Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all 6207 articles
Browse latest View live

Auf der Suche nach Anerkennung

0
0
Donezk – Wäre alles nach der Regie der Rebellen gegangen, hätte es am Wochenende aus der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Luhansk“ nur Bilder ungeduldiger Wähler gegeben, die darauf brennen, die Führer der Separatistenregionen im Südosten der Ukraine zu bestimmen. Doch einige Journalisten machten den Rebellen einen Strich durch die Rechnung. Roland Oliphant vom Daily Telegraph zählte 62 Militärlastwagen ohne Nummernschilder, die offenbar russische Munition und Geschütze für die Rebellen anlieferten. Ein Video des am Samstagabend in Donezk einfahrenden Konvois veröffentlichte der Internetinfodienst Ukrainska Prawda. Dem US-Journalisten Christopher Miller zufolge war dies in der vergangenen Woche bereits der dritte Konvoi mit Nachschub für die Rebellen. Am Sonntagmorgen fotografierte Miller einen vierten Konvoi.



Keine freien Wahlen und undurchsichtige militärische Bewegungen - die Lage in Donezk ist angespannt.

Die verstärkten Lieferungen haben zwei mögliche Erklärungen: Die Rebellen und das russische Militär befürchten eine neue Offensive der ukrainischen Armee – oder sie bereiten ihrerseits einen Angriff vor. Rebellenführer Alexander Sachartschenko hat bereits zwei mal angekündigt, die Separatisten wollten die von ukrainischen Einheiten gehaltenen Städte Slawjansk, Kramatorsk und Mariupol erobern. Schon zuvor hatte Sachartschenko die Zahl russischer Kämpfer auf Seiten der Rebellen auf mehrere Tausend beziffert. Deren Anwesenheit wird in Donezk kaum noch verborgen. Eine Ärztin im Dienste der Rebellen sagte der Süddeutschen Zeitung stolz: „Wir haben jetzt ein ganzes Bataillon von Donkosaken, die aus Rostow zu uns kommen.“ Im Café „Sun City“ am Puschkin-Boulevard im Zentrum von Donezk sah der SZ-Korrespondent am Samstag sieben Kämpfer mit Maschinenpistole und Tarnuniform, die sich auf Tschetschenisch unterhielten.

Ob und wie der Krieg im Osten der Ukraine neu aufflammt, wird sich erst herausstellen, wenn die Wahl der Rebellen in den von ihnen ausgerufenen „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk abgeschlossen ist. Von einer Wahl wie der Rebellenwahl vom Sonntag träumt jeder westliche Politiker: mit nahezu unbekannten Gegenkandidaten und nur zwei Parteien. So war schon vor der Bekanntgabe des Ergebnisses klar, dass Alexander Sachartschenko, gelernter Elektriker, Führer einer Rebelleneinheit und als „Ministerpräsident“ seit August zumindest vor den Kulissen Chef aller Rebellen, sich bald „Präsident der Volksrepublik Donezk“ nennen darf. Am Abend gab es die Bestätigung: 80 Prozent der Stimmen für den Favoriten bei der Präsidentschaftswahl, auf 65 Prozent kommt seine Partei bei den parallel abgehaltenen Parlamentswahlen. Das hätten „Nachwahlbefragungen“ ergeben, sagen die Rebellen.

Das Ergebnis ist keine Überraschung. Seit Monaten haben die Rebellen Gegner vertrieben, verhaftet oder gar getötet. Kaum ein Tag, an dem in Donezk oder Umgebung nicht echte oder eingebildete Gegner der Rebellen spurlos verschwinden. Hunderttausende sind aus der zuvor knapp eine Million Einwohner zählenden Stadt geflohen. In den Hochhäusern von Donezk bleiben am Abend die meisten Fenster dunkel. Und wer noch in der Stadt ist, aber, wie die 18 Jahre alte Studentin Olga, die Wahl der Rebellen für „eine Farce“ hält, bleibt den Wahllokalen fern.

