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Foto-Bombe

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Auf einem Selfie zu sehen ist immer: man selbst. Im besten Fall in guter Gesellschaft. Im allerbesten Fall stellt man im Nachhinein fest, in welch guter Gesellschaft man zum Zeitpunkt der Aufnahme war. Wie die zwei australischen Hockeyspielerinnen, die vergangenen Sommer feststellten, dass auf ihrem Selfie aus Glasgow im Hintergrund Queen Elizabeth im mintgrünen Kostüm in die Kamera lächelt. Foto-Bomber nennt man Leute wie die Queen, die sich – absichtlich oder unabsichtlich, aber immer ungefragt – auf die Fotos anderer schmuggeln.



Miss Libanon, Saly Greige, posiert vor einer von ihn bemalten Mauer in Wynwood, Miami. Bei der Wahl zu Miss Universe wird ihr Selfie von Miss Israel gefoto-bombt.


Im schlimmsten Fall stellt man im Nachhinein fest, dass einer das Erinnerungsfoto gefoto-bombt hat, an den man sich eigentlich nicht erinnern will – oder soll. So soll es nun der aktuellen Miss Libanon passiert sein. Die 25 Jahre alte Saly Greige warf sich nach eigenen Angaben bei der Wahl zur Miss Universe mit Miss Slowenien und Miss Japan für ein Gruppenfoto in Pose. In diesem Moment sei Miss Israel, die 20-jährige Doron Matalon, ins Bild gesprungen. Klassischer Fall von Foto-Bombing. Das so entstandene Bild postete sie im Internet. Welche Brisanz ein Selfie mit dieser Besetzung allerdings haben könnte, schien ihr nicht klar gewesen zu sein. Weil die beiden Länder Krieg führen, werden Libanesen, denen Kontakte mit Israelis nachgewiesen werden, leicht des Landesverrats bezichtigt. Zuletzt sollen am Sonntag mindestens sechs Kämpfer der libanesischen Hisbollah in Syrien von Israels Luftwaffe getötet worden sein.

Miss Libanon verbreitete also sofort Entschuldigungen über mehrere soziale Netzwerke. „Ich war sehr vorsichtig, ein Foto oder jegliche Kommunikation mit Miss Israel zu vermeiden, die mehrmals versucht hat, ein Bild mit mir zu machen.“ Die wiederum dementierte die Aktion nicht, sondern schlug auf Instagram zurück: „Schade, dass du nicht die Feindschaft aus dem Spiel lassen kannst für drei Wochen einer einmaligen Lebenserfahrung, bei der wir Mädchen von überall auf der Welt treffen können.“ Und um ihr Selfie zu korrigieren, tat Miss Libanon, wie nun zu sehen ist, was man mit einem gefoto-bombten Bild eben tut, das man nicht wegwerfen mag: Sie schnitt Miss Israel heraus.


Fehler im System

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Damals, mit 14, hat Leelah Alcorn vor Erleichterung geweint. Es war der Moment, in dem sie begriff, woran sie all die Jahre über gelitten hatte; der Moment, in dem sie erfuhr, dass das quälende Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, einen Namen hat. Dass sie nicht allein war. Dass es eine Diagnose, eine Therapie, einen Ausweg gibt. Es war der Moment, in dem alles hätte gut werden können.

So hat sie es beschrieben, drei Jahre später, als sie in ihren Computer tippte: Ich habe erfahren, was transgender bedeutet und vor Glück geweint. 964 schwarze Wörter vor pinkem Hintergrund in einem Internetblog. Leelah Alcorns Abschiedsbrief.



Ein Regenbogen-Plakat bei der Queer Pride Parade in Delhi 2014. Die 17-Jährige Leelah Alcorn erfuhr wenig Akzeptanz in ihrem Umfeld.


Kurz darauf, am 28. Dezember, wurde das Transgendermädchen mitten in der Nacht in Warren County, US-Bundesstaat Ohio, von einem Truck in den Tod gerissen. Seither sind Menschen auf der ganzen Welt schockiert. Offenbar, so steht es schwarz auf pink im Netz zu lesen, war inmitten einer Gesellschaft, die aufgeklärt und offen sein will, ein junger Mensch daran zerbrochen, dass er keine Akzeptanz in seinem Umfeld fand.

Leelah Alcorns Tod hat eine aufgeregte Debatte entfacht. Die Rechte von Transgendern werden diskutiert, Petitionen gestartet, und bei der Verleihung der Golden Globes, als die Serie „Transparent“ über einen Trans-Familienvater ausgezeichnet wurde, würdigte deren Erfinder Jill Soloway Leelah Alcorn „und die zu vielen Transgendermenschen, die zu jung sterben“. Und das Selfie, das Leelah einst von sich im Sommerkleid gepostet hatte, wurde zum Symbol für den Fehler im System.

Leelah Alcorn war als Joshua Ryan Alcorn geboren worden. Drei Geschwister, Eltern, die der Kirche der Evangelikalen angehören, sie glauben an die buchstäbliche Autorität der Bibel, jeden Sonntag Kirche.

Ich habe mich wie ein Mädchen gefangen im Knabenkörper gefühlt, seit ich vier bin.

Ein schmerzhaftes Geheimnis, bis sie mit 14 erfuhr, dass es eine Lösung gibt: Transgendern kann mit Hormonen und Operationen zu einem Körper verholfen werden, der sich richtig anfühlt. Die ständige Traurigkeit kann vorbei sein, wenn der Hormonhaushalt in Ordnung gebracht ist, es gibt viele Menschen, die diesen Weg bereits erfolgreich gegangen sind.

Leelah zog ihre Eltern ins Vertrauen. Gott macht keine Fehler, soll die Mutter gesagt haben. Sie schickte Leelah zu einem christlichen Therapeuten in eine Reparationstherapie. Dort sollte sie von ihrer Überzeugung „geheilt“ werden. Die Eltern nahmen sie monatelang von der Schule, konfiszierten ihr Handy und ihren Computer.

Sie wollten, dass ich ihr perfekter kleiner christlicher Junge bin.

Für all das wurden die Alcorns nun zur Zielscheibe des Zorns. Vor allem, als sich die Mutter, Carla Alcorn, in einem CNN-Interview äußerte: Nein, die Sehnsucht ihres Kindes hätten die Eltern nicht unterstützt, aus religiösen Gründen hätten sie das nicht gekonnt. „Aber wir haben ihm gesagt, dass wir ihn bedingungslos lieben. Er war ein gutes Kind. Ein guter Junge.“ Seither fallen Boulevardblätter über sie her. Hunderttausende Unterschriften wurden gesammelt, damit Leelahs selbst gewählter Mädchenname auf dem Grabstein steht. Auf Twitter pressen viele viel Wut in 140 Zeichen, es fallen drastische Worte, heftige Anschuldigungen. Die Eltern hätten Leelah mit ihrem Verhalten vor den Lastwagen geworfen, schreibt einer. „Mörder, Horroreltern!“, ein anderer. Ort und Zeitpunkt der Bestattung werden wegen der Drohungen geheim gehalten.

Auch viele Kolumnisten verurteilten die Eltern, ihre Sicht von bedingungsloser Liebe, ihr Unvermögen, das eigene Kind zu verstehen. Wie schwer es jedoch sein kann, Söhne und Töchter großzuziehen, die den gesellschaftlichen Standard sprengen, hat der amerikanische Psychiatriedozent und Journalist Andrew Solomon in seinem Buch „Weit weg vom Stamm“ anhand verschiedener Fälle analysiert. Sein Fazit: Eltern können ihre Kinder durchaus bedingungslos lieben, selbst wenn ihre Akzeptanz an Bedingungen geknüpft sein kann. Weil es manchmal einfach Zeit braucht, sich an das Fremdartige zu gewöhnen, es zu verstehen. Die Alcorns sind wohl kaum die spirituell-überdrehten, eiskalten Monster, als die sie derzeit in manchen Medien beschrieben werden. Wahrscheinlich sind sie trauernde Menschen, die Opfer ihrer eigenen Weltsicht wurden.

Bringt die Gesellschaft in Ordnung. Bitte. Das eigentliche Problem ist viel größer, gravierender. Leelah Alcorn wusste das.

Vor zwei Jahren veröffentlichten Wissenschaftler einer amerikanischen Stiftung zur Suizid-Prävention eine Studie zu Selbstmordversuchen unter Transgendern. 41 Prozent der Befragten gaben an, einen Selbstmordversuch hinter sich zu haben. Auch in Deutschland geht man von rund 50 Prozent aus, wie Patricia Metzer, Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) sagt. Selbsthass mische sich mit dem Spott, Ablehnung, Unverständnis der anderen, dazu kämen Hormone, die bei Transgendern oft völlig verrückt spielen.

Patricia Metzer beschreibt aber auch, was mit einer Geschlechtsangleichung möglich ist. „Sobald die Hormonersatztherapie wirkt, verfliegen Depressionen oft sofort. Das ist, als würde eine Zentnerlast von den Menschen genommen. Und viele Transgender verlieben sich, gründen Familien, beginnen ein wundervolles, neues Leben.“

Ein Leben, in das es zahlreiche Wege gibt. Vereine, Selbsthilfegruppen, Notfalltelefone, psychologische Seelsorge, sowie die medizinischen Möglichkeiten – all das gibt es in Deutschland wie auch in den USA. Und trotzdem fehlte Leelah Alcorn wie vielen jungen Menschen die Perspektive. Versperrt vom eigenen Gefühl, es nicht schaffen zu können. Versperrt vom Unverständnis der Anderen.

Mein Tod soll zu der Zahl von Transgendern addiert werden, die in diesem Jahr Selbstmord begangen haben. Ich möchte, dass jemand diese Zahl sieht und sich denkt: „Das ist beschissen.“ Und sie in Ordnung bringt, schrieb Leelah. Eine solche Zahl gibt es natürlich nicht. Dafür gibt es eine große Zahl an Menschen, die sich momentan für Transgender einsetzen. Mehr als 320000 Menschen haben zum Beispiel eine Petition für ein Verbot von Reparativtherapien unterschrieben, wie Leelah sie hinter sich gebracht hatte. Diese Behandlungen wollen Transidentität und Homosexualität mit psychotherapeutischen Mitteln „heilen“ – auch wenn alle führenden internationalen psychiatrischen und psychologischen Fachgesellschaften solche Versuche strikt ablehnen. „Ist so etwas nicht ein Missstand?“, hatte sich Leelah im Oktober in einem Internet-Forum erkundigt und ihre Behandlung beschrieben.

Ja, hatten viele in den mehr als 180 Kommentaren geantwortet und Plädoyers für mehr Aufklärung und Vielfalt gepostet. Zu wenige, zu spät? Zwei Monate später war Leelah Alcorn tot.

Der Pass muss her!

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Beim letzten Amtstermin hatte ich Birkenstocksandalen mit weißen Socken an. Meinen Platz im Warteraum hatte ich mit einem weißen Handtuch besetzt. Jetzt trage ich eine Trachtenjacke, ein blau-weiß kariertes Hemd und einen bayerischen Jägerhut und sitze mit 41 anderen Neudeutschen im Plenarsaal der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln, wo ich auf meine Einbürgerung warte. Zwei Musiker spielen ein Potpourri aus 18 Nationalhymnen – die Hymnen der Staaten, deren Staatsbürgerschaft aufgegeben werden musste, um die deutsche zu erhalten. Alle zwei Wochen findet ein solcher Festakt in Berlin-Neukölln statt, bei dem bis zu 50 Personen aus aller Welt zu Deutschen gemacht werden. Pro Jahr werden hier etwa 1000 Personen eingebürgert.  

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, muss man acht Jahre lang in Deutschland leben, die Sprache sprechen, seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können und darf keine Vorstrafen haben. Wer einen Schulabschluss in Deutschland gemacht hat, muss keine Sprach- oder Integrationstests machen. 



Frisch eingebürgert: Krsto trinkt auf die deutsche Staatsbürgerschaft.

„Ich erkläre hiermit, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte.“ Einige haben diesen Satz auswendig gelernt, andere lesen ihn von dem eingeschweißten gelben Zettel ab, den der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky ihnen vor die Nase hält. Ich kann ihn auswendig, sage ihn auf der Bühne laut auf und lasse mir die Einbürgerungsurkunde überreichen. Buschkowsky gibt uns noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg: „Man kann streiten oder die Meinung des anderen abscheulich finden, aber wir diskutieren das so, dass keiner im Anschluss im Gesicht ein Pflaster braucht.“ Er erklärt, dass niemand das Recht hat, einem anderen das Leben zu nehmen, dass die Kinder in der Schule den Lehrern zuhören sollten, dass wir nett zu unseren Nachbarn sein sollen.  

Die Veranstaltung ist für mich wie eine kleine Zeitreise zurück in die Hauptschule. Damals stand vorne auch ein alter deutscher Mann und sprach mit uns, als seien wir ein bisschen dumm. Wir, das waren die Hauptschulkinder. Die Empfehlung für die weiterführende Schule in Baden-Württemberg hatte gefühlt mehr mit der Sprachkompetenz der Lehrer zu tun als mit der der Schüler: Wenn der Lehrer den Namen des Kindes ohne Probleme aussprechen konnte, dann kam es aufs Gymnasium. Konnte der Lehrer den Namen nach einigem Bemühen aussprechen, dann reichte es noch für die Realschule. Ich glaube immer noch, dass ich auf der Hauptschule gelandet bin, weil in meinem Vornamen das „I“ zwischen dem „R“ und dem „S“ fehlt. Für Kristo wäre es vielleicht noch die Realschule geworden. Aber Krsto? Vier Konsonanten hintereinander? Hauptschule!  

Ich wollte auf die Realschule und meine Noten hätten ausgereicht, aber beim Elternabend erklärte der Lehrer meinem Vater, die Hauptschule sei die bessere Option für mich. Mein Protest dagegen blieb wirkungslos und ich verbrachte ein Jahr auf der Hauptschule, zwei auf der Realschule und wechselte dann aufs Gymnasium. Ich kenne also alle drei Schulformen und mein Verdacht hat sich bestätigt: Während man auf der Hauptschule Kinder ohne Migrationshintergrund mit der Lupe suchen musste, war es auf dem Gymnasium genau andersherum.  

Nachdem „Multikulti ist gescheitert“-Bürgermeister Heinz Buschkowsky seine Rede gehalten hat und alle ihre Urkunden abgeholt haben, endet der Festakt mit dem gemeinsamen Singen der deutschen Nationalhymne. Die Beamten im Raum singen mit, während die Neudeutschen mehrheitlich schweigen. Für viele Deutsche ohne Migrationshintergrund müssen solche Szenen als Beweis herhalten, dass man kein guter Staatsbürger sein kann – so wie Jérôme Boateng, Lukas Podolski und Mesut Özil, die schweigen, wenn vor den Spielen das deutsche Vaterland besungen wird. Aber ich werde ja nicht Deutscher, weil ich die Nationalhymne liebe, sondern weil der deutsche Pass einer der besten der Welt ist. Man kann mit ihm in 172 Länder der Welt reisen, ohne sich vorher um ein Visum kümmern zu müssen. Nur mit einem Pass aus Schweden, Finnland und dem Vereinigten Königreich geht noch mehr. Mit meinem bosnischen Pass konnte ich lediglich in 91 Staaten einfach einreisen, meine kosovarischen Freund dürfen ohne Aufwand sogar nur 38 Länder besuchen. 



Krsto beim Amtstermin. Stilecht.

Ich lebe seit 1992 in Deutschland, damals war ich drei Jahre alt. 1996 sollten wir in die Ruinenlandschaft abgeschoben werden, die der Bosnienkrieg von meinem Heimatland übrig gelassen hatte. Mein Vater hat sich bis zum obersten Gerichtshof in Karlsruhe geklagt, sodass wir 1999 eine richtige Aufenthaltserlaubnis bekamen, befristet auf zwei Jahre. Erst 2007 habe ich einen Stempel in meinen Pass bekommen: „Aufenthaltserlaubnis unbefristet“. Das war kurz nach meinem 18. Geburtstag. Bis dahin bestand noch die Möglichkeit, dass ich abgeschoben werde. Diese Unsicherheit kann einen ganz schön fertig machen. Es war aber auch im Alltag oft nervig bis erniedrigend, weil man als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde.  Die Orte, an denen mir persönlich immer am deutlichsten wurde, welche Macht der Pass, dieses Büchlein mit gerade mal 32 Seiten über einen Menschen ausübt, waren zum einen die Flughäfen. Es gibt eine Schlange für EU-Bürger und eine für nicht EU-Bürger. Während ich manchmal noch in der Schlange stand, waren Kollegen oder Freunde oft schon in der Innenstadt oder zu Hause.  

Zum anderen waren es die Grenzen. In der achten Klasse machten wir einen Ausflug nach Usedom, an einem Tag war geplant, nach Polen zu fahren. Mein türkischer Klassenkamerad Bilal und ich erfuhren erst an der Grenze, dass wir nicht einreisen durften. Von unseren Lehrern gab es Ärger, weil wir uns nicht um ein Visum gekümmert hatten. Der Stress für ein Visum wegen eines Tagesausflugs? Da stimmt die Kosten-Nutzen-Kalkulation einfach nicht. Bilal und ich blieben also auf deutscher Seite und vertrieben und die Zeit mit den Freuden, die das Leben zwei Vierzehnjährigen bietet: Wir saßen am Strand, hörten Thrash Metal und rauchten, während unsere Klassenkameraden heimlich billigen Schnaps auf der anderen Seite der Insel kauften. 

