugin imagelink link=" [plugin imagelink link="http://i.kinja-img.com/gawker-media/image/upload/s--OZfZRCOW--/lc7zlqhcq9xnsleuf5zz.gif" imagesrc="http://i.kinja-img.com/gawker-media/image/upload/s--OZfZRCOW--/lc7zlqhcq9xnsleuf5zz.gif"] Donnerwetter, was ist denn hier los? Nur 2015, Leute. Nur eine Szene aus der Serie Girls.

09:10 Uhr
Aufwachen, Freunde. Und ans Rumhängen am Pool denken. Das hebt die Laune. Passend dazu: Ein Pool-Video von Sports Illustrated. Das Sportmagazin featured zum ersten Mal Durchschnittskörperformen. Kann man über den verdrehten Begriff "Plus Size" und die klischeehafte Aufmachung des Videos meckern soviel man will, ich finds super.

http://www.youtube.com/watch?v=ZbNiuwnyGNk

"So viel Angst"

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Man kann mit Friedrich Stapf reden, aber er lässt sich nicht mehr zitieren. Kein Kommentar. Das war nicht immer so, im Gegenteil: Es gab Zeiten, da hat er sich geradezu inszeniert. Schöne Frauen, teure Jachten, schnelle Autos, eine Art Playboy-Arzt zeigte sich Ende der Neunzigerjahre in der Öffentlichkeit. In einer Talkshow erzählte er vom Unfall mit seinem Mercedes SL 500, den er überlebte, und sprach von den „vielen Tausend Schutzengeln“, die über ihn wachten. Er spielte auf seinen Ruf als „Engelmacher“ an: als Spezialist für Abtreibungen.



Der bekannte Abtreibungsarzt Friedrich Stapf findet in Stuttgart keine neue Immobilie mehr für seine Klinik und muss nun schließen.

Ein Mann, der von Abtreibungen gut lebt und dies seinen „Traumberuf“ nennt: der ist für Abtreibungsgegner eine einzige Provokation. Aber Stapf nahm immer für sich in Anspruch, im Namen der Frauen zu handeln. Er beriet Politiker bei der Reform des Paragrafen 218, er klagte vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen das bayerische Gesetz, mit dem die CSU die Hürden vor einer Abtreibung erhöhen und Spezialkliniken lahmlegen wollte. Und stets wurde ihm bescheinigt, in seinen Kliniken würden die Frauen respektvoll behandelt. Nun aber will Stapf nur noch seinen Anrufbeantworter in Stuttgart für sich sprechen lassen: „Da wir auf dem freien Mietmarkt keine Räume für unsere Klinik finden konnten und da die Stadt sich nicht in der Lage gesehen hat, uns andere Klinikräume zur Verfügung zu stellen, ist die Klinik Stapf leider ab 31. Januar 2015 endgültig geschlossen.“

Die Aufregung ist groß in Stuttgart. Friedrich Stapf, 68, betreibt seine Klinik hier bereits seit 1991, es ist die größte in Baden-Württemberg. Erst 1993 konnte Stapf, gegen den Widerstand der CSU, in München seine Arbeit aufnehmen. In Stuttgart nimmt Stapf nach eigenen Angaben jährlich 2200 Abtreibungen vor, ein Fünftel aller für Baden-Württemberg ausgewiesenen Eingriffe. Sollte er dichtmachen, woran noch nicht alle glauben, muss die Politik dafür sorgen, dass die Lücke geschlossen wird. Die Frauen haben einen gesetzlichen Anspruch darauf. Es geht aber auch um den Ruf Stuttgarts. Radikale Abtreibungsgegner machen Stapf das Leben schwer. Konnten sie das Klima wirklich so vergiften, dass nun abtreibungswillige Frauen fürchten müssen, nicht mehr angemessen betreut zu werden?