Die Donezker aber, die am Sonntag in ein Wahllokal in der Schule Nr. 115 an der Tupolew-Straße 4 gekommen sind, unterstützen die Separatisten. Lidia Priladskaja, 74 Jahre alt, hat Donezk auch während der härtesten Artilleriegefechte nie verlassen. Jetzt hofft Priladskaja, „dass der Krieg endlich aufhört und die Kiewer Junta uns in unserer jungen Republik in Ruhe lässt“. Viele Wahllokale von Donezk platzen am Sonntag aus allen Nähten: ob die Schule Nr. 115, das „Haus der Kultur“ im Stadtteil Budjonowskij oder im Wahllokal 121 im Zentrum der Stadt. Das liegt freilich nicht nur daran, dass viele Einwohner die Separatisten unterstützen, sondern auch daran, dass die Rebellen nicht wie sonst in der Stadt üblich mehr als 300, sondern nur 116 Wahllokale geöffnet haben und so bewusst kamerawirksame Schlangen vor und Gedränge in den Wahllokalen erzeugen.

Die Bilder vom angeblich grenzenlosen Wählerinteresse sind nicht der einzige Trick der Rebellen. Da die Rebellenregionen international ebenso wenig anerkannt sind wie ihre Referenden oder Wahlen, fehlen auch die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sonst Wahlen auf ihre demokratischen Standards abklopfen. Die Separatisten und ihre Moskauer Helfer besannen sich deshalb auf das bewährte Instrument des politischen Klonens. So behaupteten sie, die Wahl werde von der ASZE verfolgt, der „Assoziation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ – die russische Medien verbreiten das kritiklos.

Tatsächlich existiert eine ASZE nicht, wie der Beobachter Ewald Stadler, in Österreich lange Mitglied der rechtspopulistischen FPÖ, auf Nachfrage zugab. Andere der insgesamt 30 „Wahlbeobachter“ kamen von der rechten ungarischen Jobbik-Partei, dem rechtsradikalen Front National aus Frankreich oder der stalinistischen Kommunistischen Partei Griechenlands. Sie flogen über Moskau nach Rostow, der wichtigsten russischen Nachschubstation der Rebellen. Von dort und wurden sie per Auto weiter nach Donezk gebracht.

Dobrindts Versprechen

0
0
Berlin – Bundesverkehrminister Alexander Dobrindt (CSU) hat Forderungen, die Mautdaten für die Verbrechensbekämpfung zu nutzen, eine klare Absage erteilt. „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte der CSU-Politiker der Süddeutschen Zeitung. „Die Mautdaten werden ausschließlich für die Mautentrichtung aufgenommen und unter keinen Umständen anderen Zwecken zur Verfügung gestellt, auch nicht dem Bundeskriminalamt oder anderen Sicherheitsbehörden.“



Sind die Maut-Daten sicher? 

Der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, hatte dafür plädiert, Mautdaten künftig auch für die Aufklärung von Straftaten nutzbar zu machen. „In besonderen Ausnahmefällen der Schwerstkriminalität halte ich es für sinnvoll, wenn wir Mautdaten für Ermittlungen nutzen können“, sagte Ziercke der Welt am Sonntag. Er sei sich sicher, „dass dies in bestimmten Fallkonstellationen zu einer schnelleren Täterermittlung führen würde“. Dobrindts Gesetzentwurf zur Pkw-Maut schließt eine solche Nutzung allerdings ausdrücklich aus. Die Daten dürften nur für die Zwecke der Maut genutzt werden, heißt es darin. Und weiter: „Eine Übermittlung, Nutzung oder Beschlagnahme dieser Daten nach anderen Rechtsvorschriften ist unzulässig.“ Das sei „die härteste Datenschutzvorschrift in Deutschland, die wir kennen“, sagte Dobrindt.

Damit reagierte der Minister auch auf massive Kritik aus der Opposition. So warnten die Grünen vor möglichen umfassenden Bewegungsprofilen. Es dürfe keinen „gläsernen Pkw-Fahrer“ geben, sagte Parteichef Cem Özdemir der Rheinischen Post. Der Vizefraktionschef der Linken, Jan Korte, sagte, je mehr Daten beim Kraftfahrtbundesamts gespeichert würden, desto größer seien auch „die Begehrlichkeiten von staatlicher wie von privater Seite“. Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Andrea Voßhoff, will „mindestens die hohen datenschutzrechtlichen Standards der Lkw-Maut einfordern“. Das betreffe vor allem die Pflicht zur „unverzüglichen Löschung“ der Daten, sofern kein Verstoß gegen die Mautpflicht festgestellt wurde.