Ich hatte oft Probleme mit Visa und Grenzkontrollen. Der Kragen ist mir vergangenen Februar geplatzt. Mein kleiner Bruder wurde 16 und meine Mutter wollte ihm ein Wochenende in London schenken. Ich sollte mitfliegen, mit ihm die Stadt anschauen und wohl darauf aufpassen, dass er nicht in eine Kneipenschlägerei gerät. Dumm nur, dass Großbritannien nicht Mitglied im Schengenraum ist und ich für eine Einreise dieselbe Prozedur durchmachen muss, wie jeder bosnische Staatsbürger – was bedeutet, dass es ohne guten Grund unmöglich ist, kurzfristig ein Touristenvisum zu bekommen. Sightseeing und eine Vorliebe für die Musikszene East Londons galten nicht als gute Gründe. Aus London wurde nichts. Und mir wurde klar: Der deutsche Pass muss her.  



Noch stilechter: Sich den Warteplatz im Amt mit einem Handtuch reservieren.

Am 13. März 2014 reichte ich dafür folgende Unterlagen bei der Staatsangehörigkeitsbehörde in Neukölln ein: ein Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland inklusive der Klausel, dass ich keine Bestrebungen verfolge, die auf die Abschaffung der BRD zielen, meinen Bafög-Bescheid, einen Nachweis über mein Einkommen, Studienbescheinigung, Einbürgerungsantrag, Geburtsurkunde im Original, Übersetzung der Geburtsurkunde, Praktikumsbescheinigung, Kontoauszug mit Bestätigung, dass ich die 191 Euro Gebühr überwiesen habe, Abiturzeugnis, Liste aller Aufenthaltsorte seit meiner Geburt und eine Bestätigung, dass ich bereit bin, mich von meiner bosnischen Staatsbürgerschaft zu trennen.  

Den bosnischen Pass musste ich abgeben, weil in Deutschland eine doppelte Staatsbürger-schaft nur in Ausnahmefällen möglich ist. Kürzlich wurde zwar ein Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft verabschiedet, das räumt aber nur einem sehr ausgewählten Kreis das Recht darauf ein: denjenigen, die seit der Geburt zwei Pässe besitzen, denjenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind, und denjenigen, die nach 1990 geboren wurden. 

Mein erster Termin im bosnischen Außenministerium, bei dem mir erklärt wurde, wie ich zu verfahren habe, um meinen Pass abzugeben, war im Mai des vergangenen Jahres. Der bosnische Staat ist ein Monster – zwei autonome Landesteile, 10 Kantone, das Sonderverwaltungsgebiet Brčko-Distrikt, drei Präsidenten für drei Volksgruppen. Die Verwaltung gilt als korrupt und frisst zwei Drittel des Staatshaushaltes.  Zuerst musste ich nach Sarajevo, um Informationen einzuholen, und dann nach Zvornik, weil ich dort gemeldet bin. Normalerweise wartet man dort wochenlang auf seine Papiere, außer man hat zufällig einen Onkel bei der Behörde. Ich traf meinen morgens auf einen Kaffee und bekam die Dokumente noch am selben Tag. Geburtsurkunde und Bescheinigung über meine Staatsbürgerschaft musste ich in meiner Geburtsstadt Tuzla abholen. Mit diesen Papieren stellte ich in Sarajevo meinen Antrag auf Ausbürgerung. Dann wartete ich in Deutschland zwei Monate, bis die Ausbürgerung gültig war, und erteilte bei der bosnischen Botschaft in Berlin meiner Freundin Maida die Vollmacht, meinen Pass in Sarajevo abzugeben. Damit Maida Vollmacht und Pass bei der Post abholen konnte, musste sie drei Tage mit Behördengängen verbringen. Sie wurde fast verrückt. „Krsto“, sagte sie, „da sind sechs Stempel auf diesem Stück Papier, die ich alle woanders holen musste – und der sechste ist nur eine Bestätigung darüber, dass der erste auch wirklich echt ist!“ Es dauerte insgesamt acht Monate von meinem Antrag bis zu meiner Einbürgerung. Zwischendurch hatte ich drei Monate lang überhaupt keinen Pass und konnte nirgendwohin.  

Eine Woche nach dem Festakt in Berlin-Neukölln ist es soweit: Am 9. Dezember hole ich den deutschen Pass beim Bürgeramt ab. Normalerweise dauert es länger, bis er fertig ist, aber ich habe einen Expresspass beantragt, weil ich endlich wieder Ausweisdokumente haben will. Ich wiege das kleine rote Büchlein in der Hand, es ist sehr leicht, vorne drauf prangt der Adler. Im Hinterkopf habe ich noch den Handschlag von Heinz Buschkowsky und seine guten Ratschläge – das alles ist jetzt kein Witz mehr. Dieser Wisch also hat mich Zeit, Nerven und rund 1200 Euro gekostet. 

Es hat lange gedauert, bis ich Deutscher geworden bin, zumindest auf dem Papier. Ich hatte nie den Wunsch, ein echter Deutscher zu sein. Aber ich hätte den Pass trotzdem gerne früher gehabt. Damals zum Beispiel, in der achten Klasse. Und ich hätte meinen bosnischen Pass gerne behalten, obwohl ich gar nicht besonders an ihm hänge. Und ich hätte auch gerne auf diesen ganzen bürokratischen Irrsinn verzichtet. Denn eigentlich wollte ich nur die Rechte wahrnehmen können, die den meisten anderen in diesem Land selbstverständlich sind.  

Jetzt genieße ich aber erst mal meine neu erworbene Reisefreiheit. Schließlich will das London-Wochenende mit meinem Bruder nachgeholt werden.

"Viele Studenten haben Angst"

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Die aktuelle Aufwertung des Schweizer Franken macht nicht nur das Schnitzel in der Mensa, sondern auch Studiengebühren und WG-Zimmer für Ausländer deutlich teurer. Ein Anruf bei Thomas Gumbsch, der in der Schweiz studiert und sich als Präsident des Studierendenverbands engagiert.


jetzt.de: Thomas, du lebst für dein Studium in der Schweiz. Wie verändert die Aufwertung des Franken deinen Alltag?
Thomas Gumbsch: Das Leben hier ist deutlich teurer geworden. Ein Mensaessen kostet 6,20 Franken, eine Pizza vom Lieferservice und der Eintritt in Clubs um die 30 Franken und ein Tagesticket für die öffentlichen Verkehrsmittel 8,60 Franken. Im Moment kann man die Preise etwa eins zu eins in Euro umrechnen - das sind 20 Prozent mehr als früher. Wenn der Kurs so bleibt, bedeutet das auch 120 Euro mehr Studiengebühren pro Semester. Das ist enorm, gerade weil die Lebenshaltungskosten hier ohnehin ein gutes Stück teurer sind als in Deutschland.

Wie gehen deine Kommilitonen mit dieser Situation um?
Ich habe mit vielen gesprochen, die aus dem Ausland kommen und von ihren Eltern finanziert werden. Viele glauben, das sei nur temporär, das kann im Moment aber noch niemand sagen. Viele Studenten haben Angst und fragen sich, ob sie sich ein Studium in der Schweiz noch leisten können.

Wie viele an deiner Uni sind betroffen?
An der ETH kommen im Bachelor etwa 20 Prozent der Studenten aus dem Ausland. Im Master und in den Doktoraten sind es noch mehr. Für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt hier selbst verdienen, macht die Franken-Aufwertung keinen Unterschied, doch der Großteil wird von den Eltern unterstützt. Meine Hoffnung ist, dass sich der Euro bald auf 1,10 Franken stabilisiert. Damit könnten wir uns arrangieren.

Und wenn nicht?
Wir setzen uns dafür ein, dass mehr Stipendien angeboten werden, dafür bewerben sich allerdings nicht besonders viele Studenten, vor allem wegen des bürokratischen Aufwands. Ich denke, dass sich die meisten Nebenjobs suchen werden. Die sind hier gut bezahlt, Zugezogene aus der EU dürfen laut Gesetz auch ab dem ersten Tag in der Schweiz arbeiten. Mit einer Assistenzstelle an der ETH, für die man sich nach dem ersten Studienjahr bewerben kann, verdient man ungefähr 30 Franken pro Stunde. Als Nachhilfelehrer bekommt man 60 bis 100 Franken pro Stunde. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es nicht schwierig ist, an eine solche Stelle zu kommen. Die Frage ist, ob man dann noch so studieren kann, wie man das eigentlich sollte.

Vor drei Jahren wurde der Franken schon einmal stark aufgewertet. Du warst damals schon Student. Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?
Der Kurs hielt zum Glück nur kurz, etwa zwei Monate. Ich habe damals regelmäßiger einen Großteil der Lebensmittel zu Besuch bei meinen Eltern eingekauft und auch größere Anschaffungen in Deutschland erledigt. Die stetige Zunahme an Bewerberzahlen aus dem Ausland flachte damals ab, allerdings nur im Bachelor-Studiengang. Im Master hat sich der Trend überhaupt nicht abgezeichnet.

Werden im Moment auch Großeinkäufe für Studenten-WGs jenseits der Grenze organisiert?
Deutschland war schon immer ein beliebtes Einkaufziel für die Schweizer. Ich wohne in einem Studentenhaus mit 60 Leuten, da ist es Tradition, dass wir samstagmorgens mit dem Zug nach Konstanz zum Einkaufen fahren.


[plugin imagelink link="https://www.ethz.ch/intranet/de/news-und-veranstaltungen/news/archiv/2014/09/ein-physikstudent-wird-vseth-praesident/_jcr_content/news_content/fullwidthimage/image.imageformat.fullwidth.362410259.png" imagesrc="https://www.ethz.ch/intranet/de/news-und-veranstaltungen/news/archiv/2014/09/ein-physikstudent-wird-vseth-praesident/_jcr_content/news_content/fullwidthimage/image.imageformat.fullwidth.362410259.png"](Bildquelle
Thomas Gumbsch, 24, kommt aus Freiburg im Breisgau und studiert Physik an der ETH Zürich. Seit vergangenem Herbst ist er Präsident des Verbands der Studierenden an seiner Hochschule.

Alles dope in Colorado?

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Angestrichen:

"The early returns make a compelling case that the first year was a sweeping regulatory success in the Rocky Mountain State."

Wo steht das?
In dem Artikel "A Blazing Start" im Slate Magazine, von Autor Josh Voorhees.

Worum genau geht es?
Vorhees zieht in dem Artikel nach einem Jahr Cannabis-Legalisierung in Colorado eine ziemlich euphorische Bilanz. Sie wirkt sehr seriös, da der Autor zunächst sämtliche Argumente auflistet, die damals gegen die Legalisierung angeführt wurden:

  • Legaler Cannabisverkauf an Volljährige bedeutet mehr Konsum, auch bei Minderjährigen

  • Mehr Konsum bedeutet mehr Verbrechen im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch

  • Mehr Konsum bedeutet mehr Verletzte und Drogentote, zum Beispiel durch Überkonsum oder Verkehrsunfälle

Im Anschluss prüft Voorhees, was von diesen Thesen nach einem Jahr eigentlich übrig geblieben ist. Er stellt fest, dass keines der befürchteten Horrorszenarien tatsächlich eintrat. Die Zahl der Minderjährigen, die 2013 Marihuana konsumierte, sank um zwei Prozent, die Kriminalitätsrate blieb ebenfalls stabil oder sank sogar leicht. Drogenbedingte Verkehrsunfälle hätten ein historisches Tief erreicht und Drogentote allein durch Marihuanagenuss gäbe es sowieso fast nie - einmal sprang ein Austauschstudent im Rausch aus dem Fenster und ein Mann erschoss seine Ehefrau, der hatte wohl allerdings noch andere Substanzen im Blut. Zu Überdosen kam es nur, weil jemand die Haschbrownie-Dosis für zehn alleine verspeist hatte. Die endeten aber nicht tödlich.

Doch damit nicht genug, Voorhees findet sogar noch positive Effekte an der Legalisierung:


  • Durch den legalen Drogenverkauf (auch für medizinische Zwecke) hat der Bundesstaat Colorado 2014 60 Millionen Dollar an Steuern eingenommen

  • Gleichzeitig sparte der Bundesstaat geschätzte 145 Millionen Dollar ein, die sonst für die Marihuana-Bekämpfung verwendet wurden

  • Der Haschisch-Schwarzmarkt existiert zwar noch, weil aus medizinischen Gründen verschriebenes Marihuana immer noch günstiger ist als das im normalen Handel, der Schwarzmarkt wurde aber kleiner und der Missbrauch von Marihuana als verschreibungspflichtigem Medikament ging zurück

Was lernen wir daraus?

Zwei Dinge. Zum einen, dass man Anbetracht solcher Ergebnisse natürlich darüber nachdenken sollte, ob vielleicht auch die Drogenpolitik anderer Länder (Deutschland inbegriffen) sich an Colorado ein Beispiel nehmen könnte. Schließlich sind es hier genau die gleichen Argumente, die für und gegen die Legalisierung von Haschisch ewig diskutiert werden und am Ende dazu führen, dass sich dann doch nichts ändert, oder der Trend sogar in die Gegenrichtung umschwingt. So sollen in Berlin jetzt "Null-Toleranz-Zonen" eingeführt werden, in denen auch der Besitz der bisher als Eigenbedarf geduldeten Menge von zehn Gramm (in Ausnahmefällen auch 15) geahndet wird. Im Jahr zuvor hatte man noch monatelang über die Einführung eines legalen Coffeeshops in Kreuzberg diskutiert.

Zum anderen lernen wir aber auch, dass Texte in denen große Gesetzesänderungen immer nur mit "gut" und "böse" bewertet werden, selten vollständig sind. Wenn man sich die von Voorhees als Beweis angeführten Texte genauer anguckt, merkt man schnell, dass er unter anderem auf von ihm selbst verfasstes Material verweist und außerdem sämtliche Ergebnisse, die sein Fazit, dass in Colorado jetzt alles super sei, vermiesen könnten, ausblendet. So besagt der Text über die drogenbedingten Autounfälle zum Beispiel, dass man eigentlich fast nie nachweisen kann, ob ein Unfall wirklich aufgrund von Drogen verursacht wurde und es in Colorado generell so wenig Autounfälle gibt, wie nie zuvor.

Auch wenn der illegale Gebrauch von Marihuana unter Jugendlichen zurückging, hat Colorado mittlerweile die zweithöchste Kifferquote der gesamten USA (nur Rhode Island ist noch weiter vorne), 2011 lag es noch auf Platz sieben. Das erklärt dann auch die hohen Steuereinnahmen, die ja letztendlich darauf beruhen, dass der Staat profitiert, je mehr gekifft wird. Und auch die Sache mit den Drogentoten ist nicht ganz so einfach: Zwar stirbt niemand an einer Haschüberdosis, allerdings explodierten vergangenes Jahr 32 Drogenlabore in Colorado, im Jahr zuvor waren es zwölf. Alles keine Gründe, die die Legalisierung in der Bilanz schlecht dastehen lassen. Aber eben auch nicht alles so superspitze, wie Voorhees behauptet.

Vielleicht lässt sich die ganze Debatte am besten mit folgendem Satz zusammenfassen: "It’s too soon, however, to call Colorado’s measure an unqualified success". Das steht in einem Text über die Cannabis-Legalisierung von Mai 2014, der dafür plädiert, erst einmal die Langzeitfolgen der Legalisierung abzuwarten. Interessanterweise stammt er ebenfalls von Josh Voorhees.

Tagesblog - 21. Januar 2015

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18:51 Uhr:  Youtuber können nur Let's-Play-Videos und Tutorials? Einige deutsche Youtuber wollen das Gegenteil beweisen und drehen Filme über Pegida, Fremdenhass und Diskriminierung. Kathrin hat sich das mal angeschaut - und findet's eigentlich ziemlich gut.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/591179/Politik-steht-ihnen-gut" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/si/simon-hurtz/homepage/cover/1033600.jpg"]

Diesen Link zu setzen war das Letzte, was ich heute im Büro tue. Bitte entschuldigt den etwas abrupten Abschied. Der Tag war lang, und ich bin ziemlich durch. Schönen Abend euch!

++++

16:54 Uhr:
Okay, ratzfatz Planänderung. Wir ziehen das Interview von Charlotte vor. Kathrins Text kommt später.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/591180/Leipzig-ist-immer-noch-ein-roter-Fleck" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ch/charlotte-haunhorst/text/regular/1033590.jpg"]Der Reggae-Künstler Ronny Trettmann hat einen Song gegen Pegida aufgenommen. Ein Anruf bei ihm in Leipzig, kurz vor der wohl bisher größten Legida-Demonstration.

++++

14:55 Uhr:
Kurze Erklärung, warum mir nach dem recht beschwingten Start in den Tag gerade ein bisschen die Luft ausgeht - und sich auch sonst wenig auf der Seite tut.

Jan und Jakob lernen heute, wie man pünktlich, produktiv und fleißig wird. Also zumindest theoretisch. Sie sind auf einem Zeitmanagement-Seminar - haben dementsprechend aber leider keine Zeit, sich um das aktuelle Tagesprogramm zu kümmern.

Eigentlich freue ich mich seit unserer Morgen-Konferenz auf einen Text von Kathrin (es geht um Youtube. Und Politik. Und die Frage, ob sich das ausschließt). Weil die aber gerade jede Menge um die Ohren hat und von Termin zu Termin hupft, verzögert sich das noch etwas. Sobald sie aus ihrer Besprechung zurückkommt, macht sie den Text fertig. Das Warten lohnt sich. Versprochen.