Nüchtern betrachtet ist Stapf – respektive seine Ehefrau, die die Geschäfte führt – erst einmal selbst schuld. Er versäumte es, den Mietvertrag mit der Stadt zu verlängern. Bei der Suche nach neuen Räumlichkeiten schien er im November fündig geworden zu sein. Doch vor Unterzeichnung des Mietvertrags gelangte die Sache an die Öffentlichkeit. Christliche Fundamentalisten, organisiert in der Initiative „Nie wieder“, setzten den Eigentümer der Immobilie unter Druck, der Deal platzte. Auf ihrer Webseite und in Mails an Bürgermeister, Stadträte, Immobilienbesitzer ziehen sie Parallelen zwischen Abtreibung und Holocaust, auf dem Gehsteig vor Stapfs Klinik belagern einige von ihnen sogar Patientinnen. Klaus Günter Annen aus Weinheim, ein bundesweit bekannter Aktivist in Sachen „Lebensschutz“, lenkt die Kampagne.

„Wer so agiert, befindet sich nicht im christlichen Spektrum“, sagt Werner Wölfle, der grüne Bürgermeister, der für die Krankenhäuser Stuttgarts zuständig ist. Den radikalen Abtreibungsgegnern alle Verantwortung zuzuschreiben, hält er jedoch für „zu viel der Ehre“. Er habe Stapf mehrere Objekte zu vermitteln versucht, letztlich habe der auch unternehmerisches Risiko gescheut und sich ganz auf die Stadt verlassen. Die Grundstimmung in Stuttgart hält Wölfle für „absolut liberal“, auch wenn sich AfD-Gruppierungen an einer Demonstration gegen Stapf beteiligten.

„Ich fühle mich um zwanzig Jahre zurückversetzt“, sagt Marion Janke, leitende Ärztin von Pro Familia in Stuttgart. Sie findet es „erschreckend, dass eine kleine Gruppe so viel Angst verbreiten kann“. In mehreren Fällen sei Stapf nicht als Mieter akzeptiert worden, weil die Eigentümer Angst vor der Belagerung durch die „Lebensschützer“ hätten. Nicht nur Stapf, sondern auch andere Abtreibungsärzte würden nicht mehr wagen, sich öffentlich zu äußern. Janke selbst wurde angefeindet, weil sie vor einer „Versorgungslücke“ warnte, sollte die Stapf-Klinik schließen. Der Begriff sei unangemessen, schließlich gehe es um menschliches Leben. Die Kritik kam nicht nur von organisierten Abtreibungsgegnern. Der AfD-Stadtrat Heinrich Fiechtner empfahl ihr, Pro Familia solle sich in „Contra Familiam“ umbenennen.

Wie es nun weitergeht in Stuttgart? Laut Paragraf 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes sind die Länder dazu verpflichtet, „ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen“ sicherzustellen. Sozialministerin Katrin Altpeter von der SPD verweist darauf, sie habe keine Handhabe, den Anspruch durchzusetzen. Schließlich kann kein Arzt gezwungen werden, Abtreibungen vorzunehmen. Sie setzt auf weitere Gespräche. Bürgermeister Wölfle glaubt, nach einigen Monaten werde sich die Situation normalisieren; mehrere Gynäkologen haben ihm signalisiert, sie wollten ihr Angebot ausweiten. Pro Familia wiederum hält eine Klinik, die ganz auf Abtreibungen spezialisiert ist, für unersetzlich. Die Stadt müsse nun notfalls selbst für Stapf als Mieter einspringen. Friedrich Stapf, Deutschlands bekanntester Abtreibungsarzt, sagt derweil gar nichts, mit gutem Grund. Auch in München hat er Ärger mit radikalen Abtreibungsgegnern, auch dort muss er demnächst umziehen.


Primus mit Macken

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Ein Teil der Madrider Wirtschaftspresse jubelte, als kürzlich die Zahlen für das letzte Quartal 2014 herauskamen: „Spanien ist die Wachstumslokomotive Europas.“ Es war das sechste Quartal in Folge mit Wachstum, in der Jahresbilanz 2014 waren es 2,0 Prozent, mehr als selbst Optimisten vorausgesagt hatten. Doch macht nun ein neues Wort die Runde, das für allgemeine Verunsicherung sorgt: Tsiglesias, zusammengesetzt aus dem Namen des griechischen Premiers Alexis Tsipras und des Vorsitzenden der linksalternativen Oppositionspartei Podemos Pablo Iglesias. Podemos (Wir können es) hat sich in Spanien Umfragen zufolge mit einem Viertel der Stimmen an die Spitze gesetzt, dicht gefolgt von den ebenfalls oppositionellen Sozialisten und der konservativen Volkspartei (PP) unter Premier Mariano Rajoy.