Nach dem Gesetzentwurf, den Dobrindt vergangene Woche vorgelegt hat, soll die Maut mittels „elektronischer Vignette“ eingeführt werden. Das heißt: Sobald ein Autofahrer seine Maut bezahlt hat, wird sein Kennzeichen in einer Datenbank gespeichert. Mobile und feste Kontrollstationen an den Autobahnen werden die Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos stichprobenartig erfassen, innerhalb von Sekunden mit der Datenbank abgleichen und prüfen, ob Maut entrichtet wurde. Wenn das der Fall ist, wird das Foto umgehend gelöscht. Wenn nicht, erhält der Fahrzeughalter ein Bußgeld. Der Fahrer des Autos soll auf dem Foto, wie auch jetzt bereits bei den Kontrollen der Lkw-Maut, nicht zu erkennen sein. Anders als bei der Lkw-Maut wird es zudem nicht nötig sein zu überprüfen, von wo nach wo das Auto fährt, denn während die Höhe der Lkw-Maut kilometerabhängig ist, soll die Pkw-Maut pauschal erhoben werden. Es genügt also ein Kilometer auf einer Autobahn, und die komplette Maut ist fällig.

Dobrindts Gesetzentwurf sieht vor, dass für Pkw und Wohnwagen auf Autobahnen und Bundesstraßen Maut gezahlt werden muss. Motorradfahrer dürfen die Straßen kostenlos benutzen. Für im Ausland zugelassene Autos muss nur auf Autobahnen Maut gezahlt werden. Ihre Höhe hängt unter anderem von der Umweltfreundlichkeit des Autos ab. Im Schnitt wird sie bei 74Euro liegen. Die Fahrer von in Deutschland zugelassenen Autos werden durch einen „Entlastungsbetrag“ bei der Kfz-Steuer in exakt der Höhe entlastet, die sie künftig an Maut bezahlen müssen – sodass sich für sie letztlich nichts ändert. Die erhofften Zusatzeinnahmen von 500 Millionen Euro kommen also ausschließlich von Ausländern. Deshalb ist auch die Vereinbarkeit der Mautpläne mit EU-Recht weiter offen.

Österreich will Dobrindts Konzept prüfen lassen und dann über rechtliche Schritte entscheiden. Eine Sprecherin des niederländischen Verkehrsministeriums sagte, das neue Konzept sei nach wie vor diskriminierend. Nach Vorlage einer „endgültigen Version“ werde sich die Regierung mit anderen Nachbarländern Deutschlands beraten, was „eventuell zu unternehmen ist“.

Woher der Hass? Halloween

0
0
Achtung, Preisfrage! Was ist anstrengender: sich mit der Reformation auseinanderzusetzen oder um einen Kürbis herum zu tanzen? Wer sich für die Reformation entscheidet, ist der gleichen Meinung wie Margot Käßmann, Bischöfin und Kritikerin des Um-einen-Kürbis-Herumtanzens. Damit meint sie natürlich Halloween.



Weil’s ja jetzt vorbei ist, können wir analysierend zurückblicken auf die vergangene Woche voller Fotos von Muffins in Form von Gehirnen, Kindern mit Gehirnmützen, die an Türen klingeln oder mit Eiern werfen, Menschen, die an Türen Süßigkeiten verteilen, und Menschen, die sich weigern, das zu tun. Davon gibt es (neben Margot Käßmann) einige, denn eine Umfrage hat ergeben, dass etwa ein Drittel der Deutschen „Halloween für großen Quatsch nach amerikanischem Vorbild“ hält, „der in Deutschland nichts verloren hat“. Ich verwette meinen noch nicht zu Suppe verarbeiteten Hokkaido-Kürbis darauf, dass die Menschen, die das sagen, genau das Gleiche auch über den Valentinstag und den Weihnachtsmann sagen.