Um die Wartezeit zu überbrücken, zwei kurze Bei-Laune-Halter (beide Links via Das Kraftfuttermischwerk):

https://www.youtube.com/watch?v=izpYELTU4MA&feature=youtu.beEin vollkommen verrücktes Kayak-Video.

[plugin imagelink link="https://twitter.com/g_rantelhuber/status/557554772879106049" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B7zVGoHIAAAJEWZ.jpg:large"]Eine sehr schräge Plakat-Kombination.

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13:22 Uhr:
Genug Bachmann. Aber ich bleibe beim Thema. Seine Furcht vor der angeblichen Islamisierung des Abendlandes ist nämlich unbegründet. Das ist keine allzu große Überraschung - jetzt aber auch durch den soeben vorgestellten Migrationsbericht der Bundesregierung bestätigt.



UPDATE:
Seht ihr das Bild in dem Tweet, oder wird bei euch auch nur ein schwarzer Hintergrund angezeigt? Bin mir nicht sicher, ob es an meinem Computer oder am Redaktionssystem von jetzt.de liegt.

Falls ihr ebenfalls keinen Screenshot zu Gesicht bekommt - so sollte das Bild eigentlich aussehen:
[plugin imagelink link="https://twitter.com/SimonHurtz/status/557877255398236163" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B736Gf2CIAA0yFe.jpg"]

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13:10 Uhr:
Wenn schon monothematisch, dann richtig. n-tv hat Neuigkeiten:

[plugin imagelink link="http://www.n-tv.de/politik/Bachmann-posiert-als-Identitaerer-article14362061.html" imagesrc="http://bilder2.n-tv.de/img/incoming/origs14362001/9442735609-w1000-h960/bachmann.png"]Bachmann posiert als Identitärer

Führerlutz ist mittlerweile auch im Ausland angekommen:





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12:26 Uhr:
In den Kommentaren kam gerade der Wunsch nach lustigen Katzenvideos auf. Damit kann (und will: Ich versuche, meinen Tagesblog weitestgehend Gif- und Catcontent-frei zu halten) ich nicht dienen. Dafür hätte ich etwas im Angebot, das zumindest zwei der drei geforderten Punkte abdeckt:

[ ] Katzen
[x] Video
[x] lustig

https://www.youtube.com/watch?v=5Zv-cN9-ea4Werde ein echtes Pegida-Girl in weniger als 5 Minuten: Mit ein paar einfachen Tricks bist du der Star auf der nächsten Montagsdemo!

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12:16 Uhr:
Hilfe, dieser Bachmann verfolgt mich heute! Egal, wo ich hinklicke, überall guckt mich ein grusliger Lutz-Adolf-Verschnitt an. So auch bei diesem wunderbaren Quiz, das Christian Brandes gebastelt hat:

Unglaubliche Geschmacklosigkeiten und Hetze sollen seine Social Media Tätigkeiten umfasst haben. Jetzt haben wir schon so viel über ihn in der Presse gelesen, dass einige von uns Lutz Bachmann schon besser kennen als sein eigener Bewährungshelfer. Ist das so? Macht den Test.





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11:54 Uhr:
Sorry, dass ihr so lange auf das versprochene Interview warten musstet. War ne schwere Geburt. Deshalb verliere ich auch gar nicht viele Worte, sondern verlinke es möglichst schnell.

Jan hat mit Wiebke Bleidorn, einer jungen Professorin an der Tilburg Universität in den Niederlanden gesprochen. Sie sagt:

Menschen, die besonders offen - aber auch besonders neurotisch - sind, wohnen gehäuft in Innenstadtvierteln.

Und:

Menschen, die besonders offen - aber auch besonders neurotisch - sind, wohnen gehäuft in Innenstadtvierteln.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/591175/Neurotiker-in-der-Stadt-Langweiler-auf-dem-Land" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ja/jan-stremmel/text/regular/1033559.jpg"]
Interesse geweckt? Lesen!

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11:15 Uhr:
Bis die Fotos für das Interview von Jan da sind, das ihr schon auf meinem Zettel gesehen habt (es geht um Gentrifizierung. Und ist echt interessant), mal ein Leseempfehlungs-Roundup quer durchs restliche Netz:

[plugin imagelink link="http://www.theguardian.com/world/2015/jan/16/-sp-guantanamo-diary-exposes-brutality-us-rendition-torture" imagesrc="http://i.guim.co.uk/static/w-620/h--/q-95/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2015/1/16/1421428682696/Mohamedou-Ould-Slahi-rema-010.jpg"]
  • Mohamedou Ould Slahi ist Häftling in Guantánamo. Er kämpft seit Jahren darum, dass sein Tagebuch veröffentlich wird. Jetzt ist es erschienen - und was er schreibt, zieht einem die Schuhe aus:

    He was blindfolded, forced to drink salt water, and then taken out to sea on a high-speed boat where he was beaten for three hours while immersed in ice.


[plugin imagelink link="http://www.buzzfeed.com/philippjahner/henri-nannen" imagesrc="http://s3-ec.buzzfed.com/static/2015-01/16/10/enhanced/webdr03/enhanced-buzz-19123-1421423924-13.jpg"]

[plugin imagelink link="http://www.taz.de/Die-bittere-Wahrheit-ueber-die-Bild/!153167/" imagesrc="http://www.taz.de/uploads/images/684x342/15012003_bildpegida_taz.JPG"]
  • Die Taz arbeitet sich (natürlich zurecht) an der Bild ab:

    Bild will Pegida entlarven – und entlarvt vor allem sich selbst. Sie erkennt endlich, was andere schon wussten: dass sie eine rassistische Zeitung ist.




  • Spon hat die schönsten Vertipper aus der Redaktion gesammelt und in einem Text verpackt. Ich habe geschmunzelt. Mehrmals.

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10:47 Uhr:
Die gute Stimmung, die ich schon heute Morgen nach dem Blick auf unsere Seite hatte, dürfte sich heute fortsetzen. Wir haben in der Konferenz viele schöne Themen diskutiert - aus denen ganz bestimmt viele schöne Texte werden.



Ein Blick auf meinen Notizzettel, auf dem einige der Themen für die kommenden Tage stehen.

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09:48 Uhr:
Unseren täglichen Bachmann gib uns heute. Irgendwie hab ich mich gerade auf den Typ eingeschossen. Deshalb noch schnell ein kleines Best-of, bevor unsere Konferenz losgeht (Klick auf die Bilder führt jeweils zu einem weiterführenden Artikel bzw. dem Fundort).

[plugin imagelink link="http://www.reddit.com/r/de/comments/2sydo0/pegida_hat_eine_leichte_identit%C3%A4tskrise/" imagesrc="http://i.imgur.com/3L1ewUm.png"]Bachmannen (Verb): Führer-Doitsch für "mit zweierlei Maß messen".

[plugin imagelink link="http://www.kraftfuttermischwerk.de/blogg/lutz-pegida-bachmann-ganz-privat-ueber-fluechtende-und-ein-hitler-selfie/" imagesrc="http://i.imgur.com/nkKRtXH.png"]Adolf Bachmann.

[plugin imagelink link="http://extra3.blog.ndr.de/2015/01/20/bachmann-schwoert-2/" imagesrc="http://extra3.blog.ndr.de/wp-content/uploads/sites/29/2015/01/20150120_LutzBachmann_Adolf.jpg"]Ich mag extra3.

[plugin imagelink link="http://extra3.blog.ndr.de/2015/01/20/blondi-legt-nach/" imagesrc="http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/extra8732_v-original.jpg"]Ich mag extra3 sehr.

[plugin imagelink link="http://www.metronaut.de/2015/01/twittern-wie-lutz-bachmann/" imagesrc="http://www.metronaut.de/wp-content/uploads/Bildschirmfoto-2015-01-20-um-20.07.50.png"]Unbedingt alle Tweets angucken. Das ist nur einer von vielen WTF-Momenten.

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09:36 Uhr:
Wo ich gerade schon bei Legida und Pegida bin - was gestern über den Organisator Bachmann bekannt geworden ist, habt ihr alle mitbekommen, oder?

Ich meine Facebook-Kommentare wie diesen:

[plugin imagelink link="https://twitter.com/MatthiasMeisner/status/557434286111215617/photo/1" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B7xnh2yIUAApHYN.jpg"]
Weswegen die Staatsanwaltschaft jetzt wegen des Verdachts auf Volksverhetzung ermittelt. Der Kopf hinter den Münchner Demos ist übrigens kein Stück besser, ganz im Gegenteil:

[plugin imagelink link="http://www.sueddeutsche.de/muenchen/islamhasser-michael-stuerzenberger-agitator-fuer-bagida-1.2313765" imagesrc="http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2314085.1421826569/860x860/michael-stuerzenberger-pegida.jpg"]Michael Stürzenberger ist einer der aktivsten Islam-Feinde in ganz Deutschland.

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09:24 Uhr: Zurück aus der Konferenz. Ein Thema dominiert heute bei den Kollegen von SZ.de: die Legida-Demo heute Abend. Nach der Pegida-Absage am Montag erwarten die Behörden bis zu 100.000 Teilnehmer. Einhunderttausend! Verdammt, das macht mir Angst.

Zumal Leipzig, im Gegensatz zu Dresden, eine recht große und bisweilen militante Antifa-Szene hat. Wenn die beiden dann aufeinanderprallen... Oh weh! (Ich finde es super wichtig, gegen den menschenverachtenden Rassismus der Pegida, Legida und-was-weiß-denn-ich-noch-alles-gida-Menschen zu demonstrieren. Aber Gewalt ist immer Mist.)

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07:34 Uhr:
"Moin!" Nee, halt, das fühlt sich nicht richtig an. "Einen wunderschönen guten Morgen!!!"

So ist's richtig. Ich bin nämlich richtig gut drauf, und das muss sich in entsprechend euphorischen Adjektiven und einer ausreichenden Zahl an Ausrufezeichen niederschlagen.

Woran liegt's? An meinen wunderbaren Kollegen - natürlich. Als ich mich gerade durch die Texte der vergangenen Tage geklickt habe, ist mir aufgefallen, wie viel - ich sag's mal ganz unbescheiden - geiler Scheiß da zu lesen war.

Jakobs kluge, selbstkritische Reflexionüber sein Unbehagen auf der Anti-Pegida-Demo, die jedes einzelne der 21 Herzen (und noch viel mehr) verdient hat, Mercedes wunderbare Ode an den dritten Drink, die bei Facebook völlig zurecht von über 3.000 Menschen gelikt wurde, oder Juri, der dem Atomic Café einen angemessen würdevollen Abschied bereitet hat, den ich mir in den nächsten Monaten und Jahren bestimmt noch oft mit einer wohligen Mischung aus Sentimentalität und Wehmut anschauen werde (zusammen mit dem Text von Max, den man ebenfalls gar nicht oft genug loben und lesen kann).

Kurzum: Das alles mag ich sehr, sehr gern. Und das macht mir gute Laune. Wollte ich nur mal loswerden. Und jetzt geht's ab auf die Konferenz. Bis später!
http://www.sueddeutsche.de/politik/pegida-organisator-lutz-bachmann-staatsanwaltschaft-prueft-verdacht-auf-volksverhetzung-1.2313788

Michael StürzenbergerMichael Stürzenberger








Krieg der Superhirne

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Es dauert nur etwa zehn Minuten, dann wird schon die Oberschurkin des Dramas vorgestellt. Dunkel pulsiert die Musik, die Kamera fährt langsam und drohend auf sie zu. „Welcome to Enigma“, sagt dazu eine stramme britische Militärstimme. Und was sieht man? Einen ziemlich merkwürdigen Holzkasten, etwa von der Größe und Anmutung einer Reiseschreibmaschine.



Benedict Cumberbatch als Alan Turing in "The Imitation Game". Der Film kommt am 22. Januar in die deutschen Kinos. 

Das also ist sie – Enigma, die legendäre Verschlüsselungswaffe der Nazis, die alle wichtigen Funksprüche der Wehrmacht chiffriert und den Briten im Zweiten Weltkrieg das größte Kopfzerbrechen bereitet. Könnte man nur ein paar dieser Botschaften knacken! Dann würden, zum Beispiel im gerade erst beginnenden U-Boot-Krieg, die Karten vollkommen neu gemischt.

Aber wie? Daran arbeitet, Anfang September 1939, die Government Code and Cypher School in einem idyllischen Herrenhaus in Bletchley Park, Buckinghamshire. Die Problemstellung ist klar – und damit der Ausgangspunkt von „The Imitation Game“. Das Drehbuch stammt von dem amerikanischen Autor Graham Moore, inszeniert hat es der Norweger Morton Tyldum, aber der Film wirkt trotzdem erstaunlich britisch. Mit acht Nominierungen liegt er auch ganz gut im aktuellen Oscarrennen – mit dem klaren Anspruch, der schlaueste seines Jahrgangs zu sein.

Im Versammlungsraum mit der Enigma-Maschine herrscht indessen erst einmal Ratlosigkeit. So ein Ding erbeutet zu haben, ist wichtig – bringt für sich genommen aber gar nichts. Auch einzelne Botschaften wurden schon im Klartext abgefangen – aber das ist nur der Ausgangspunkt. Das ganze System der deutschen Verschlüsselung, mit täglich wechselnden Einstellungen, müsste geknackt werden.

Neben dem Kasten liegt noch eine Box mit austauschbaren Metallzahnrädern, vorn hat sie elektrische Kabel, die man umstecken kann. Dieser Anblick lässt das Herz der Codeknacker sinken. Allein die möglichen Positionen der Zahnräder offerieren mehr als hunderttausend Möglichkeiten, die Buchstaben eines Funkspruchs gegen andere Lettern auszutauschen. Das Umstecken der Kabel fügt dieser Zahl noch einmal 1,3 Billionen hinzu.

Kein Wunder, dass die Deutschen ihr Gerät für unentschlüsselbar halten – alle im Raum sind ganz ergriffen von der Komplexität und Boshaftigkeit dieses Apparats. Nur einer nicht: ein junger Mann mit scharfgezogenem Scheitel und schuljungenhaften, beinah kindlichen Gesichtszügen. Der rechnet bereits.

Alan Turing, 27 Jahre alt, Fellow der Mathematik am King’s College in Cambridge, hat schon drei Jahre zuvor seine Arbeit „On Computable Numbers“ veröffentlicht, bis heute einer der Schlüsseltexte der Mathematik. So wie der Film ihn vorstellt, lebt er wirklich komplett in der Welt der Zahlen, ohne jegliche Sozialkompetenz: der Schöpfergeist, mal wieder ein Arschloch. Und ungefähr so stellt man sich einen späteren Vordenker der künstlichen Intelligenz, berühmt für den „Turing-Test“, bei dem Maschinen so tun müssen, als ob sie Menschen seien, ja auch tatsächlich vor.

Hätte ihn jemand anders spielen können als Benedict Cumberbatch? Im Moment sicher nicht. Seit seinen „Sherlock“-Folgen für die BBC, seit seinem erschreckend genauen Julian-Assange-Porträt in „The Fifth Estate“ verkörpert Cumberbatch so etwas wie die Superintelligenz auf zwei Beinen – brüsk, geheimnisvoll und unnachsichtig überragen seine Figuren alle Normalbegabten in ihrem Umkreis um Längen. Da passt Alan Turing nun wie die Faust aufs Auge.

Herrlich zum Beispiel schon sein Vorstellungsgespräch in Bletchley Park, wo er einem stattlichen, respektgebietenden, innerlich bis zum Platzen aufgeblasenen Offizier der Navy (Charles Dance) gegenübersitzt, goldene Ärmelstreifen inklusive. Der Commander wirft einen Blick auf Turings Lebenslauf und macht den Fehler, ihn als „Wunderkind“ zu bezeichnen. Das kann der Kandidat so nicht stehen lassen. „Nun ja“, sagt er – „Newton entdeckte den binomischen Lehrsatz, als er 22 war, Einstein schrieb vier Arbeiten, die den Lauf der Welt veränderten, im Alter von 26. Soweit ich das sehen kann,habe ich gerade mal eben ... gleichgezogen.“

Mitten in diesem bemerkenswerten Satz, es ist wirklich eine Schau, schiebt Benedict Cumberbatch einen kleinen nervösen Lacher ein, der beinahe wie ein Schluckauf klingt. Darin schwingt alles schon mit, was diese Figur dann prägen wird: ungelöste Verklemmungen, Zeichen einer Homosexualität, die im bigotten England der Nachkriegsjahre noch tragische Folgen haben wird; aber auch die Entschlossenheit, sich nur mit den Allergrößten zu messen. Am Ende wird man diesen Mann durchaus mögen, schließlich ist er der Held – aber es ist schon ein Teil von Cumberbatchs Sport, den Zuschauern (und seinem Kollegen in Bletchley Park) die Sache erst einmal so schwer wie möglich zu machen.

Als neu eingestellter Codebreaker jedenfalls fährt Turing gleich volles Risiko: weiß alles besser, feuert unfähige Kollegen, legt sich mit den Vorgesetzen an und schreibt schließlich einen Brief an Churchill persönlich, um die nötigen Mittel zu bekommen. Das funktioniert, schafft aber auch enormen Erfolgsdruck. Denn Turing konstruiert nun eine Art gewaltige Gegenmaschine, groß wie eine Schrankwand, die mögliche Verschlüsselungs-Kombinationen elektrisch durchprobiert – klackend und ratternd wie eine Höllenmechanik. Aber anfangs braucht sie immer noch viel zu lang, und die Nerven liegen blank.