Das ist nicht Athen, sondern Madrid: Zehntausende Sympathisanten der linken Partei "Podemos" zogen am vergangenen Wochenende durch die Straßen Madrids.

Allerdings sind sich Mitstreiter des Madrider Politologen, dessen Pferdeschwanz sein Markenzeichen geworden ist, sicher, dass die offensiv demonstrierte Einigkeit mit Tsipras bei der überwältigenden Mehrheit ihrer Landsleute negativ ankommt. Dafür gibt es ein ganzes Bündel von Gründen, beginnend mit den nationalen Mentalitäten. Das US-Institut Pew Research sowie die BBC haben im Sommer 2014 große Studien über Selbst- und Fremdbilder in den EU-Ländern vorgestellt. Demnach sind in den Augen der Spanier die Griechen neben den Italienern die Schlusslichter in der Kategorie „Zuverlässigkeit“. Sie vertrauen am allermeisten den Deutschen, die sie aber auch für wenig solidarisch und am zweitarrogantesten nach den Franzosen halten. Aus den negativen Werten für die anderen „Südländer“ in Spanien leiteten Wirtschaftsexperten ab, dass den „Nordländern“, die auf Konsolidierung der Staatshaushalte bestehen, keine geschlossene „mediterrane Ablehnungsfront“ notorischer Schuldenmacher drohe.

Hinzu kommt, dass in Spanien die europäischen Institutionen nach wie vor hoch angesehen sind, wesentlich mehr als die eigene politische Klasse, die parteiübergreifend vom Virus der Korruption angesteckt ist. Sowohl PP als auch Sozialisten, aber auch die postkommunistischen Gewerkschaften kämpfen mit gigantischen Affären in den eigenen Reihen. Dies ist Umfragen zufolge auch der Hauptgrund für den Höhenflug von Podemos, weniger die Hoffnung, dass ein linksalternatives Wirtschaftsprogramm das Land schneller aus der Krise führen könnte.

Deren Ursachen werden denn auch im Gegensatz zu den Griechen nicht bei Angela Merkel oder der Troika, sondern im eigenen Land verortet: Korruption und Inkompetenz der großen Parteien haben zur Immobilienblase geführt, deren Platzen vor sieben Jahren das Land an den Rand des Abgrunds geführt hat. Eine Schreckenszahl ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit von fast 50 Prozent. Allerdings bezieht sie sich nur auf diejenigen, die zwischen 16 und 24 Jahren aktiv Arbeit suchen und keinen Erfolg dabei haben, rund acht Prozent eines Jahrgangs. Das Hauptproblem für die junge Generation ist der Mangel an attraktiven Jobs. Die Universitäten des Landes entlassen zu viele Absolventen, die selbst nach glänzendem Examen kaum eine Chance haben, eine der Ausbildung entsprechende Tätigkeit zu finden. Stattdessen fehlt es an Facharbeitern.

Im Spätherbst stehen Parlamentswahlen an. Die Kommentatoren sind sich einig, dass die Zeit bis dahin gegen Podemos arbeitet: Die neue griechische Führung werde von den meisten Medien in Spanien entweder als Chaostruppe oder Kompromissler geschmäht. Die konservative Presse wird sich auf führende Köpfe von Podemos einschießen, die mit kleinen Steuertricks ihr Privatbudget ausbessern. Vor allem aber wird die Wirtschaft weiter wachsen.