Der Hass auf Halloween ist eine hochexplosive Mischung aus drei extrem mehrheitsfähigen Hassen und einer Sehnsucht. Der erste Hass ist der auf Amerika, so eine Art Endgegner im Computerspiel „Leben in Deutschland“. Amerika ist nämlich immer an allem Schuld – an Kriegen, an schlechtem Essen und am Kulturverfall. Weil Halloween aus Amerika zu uns gekommen ist, kann es also per se nicht gut sein. Der zweite Hass ist der auf den Kommerz. Sobald anlassgebunden Produkte erdacht und verkauft werden, die man hinstellen, aufhängen, anziehen oder essen kann, schreien nämlich alle: „Was für eine Geldverschwendung! Und in Afrika verhungern Kinder!“ Der dritte Hass trifft die „Spaßgesellschaft“, eine Masse von Menschen, die, nunja, Spaß haben, den aus Amerika importierten Kulturverfall beschleunigen, indem sie sich am 31. Oktober als gruseliges Skelett verkleiden, und sich dem Kommerz hingeben, indem sie sich zu diesem Anlass ein gruseliges Skelett-Kostüm kaufen.

Die Sehnsucht, die die Mischung so explosiv macht, ist die nach Traditionen. Die Halloween-Hasser haben Angst, importierte Traditionen könnten die Traditionen verdrängen, die ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gepflegt haben und von denen sie sich irgendeine Art von Sicherheit erhoffen, die sie längst verloren haben. Sie wollen an Allerheiligen, dem Tag, der auf Halloween folgt, auf dem Friedhof herumstehen und das „Ave Maria“ mitsprechen, weil sie sonst das Gefühl haben, aus ihrem Leben in einen luftleeren Raum zu kippen. Und selbst, wenn sie sich nicht auf dem Friedhof die Zehenspitzen abfrieren, wollen sie sich an denen festhalten können, die das tun. Alle anderen sollen am besten gar nichts machen – vor allem keinen Spaß haben und nichts konsumieren. Spaß und Konsum sind im Zusammenhang mit (christlichen) Traditionen nämlich arg verpönt – womit wir wieder bei den oben genannten Hassen wären.

Der Hass auf Halloween ist also komplex. Aber auch Margot Käßmann verteufelt Halloween nicht komplett und erteilt zumindest der Kürbis-Deko Absolution. Denn, so Käßmann, „ein Kürbis in der Wohnung schadet sicher nicht.“ Gut, dass ich noch einen da habe. 

Bohrstopp

0
0
Ich schreibe diesen Text mit frisch gewaschenen Händen. Mein Therapeut hat mir dazu geraten. "Jedes Mal, wenn der Drang zum Popeln kommt", sagte er mir in seinem netten Therapeuten-Tonfall, "gehen Sie aufs Klo und nehmen ein Papiertaschentuch zum Bohren. Bohren Sie richtig tief. Schauen Sie sich dabei im Spiegel an. Dann die Hände waschen."
 
Ziel der Übung sind nicht etwa saubere Hände. Das Ziel ist die Schikane. Verhaltenstherapeuten nennen das "die Kosten erhöhen". Vom Schreibtisch aufstehen, Tür öffnen, Gang runter, ins Herrenklo, um dann vor dem Spiegel ein Papiertuch in die Nase zu stopfen: Das erhöht die Kosten für einmal kurz Nasebohren schon erheblich. Es soll mich nerven, das ist die Idee. Mein Laster muss lästig werden, damit ich es loswerde. Und, was soll ich sagen: Ich gehe ziemlich oft aufs Herrenklo in letzter Zeit.
 
"Die Kosten erhöhen" ist ein Punkt auf einer Acht-Punkte-Liste, die der Therapeut Martin Wolf in seinem hell eingerichteten Sprechzimmer in der Münchner Innenstadt auf ein Flipchart geschrieben hat. Ein knappes Dutzend Methoden, um lästige Verhaltensmuster zu durchbrechen. Normalerweise wendet Martin Wolf die Methoden an, um Störungen wie Ordnungszwang oder zwanghaftes Stehlen zu beheben. Mein Problem hier überhaupt als Problem zu bezeichnen, ist natürlich ein bisschen lächerlich, aber ich habe nun mal keine schlimmere Angewohnheit, und diese nervt mich wirklich.



Nasebohren hat für unseren Kollegen etwas Meditatives. Der Therapeut rät: Die lästige Angewohnheit mit möglichst viel Aufwand betreiben!