In seinen Dramatisierungen der wahren Geschichte von Bletchley Park ist das Drehbuch recht geschickt: Droht alles zu kalt und zu männlich zu werden, wird prompt das Team um ein weibliches Mathegenie erweitert (gespielt von der dann wieder wunderschönen Keira Knightley). Hier wird Turings Vertraute Joan Clark, mit der er tatsächlich einmal verlobt war, stark überhöht. Auch sonst bleibt alles sehr intim – der Film suggeriert, dass für die entscheidenden Durchbrüche bei der Entschlüsselung eine Handvoll Akteure in einer Holzbaracke ausreichten. Tatsächlich arbeiteten im Januar 1945, auf dem Höhepunkt des Kryptoanalyse-Kriegs, etwa 9000 Menschen in Bletchley Park.

Und gerade weil „The Imitation Game“ den Anspruch hat, ganz auf der Höhe seines komplexen Entschlüsselungsspiels zu sein, muss man am Ende doch wieder über die Begrenzungen des Kinos reden. Einmal zum Beispiel flirtet einer der Mathematiker im Pub mit einem der Civil-Service-Girls, die für das Abhören der Funksprüche zuständig sind. Die Frau erzählt, dass sie einen bestimmten Funker des Feindes inzwischen an seinen Marotten erkennt – weil er seine Codes immer mit denselben Anfangsbuchstaben beginnt. Morten Tyldum inszeniert das als irren, völlig zufälligen Heureka-Moment: Alle stürmen aus der Kneipe, und wenig später ist die Enigma geknackt. Tatsächlich aber sind solche Muster das Erste, was jeder Kryptoanalytiker studiert. Ohne sie kann man nicht mal anfangen.

The Imitation Game, USA/GB 2014 –Regie: Morten Tyldum. Buch: Graham Moore, nach Andrew Hodges „Alan Turing: The Enigma“. Kamera: Oscar Faura. Mit Benedict Cumberbatch, Keira Knightley, Matthew Goode. SquareOne, 113 Minuten.

Wütend auf das Schicksal

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Die Männer waren aus Deutschland gekommen und sie lebten nun in den Bergen Syriens in einem kleinen Dorf bei Latakia, in einer Unterkunft, die sie „Deutsches Haus“ nannten – weil dort so viele Deutsche einquartiert waren. Harun P. war einer von ihnen, ein junger Mann aus München, der Ende September 2013 in den Dschihad aufbrach. In Syrien traf er auf die radikale islamistische Terrorgruppe Dschunud al-Sham. Man lehrte ihn Nahkampf, teilte ihn zu Wachdiensten ein. Auch bei einem Angriff auf das Gefängnis von Aleppo war er dabei

Das alles wirft die Anklage dem Mann vor, der seit Dienstag in München vor Gericht steht. Und noch etwas dazu: Harun P. soll auch zum Mord an einem erst 16 Jahre alten Mädchen aus Deutschland aufgerufen haben. Fatma B. war nach Syrien gereist, um einen Dschihad-Kämpfer zu heiraten. Ihr Vater und ihre ältere Schwester versuchten, das Mädchen zurückzuholen. Als ihn Vater und Töchter überraschend ohne Maskierung im „Deutschen Haus“ trafen, war Harun P. in Sorge, die junge Fatma könnte das Versteck verraten, wenn sie nach Deutschland zurückkehre. Er habe, so wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, einem Vorgesetzten geraten, die Frau zu töten. Dazu kam es nicht. Fatma kehrte 2014 nach Deutschland zurück.



Harun P., hier beim Prozessauftakt am 20.1.2015 in München, soll als Mitglied der Gruppe 'Junud Al-Sham' am Terror in Syrien beteiligt gewesen sein.


Nun ist Harun P. selbst wieder daheim. Er wurde auf der Rückreise in Prag festgenommen. Und erzählt, wie alles kam. In einem sanften, leicht südlich gefärbten Hochdeutsch berichtet er, wie er wurde, was er ist: ein radikaler Islamist. Und macht gleichzeitig klar: War doch alles nicht so ernst gemeint. Sein Internet-Account trug den Namen Assassin-Mudschaheddin (Mörder-Freiheitskämpfer), aber das sei nur Spaß gewesen. Auch den Treueschwur auf den radikalen Prediger Hasan Keskin tut Harun P. ab. Den habe er nur beiläufig gekannt. „Der hat mich halt gefragt, ob ich treu bin bis zum Tod. Und ich hab halt Ja gesagt. Das war’s schon.“ Der Richter fragt: „Sie gehen doch auch nicht mit einer fremden Frau vom Stiglmaierplatz vors Standesamt und schwören ihr Treue bis zum Tod.“ - „Ich hab’s halt gemacht. War halt so ein Zugehörigkeitsgefühl.“

Hinten im Saal sitzen Männer mit langen Bärten und eine junge Frau, die nur Augenschlitze in ihrem Kopftuch hat. Und der frühere Linksradikale und heutige Islamist Bernhard Falk gibt ein kleines Seminar, wie man sich vor Gericht verhält: „Wir stehen nicht auf vor dem Richter, also stehen wir schon auf, wenn er noch gar nicht da ist.“ Die Frau mit den Augenschlitzen nickt eifrig: „Wir stehen nur vor Allah auf.“ Falk reist von Prozess zu Prozess.

27 ist Harun P. nun und Richter Manfred Dauster sagt zu ihm: „Ich halte Sie für einen hochintelligenten Mann.“ – „Danke schön“, sagt Harun P. höflich. Aber der Richter macht ihm nach Stunden zähen Befragens auch klar: „Es könnte Ihnen zum Nachteil geraten, wenn Sie Dinge, die wir in den Akten haben, in ein so mildes Licht stellen.“Harun P. trägt Bart. Er sagt, er sei erst von 2012 an richtig religiös geworden. Und dann ging er auch schon ein Jahr später in den Dschihad. Wie das so schnell ging, kann Harun P. nicht erklären. „Es ist doch ein Unterschied, ob ich Muslim werde oder Extremist oder noch Schlimmeres“, sagt Richter. „Was hat Sie an diesen extremistischen, islam-faschistischen Informationen aus dem Internet so fasziniert?“ – „Es ging mehr um die Unterdrückung anderer Völker“, sagt Harun P. ausweichend. Er fände es furchtbar, dass Kinder in Syrien verhungern. Er wollte helfen. „Und was ist mit den Menschen, die von der Terrorgruppe IS bei sengender Hitze ins Gebirge getrieben wurden“, fragt der Richter. Das würde er nie befürworten, sagt Harun P. Er habe nicht nur reden wollen, sondern helfen, etwas tun.
Daheim in München tat der Angeklagte nicht so viel. Er schmiss die Lehren als Hotelfachmann, als Sicherheitskraft, als Kfz-Mechatroniker. Dann wurde seine Freundin schwanger, das Kind kam zu früh und starb. Später trennten sie sich. Er war wütend auf das Schicksal, sagt Harun P.. Traurig, weil er das Kind damals nicht nach den islamischen Riten beisetzen konnte, er habe zu wenig darüber gewusst. Tränen treten ihm in die Augen. Der Richter macht Pause. „Geht’s wieder?“, fragt er. Der Angeklagte nickt.

Casting für den Mordprozess

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Am Dienstag begann in Colorado der Prozess gegen James Holmes, den jungen Mann, dessen Bild mit den damals noch orange gefärbten Haaren vor zweieinhalb Jahren in allen Zeitungen war. Holmes stürmte im Juli 2012 schwer bewaffnet eine mitternächtliche Kinovorstellung im Städtchen Aurora, erschoss zwölf Menschen und verletzte 58 weitere. Die Tat löste landesweit Entsetzen aus, es war der schlimmste Amoklauf seit dem Schulmassaker von Columbine.

Es wird ein aufwendiger Prozess, am Anfang steht zunächst die Juryauswahl – sie allein dürfte Monate dauern. Auch ein Massenmörder hat schließlich Anrecht auf ein faires Verfahren, und vom Urteil der zwölf Geschworenen hängt Holmes’ Leben ab. Die Verteidigung plädiert auf unschuldig wegen Geistesgestörtheit und möchte eine lebenslange Verwahrung. Die Anklage aber fordert die Todesstrafe.



Der Amokläufer von Aurora, James Holmes (Bild vom Juli 2012), steht in Colorado vor Gericht. Ihm droht die Todesstrafe.


Rekordverdächtige 9000 Einwohner des Arapahoe County hat das zuständige Bezirksgericht zum Jurydienst einbestellt, jeden 50. erwachsenen Bürger der Region. Im laufenden Prozess gegen den mutmaßlichen Bostoner Bombenleger Dschochar Zarnajew waren es „nur“ 1350 Bürger. Während der vergangenen Wochen wurde da aussortiert: Erst bekamen die möglichen Juroren den Angeklagten am Bundesbezirksgericht von Boston gruppenweise vorgeführt, dann mussten sie einen 28 Seiten umfassenden Fragebogen ausfüllen. Dessen Inhalt bleibt vorerst geheim, doch es geht den Behörden vor allem um den Ausschluss zweier Gruppen: von der Tat Betroffener – und der Gegner der Todesstrafe. Zarnajew droht ja wie Holmes die Todesstrafe, und jeder Gegner von staatlichen Hinrichtungen in der Jury würde die Forderung der Staatsanwaltschaft aussichtslos machen: Ein Todesurteil kann von der Jury nur einstimmig gefällt werden.

Gerade im Bostoner Prozess ist das nicht einfach, Massachusetts ist ein liberaler Bundesstaat, seit 1947 wurde niemand mehr hingerichtet, die Todesstrafe wurde vor 30 Jahren abgeschafft. Nur weil dies ein Bundesprozess ist, kann der Staat den Tod fordern. Das Problem ist aber auch: weil die Jury nur aus Hinrichtungsbefürwortern bestehen darf, kann sie nicht repräsentativ sein, wie mehrere Beobachter kritisieren. Die Grundsatzdebatte, inwiefern eine Jury repräsentativ für die Bevölkerung sein soll, ist noch nicht geführt.

Für mehrere Hundert potenzielle Juroren im Fall Zarnajew immerhin ist die Aufregung schon wieder vorbei. Sie haben nach der Auswertung der Fragebögen telefonisch Bescheid erhalten, dass der Staat auf sie verzichtet. Der Rest wird in Einzelgesprächen vor Gericht weiter reduziert, bis zwölf Geschworene plus sechs Ersatzleute übrig sind. Dabei sind auch Anklage und Verteidigung vertreten, die Parteien reden beim Auswahlverfahren eifrig mit. Jede Seite darf eine bestimmte Zahl Juroren von der Liste streichen, wie in einem Spiel. Das kann sich auf die Fragebögen stützen oder auf subjektive Einschätzung – längst gibt es Berater und Psychologen, die sich auf optimale Juryfrisierung spezialisieren.

Im Fall Holmes steht den Auserwählten das Prozedere nun bevor. Der Fragebogen umfasst hier 75 Fragen, nahezu täglich kommen nun 250 potenzielle Geschworene ans Gericht. Bis Mai soll sich die Auswahl auf etwa 150 reduzieren.

Wer eine Absage bekommt, dürfte dann wohl in Feierlaune sein: Jurydienst ist eine amerikanische Bürgerpflicht, aber alles andere als beliebt. Wer eine Vorladung erhält, wird von seinen Freunden bemitleidet, Ratgeberseiten im Internet listen „heiße Tipps zur Umgehung der Jurypflicht“ auf. Das meiste ist Unfug: Man solle sich als Student einschreiben und Prüfungstermine geltend machen. Oder sich dem Richter als Wirrkopf präsentieren, der unbedingt über andere urteilen wolle. Der Ideenreichtum zeugt allerdings davon, wie schwierig das Wegkommen wirklich ist. Wer älter als 18 ist, bei geistiger Gesundheit und ohne Vorstrafen, kann von der Justiz aufgeboten werden. Ausgewählt wird aus den Wählerregistern, Studien besagen, dass etwa ein Drittel der US-Bevölkerung einmal im Leben Jurydienst versieht. Und die Strafen fürs Nichterscheinen sind gesalzen.

Hauptgrund für den verbreiteten Widerwillen ist nicht so sehr die Angst vor der Verantwortung, sondern die vor dem Erwerbsausfall. Juroren werden meist nur dürftig bezahlt, oft sind es zehn Dollar am Tag. Im Fall Zarnajew sind es immerhin 40, im Fall Holmes gar 50 Dollar, da es sich um Bundesverfahren handelt. Doch je nach Dauer des Prozesses kann auch das materielle Folgen haben. Zwar dürfen Angestellte in den USA nicht wegen Jurydienstes entlassen werden. Doch viele Firmen stellen ihre Lohnzahlungen nach ein paar Tagen ein. Und wer selbständig ist, hat ohnehin ein Problem. Bei gravierender wirtschaftlicher Not kann man zwar um Befreiung ersuchen, gewisse Unannehmlichkeiten aber soll man schon in Kauf nehmen.

Ein weiteres Problem ist die Isolation. Gerade bei spektakulären Mordprozessen mit großer öffentlicher Anteilnahme wird die Jury oft abgeschirmt. Sie wohnt im Hotel neben dem Gerichtsgebäude, darf sich im Fernsehen keine Nachrichten anschauen, der Zugang zu Internet und Handy wird eingeschränkt. Von einem „Plüsch-Gefängnis“ sprach der Geschworene Martin De La Rosa nach dem Revisionsprozess im Fall Rodney King 1993. Die Jurymitglieder hätten aus Frust und Bewegungsmangel zehn Kilo zugenommen.

Manchen Geschworenen dagegen vergeht der Appetit. Julie Zanartu, die 2004 in Kalifornien im Prozess gegen den Mörder Scott Peterson diente, kann bis heute keine Rippchen mehr essen, weil sie beim Anblick blutigen Fleischs an die scheußlichen Gerichtsfotos denken muss. Gemeinsam mit sechs anderen Juroren hat sie ein Buch über den Prozess und das Leben danach geschrieben, Titel: „Wir, die Jury“. Antidepressiva und Suizidgedanken kommen darin ausführlich zur Sprache.

Das Schreiben ist für viele ein Mittel zur Verarbeitung. Nach dem Urteil erlischt zwar die Jurypflicht, manche aber stürzen in ein Loch: so viel Verantwortung und Druck und dann zurück zur Arbeit. Der Fall O.J. Simpson hat gleich mehrere Jurorenbücher nach sich gezogen. Manchmal haben solche Bücher sogar politische Sprengkraft: Eine Jurorin etwa wollte über den kontroversen Freispruch des Nachbarschaftswächters George Zimmerman schreiben, bekam dann aber kalte Füße. Und ein Mitglied der Grand Jury in Ferguson klagt derzeit vor Gericht gegen eine Auflage, die Juroren das Sprechen in der Öffentlichkeit verbietet.

Die Mehrheit der Geschworenen allerdings dient in einfacher gelagerten Verhandlungen, manchmal dauert der Einsatz nur wenige Stunden; wenn etwa ein Verkehrsunfall beurteilt wird. Für Politologen wie John Gastil von der Pennsylvania State University ist das Jurysystem so oder so ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Demokratie. Er hat in mehreren Studien dargelegt, dass der Geschworenendienst den Bürgersinn stärke und weiteres Engagement befördere.

Die Gegner der Jurypflicht sehen das natürlich anders. Sie halten die Jurypflicht für nichts weniger als eine Versklavung des Bürgers, eine Einberufung zu unfreiwilliger Arbeit – vergleichbar mit der Wehrpflicht. Und die wurde in den USA 1973 abgeschafft.

Papst befürwortet Geburtenkontrolle

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Mit einer drastischen Formulierung zur Sexualität hat sich Papst Franziskus indirekt für Geburtenkontrolle starkgemacht, ohne allerdings vom umstrittenen Verhütungsmittelverbot der katholischen Kirche abzurücken. Wörtlich sagte der Papst: „Manche Menschen glauben – entschuldigen Sie den Ausdruck –, gute Katholiken müssten wie Karnickel sein.“ Das sei nicht der Fall. Vielmehr gelte das Prinzip der „verantwortlichen Elternschaft“, erklärte das Oberhaupt der katholischen Kirche auf dem Rückflug von den Philippinen nach Rom. Eltern könnten die Zahl ihrer Kinder durchaus planen, dazu gebe es viele von der Kirche erlaubte Methoden. Drei Kinder pro Ehepaar hielten Experten für entscheidend, um die Bevölkerungszahl zu halten, so Franziskus. Er hatte die hohe Geburtenrate und Armut auf den Philippinen im Blick.



Nach Asien-Besuch: Papst Franziskus befürwortet indirekt Geburtenkontrolle


Die katholische Lehre verbietet künstliche Verhütungsmittel wie die Pille oder Kondome. Natürliche Verhütung wie durch Eisprungkontrolle ist erlaubt. Es war Papst Paul VI., der diese Haltung nach der Erfindung der Anti-Baby-Pille gegen den Widerstand vieler Bischöfe durchsetzte. Sexualität dürfe nicht von der Offenheit fürs Kind getrennt werden, dozierte PaulVI. 1968 im Lehrschreiben „Humanae Vitae“. Damit wurde implizit jede künstliche Verhütung verboten. Die Vorlage für die Enzyklika stammte vom späteren Papst Johannes Paul II., der daran in seiner Amtszeit ebenso wenig änderte wie BenediktXVI. Der deutsche Papst ließ nur mit der Bemerkung aufhorchen, dass Kondome in wenigen Ausnahmefällen – etwa bei homosexueller Prostitution, wo die Gefahr groß ist, sich mit dem HI-Virus anzustecken, und keine Fortpflanzung intendiert ist – ein „erster Schritt“ sein könnten „auf dem Weg hin zu einer anders gelebten, menschlichen Sexualität“.