Hauptproblem für Rajoy aber bleibt die hohe Arbeitslosigkeit, die seit Inkrafttreten des rigiden Sparprogramms Anfang 2013 nur um 3,5 Punkte auf 23,5 Prozent gesunken ist. Zwar hat er Strukturreformen angekündigt, die bis Jahresende eine Million neuer Arbeitsplätze entstehen lassen sollen, aber diese Ankündigung dürfte in erster Linie als Wahlkampfparole verbucht werden. Auch könnten weitere Korruptionsaffären in den eigenen Reihen, die üblicherweise für Wahlkampfzeiten aufgespart werden, die derzeit noch mit absoluter Mehrheit regierende PP zurückwerfen.

Das Wirtschaftswachstum gibt Rajoy gegenüber Iglesias allerdings das Argument in die Hand, dass das Land sich auf dem richtigen Wege befinde. Auch im Hinblick auf Griechenland: Sollte Tsipras mit seinen Vorstößen gegen Brüssel und Berlin Erfolg haben, so könnten die Spanier beklagen, dass ihre bisherigen Anstrengungen umsonst gewesen seien. Ganz abgesehen davon, dass die Griechen auch in Madrid mit 26 Milliarden Euro in der Kreide stehen. Wirtschaftsminister Luis de Guindos kommentierte die Zahl mit den Worten: „Genau so viel müssen wir jährlich für Arbeitslosenhilfe ausgeben.“

Auch findet die Lehre, dass eine Ausweitung der Staatsausgaben Steuergelder sprudeln lässt und somit der beste Weg zur Krisenbewältigung wäre, wenig Anhänger unter Kommentatoren. Denn genau dies hatte die 2011 abgewählte sozialistische Vorgängerregierung unter José Luis Zapatero nach dem Platzen der Immobilienblase versucht und war gescheitert. Die Schuldenpolitik Zapateros hat nur zu weiterer Umverteilung von unten nach oben geführt, da die Sparer, nicht aber die Banken verloren haben. So dürfte in Spanien viel davon abhängen, ob es der PP gelingt, das Thema Korruption aus den Schlagzeilen verschwinden zu lassen. Der einzige Weg dürfte eine konsequente strafrechtliche Ahndung sein. Diese birgt aber für die großen Parteien, vor allem die Konservativen Rajoys, das Risiko, dass sie genau deshalb noch mehr an Zustimmung verlieren.

Den Ausgang der Wahlen im Spätherbst werden jedenfalls innerspanische Faktoren bestimmen, nicht die Lage in Athen.


„Denken Sie an Peter Alexander“

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Die Buslinie 68 hält vor dem riesigen Gebäudekomplex auf dem windigen Mainzer Lerchenberg, die Ansage der Haltestelle klingt fast wie eine Anmoderation: „Zweites Deutsches Fernsehen“ – nicht etwa schnöde „Zett Dee Eff“. Das Büro von Programmdirektor Norbert Himmler liegt im 14. Stock. Hinter dem Schreibtisch hängt eine großformatige Fotoarbeit, eine verfremdete Ansicht des Mainufers in Frankfurt. Wenn man durch die Wand hinter dem Bild sehen könnte, würde man ungefähr auf das Ufer mit den Bankentürmen schauen, erklärt Himmler. Aber ein Programmchef kann natürlich nicht einfach mit dem Kopf durch die Wand.

SZ: Herr Himmler, die Frage aller Fragen für einen Programmchef: Was braucht eine gute Show am Samstagabend?

Norbert Himmler: Unterhaltung hat viel mit Haltung zu tun; wenn man beides verbindet, hat man schon viel richtig gemacht.

Welche Haltung passt zum ZDF-Samstag?

Wir wollen die Menschen ernst nehmen und ihnen gleichzeitig einen Mehrwert bieten. Und hier unterscheiden wir uns von manchem, was zurzeit bei den Privatsendern zu sehen ist. Am Mittwoch vor Ostern zeigen wir die Wissensshow Das große Schlüpfen mit Johannes B. Kerner, neu ist auch Das Spiel beginnt – Die große Show von 3 bis 99, in der bekannte Familienspiele auf die große Bühne gebracht werden. Und es wird – unsere dritte Innovation in diesem Frühjahr – die Show 1000 – Wer ist die Nummer 1? geben, eine gemeinsame Entwicklung mit der BBC.