Fast jeder trägt ja irgendeine lästige Marotte von Kindheit und Jugend rüber ins Erwachsenenalter: das Nägelkauen, das Ohrenpopeln, das Lippenknibbeln, das Rauchen. Das macht die Frage, deretwegen ich in Wolfs Sprechzimmer sitze, ein bisschen größer: Wie wird man so lang gelebte Laster wieder los? Kann man sich etwas abgewöhnen, das man täglich tut, seit man den Zeigefinger bewegen kann? Und was fehlt einem dann?
 
Nasebohren ist eine äußerst glanzlose Angewohnheit für jeden, der älter als acht ist und Wert darauf legt, im Leben ernst genommen zu werden. Es gibt kaum Gewohnheiten, die weniger mehrheitsfähig sind. Wer in der Öffentlichkeit popelt, kann sich dort auch gleich die Fußnägel schneiden.
 
Gleichzeitig ist es ein Massenphänomen. In den Neunzigern veröffentlichten Forscher in Madison, Wisconsin, zum ersten Mal eine Studie zur Verbreitung des Nasebohrens. Sie fragten sich, ob exzessives "nose picking" eine psychische Störung sei oder nur eine verpönte Gewohnheit, über die wenig geredet wird. Von 1000 Befragten erklärten sich 91 Prozent zu "current nose pickers". Exzessiv bohrte nur ein Bruchteil von 1,2 Prozent. Ich befürchte, dass ich zu dem gehöre.

91 Prozent der Erwachsenen tun es. Sogar der Bundestrainer. Warum ist Popeln trotzdem verpönt?


Martin Wolf ist ein Therapeut mit Lachfalten, grauem Fünftagebart und Turnschuhen. An einem Vormittag im August sitze ich also zum ersten Mal in seinem Sprechzimmer und rede über das Bohren. Ich will es endlich professionell angehen.
 
Seit ich mich erinnere, bin ich Nasenbohrer. Im Haus meiner Eltern hängt ein Urlaubsfoto, darauf sieht man mich als Sechsjährigen. Ich sitze am Rand des Grand Canyon und lese ein Kinderbuch. Der eine Zeigefinger steckt in einem Mullverband, weil ich mich am Tag zuvor beim Schnitzen geschnitten habe. Der andere Zeigefinger steckt: genau.
 
Ich meditiere nicht. Ich bohre stattdessen in der Nase. Es hilft, wenn ich gestresst bin, wenn ich auf einem Gedanken herumkaue, wenn ich unschlüssig oder gelangweilt bin. Ich bohre also vor allem am Schreibtisch, beim Nachdenken, beim Schreiben, im Nachmittagstief oder im Stress vor einer Abgabe. Bundestrainer Jogi Löw ist mittlerweile berühmt dafür, in nervenzerreißenden Momenten auf der Trainerbank den Finger durch die Nase zu pflügen (sein Assistent Hansi Flick kaut in diesen Momenten lieber Nägel). Ich kann Jogi Löw verstehen.
 
Um eine gewöhnliche Phobie loszuwerden, sind 25 Sitzungen veranschlagt. Für mich müssen zwei reichen, denn die Krankenkasse findet Nasebohren nicht therapiepflichtig, und außerdem: Ich bin ja stark. Das Rauchen habe ich mir mit Anfang 20 noch abgewöhnt, bevor ich es richtig angefangen hatte. Seither belächle ich Freunde, die zum siebten Mal verkünden, dass sie das Rauchen aufhören, und es kurz darauf zum achten Mal wieder anfangen. Erwachsensein heißt doch schließlich: endlich Kontrolle haben über sein Leben. Dachte ich. Nach zwei Monaten Popel-Therapie denke ich da anders.  

Die Freundin lacht, die Kollegen lachen - der Druck von außen ist da


Die Analyse des Therapeuten: Ich habe keine Zwangsstörung. Ich habe auch keinen "Leidensdruck", wie ihn etwa jemand verspürt, der zwei Stunden lang Herdplatten überprüfen und Lichtschalter umlegen muss, bevor er die Wohnung verlassen kann. Mir ist meine Angewohnheit unangenehm, aber ich leide nicht. Seine Anweisung: Zunächst den "Trigger" ausschalten, also: die Nase freihalten, täglich Nasendusche und Spray, gerne auch Öle und Salben. Dann: den "Rubikon-Moment" planen. Den Tag, an dem Schluss ist. Am besten alle Kollegen und Freunde einweihen. "Das erhöht den Druck von außen und hilft, den eigenen Entschluss zu festigen", sagt er. Drittens: nachsichtig sein, wenn’s doch einen Rückfall gibt.
 