Franziskus stützte die herrschende Lehre, indem er betonte, es sei eine Voraussetzung für das Sakrament der Ehe, dem Leben offen gegenüberzustehen. Doch sagte er auch, Katholiken sollten nicht ein Kind nach dem anderen bekommen. Der Pontifex nannte das Beispiel einer Frau, die nach sieben Kaiserschnitten das achte Mal schwanger war. Das sei unverantwortlich. „Will sie sieben Waisen zurücklassen?“ Die Frau habe erwidert, sie vertraue Gott. Darauf habe er geantwortet: „Gott gibt dir die Mittel, um verantwortungsbewusst zu sein.“ Zudem sprach sich der Argentinier gegen die „ideologische Kolonialisierung“ durch reichere Länder aus. Bischöfe in Afrika haben immer wieder kritisiert, dass ihnen modernere Ansichten zu Familienplanung und zu Rechten für Homosexuelle aufgedrückt würden.
Auf der Familiensynode im Herbst soll das Thema Sexualität eine zentrale Rolle spielen. Hoffnungen, die Kirche würde in dieser Hinsicht ihre Haltungen ändern, erfüllten sich bei der vorherigen Synode im Oktober 2014 jedoch nicht. Damals wurde über eine von der Kirche in Auftrag gegebene Umfrage unter Gläubigen gesprochen, die einen immer größer werdenden Graben offenbarte zwischen kirchlicher Sexuallehre und der Praxis katholischer Christen. Sehr viele benutzen Verhütungsmittel, ohne sich sündig zu fühlen.

Ausgepowert

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Im Computermodell ragen die beiden Schornsteine des Großkraftwerks Haiming am Rande von Burghausen schon in den Himmel. Die Pläne sind längst fertig, die Genehmigungen da. Der österreichische OMV-Konzern könnte eigentlich sofort mit dem Bau seiner neuen Anlage beginnen. Doch bislang herrscht am Waldrand im Osten Bayerns Ruhe. Kein Baulärm, keine Vorbereitungen. Dabei sollte die 800-Megawatt-Anlage mit der Leistung eines Atomkraftwerks eigentlich 2018 Strom liefern, wenn in Bayern die nächsten Kernkraftwerke vom Netz müssen. Das 600-Millionen-Euro-Projekt sollte jene Lücke füllen, die der Atomausstieg hinterlässt. Doch der OMV-Konzern wartet auf ein Signal aus dem fernen Berlin.



Immer mehr Ökostrom in den deutschen Netzen macht herkömmliche Kraftwerke unrentabel. Die Stromversorger fordern deswegen staatliche Unterstützung.

Haiming steht damit für einen immer heftigeren Streit zwischen Energiebranche und Politik, für die Stromkonzerne und Kraftwerksfirmen ist es der entscheidende Kampf des Jahres 2015. Seit immer mehr Ökostrom ins deutsche Netz fließt, werden herkömmliche Kraftwerke zunehmend unrentabel. Der Ökostrom drückt den Börsenpreis, entsprechend weniger fahren die Kraftwerke ein. Die ohnehin bestehenden Überkapazitäten werden so verstärkt, immer mehr Strom wird ins Ausland exportiert. Knapp 50 Kraftwerke wollen die Unternehmen deshalb derzeit stilllegen. Ohne spezielle Mechanismen, die auch die schiere Verfügbarkeit der Kraftwerke entlohne, verliere Deutschland irgendwann das Rückgrat der Energiewende, warnen die Betreiber. Für Flautenzeiten fehle dann die Reserve. „Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass hoch effiziente Kraftwerke nicht unter die Räder kommen“, warnt Ivo Gönner, Präsident des Stadtwerke-Verbunds VKU.

Doch die Bundesregierung denkt gar nicht daran. „Ich teile Ihre Skepsis zu Kapazitätsmärkten“, gestand vorige Woche die Kanzlerin bei einem Empfang des Ökostrom-Verbands BEE. Diese Woche legt der zuständige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) nach. „Nicht wenige, die einen Kapazitätsmarkt fordern, verbergen dahinter ihr eigentliches Interesse: existierende Überkapazitäten auf Kosten der Stromverbraucher zu konservieren“, sagte Gabriel dem Handelsblatt. Denn zahlen müsste ein Hilfspaket für Kraftwerke der deutsche Stromkunde über seine Rechnung. Ein Modell, das wegen drohender Kostensteigerungen auch der deutschen Industrie missfällt: „Wir sind dagegen“, sagt etwa der Deutschland-Chef des Chemiekonzerns Dow, Willem Huisman. Auch Umweltschützer warnen vor einer Bestandsgarantie für Altmeiler. „Endlich spricht Wirtschaftsminister Gabriel Klartext und beendet damit das unsägliche Kraftwerks-Mikado“, jubilierte am Dienstag Tobias Austrup, Energieexperte bei Greenpeace.

Damit spitzt sich der Streit um die Zukunft des deutschen Energiemarktes zu. Denn die Branche bleibt trotz der Absage aus Berlin stur. Johannes Teyssen, Chef von Deutschlands größtem Energiekonzern Eon, beharrte am Dienstag auf Hilfen. „Konventionelle und sichere Kraftwerke bleiben noch lange unersetzlich“, sagt Teyssen. Die Auseinandersetzung trägt längst Züge eines Glaubensstreits. Teyssen wirbt für eine Rückkehr zum alten System der „Leistungspreise“. Neben der Erzeugung von Strom, der „Arbeit“, würde so auch die Bereitstellung des Kraftwerke entlohnt. Dieser Leistungspreis könnte dann höher sein, wenn es einen Mangel an Kraftwerken gibt. „Kapazitätsmärkte führen zu einem rationalen Verhalten der Marktteilnehmer“, wirbt Teyssen. Auch Spitzenmanager beim Konkurrenten RWE sind verschnupft. „Den Dialog zu beenden, finde ich falsch“, klagte Vizechef Rolf Martin Schmitz bei der Jahrestagung Energie.

Gabriel aber hat eben anderes vor. Er will den Preis für Elektrizität zum einzigen Maßstab machen. Das Kalkül: Werden Kapazitäten knapper, steigt auch der Strompreis und damit der Ertrag der Betreiber. Mehr noch: In Zeiten höherer Knappheit kann der Strompreis besonders heftig ausschlagen, kurz um das Tausendfache steigen und den Kraftwerksfirmen einen Ausgleich bescheren für jene Zeiten, in denen sie mit ihrem Strom nichts oder nur sehr wenig verdienen. „Weil solche Preisspitzen drohen, werden sich Unternehmen auch wieder langfristig mit Stromlieferverträgen eindecken“, wirbt Gabriel. Das wiederum bringe mehr Investitionssicherheit für die Stromlieferanten – und damit auch für die Kraftwerksbetreiber. Auch im „Grünbuch“ zum künftigen Strommarkt, das Gabriels Ministerium im Herbst als Diskussionsgrundlage präsentierte, taucht diese Variante auf: als „Option Strommarkt 2.0“.

Anhänger dieser Variante gibt es, neben der Kanzlerin, reichlich. Vorige Woche trafen die Energieminister der Länder in Berlin mit Gabriel zusammen. Die meisten, berichten Teilnehmer der Runde, hätten mit der Variante 2.0 kein Problem. Allein die Südländer Bayern und Baden-Württemberg hätten Staatseingriffe verlangt. „Korrekturen am bestehenden System verschieben nur die nötige Reform“, warnte etwa Baden-Württembergs Energieminister Franz Untersteller. Die Industrie arbeitet bereits an ihrem ganz eigenen Alternativplan. RWE prüfe den Verkauf kaum gelaufener Kraftwerke ins Ausland, kündigt Vizechef Schmitz an. Das, sagt Schmitz noch, sei natürlich nur eine Option.

"New Yorker sind am neurotischsten"

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"Die offenen Leute ziehen vom Land in die Stadt - und werden da noch offener."


jetzt.de: Frau Bleidorn, Sie wohnen im niederländischen Tilburg. Was sagt das über Ihre Persönlichkeit aus?

Wiebke Bleidorn: Unsere Studie legt nahe, dass Menschen in dicht besiedelten Gebieten wie der Londoner Innenstadt besonders extrovertiert sind. Ich hätte dann wohl eine konventionelle, aber verträgliche Persönlichkeit. Solche Menschen fühlen sich eher in urbanen Randgebieten wohl.

Für die Studie haben Sie mehr als 600.000 Menschen in ganz Großbritannien befragt...

...genauer gesagt, hat die BBC diese Menschen dazu gebracht, einen detaillierten Persönlichkeitstest zu machen. Dabei messen wir die Emotionalität, die Offenheit, die Extraversion, also die Geselligkeit, die  Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. Am Ende wurden die Teilnehmer nach ihrer Postleitzahl gefragt.

Sie konnten also die Persönlichkeit der Menschen ihrer Wohngegend zuordnen.
Genau, wir wollten wissen: Sieht man eine Häufung unterschiedlicher Persönlichkeitstypen in verschiedenen Gegenden und Stadtvierteln? Und wie hängt das mit der Zufriedenheit der Menschen zusammen?

Und?

Menschen, die besonders offen - aber auch besonders neurotisch - sind, wohnen gehäuft in Innenstadtvierteln.

Was meinen Sie mit „offen“?

Jemand mit einer offenen Persönlichkeit liebt neue Erfahrungen. Er wählt im Restaurant das, was er nicht kennt. Die Neugier überwiegt die Angst vor Enttäuschungen. Diese Menschen haben oft ein großes Bedürfnis nach Kunst, Konzerten, neuen Ideen. In der Vorstadt oder auf dem Land sind diese Menschen schnell unzufrieden.



Wiebke Bleidorn, 32, ist Professorin an der Tilburg Universität in den Niederlanden.

Weil die Leute dort eher verschlossen sind?

Zumindest weniger offen. Menschen auf dem Land sind konventioneller, dafür aber deutlich gewissenhafter und sozial verträglicher. Sie haben ein höheres Bedürfnis nach Harmonie und sind seltener neurotisch. Sie sind am Stadtrand genauso glücklich wie die Extrovertierten im Stadtzentrum.
 
Weltoffene Neurotiker in der Innenstadt, zuverlässige Langweiler in der Vorstadt: Klingt ganz schon klischeehaft.
Stimmt, die Studie bestätigt bestimmte Stereotype. Aber natürlich gibt es auch individuelle Unterschiede. Zum Beispiel würde ich selbst eher nicht in Tilburg leben, wenn ich es mir aussuchen könnte. Aber mein Beruf hat mich hierher gebracht. Es entscheidet also nicht nur unser Charakter, wo wir wohnen.

Sie sind Psychologin. Was macht der Kosmos Innenstadt psychologisch mit Menschen?

Es gibt unterschiedliche Kategorien, die für das Wohlbefinden wichtig sind. Die Menge der Menschen, die Populationsdichte. Manche können mit der Unordnung und der gewissen Unsicherheit in einem Viertel wie Neukölln gut umgehen. Wer hingegen ein starkes Bedürfnis nach Ordnung und Struktur hat, fühlt sich da unter Umständen unwohl. Den nervt es, wenn an jeder Hauswand Graffiti ist und zu jeder Tageszeit fremde Menschen um ihn sind.


"Man wird infiziert von den Möglichkeiten der Großstadt"



Ziehen die Stadtzentren die extrovertierten Leute an? Oder machen sie Leute extrovertiert?

Was Ursache ist und was Wirkung untersuchen wir gerade näher. Wir vermuten drei Mechanismen: Erstens die Selektion. Menschen suchen sich bewusst Viertel aus, die ihren Interessen entsprechen. Die offenen, neurotischeren ziehen also vom Land in die Stadt...

...und die konventionelleren von der Stadt aufs Land.
Richtig, wir nennen das Push- und Pull-Effekt. Zweitens ist da die Sozialisation: Der Wohnort macht die Leute tatsächlich offener. Sie werden sozusagen infiziert von der Möglichkeit, jeden Abend ein neues exotisches Restaurant ausprobieren zu können. Der dritte Mechanismus kombiniert beides: Die extrovertierten Leute ziehen in urbane Gegenden, fühlen sich da wohl und werden dadurch noch offener.

Welche Rolle spielt das Alter?
Die Studie hat das Alter nicht berücksichtigt. Aber ich gehe stark davon aus, dass das Alter sehr viel mit der Zufriedenheit in verschiedenen Umgebungen zu tun hat. Wir wissen zum Beispiel: Ältere Leute wohnen eher selten in richtig urbanen Vierteln. Man braucht für bestimmte Wohnlagen bestimmte Ressourcen.

Was meinen Sie damit?

Der „Pace of life“, also die Geschwindigkeit in manchen Gegenden, ist für alte Menschen schwer zu bewältigen. In Manhattan zum Beispiel sehe ich auf der Straße kaum alte Leute. In Florida dafür sehr viele.

Wenn sich ein Innenstadt-Typ später im Leben für die ruhige Vorstadt entscheidet – wird er dadurch auch weniger offen?
Wir wissen, dass Menschen mit zunehmendem Alter weniger offen werden. Dann bevorzugen sie auch andere Wohnorte. Aber auch die Lebenszufriedenheit ändert sich: Sie nimmt in der Regel stetig zu. Erst im hohen Alter, wenn die Gesundheit schwächer wird, nimmt die Zufriedenheit wieder ab.

Welchen Einfluss hat die Gentrifizierung?
Um das zu untersuchen, müssten wir eine große Gruppe an Menschen mehrmals im Abstand von ein paar Jahren befragen. Machen wir vielleicht in der Zukunft. Wo in München wohnen Sie denn, in Schwabing?

"Die Leute bleiben nicht ewig hip und cool. Und umgekehrt wimmelt es in Prenzlauer Berg in zehn Jahren von Mofas."



Gärtnerplatzviertel. War in den 80ern ein Schwulenviertel, dann hipper Kneipenkiez. Heute wohnen junge Familien da. Sind die Extrovertierten abgewandert?

Nicht unbedingt! Sehen Sie, das ist ganz normal: Die Leute bleiben ja nicht ihr ganzes Leben lang hip und cool. Sie werden älter und bekommen Kinder. Das muss nicht unbedingt der Effekt der Gentrifizierung sein.

Mein Viertel wird also einfach alt.

Könnte sein. Ich frage mich übrigens auch oft, wie der Prenzlauer Berg, der ja jetzt oft als Familien-Getto verspottet wird, in zehn Jahren aussehen wird. Wenn die ganzen Kinder von heute Teenager sind. Dann wimmelt es da von Mofas und plötzlich wirkt es wieder total jung!

Gilt das Ergebnis Ihrer Studie eigentlich auch für andere Länder?

Wir müssten das noch mit Stichproben in anderen Ländern nachweisen – aber ich gehe davon aus, dass es in allen europäischen Großstädten ganz ähnlich ist.

Wenn man von Offenheit und Extroveriertheit spricht - gibt es denn Unterschiede zwischen den Städten? Stichwort Berlin – München?
Wir haben das in den USA untersucht. Da ergaben die Studien, dass die Leute in New York am neurotischsten sind - genauer gesagt in Williamsburg, Brooklyn. Und in San Francisco am entspanntesten und unzuverlässigsten. Da haben sich auch die Stereotype bestätigt. Übrigens ziehe ich bald von Tilburg nach San Francisco, das fühlt sich ganz gut an. (Lacht)

Ist es denn Veranlagung, ob mich meine Persönlichkeit eher in die Großstadt treibt, oder kann ich das steuern?

Die Persönlichkeit hat einen großen genetischen Anteil. Aber wir werden auch zu denen, die wir sind, wegen der Dinge, die wir erleben. Natürlich kann man sich vornehmen, gewissenhafter zu werden oder neugieriger. Aber ganz können wir nie aus unserer eigenen Haut. Irgendwo gibt es Grenzen, die nicht so leicht zu überwinden sind.

"Sprecht mit dem Obstverkäufer über Pegida!"

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jetzt.de: Ronny, wo bist du gerade?
Ronny Trettmann: In Leipzig, ich kann von meinem Fenster aus einen Hubschrauber sehen, der wegen der Demonstration heute Abend über der Stadt kreist.

Was hast du bei der letzten Legida-Demo gemacht?
Ich war auf der Gegendemo und habe vorher noch schnell das erste Transparent meines Lebens gesprüht. Darauf stand „No LEGIDA! Schämt euch! Pfui!“ Nicht sehr kreativ (lacht). Das Plakat hab ich dann noch schnell aus dem Fenster gehängt, bevor ich auf die Demo bin.



Ronny Trettmann wehrt sich gegen Pegida - mit Musik.


Heute Abend werden rund 100.000 Menschen bei den Demonstrationen in Leipzig erwartet, inklusive Gegendemonstranten. Wo wirst du sein?
Ich werde wieder rausgehen - bin aber noch unsicher, welcher der geschätzt 20 Gegendemonstrationen ich mich anschließe. Legida hat 60.000 Demonstranten angemeldet, in der Realität sind es meist viel weniger.

Wie fühlt es sich für dich als Leipziger an, dass deine Stadt jetzt so im Fokus steht?

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so eine neu-rechte Bewegung in Deutschland nochmal hochkommt. Nach der Wende stand das ja eine Zeit lang auf der Kippe. Wenn man damals im letzten Bus saß und zum Beispiel eine Basecap trug, wurde man schnell mal angepöbelt.