ZDF-Programmchef Norbert Himmler (seit 2012 im Amt) bringt einige Neuerungen


Ist das nicht etwas bieder? Bieder und vorsichtig?

Nein, das finde ich nicht. Schauen Sie sich das Supertalent an oder den Dschungel; selbst wenn diese Shows erfolgreich sind, mit dieser Haltung können und wollen wir nicht arbeiten. Unser Kernpublikum am Samstagabend sind Familien – Eltern zwischen 30 und 50 zusammen mit ihren Kindern, gerne auch die Großeltern. Dass diese Shows nicht bieder, sondern attraktiv daherkommen, ist Sache der Formatarbeit und der Dramaturgie der Sendungen und keine Frage des Neuigkeitswertes oder der Zuspitzung.

Glauben Sie überhaupt noch an den Samstagabend, an die große Show à la Kulenkampff, Juhnke, Schönherr, Carrell, Gottschalk? Oder tickt das Publikum heute anders?

Ich glaube an Zyklen im Fernsehgeschäft. Es gibt Zeiten der großen Unterhaltung und der großen Shows. Aber es gibt auch Phasen, wie jetzt, in denen fiktionale Programme vorne sind. Unser ZDF-Samstagabend hat im Schnitt sieben Millionen Zuschauer – dank der herausragenden Samstags-Krimis. Es wird aber wieder die Zeit kommen, in der das deutsche Publikum mehr Show und weniger Krimis haben möchte.

Muss jetzt Johannes B. Kerner alles richten? Hat er den Strahlwert für die große Show?

Na, wir haben ja noch Carmen Nebel, Christian Rach, Markus Lanz, Rudi Cerne, um nur einige zu nennen. Aber, klar, Johannes B. Kerner ist ein hervorragender, vielseitiger Moderator. Und er wird Formate moderieren, die zu ihm passen. Darauf freue ich mich sehr.

Joko und Klaas mussten Sie von ZDF Neo zu ProSieben ziehen lassen. Dort machen die beiden attraktive Shows mit Neuigkeitswert und Zuspitzung. Dafür machen Sie jetzt gerne Abende mit Helene Fischer. Ist das die Nachfolge von Volksmusik und Carmen Nebel – nur mit mehr nackter Haut?

Das würde weder Carmen Nebel noch Helene Fischer gerecht. Beide sind Meister ihres Fachs und nicht zu vergleichen. Und wenn Sie mich nach Helene Fischer fragen: Es gibt kaum eine andere Künstlerin, die es schafft, alle Generationen vor den Schirm zu bringen. Musikunterhaltung ist eine der traditionsreichsten Farben im Showbereich, denken Sie an Peter Alexander. Auch er war einer, der es geschafft hat, nicht nur zu singen, sondern auch zu tanzen und zu performen. Und das können wenige so wie Helene Fischer, wie sie an Weihnachten im ZDF wieder bewiesen hat.

Jan Böhmermann, dessen Neo Magazin Royale diesen Freitag erstmals im Hauptprogramm zu sehen ist, hat Helene Fischer als „singende Sagrotanflasche“ bezeichnet. Warum zeigen Sie Böhmermann so spät – nach heute nacht um null Uhr?

Solange Böhmermann nicht selbst singt... Wir zeigen seine Sendung um null Uhr, weil er eine Late-Night-Show macht, da sollte die Sendezeit auch halbwegs zum Genre passen. Und Böhmermann macht ja jetzt schon Sendungen, die klar auch für die Mediathek gemacht sind und dort auch stark nachgefragt werden.

Mit dieser Argumentation bräuchten Sie ihn gar nicht erst ins Hauptprogramm zu holen.

Doch, um ihn auch anderen Zuschauern zuzuführen, jenseits von ZDF Neo und der Mediathek. Aber nicht um 20.15 Uhr, sondern an einem Abend wie dem ZDF-Freitag, den wir schrittweise auf ein jüngeres Publikum ausgerichtet haben, mit modernen Krimis, der heute show und einer modernen aspekte-Sendung. Ich finde das kein schlechtes Line-up.