Ich stelle mir eine Schachtel Kleenex auf den Schreibtisch, besorge mir eine Nasendusche und Meerwasserspray. Ich erzähle Bürokollegen und Freunden von dem großen Tag. Meine Freundin lacht, meine Kollegen lachen, meine Schwester lacht. Der Druck von außen ist da.
 
Zweieinhalb Wochen läuft es gut. Ich reinige jeden Morgen meine Nase mit der Nasendusche, was den Bohrdrang tatsächlich abschwächt, aber leider dafür sorgt, dass die Nase sich noch zwei Stunden später in eine Gießkanne verwandelt, wenn ich mich zum Drucker bücke, um Papier nachzulegen. Das vorbeugende Schnäuzen, stelle ich außerdem fest, hat nicht den gleichen Effekt wie das händische Popeln. Ich bin nervöser, kitzliger als sonst. Ich rümpfe ständig die Nase.
 
Ich besuche Professor Alexander Berghaus, den Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung der Münchner Universitätsklinik. Sein erster Satz : "Nasebohren ist doch was Vernünftiges!" Uff. Er erklärt, was Popel genau sind: Staubpartikel vermischt mit getrocknetem Nasensekret. Er sagt, dass die Nase die "Klimaanlage" des Menschen ist: Sie filtert, wärmt, kühlt und befeuchtet die Atemluft, die Schleimhaut hätte glattgebügelt die Fläche eines Fußballfelds. Er weiß auch, warum Nasepopeln glücklich macht: "Der Mensch ist sehr empfindlich, wenn etwas den Luftstrom in der Nase stört. Die Störung muss möglichst schnell behoben werden. Natürlich sieht das doof aus. Aber unser Finger ist nun mal das ideale Werkzeug, um Popel zu entfernen."
 
Und spätestens da wird mir klar, dass ich das nicht schaffen werde: dauerhaft das Nasebohren sein zu lassen. Gar nicht schaffen kann! Und warum es ignorant von mir ist, meine Freunde für Schwächlinge zu halten, wenn sie zum achten und bestimmt auch noch zum vierzehnten Mal das Rauchen aufhören. Eine Gewohnheit dauerhaft zu ändern setzt voraus, dass das neue Verhalten so starke Vorteile hat, dass sie das alte locker überstrahlen. Den Schnuller legen Kinder weg, wenn sie merken, dass man ihnen dann zuhört. Das Rauchen hören Leute auf, wenn sie deshalb krank werden. Aber der Vorteil, seltener angeschaut zu werden wie ein Trottel, wiegt leider nichts gegen das Instant-Wellnessgefühl, das mir das Bohren verschafft. Vielleicht sprechen Herr Wolf und ich uns noch mal, wenn ich 40 bin.
 
Inzwischen gehe ich zweimal am Tag zum Schnäuzen. Mehr "Trigger ausschalten" und "Kosten erhöhen" will ich nicht. Ich halte es wie Jogi Löw. Dem ist es offensichtlich einfach wurscht, dass die Welt ihn beim Popeln beobachtet. Vermutlich ist er auch deshalb Weltmeister.

In der Vagina meiner Schwester

0
0
Schöne Ekstase 
Die Währung für Sex ist der Orgasmus. Jedoch ist der orgastische Reichtum ungleich verteilt: Männer kriegen ihn zu früh und Frauen eventuell multipel. Die Lösung dieses Dilemmas wird wohl noch mehrere Jahrgänge „Dr. Sommer“ oder „Cosmopolitan“ beschäftigen. Einig ist man sich lediglich darüber, dass ein Orgasmus der höchste zu erreichende Zustand völliger Ekstase ist  - nicht umsonst wird er auch der „kleine Tod“ genannt. Und diese Wirkung hat er dann ausnahmsweise auch für beide Geschlechter. Was der Orgasmus aber noch ist: intim und privat.  Zwei Merkmale, die aber in Zeiten von Social Media nicht mehr so viel zählen. Der Orgasmus muss jetzt sein Versteck aufgeben und wird auf die große Bühne gezerrt: die Website „Beautiful Agony“ zahlt jedem User Geld, der seinen Orgasmus online stellt. Einzige Bedingung: nur das Gesicht darf auf den Aufnahmen sein und ästhetisch schön muss es aussehen.    