Inzwischen ist Leipzig eine sehr bunte, junge Stadt.
Ja, immer mehr Menschen anderer Nationalitäten sind hierher gezogen. Im Gegensatz zu Städten wie Dresden oder Chemnitz hat es sich hier richtig durchmischt. Und jetzt müssen wir wieder gegen diese Typen von früher kämpfen, nur dass sie nun geschlossen mit Durchschnittsbürgern aufmarschieren.

Die Leipziger wählen seit Jahren eher links.
Nach der letzten Landtagswahl war Leipzig ein roter Fleck im schwarzen Sachsen! Und das ist immer noch genauso. Nur weil hier jetzt rechte Spinner anreisen, ist ja nicht die gesamte Stadt nach rechts gerückt. Das werden heute nur so viele, weil am Montag die Demo in Dresden abgesagt wurde.

Du hast mit der Dresdner Ska-Band „Yellow Umbrella“ einen Song namens „No Pegida“ aufgenommen. Du singst, wie du dich als Sachse für diese Bewegung schämst. Wie kam es dazu?
Ich wollte mich schon länger dem Thema widmen, wusste aber nicht wie. Eigentlich behandle ich meine Themen eher mit Humor. Der Sänger von Yellow Umbrella rief mich dann an und meinte, dass sie einen Song aufnehmen, dessen Chorus sie auf „No Pegida“ umgedichtet hätten. Ob ich Lust hätte ein paar Strophen beizutragen. Das habe ich dann spontan gemacht. Der Schaden, der durch die Pegida-Bewegung für Dresden und Sachsen generell angerichtet wird, ist ja immens.

https://soundcloud.com/yellowumbrella2/no-pegida-yellow-umbrella-ronny-trettmann-tiny-dawson

Wie waren die Reaktionen auf den Song?
Mich haben verschiedene Leute angeschrieben und angeboten, den Song in ihre Landessprache zu übersetzen. Deshalb gibt es jetzt eine indonesische, eine arabische und eine spanische Variante von dem Lied, das ist ein richtiger Selbstläufer geworden. Mit einem Mädchen aus Indonesien schreibe ich relativ viel, das ist für mich sehr spannend, weil ich bis zu dem Song kaum muslimische Freunde hatte.

Läuft der Song auf den Gegendemos?
Ja, vergangene Woche hatte jemand extra eine kleine Anlage auf dem Fahrrad dabei, um ihn abspielen zu können. Auch im Radio gab es eine ganz gute Resonanz.

Gab es auch Feedback von Pegida-Anhängern?
Es gab den einen oder anderen Kommentar, aber keine Drohungen. Aber die diskutieren ja auch nicht so gerne, sondern verwenden lieber direkt Totschlagargumente.

Die Musik ist dein Mittel gegen Pegida – was können andere tun?
Wir brauchen jeden einzelnen – jeder Künstler und jeder Politiker und jeder, der sonst was zu sagen hat, sollte sich dazu äußern. Die Pegida-Anhänger selbst sind ja so politikverdrossen, dass das vermutlich gar nicht ankommt. Umso wichtiger ist es, dass jeder im Kleinen handelt. Jedes Gespräch mit Verwandten, mit dem Taxifahrer oder dem Obstverkäufer hilft.

Politik steht ihnen gut

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"Ordnung auf meinem Kopf!", ruft Toyah Diebel und sprüht sich die zweite Ladung Haarspray auf ihren Kopf. Sie streicht ihre Haare nach hinten, inzwischen sind sie schon ganz ölig. Ein strenger Zopf bedeute, dass man ordnungsliebend ist, erklärt die junge Moderatorin aus Berlin.

Das ist wichtig für ein "echtes Pegida-Girl". Wie man so eines wird, zeigt sie in ihrem Video: Haare nach hinten, viel Foundation aufs Gesicht, sodass "es langsam schwierig wird, Gefühle zu erkennen", und, das sei "das Tolle am Pegida-Look", "echte Augenbrauen braucht man nicht!"

http://www.youtube.com/watch?v=5Zv-cN9-ea4


Das sagt Toyah einfach so. Rasiert sich die Augenbrauen ab. Und tätowiert sich neue auf. Knapp 300.000 Mal wurde ihr Video in den vergangenen zwei Tagen angeklickt. Toyah reagiert damit auf den Auftritt der Pegida-Sprecherin Kathrin Oertel bei "Günther Jauch" am Sonntag.

Politik? Nur mit Humor


Auf Youtube funktioniert Politik meistens so: über Satire. Sendungen wie die "Heute Show", "Die Anstalt", "Extra3" und "Quer" stellen regelmäßig Videos online, die von Zehntausenden gesehen werden. Seit dieser Woche probieren verschiedene Youtuber andere Herangehensweisen aus: In der Kampagne #YouGeHa (Youtuber gegen Hass) haben sich etwa 30 Wissens- und Unterhaltungs-Youtuber wie LeFloid zusammengetan und veröffentlichen seit Montag jeden Tag Videos über Fremdenhass, Ausgrenzung und Homophobie.

Dem Initiator Mirko Drotschmann, der schon lange als MrWissen2go sowohl die "Droge Zucker" als auch das deutsche Parteiensystem und den Islam in fünf Minuten erklärt, war aufgefallen, dass er unter seinen Videos immer mehr Hasskommentare liest und löschen muss. Seit dem Aufkommen der "HoGeSa"- und "Pegida"-Demonstrationen sei es schlimmer geworden, zitiert ihn die Tagesschau, wohl weil viele sich ermutigt fühlen, ihren Hass zu verbreiten. Im Gespräch mit anderen Youtubern hatte er die Idee, das in einer gemeinsamen Aktion zu thematisieren.

Bundestagsreden als abschreckendes Beispiel


Anders als auf Facebook und Twitter ist Youtube bislang fast frei von Politik. Und wenn, dann interessiert sie junge Menschen nicht: Politiker und Parteien posten Reden aus dem Bundestag. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat einen Youtube-Account, ebenso die politischen Satiresendungen.

Für das junge Publikum gab es immer wieder Versuche wie die Youtube-Kanäle Stör/Element und poliWHAT?!, die beide im vergangenen Jahr versuchten, komplexe politische Zusammenhänge wie Petitionen oder das Wahlrecht mit 16 in kurzen Filmen zu erklären. Beide veröffentlichten in diesem Jahr bislang keine aktuellen Beiträge mehr. Und dann ist da höchstens noch Tilo Jung, der in seiner Video-Reihe Jung und Naiv Politikern die immer gleich naiven Fragen stellt.

Nicht gegen Islamisierung, sondern gegen den Hass


Nun also #YouGeHa. Eine weitere Abkürzung, aber dieses Mal gegen den richtigen Gegner: den Hass. In allen Facetten und so, dass man gerne rein- und die Videos sogar zu Ende schaut. Die Kampagne ist eine Art Magazin geworden, mit Reportagen, Gesprächen, essayistischen Gedanken, nur noch vielfältiger, weil sich die einzelnen Autoren und Moderatoren nicht auf eine Linie geeinigt haben, sondern jeder in seinem Stil veröffentlicht: mal flapsig, mal ernst, mal albern, mal melancholisch und mal besser und mal schlechter.


Da ist zum Beispiel der beeindruckende Beitrag "Meet a Muslim" von der Youtuberin Anna Molly, die bemerkt hatte, dass sie keine Muslime kennt, obwohl sie in Berlin Neukölln lebt. In ihrem Video streift sie durch die Stadt und spricht mit Muslimen über ihr Leben. Sie fragte sie, was sie lieben und was sie hassen, wovon sie träumen und wie wichtig ihnen Religion ist. Und auch, was sie über Pegida, den IS und Charlie Hebdo denken.


http://www.youtube.com/watch?v=rfqXV8mrH5s&list=PLD3yyRpAc87toOlvHV9BJHWP9dZnakRFz&index=2


Oder das nachdenklich-philosophische Video "Psychologie der Fremdenfeindlichkeit", in dem der Youtube-User LetsDenküberlegt, wie Fremdenhass entsteht, und warum Pegida ausgerechnet in Dresden so erfolgreich ist.

http://www.youtube.com/watch?v=l0uhgIR0C78 


Oder der Beitrag "Der Neue im Dorf", in dem der User dailyknoedel ein Selbstgespräch mit einem Zugezogenen aus Hamburg führt und Fremdenhass entlarvend überspitzt.


http://www.youtube.com/watch?v=bYoJDBhgj-4&list=PLD3yyRpAc87toOlvHV9BJHWP9dZnakRFz&index=1


Oder aWish, eine Youtuberin mit russischen Wurzeln, die über den Rassismus spricht, der ihr im Alltag begegnet.


http://www.youtube.com/watch?v=6pSHAI-5208&index=2&list=PLD3yyRpAc87toOlvHV9BJHWP9dZnakRFz


Vieles ist nicht perfekt. In seinem sonst gut gemachten Faktencheck versucht Mirko Drotschmann als MrWissen2go zu erklären, warum Ausländer nicht, wie von Pegida propagiert, "den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen", weil gesetzlich festlegt ist, dass für eine offene Stelle erst ein geeigneter Deutscher, dann ein EU-Ausländer und dann erst ein Nicht-EU-Ausländer gesucht werden muss. Und sagt dann sehr unglücklich formuliert: "Ein Deutscher muss sich schon ganz schön blöd anstellen, wenn er einen Job nicht bekommt, der ausgeschrieben ist, sondern ein Ausländer ihm den Job wegnimmt."


http://youtu.be/sw_ZRJK4PnY?list=PLD3yyRpAc87toOlvHV9BJHWP9dZnakRFz


Den Ausrutscher verzeiht man allerdings in der Summe der Beiträge, die allesamt zum Nachdenken und Vorurteile-Hinterfragen anregen. Denn die kurzen Filme schaffen es allesamt, große aktuelle Themen auf Einzelpersonen herunterzubrechen, und das so unterhaltsam wie informativ. Das zeigt, dass Videos und speziell Youtube das ideale Medium für politische Themen wären und dass Politik sehr wohl seinen Platz hat zwischen Schmink-Tutorials und Let’s-play-Videos und nicht nur als Satire junge Menschen anspricht.


#YouGeHa zeigt auch, dass es sich lohnt, wenn sich Youtuber zusammentun. So ein Zusammenschluss ist bislang relativ einzigartig. 2013 gab es die Kampagne "Youtuber gegen Nazis" der Bundeszentrale für politische Bildung, wo bekannte YouTuber Versionen zu Blumios Song "Hey Mr. Nazi" als Zeichen gegen Rassismus veröffentlichten. 2014 dann die Aktion #nichtschön, für die 30 Beauty-Youtuberinnen in einem gemeinsamen Video gegen Oberflächlichkeit und Hasskommentare in sozialen Netzwerken ausgesprochen haben. Die Youtuber hinter #YouGeHa erreichen zusammen um die 3,5 Millionen Abonnenten. Das hat ein enormes Potenzial.

Das Konzept von #YouGeHa geht auf


Die politische Diskussion, die #YouGeHa anstoßen will, scheint zu zünden. Unter den Videos sind bislang immerhin meistens um die 150, teilweise mehr als 400 Kommentare, während auf Twitter die Diskussion bislang kaum über das Posten von Videos hinausgeht. Vielleicht liegt der Erfolg der Youtube-Kampagne in der Haltung und Ansprache der Youtuber.


Anders als Moderatoren und Politiker begegnen Youtuber ihren Zuschauern auf Augenhöhe. "Die Ansprache bei Youtube ist mehr auf der Ebene eines Kumpels", sagte auch Mirko Drotschmann im Interview mit FAZ Online. Mehr noch, oft sind die Youtuber Vorbilder für die durchschnittlich sehr jungen Nutzer der Video-Plattform. "Im Fernsehen steht der Moderator meistens als Dozent da", so Drotschmann. Schade, dass erst Pegida so ein großes Politik-Projekt auf Youtube angestoßen hat. Die Kampagne ist erst mal nur auf eine Woche befristet. Neue Projekte sind aber schon angedacht. Themen, die mehr hergeben als übernaive Fragen, gibt es genug.

Mensch aus Glas

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Das Dokument hat 14 Seiten, und die Idee, den einzig wirksamen Schutz der Bürger gegen digitale Überwachung künftig komplett auszuhebeln, kommt auf Seite zehn. Es geht darum, Verschlüsselungsmethoden im Netz, auf Handys, Computern und Tablets kurzfristig von jedem Sinn und Zweck zu befreien. Ein kühner Vorschlag, den der Anti-Terror-Koordinator der EU, Gilles de Kerchove, da macht. Und es hat seinen guten Grund, warum er ihn erst im zweiten Drittel seines langen Dokumentes macht.



Der Anti-Terror-Koordinator der EU, Gilles de Kerchove, fordert, dass Entschlüsselungsmethoden den staatlichen Behörden zugänglich gemacht werden.

Denn das Schreiben, das die britische Bürgerrechtsbewegung Statewatch und das deutsche Portal netzpolitik.org veröffentlicht haben, ist ein Musterbeispiel für die Argumentation eines Überwachungsfürsprechers, der sich die Pariser Terroranschläge für seine Argumentation zu Nutze macht. Der Text beginnt nach einigen formellen Floskeln mit dem Satz, der alle weiteren Seiten rechtfertigen wird: „In Europa besteht nie gekannte, mannigfaltige und sehr ernsthafte Terrorgefahr.“ Die Gefahr besteht zweifellos. Sie zum Teil dieser Argumentation zu machen, erlaubt es, Kritiker einer strikten Überwachungsinfrastruktur als verharmlosend, wenn nicht als Wegbereiter neuen Terrors zu brandmarken. Umgekehrt ermöglicht die Argumentationsmechanik es, noch das radikalste Aushebeln von Datenschutz und Privatsphäre als notwendige politische Aktion zu verkaufen.

So gleitet der politische Diskurs mehr und mehr in Forderungen nach mehr Sicherheit und mehr Überwachung ab. Gleichzeitig rückt damit das entgegengesetzte Szenario in weite Ferne, nämlich das demokratische Ideal, welches das Internet einst versprochen hat, der Traum vom gläsernen Staat, der seinen Bürgern dient.

Im Detail fordert de Kerchove umfassende Zusammenarbeit zwischen Behörden in Europa und Internetkonzernen. „Seit den Snowden-Enthüllungen“, schreibt de Kerchove, würden viele Firmen bessere Verschlüsselungstechnik für ihre Kunden anbieten. Jetzt müsse man dafür sorgen, dass die entsprechenden Entschlüsselungs-Schlüssel in die Hände der „relevanten nationalen Behörden“ gelangten. Eine Idee, die allzu leicht in einem Angriff auf die Privatsphäre der Bürger münden kann. De Kerchove hebt damit die Debatte um sichere Daten eine Stufe höher. Ist die Reaktion der Netzaktivisten auf die Enthüllungen von Edward Snowden bislang, in Verschlüsselung zu investieren, attackiert die Politik nun die Firmen, die Verschlüsselung anbieten. Technisch gesehen ist übrigens eine Verschlüsselung, die nach dem Prinzip Ende-zu-Ende stattfindet, grundsätzlich nicht mehr sicher, wenn eine dritte Partei unterwegs mitlesen kann, der Zugriff würde exakt das Prinzip zerstören, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselung so sicher macht. Man kann das mit einem Rohr aus Stahl vergleichen, für das der Hersteller künftig den Behörden stets eine Bohrmaschine mit Stahlbohrer auszuliefern hat. Wenn aber der Bohrer existiert, dann kann sich künftig niemand mehr sicher sein, ob das Rohr nun dicht hält oder nicht. Dann kann man es auch gleich bleiben lassen mit der Verschlüsselung.

Die Vorschläge des EU-Mannes werden bald den Innenministern der Europäischen Union vorgelegt. Den deutschen, Thomas de Maizière, wird de Kerchove nicht überzeugen müssen. Der Minister sagte am Dienstag bei einer Tagung in Lille, die Behörden müssten „befugt und in der Lage sein, verschlüsselte Kommunikation zu entschlüsseln oder zu umgehen, wenn dies für ihre Arbeit zum Schutz der Bevölkerung notwendig ist.“

Das klingt zwar gut, aber es lässt es sich eben schlecht sagen, ob das Ausspionieren eines Bürgers sinnvoll ist, solange es nicht stattfindet. Die Einschränkungen des Ministers sind deshalb vor allem schöne Worte; die Erfahrung lehrt, dass das Problem von Behörden gerne gelöst wird, indem alles abgehört wird, was möglich ist. Da wird dann schon ein Übeltäter dabei sein.

Bemerkenswert ist, wie offen die Zusammenarbeit zwischen Technikfirmen und Behörden gefordert wird. Die beiden größten Überwachungskomplexe, die die Welt je gesehen hat, digitale Wirtschaft und digitalisierte staatliche Autorität hat zwar bereits der amerikanische Geheimdienst NSA zusammengespannt; aber unter der Hand, möglicherweise illegal und deshalb als Geheimoperation. Die öffentliche Forderung der Minister zeigt hingegen, wie salonfähig ihr Verlangen nach den Daten der Bürger ist. Wie wenig sie sich jetzt, stets gedeckt von der argumentativen Überwucht der Terroranschläge, fürchten, den gläsernen Bürger zu fordern.

Wie die Debatte verläuft, erinnert an den Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Ob sie ihre erwünschte Wirkung, eine besser abgesicherte Gesellschaft, je erzielen kann, ist maximal umstritten: In Frankreich gibt es die Technik, und sie hat die Anschläge nicht verhindert.