Geht eine Böhmermann-Show um 20.15 Uhr schon allein wegen der Quote nicht? Würden Sie zu viele ältere Zuschauer vergraulen?

Ich finde es bisweilen mühsam, immer begründen zu müssen, warum wir tolle Programme, die bewusst nischig, intellektuell und zugespitzt angelegt sind, nicht um 20.15 Uhr senden. Selbst die heute show hätte um 20.15 Uhr nichts verloren. Direkt nach dem heute-journal am Freitagabend sitzt sie goldrichtig. Das hat nichts mit mangelndem Mut der Programmmacher zu tun, aber viel mit den Seherwartungen und der Haltung des Publikums zu bestimmten Uhrzeiten. Und umgekehrt: Diese Frage spricht den Millionen Zuschauern, die um 20.15 Uhr etwa den Bergdoktor oder einen guten Krimi sehen wollen, ihren Wunsch ab. Warum eigentlich?

Auf die Frage, ob Sie nicht ein sehr viel jüngeres Publikum ansprechen müssen, würden Sie also sagen: nicht unbedingt?

Ich denke, dass es für das ZDF wichtig ist, erst einmal alle anzusprechen. Trotzdem müssen wir uns darum kümmern, dass uns das Publikum unter 40 Jahren nicht abhandenkommt. Es ist ja nicht so, dass wir hier nichts täten. Die Rundum-Erneuerung der Serienleiste um 19.25 Uhr, Abschaffung von Forsthaus Falkenau, vom Landarzt, von der Küstenwache – neue Serien wie Bettys Diagnose, Doktor Klein, Herzensbrecher, Sibel und Max. Fünf neue Krimi-Reihen am Samstag, die erwähnten neuen Shows, zwei neue Comedy-Serien im Sommer. Bei allen Modernisierungsschritten, die wir angepackt haben, ging es im Kern um eine mittlere Altersstruktur zwischen 30 und 50, bei der weder die Jüngeren noch die Älteren ganz außen vor sind. In dieser Spannung werden wir als öffentlich-rechtliches Vollprogramm immer stehen.

Das ZDF war 2014 Quotensieger, die Masse bringen ältere Zuschauer. Nähmen Sie im Zuge der Verjüngung in Kauf, nicht mehr Erster zu sein?

Wir müssen nicht mit Gewalt Erster sein. Wir sollten unter den ersten drei Sendern sein, aber niemand hat hier die Parole „Marktführer“ ausgegeben. Wir zeigen gutes Programm und denken, die Zuschauer erkennen das.

In der neuen Krimiserie Blochin spielt Jürgen Vogel die Hauptrolle, Sie präsentieren sie auf der Berlinale in einer Reihe mit kinotauglichen Edelserien .. .

Ich will nicht zu viel versprechen, aber ich glaube, dass Blochin – Leben und Tod etwas ganz Besonderes ist und in seinem Genre auf dem deutschen Markt sehr für Aufmerksamkeit sorgen wird. Gebrochene Charaktere, eine relevante Story und starke horizontale Erzählbögen. Das ist eine unserer Antworten auf Sky, Netflix und Co.

Sie haben als Senderchef von ZDF Neo Mad Men ins öffentlich-rechtliche Fernsehen geholt. Heute erwartet das Publikum, dass ein Sender wie das ZDF solche aufwendigen Serien kauft oder produziert, auch wenn sie sich quotenmäßig nicht auszahlen. Wie rechnet sich das?

Sehr! Das Image von ZDF Neo wird nach wie vor von hervorragenden internationalen, oft europäischen Serien getragen. Bald kommen bei ZDF Neo auch deutsche Eigenproduktionen dazu. Moderne, hochwertige Serien spielen auch für unsere Mediathek eine immer größere Rolle. Die neue Schirach-Verfilmung Schuld wie auch Das Team, eine europäische Koproduktion unter deutscher Federführung, stellen wir alle vorab in die Mediathek. Dort findet also die Premiere statt. Damit wird die Mediathek zum ersten Mal auch als eigener Ausspielweg genutzt. Es wird auch Trailer und eine große Kampagne dazu geben, so als ob es um einen der großen linearen Kanäle ginge.

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