[plugin imagelink link="http://vodkasocialclub.com.br/blog/wp-content/uploads/2014/07/vodka_social_club_beautiful_agony_post_2014.jpg" imagesrc="http://vodkasocialclub.com.br/blog/wp-content/uploads/2014/07/vodka_social_club_beautiful_agony_post_2014.jpg"]

Glotzen bis zum Umfallen  
Schauspieler müssen sexy gucken können. Das sieht dann auch meistens ganz gut aus auf der Leinwand. Aber auch im normalen Leben zeugt es von großem Können, kann man der Auserwählten oder dem Auserwählten einen tiefen Blick zuwerfen. Das wirkt oft Wunder und verkürzt den Weg zu mehr. Und siehe da, es gibt jetzt auch ein Wort für die sexuelle Liebäugelei, nämlich: „eye sex“. Klingt in der deutschen Übersetzung nicht ganz so prickelnd („Augensex“),  scheint aber zumindest den unschuldigen lasziven „Schlafzimmerblick“ abgelöst zu haben. Zur Nachahmung ist das vielleicht nur bedingt zu empfehlen. Denn wer seltsam glotzt, bekommt dann eher den Austausch von Kontaktlinsenflüssigkeit angeboten, statt eben den Austausch von...na, ihr wisst schon was!

[plugin imagelink link="http://i.imgur.com/gdJOADc.gif" imagesrc="http://i.imgur.com/gdJOADc.gif"]
 
Vibrator Revolution   
Auch auf dem Vibrator-Markt gibt es Neues: „Der We-Vibe 4+“ sorgt für ferngesteuerten Orgasmusspaß und ist laut amypink.de die ultimative Versicherung dafür, dass deine Freundin während ihres Auslandssemesters in Australien nicht mit Surferdude John die Wogen der Lust hochschlagen lässt.  Und dank „Eva“ sollen Paare beim Sex einen Vibrator benutzen können, ohne dass Ihn dabei ein weiterer „Penis“ stört und einer der beiden beim Liebespiel nur eine Hand frei hat. Der angeblich erste Freihand-Vibrator für Sie und Ihn sieht ein bisschen aussieht wie Sebastian, die Krabbe, und ist auch in rot zu haben. Bei einer Crowdfunding-Aktion hat er bereits 800 Prozent der Zielsumme erreicht. 

In der Vagina meiner Schwester
 
Skandal in Amerika! Lena Dunham hat sich als junges Mädchen in der Scheide ihrer kleinen Schwester umgeschaut und auf ihrer Entdeckertour sieben kleine Steine in der schwesterlichen Vagina entdeckt. Das Erlebnis hat sie in „Not That Kind of Girl“ niedergeschrieben. Jetzt, etwa einen Monat nach der Veröffentlichung des Buches, hat die konservative National Review die Stelle entdeckt und ist sich sicher: Das ist Kindesmissbrauch. In Dunham-hater-Kreisen wurde der Artikel am Wochenende gehypt. Wir sagen dazu nichts und lassen euch die Antwort der Autorin und Scheidenforscherin aus Kindheitstagen auf Twitter lesen.


Lena Dunhams Reaktion auf Twitter.

„Free love“ im Reich der Tiere
Ja, wir wissen, dass das mit der Chromosomenanzahl nicht läuft! Aber egal. Guckt euch diese herzerweichenden Hybrid-Tierbilder an!
 

[plugin imagelink link="http://i100.independent.co.uk/image/627-1nliy02.jpg" imagesrc="http://i100.independent.co.uk/image/627-1nliy02.jpg"]

Für welches Hobby wirst du belächelt?

0
0
Bei mir ist es wohl vor allem der Zusatz „Falt-“. Faltkajak. Himmel, natürlich klingt das nach Schiffchen für die Hosentasche. Nach Modellbausatz. Nach großem Menschen in zu kleinem Fortbewegungsmittel. Nach Yps mit Gimmick: Uhrzeitkrebse, Detektiv-Set, Falt-Kajak.