Und doch ist die Vorratsdatenspeicherung zurück in der öffentlichen Debatte, stark wie nie. CDU und CSU wollen sie. Und auch SPD-Chef Gabriel kann sie sich plötzlich unter „engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ vorstellen.

Nach den Pariser Anschlägen kursierte ein Zitat von Jens Stoltenberg auf Twitter, mit dem der ehemalige Ministerpräsident von Norwegen 2011 auf den verheerenden Anschlag des Terroristen Anders Breivik reagierte. „Noch sind wir geschockt“, hatte Stoltenberg damals gesagt, „aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“ Die Vorratsdatenspeicherung ist das Gegenteil von Offenheit, genau wie es ein Abkommen zwischen Softwareherstellern und Regierungen wäre, mit dem Verschlüsselungstechnik ausgehebelt werden könnte. Sie ist ein Überwachungsinstrument, ein Generalverdacht, der alle Bürger betrifft und der sich technisch in Server-Schränken manifestiert, die jede Kommunikation mithören und speichern, damit der Staat jederzeit weiß, was seine Bürger so machen.

So entsteht ein Gegensatz zwischen dem Staat auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite, das Gegenteil einer demokratischen Internetutopie. Stattdessen wachsen Feindbilder: hier der datengierige Staat, da der Bürger, der etwas zu verheimlichen hat. Wer in dieser von de Kerchove und Kollegen angepeilten Konstellation seine Rechte wahrnimmt und zum Beispiel Verschlüsselungstechnik einsetzt, die nicht von großen Firmen hergestellt ist, macht sich schnell verdächtig.

Umgekehrt gilt das dagegen nicht. Auf der Seite des Staates fehlen immer noch ganz banale Werkzeuge, was jeden Bürger mit Recht stutzig machen könnte: Wo sind die Portale, auf denen jeder Bürger nachschauen kann, was der Staat über ihn weiß und gespeichert hat? Wo sind die Einblicke in die tägliche Arbeit jener Behörden, die Gewalt über die Bürger ausüben? Wo sind die Digitalkameras, die Polizisten während ihrer Arbeit filmen? Nicht im Ansatz sind die Möglichkeiten der digitalen Welt ausgeschöpft, wenn es um die Transparenz des Staates geht.

Das Netz als Instrument, um Kontrolleure zu kontrollieren, bleibt eine Domäne engagierter Bürgerrechtler und Netzaktivisten. Sie verdienen in der Regel schlecht und werden gerne mal vonseiten des Staates behindert. Transparenter wird vor allem der Bürger, und da er argumentativ vor die Wahl gestellt wird, von Terroristen ermordet oder halt ein bisschen gläsern zu werden, finden das viele gar nicht weiter schlimm. Manche hingegen bemerken den Graben. In Foren, auf Twitter und Facebook werden die Nachrichten zu den politischen Forderungen nach mehr Überwachung gelegentlich mit der Hoffnung auf einen transparenteren Staat quittiert. Es wird wohl vorerst bei der Hoffnung bleiben.


„Eine Schere im Kopf“

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SZ: Muss die Landwirtschaft immer mehr produzieren, zulasten der Umwelt? Wir essen ja kaum mehr als früher.

Folkhard Isermeyer: Nein, aber die deutsche Landwirtschaft ist eingebunden in die internationale Arbeitsteilung. Die Welt-Nachfrage steigt stetig und wird weiter zunehmen. Darum wachsen die Ansprüche an das Agrarsystem, mehr zu produzieren. Das ist kein Freifahrtschein; wir müssen die Umweltbelastungen verringern. Eine hohe Produktivität ist aber auch wichtig.



Wir kaufen Billigfleisch und empören uns über Tierquälerei. "Die meisten Menschen scheinen eine Art Schere im Kopf zu haben", sagt Agrarökonom Folkhard Isermeyer.

Wirklich? Der Schweinefleisch-Export ist rasant gestiegen. Wäre es so schlimm, wenn der Weltmarkt weniger Billigfleisch aus Deutschland bekäme?


Bleiben wir erst mal beim Pflanzenbau: Natürlich könnten wir die Landwirtschaft in Deutschland auch stilllegen oder museal gestalten, wir hätten ja genug Geld, um auf dem Weltmarkt zuzukaufen. Die Übernutzung der Agrarsysteme in anderen Erdteilen würde damit aber verschärft. Bei der Nutztierhaltung ist es anders: Der Verbrauch hat bei uns Dimensionen angenommen, die ernährungsphysiologisch unnötig sind. Darum hätten es die Verbraucher in der Hand, weniger und dafür besser erzeugtes Fleisch zu kaufen. Wir könnten die Produktion in Deutschland reduzieren.

Die Leute kaufen aber Billigfleisch, und regen sich über Tierquälerei auf.


Ja, die meisten Menschen scheinen eine Art Schere im Kopf zu haben: Eigentlich müssten sie wissen, was ihr Konsum bewirkt, da ist es schon merkwürdig, wenn sie sich abends vorm Bildschirm über die Tierhaltung empören. Aber man kann nicht verlangen, dass Menschen mit jeder alltäglichen Kaufentscheidung eine hochkomplexe öko-sozial-regionale Bilanz anstellen. Deshalb kann man die Politik nicht aus der Verantwortung lassen, auch sie muss dem gesellschaftlichen Unbehagen Rechnung tragen.

Was müsste sie denn tun – wie sähe eine gute Nutztierhaltung aus?

Das ist im Kern eine ethische Frage. Dabei geht es nicht um die persönliche Meinung einzelner Wissenschaftler; wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs.

Da käme wohl heraus, dass die Menschen keine Massentierhaltung wollen. An sich sind aber weniger die Betriebsgrößen problematisch als die Haltungsbedingungen.

Das kann man so sehen, aber trotzdem halte ich den gesellschaftlichen Diskurs für unverzichtbar. Wenn da rauskommen sollte, dass die Gesellschaft auch nach sorgfältiger inhaltlicher Debatte mehrheitlich gegen Betriebe mit zigtausend Tieren ist, dann sollte man in einer Demokratie darauf eingehen. Die Wissenschaft müsste dann eben ein System finden, das mit kleineren Strukturen zurechtkommt.

Sollte man sich nicht auf konkrete Probleme wie das schmerzhafte Kürzen von Hörnern und Ringelschwänzen oder den Antibiotika-Einsatz konzentrieren?

Die Lösung der konkreten Tierschutzfragen ist zweifellos wichtig, und wir arbeiten daran. Wir müssen aber weiter denken. Ein Beispiel: Auf der letzten Eurotier-Messe wurde eine der Goldmedaillen für eine Innovation in der Schweineproduktion vergeben. Da lebt die Muttersau mit ihren Ferkeln über Wochen in einer isolierten Plastikwanne mit hohen Seitenwänden. Diese wird nur noch hin- und hergefahren, zur Impfstation, zur Futterstation. Das ist sinnvoll, was Hygiene und Antibiotika-Vermeidung angeht. Aber wenn man das zu Ende denkt, landet man automatisch beim Hochregallager für Tiere. Da stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft diese Form der Nutztierhaltung will.

Mal angenommen, sie will sie nicht: Wie kann man das System verändern? Bauern müssen ja auch Geld verdienen.

Eine Möglichkeit sind schrittweise Verbesserungen durch freiwillige Selbstverpflichtungen der Branche. Wenn die Initiative Tierwohl im Frühjahr startet, wird der Lebensmittelhandel für jedes Kilo Schweinefleisch einen kleinen Obolus in einen Topf zahlen. Daraus werden dann Landwirte bezahlt, die ihr Produktionsverfahren anpassen, zum Beispiel ihren Schweinen mehr Platz bieten. Die Teilnahme ist aber freiwillig. Spannend wird, ob sich der Handel eines Tages verpflichtet, nur noch teureres Fleisch aus besonders tiergerechten Haltungssystemen zu verkaufen. Das ist heikel, weil das Kartellrecht eigentlich vorsieht, dass es so etwas nicht geben soll.

Fehlt nicht auch das wirtschaftliche Interesse? Mit dem Export billiger Produkte wäre es dann wohl vorbei.

Die Branche könnte im Prinzip die Produktion für den Weltmarktverkauf parallel dazu in alter Form fortsetzen.

Wie bitte? Zwei Ställe nebeneinander, glückliche Schweine für Deutschland, leidende fürs Ausland?

Ich vermute auch, dass das imagemäßig kaum durchzuhalten wäre. Also müssten sich auch Schlachtbetriebe und Exporteure auf höhere Standards einlassen, was die Gesamtaufgabe nicht leichter macht.

Ob die Wirtschaft das alleine hinbekommt? Wieso schreibt nicht der Staat ethisch vertretbare Tierhaltung vor?

Das ist der zweite Ansatz, so kann man es auch machen. Dann würde der Staat selbst die Vorschriften schrittweise verschärfen und die Betriebe durch Förderung in die Lage versetzen, die höheren Kosten zu decken – mit Steuergeld statt mit Verbrauchergeld. Bisher wird das Geld für Agrarförderung mit der Gießkanne über alle Flächen verteilt. Eine politische Bereitschaft, diese Mittel künftig in großem Stil für den Umbau der Nutztierhaltung zu nutzen, kann ich allerdings bisher nicht erkennen.

Die EU hat gerade versucht, das Geld besser einzusetzen. Zwar nicht für mehr Tierschutz, aber für die Natur: Bauern sollen einen Teil ihrer Flächen umweltfreundlicher nutzen, wenn sie die Förderung behalten wollen. Naturschützer sagen aber, das bringe nicht viel. Warum?

So ein Zahlungssystem von Lappland bis Sizilien umzusetzen, verlangt administrativ einfache Lösungen. Wirksamer Naturschutz fordert aber standortspezifische Lösungen. Und noch etwas: Weil man sich entschieden hat, an der Flächenförderung festzuhalten und die gesellschaftlichen Ziele darin einzubauen, hat man auch schon entschieden, welche Ziele wichtig sind. Nämlich Arten- und Klimaschutz, weil man dies wenigstens ansatzweise über Flächenförderung angehen kann. Tierschutz, Welternährung oder Anpassung an den demografischen Wandel dagegen kann man damit nicht anpacken.

War das eine bewusste Entscheidung?

Nein; nach meinem Eindruck hat man zunächst entschieden, den Finanzfluss weiter überwiegend per Flächenzahlung zu organisieren, und dann hat man dafür Begründungen gesucht.

Fünf Milliarden Euro werden jährlich in Deutschland per Flächenprämie verteilt. Und man hat nicht mal genau überlegt, was man damit erreichen will?

Man hat durchaus überlegt und intensiv diskutiert. Aber die Politik tut sich schwer damit, erst die Ziele zu definieren und dann die besten Maßnahmen zu entwickeln, so, wie ein Unternehmen vorgehen würde. Politik funktioniert oft andersherum: Bestehende Förderprogramme werden nachjustiert, aber nicht mehr im Grundsatz verändert. Die aktuellen Themen dienen dann dazu, Begründungen für die fortgesetzten Zahlungen zu liefern. Und statt um konkrete Ziele, mehr Tier- oder Umweltschutz, geht es vor allem darum, wer wie viel bekommt.

Fern vom Glück

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Ulla Schneider ist Ende 30. Sie ist selbständig. Mit ihrem Mann betreibt sie eine Agentur für Grafikdesign in Berlin, sie haben zwei Kinder. Ulla Schneider will alles haben und sein: unendlich kreativ, die perfekte Unternehmerin, die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter. Es gibt schöne Zeiten. Wenn die Geschäfte gut laufen und die Kasse voll ist, ist Party angesagt. Aber dann hat sie das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Wenn die Geschäfte nicht so gut laufen, plagen die Frau Existenznöte. „Es gibt Tage, da komme ich nicht mehr aus dem Bett“, erzählt Ulla Schneider. Sie schluckt Antidepressiva, um ihre „inneren Dämonen zu beruhigen“. „Die Hänger“, so nennt sie Ulla Schneider, die im wirklichen Leben anders heißt, ziehen sich manchmal über Wochen hin.



Circa vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an behandlungsbedürftiger Depression. Viele Menschen trauen sich nicht, über ihre Krankheit zu sprechen.

Es waren berührende Geschichten, die Stephan Grünewald, Mitgründer des Marktforschungsunternehmens Rheingold, und die anderen Psychologen in den Interviews für ihre Studie „Die geheime Logik der Depression“ zu hören bekamen, gerade weil die Menschen in den Gesprächen offen über ihre Not sprechen konnten. Die Studie wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Fazit: Depression sei immer noch ein Tabuthema. „Die Furcht, sich in seiner Praxis einem Arzt oder Psychologen zu öffnen, ist groß, weil die Betroffenen fürchten, gleich Psychopharmaka verschrieben zu bekommen oder im schlimmsten Fall eingewiesen zu werden“, erzählt Grünewald. Einfacher zu vermitteln seien die Symptome „innere Unruhe“ oder „Burnout“, der mittlerweile eine gesellschaftlich akzeptierte Krankheit sei, irgendwie ein Zeugnis des Aktivseins.

„Depressiv will niemand sein“, sagt Grünewald. Depressionen passten nicht zum Kulturideal einer auf die Maximierung des Glücks ausgerichteten Gesellschaft von Supertalenten. „Wir fühlen uns wie Gott, mit einem Fingerwisch auf dem iPad bewegen wir Welten.“ In ihrer „besinnungslosen Betriebsamkeit“ nehmen sich depressive Menschen keine Zeit, ihre Lage zu reflektieren. „Sie sind unfähig zu Kompromissen.“ Ihre Gedanken drehten sich nur um sich selbst, „die Welt um sie herum, ob Ebola oder Islamischer Staat, ist ihnen egal.“ Der Anspruch bleibe, die Nummer eins zu sein, und er wird in der Depression eingefroren, die Menschen legen sich, sagt Grünewald, selbst lahm, sie ziehen sich zurück.

Ulla Schneider ist nicht allein. „Depression ist eine Volkskrankheit“, sagt Ulrich Hegerl, Leiter der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Circa vier Millionen Bundesbürger leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression, schätzt die Stiftung. Jeder fünfte Bundesbürger erkranke einmal im Leben an einer Depression. Sie macht weit mehr als die Hälfte der psychischen Erkrankungen aus (siehe Text unten). „Es ist eine schwere Erkrankung, selbst in der leichten Form“, sagt Hegerl. „Depressionen senken die Lebenserwartung um rund zehn Jahre, etwa so viel wie schweres Rauchen.“

„Die Dunkelziffer der Erkrankten dürfte noch höher sein“, glaubt Grünewald. Es liegt in der Natur dieses Leidens, dass den Betroffenen oft selbst nicht klar ist, warum sie traurig und antriebslos sind – zumal wenn kein objektiver Anlass vorliegt wie Trauerfälle oder andere Schicksalsschläge. „In der Regel schlagen sich die Betroffenen drei Jahre mit ihrer Krankheit alleine rum, oft ohne Verwandten oder Freunden davon zu erzählen. Dann versuchen sie erst einmal mit freiverkäuflichen pflanzlichen Präparaten ihr Leiden zu mindern“, erzählten die für die Studie befragten Apotheker. Rheingold führte mehrstündige Gespräche mit 80 Patienten, Ärzten, Apothekern und pharmazeutisch-technischen Assistenten. Die Menschen berichteten vom Gefühl, nicht mehr „am Glück dieser Welt“ teilhaben zu können.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden weltweit mehr als 350 Millionen Menschen jeden Alters an einer Depression. Sie sei die weltweit am stärksten verbreitete Erkrankung. Die volkswirtschaftlichen Schäden, verursacht etwa durch Fehltage in den Unternehmen und die Kosten der Behandlungen, sind beträchtlich. Die deutsche Volkswirtschaft kostet die Krankheit jedes Jahr zwischen 15,5 bis 21,9 Milliarden Euro, geht aus einer gemeinsamen Studie des Versicherers Allianz Deutschland und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung hervor. Das sind immerhin 0,88 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Die Untersuchung stammt aus dem Jahr 2011. An den grundlegenden Aussagen dürfte sich nichts geändert haben. Die Depression, schreibt Florian Holsboer, damals Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, im Vorwort der Studie, sei eine rätselhafte Erkrankung. Trotz aller Fortschritte könne die Forschung die Depressionsentstehung noch nicht exakt erklären. Auch für die Öffentlichkeit sei die Depression ein Mysterium. „Oft mag man sie gar nicht als Krankheit akzeptieren, ja nicht einmal eingestehen, dass man depressiv erkrankt ist“, schreibt Holsboer. So werden verschleiernde Diagnosen geschaffen, wie das Burn-out-Syndrom, um das Stigma einer Depression zu vermeiden. Die Depression ist eine heimliche, aber vor allem eine unheimliche Krankheit.

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund beobachtet seit Langem den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen und Fehltagen und Frühverrentungen. Wie die Grafik zeigt, stieg seit Anfang dieses Jahrtausends die Zahl der Fehltage wegen Arbeitsunfähigkeit (AU-Tage) deutlich an auf knapp 60 Millionen im Jahr 2012, das waren 11,4 Prozent aller AU-Tage. Ein ähnliches Bild zeigt sich – in absoluten Zahlen – bei den Frühverrentungen. 2012 hörten etwa 74 500 Menschen wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze auf zu arbeiten, das waren rund 42 Prozent aller Frühverrentungen.

Es gibt viele Untersuchungen und Daten zum Thema Depression – mit großem Interpretationsspielraum. Für Petra Müller-Knöß, bei der Industriegewerkschaft IG Metall zuständig für Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz, belegen die Zahlen eindeutig: „Mit steigender Arbeitsintensität, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war, erhöht sich die Gefahr einer Depression.“ Termindruck, überlange Arbeitszeiten und ständige Erreichbarkeit seien für viele Beschäftigte Alltag, „der Job ist Stressfaktor Nummer eins“, ergab eine Umfrage der IG Metall vergangenes Jahr.

Der Leipziger Psychiater Hegerl sieht dagegen kein Anzeichen dafür, dass die Zahl der an Depression erkrankten Menschen deutlich zugenommen hat. „Die Gesellschaft geht nur offener damit um“, sagt er. Dazu haben auch – auf tragische Weise – prominente Fälle wie der Suizid des Torhüters Robert Enke im November 2009 beigetragen. „Die Menschen suchen heute öfters Hilfe“, sagt Hegerl, „und die Ärzte erkennen und benennen Depressionen besser.“ Das sei ein gutes Zeichen. Früher diagnostizierten Ärzte mitunter auch aus Unwissenheit eher Herz-Kreislaufbeschwerden oder ein Rückenleiden oder – in jüngerer Zeit – einen Burn-out, „das klingt modern und nach Arbeitseifer“. Hegerl ist kein Zyniker, sondern ein Arzt, der Daten analysiert. Die Zahl der Selbstmorde sei in den vergangenen 15 Jahren um 8000 auf 10000 zurückgegangen. Mehr als die Hälfte der Selbsttötungen gehen auf Depressionen zurück, sagt Hegerl. „Heute nimmt sich eine Kleinstadt weniger das Leben, vor allem auch weil Depressionen häufiger erkannt und behandelt werden.“

Wolfgang Panter ist Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte und seit mehr als drei Jahrzehnten Leitender Betriebsarzt bei der Hüttenwerke Krupp Mannesmann mit circa 6000 Beschäftigten. Sein Vater leitete eine psychiatrische Abteilung in einer Kleinstadt. „Damals war Depression ein Stigma, das ist heute nicht mehr in dem Maße so“, sagt Panter. In den Betrieben werde offener über die Erkrankung gesprochen, auch in seine Sprechstunde kommen mehr Menschen, die glauben, an einer Depression zu leiden. „Das hat ganz viele Gründe.“

Einer davon sei der Wegfall sozialer Netze. „Früher wandten sich die Menschen an ihren Pastor oder fanden Halt in der Familie und bei Freunden, heute gehen sie zum Betriebsarzt.“ Panter kann keine Unterschiede ausmachen, ob jemand in der Produktion arbeitet oder in der Verwaltung. Gewiss, die Arbeitsintensität habe mit der Einführung der 35-Stunden-Woche und der damit einsetzenden Rationalisierung zugenommen. Er glaubt aber nicht, dass dies der Grund für den eklatanten Anstieg der Arbeitsunfähigkeiten und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltungsstörungen sei. „Es ist heute leichter, mit einer psychischen Erkrankung frühverrentet zu werden als mit einer somatischen Erkrankung wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Beschwerden.“

56 Jahre bis zum Gleichstand

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Um ein Problem zu lösen, soll es ja manchmal allein schon helfen, dass darüber gesprochen wird. Der geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen könnte so ein Fall sein, zumindest teilweise. Gewiss würde kein überzeugter Befürworter der gesetzlichen Frauenquote, die im vergangenen Dezember vom Bundeskabinett beschlossen wurde, heute davon sprechen, dass das Problem bereits gelöst sei. Doch neue Zahlen legen zumindest den vorsichtigen Schluss nahe, dass allein schon die Debatte über das Thema in den vergangenen Jahren etwas bewegt hat.



Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung führte bereits die Diskussion um die Frauenquote zu mehr Frauen in Spitzenpositionen. Allerdings geht diese Entwicklung nur langsam voran.

Das sieht zumindest Elke Holst so, die Forschungsdirektorin für Geschlechterstudien am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Am Mittwoch hat sie in Berlin das sogenannte „Managerinnen-Barometer“ vorgestellt, die jüngste DIW-Studie über die Zahl von Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen. „Die Diskussion um die Quote hatte einen positiven Einfluss auf die Besetzung von Aufsichtsräten“, sagt sie. Es ist eine der wenigen positiven Schlussfolgerungen des Berichts. In der Summe, sagt Holst, sei das Thema Frauenförderung in Spitzenpositionen noch immer so etwas wie ein „Ritt auf der Schnecke“. Will heißen: Es geht zwar in der Sache voran, allerdings nur sehr langsam.

Der Studie zufolge betrug der Anteil von Frauen in den Aufsichts- und Verwaltungsräten der 200 größten deutschen Unternehmen (ohne den Finanzsektor) Ende 2014 etwa 18 Prozent, das sind drei Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor. Als das DIW 2006 die erste Studie dieser Art präsentierte, wurden nur knapp acht Prozent der Aufsichtsratsposten von Frauen bekleidet. Seitdem ist ihr Anteil langsam, aber stetig gestiegen. Nach Berechnungen des DIW würde es allerdings weitere 15 Jahre dauern, bis in den Gremien eine Parität hergestellt wäre – zumindest wenn man die bisherige Entwicklungsgeschwindigkeit zugrunde legt. Zwei Unternehmen haben die 50-Prozent-Marke allerdings jetzt schon überschritten: In den Aufsichtsräten der Parfümeriekette Douglas und der Modekette H&M waren Ende 2014 jeweils 60 Prozent der Mitglieder weiblich.

Ein Blick auf die Besetzung der Vorstandsposten der 200 größten Unternehmen des Landes legt einen ähnlichen Trend offen wie bei den Kontrollgremien, allerdings auf einem insgesamt niedrigeren Niveau: Ende des vergangenen Jahres waren lediglich 5,4 Prozent der Vorstandsmitglieder Frauen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von einem Prozentpunkt. „In den Vorständen hat sich praktisch nichts getan“, bilanziert Elke Holst den Befund. „Sie bleiben männliche Monokulturen, trotz der Selbstverpflichtung zu mehr Frauen in Führungspositionen, die die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft im Jahr 2001 eingegangen sind.“ Bis in den Vorständen der Firmen genauso viele Frauen wie Männer tätig sind, würde es nach Berechnungen des DIW weitere 56 Jahre dauern.

Interessant ist, dass der Frauenanteil in den Führungspositionen jener 30 börsennotierten Unternehmen, die im Dax vertreten sind, mit sieben Prozent im Vorstand und 25 Prozent in den Aufsichtsräten klar über dem Durchschnitt liegt. Das dürfte kein Zufall sein: Von 2016 an müssen sie in den Aufsichtsräten eine Quote von 30Prozent erfüllen, das sieht der Gesetzentwurf von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vor, den das Bundeskabinett im Dezember beschlossen hat. Wenn die Dax-Konzerne die Quote nicht erfüllen, sollen die entsprechenden Sitze leer bleiben. Mittelgroße Unternehmen werden aufgefordert, sich im kommenden Jahr selbst Zielvorgaben zu setzen und darüber von 2017 an öffentlich zu berichten. Einen „Meilenstein für die Gleichberechtigung“ nannte Schwesig den Beschluss damals. Für Elke Holst bleibt trotz des geplanten Gesetzes zur Frauenforderung noch viel zu tun. „Die geplante gesetzliche Frauenquote allein kann die Welt nicht ändern“, sagte sie. Wichtig sei auch ein Wandel in den Unternehmenskulturen.

In den kleineren börsennotierten Unternehmen, die im MDax notiert sind, ging die Zahl der Frauen in den Vorständen von 3,8 auf 2,7 Prozent zurück, in den Unternehmen des TecDax sank sie im selben Zeitraum um drei Prozentpunkte auf 5,4 Prozent. In den Aufsichtsräten der jeweiligen Unternehmen setzte sich dieser Trend allerdings nicht fort.

Tagesblog - 22. Januar 2015

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17:55 Uhr: Und damit bin ich raus hier - allerdings nicht, ohne euch noch eine bockstarke Topsexliste dazulassen, die die alte Krawallnudel Holzapfl reingehackt hat:

Viel Untenrum auf höchstem Niveau!

++++

17:19 Uhr:
Gwen Stefani hat ja schon vor Jahren gesagt, dass sie Houellebecq nicht mag. Im Gegensatz zu mir kann sie ihn aber nicht richtig schreiben ...

https://www.youtube.com/watch?v=cSMY3I_ES_g

++++

17:05 Uhr:
Dafür kommt hier ein Dreifachschlag mit nur einem Text:

Alex Rühle hat Michel Houellebecq (den ich übrigens freihändig auf Anhieb richtig geschrieben habe) getroffen. Und der Dreifachschlag daraus geht so: Erst müsst ihr die Seite 3 von gestern lesen, die er draus gemacht hat, weil ihr in dieser Woche keine Reportage mehr lesen werdet, die so konkret, klug und gefühlvoll auf den Punkt ist.

Dann müsst ihr das Interview lesen, das ebenfalls sehr, sehr gut ist, weil sich zwei sehr, sehr kluge Menschen unterhalten.

Und dann hätte ich sogar noch eine Mini-Ticker-Anregung, und zwar zu diesem Ausspruch:

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Ihr Buch sei islamophob?

"Das ist kompletter Unsinn. Gleichzeitig sage ich aber nach diesen Attentaten, dass jeder, der darauf Lust hat, das Recht hat, ein islamophobes Buch zu schreiben."

Wie seht ihr das?



++++

15:57 Uhr:
Volk von Jetztanien. Zwei Stunden sind vergangen, seit ich mich gemeldet habe, und ich weiß schon, was ihr sagen wollt:

"Die Mädels hier sind viel aktiver!"
"Gif gab's auch noch keines."
"Astronauten auch nicht."
"Oder wenigstens Tiere."
"Nur noch eine gute Stunden nix tun, dann bist du schon auf Stremmel-Niveau!"

Aber da bleibe ich beim Tagesmotto: "Sprich nicht wie die Polizei!"





Und dann besänftige ich euch mit einem neuen Schaufenster von Juri, das irgendwie keines ist. Weil weder kann man gut (durch)schauen, noch ist es deshalb im herkömmlichen Sinne ein Fenster. Und trotzdem funktioniert es. Was wieder beweist, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile.

Und dass der Gottschall eben ein ganz gewiefter Hund ist!

++++

14 Uhr:
Und Bäm, neuer Text. Charlotte ist ja jetzt immer in Berlin, was schade ist, weil wer in Berlin ist, der ist ja nicht hier. Er kann dafür aber eben Menschen treffen, die Taschen machen, die aussehen wie die Sitze in Berliner U-Bahnen. So nämlich:





Und dann eben den neuen heißen Modetrend erklären: ÖPNV-Camouflage. Gut für euch also, dass sie da ist.

++++

12:30 Uhr:
Bis später.

++++

12 Uhr:
Saugut: Eine Studie belegt, dass Studenten bessere Noten haben, wenn sie auf Facebook sehr umtriebig sind.

Also: Die Studie sagt das jetzt nicht ganz direkt so. Eher ums Eck. Weil: Wer viel facebook und Links schickt und so, der ist sozial eingebundener und das hilft dann wohl. Und das auch eher nur, wenn man das alles nicht tut, WÄHREND man studieren sollte.

Aber hey: Studie, bitches!

++++

11:14 Uhr:
Valerie Dewitt hat in München lange eine Wohnung gesucht. Das war keine gute Zeit für sie. Aber es ist ein sehr schönes ABC bei rumgekommen.




Unter "M wie Makler" steht:


Der König des Münchner Mietmarkts. Gibt es in allen Ausführungen – von aufgestylt mit Pelzkragen bis zu rauchend und mit Alkoholfahne. In männlich wie weiblich. Braucht keine Ausbildung und keine gute Homepage. Schließt dir die Tür auf. Streichelt alle Armaturen und betont, wie qualitativ hochwertig sie sind. Streichelt alle Türstöcke und betont, wie original sie sind. Streichelt alle Fensterrahmen und betont, wie dicht sie sind. Sagt: "Was das angeht, müssen sie die Vormieter/den Vermieter fragen." Ihr werdet euch nicht mögen. Aber so tun als ob."

Wer da jetzt nicht draufklickt, ist nicht mehr mein Freund - weil er keinen Humor hat.

++++

10:57 Uhr:
"Sprich nicht wie die Polizei!", sagen The Schwarzenbach (die Band von Dietmar Dath). Starkes Mantra, sage ich.

https://soundcloud.com/theschwarzenbach/02-nein-sprich-nein-sklave

++++

9:47 Uhr:
Am liebsten würde ich die Welt momentan nicht mal mit dem Rotarsch anschauen:

15.000 Legida-Affen in Leipzig - und man muss das als Erfolg ausgeben, weil 40.000 erwartet worden waren ... Frage da: Soll man jetzt auf die zugehen, oder nicht? "Sprich nicht mit dem Hitlerbärtchen", sagt Heribert Prantl.

Auch in München haben Juden jetzt wieder Angst.

Und Dschungelcamp ist offenbar immer noch.

Da muss man ja schon froh sein, dass Mieter jetzt gerichtlich die Genehmigung haben, im Stehen zu pinkeln. Nach oberflächlicher Lektüre glaube ich, dass das ein Unisex-Urteil ist. Vielleicht kann das jemand mit mehr Sachverstand aber noch mal prüfen?

Das Seite-Drei-Mädchen der Sun ist auch wieder da. Immerhin.

++++

9:40 Uhr:
Morgen. Mein Vorschlag für heute: Wir bringen diese Sache mit dem Tagesblog schnell hinter uns. Ich freue mich nämlich schon sehr aufs Abendessen.




Muss was mit Affe sein ...

Mehr gute Nachrichten

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Als die Huffington Post im Jahr 2005 online ging, wurde die Idee der Journalistin Arianna Huffington noch als „Promi-Blog“ belächelt, weil dort Schauspieler über Schriftsteller und Fernsehmoderatorinnen über Hundefutter schreiben durften. Neben Promis und Bloggern aus der Normalbevölkerung gehörten aber auch damals schon aktuelle politische Nachrichten zum Angebot. Heute, zehn Jahre später, gehört die Huffington Post zum AOL-Konzern und hat weltweit mehr als 800 Angestellte. Seit Oktober 2013 gibt es auch eine deutsche Ausgabe. In dieser Woche ging dort der 2000.Beitrag eines Gastautoren online.



Arianna Huffington bei der DLD-Konferenz in München. Im Mai wird die Huffington Post zehn Jahre alt.

SZ: Im Mai wird die Huffington Post zehn Jahre alt. Was haben Sie in den kommenden zehn Jahren mit der Seite vor?

Arianna Huffington: Gerade geht es uns vor allem darum, unser internationales Netzwerk auszubauen. Im Moment sind wir in 13 Ländern aktiv, im Frühling wollen wir auch im Mittleren Osten und danach in Australien loslegen. Die internationale Zusammenarbeit ist für uns sehr wichtig – die Kollegen hier in Deutschland machen zum Beispiel einen phantastischen Job.

In den USA experimentieren Sie seit Kurzem mit einer personalisierten Seite: Rechts neben den Artikeln stehen jetzt unter der Überschrift „Für Sie empfohlen“ Artikel, die zu denen passen, die Sie zuletzt angeklickt haben.

Ja, das ist Teil der großen Neugestaltung unserer Seite, die wir zum zehnten Geburtstag geplant haben. Wir haben uns auch das Ziel gesteckt, mehr Bewegtbildinhalte auf die Seite zu bekommen – wir planen ein Verhältnis von 50 Prozent Text und 50 Prozent Video.

Noch einmal zurück zu den Empfehlungen: Bergen diese nicht das Risiko, dass die Leser nur noch das angeboten bekommen, was sie sowieso schon interessiert, dass andere Themen hinten runterfallen? Die berühmte „Filter Bubble“?

Ja, das Risiko besteht. Aber wir haben mit unseren Lesern andere Erfahrungen gemacht, die sind sehr neugierig und stöbern in vielen unserer mehr als 70Themengebiete herum. Die interessieren sich für die verschiedensten Geschichten.

Auch für anspruchsvolle, lange Artikel? Kürzlich wurde bekannt, dass Sie drei frühere Mitarbeiter des US-Magazins The New Republic übernommen haben. Das Magazin ist für seine hintergründigen und investigativen Geschichten bekannt.

Longform- und investigativer Journalismus ist uns immer schon wichtig gewesen, wir haben ja auch schon einen Pulitzerpreis gewonnen: 2012 für eine zehnteilige Serie über verwundete Veteranen. Aber wir wollen diesen Bereich auf jeden Fall deutlich ausbauen. Zum einen, indem wir neue Leute einstellen – aber auch indem wir versuchen, in den sozialen Netzwerken Interesse für diese Geschichten zu wecken und sie so einer größeren Leserschaft zu präsentieren. Bisher galt Longform-Journalismus vor allem als Genre für die Elite. Warum eigentlich?

Bei der Digitalkonferenz DLD in München haben Sie auch gesagt, dass Sie sich künftig mehr um die guten Nachrichten kümmern wollen.

Ja. Wir Medienmenschen sind furchtbar schlecht darin, über gute Dinge zu berichten. Wir wollen mehr gute Nachrichten bringen, auch als Vorbild für andere Medien, das hat für uns Priorität. Sonst bekommen Leser und Zuschauer kein vollständiges Bild von der Welt. Es heißt, dass Berichte über Gewalttaten andere Gewalttäter inspirieren. Das funktioniert aber auch andersherum: Gute Nachrichten sind auch ansteckend.
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