Deshalb lachen alle in der Redaktion. Immer! Und wenn sie nicht lachen, dann schmunzeln sie zumindest in sich hinein. Aber eigentlich lachen sie schon eher. So richtig frei von der Leber weg. Und auch jedes Mal, wenn mein neues Hobby zur Sprache kommt, mit derselben minimalhöhnischen Inbrunst. Doch, doch.




Und puff: Kaninchen!

Ich kann das verstehen. Deshalb tut’s auch kaum noch weh. Ist ja auch wirklich ein blödes Wort. Und selbst bin ich schließlich nicht besser: Ich erinnere mich gut an einen Freundeskreis, ein paar Jahre ist das her, zu dem stieß ein neuer Partner, und der hat gezaubert. Ich habe es nie erlebt, aber vorgestellt habe ich mir immer einen Spitzbart unter einem Zylinder. Einen Zauberstab. Irgendwas mit „Abrakadabra“ und dann – puff: Kaninchen. Oder puff: Kaninchen weg. Mein Gott, klar lästert man da mit. Obwohl – oder gerade weil (?!) – man ja weiß, dass es vor der eigenen Tür bestimmt auch was zu kehren gibt in der Beziehung. Nicht wahr?

Also, raus damit: Wie ist das bei dir? Hast du ein Hobby, das du auf Partys eher umschiffst? Weil selbst die guten Freunde es sonderbar finden, belächeln, verlachen? Briefmarken, Orchideen, Ponnyreiten, Peter-Maffay-Fanclub-Premium-Mitgliedschaft? Und wie gehst du damit um, wenn dir jemand von einem tendenziell speziellen Freizeitvergnügen berichtet? Ach so: Und was sind für dich eigentlich die Topadressen unter den belächelten Hobbys? Ich bin doch da mit meinem Faltkajak (ein Hybrid übrigens: zentrales Gestänge, Außenhaut plus zwei aufblasbare Lufttanks) noch nicht die Spitze, oder?

Tagesblog - 4. November 2014

0
0
09:09 Uhr: Konferenz Nummer eins ist vorbei! Ich habe die Ehre, auf den Ticker von heute hinweisen zu dürfen, darin geht's nämlich um Jakobs Faltkajak. Ja, Faltkajak! Das wird gern mal belächelt. Zu Unrecht, wie ich finde! Und ihr?

So sieht so ein Faltkajak übrigens aus:

[plugin imagelink link="http://www.suchebiete.com/userbilder/503a0225e091a.jpg" imagesrc="http://www.suchebiete.com/userbilder/503a0225e091a.jpg"] (Quelle)

Ich hät' ja schon gern eins.

+++

08:38 Uhr:
Falls ihr es - wie ich - gestern verpasst habt: Ranga Yogeshwar war in Fukushima. Seine Reportage lief gestern Abend in der ARD - und steht jetzt in der Mediathek. Ich hab schon ein bisschen reingesehen. Leider nur kurz. Ich muss ja arbeiten. Aber das, was ich bis jetzt gesehen habe, ist sehr spannend! Und gruselig dazu.

+++

08:16 Uhr: Guten Morgen, liebes jetzt.de! Ich weiß, Simon hat gestern eure Erwartungshaltung sehr in die Höhe geschraubt. Aber um halb sechs kann ich nicht mit Tagesbloggen anfangen. Ich glaube, um diese Zeit kann ich mich gar nicht bewegen. Ist auch jetzt noch schwierig. Ich hänge ungefähr so vor dem Computer:

[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/cQ6PLJrQsZuNi/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/cQ6PLJrQsZuNi/giphy.gif"]

Lokführer drohen mit neuen Streiks

0
0
Bahnfahrer werden sich in den kommenden Tagen erneut auf Streiks einstellen müssen. Die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) teilte am Montagabend mit, dass auch die jüngsten Verhandlungen mit der Bahn gescheitert seien. Dem Staatskonzern warf sie ein „rechtswidriges Verständnis des Grundgesetzes“ vor. Damit habe die Bahn „weitere Arbeitskämpfe provoziert“. Wann genau die Lokomotivführer streiken wollen, blieb vorerst offen. GDL-Chef Claus Weselsky versicherte aber im ZDF-„Heute Journal“, darüber „rechtzeitig“ zu informieren. Gerüchte, nach denen der Streik bis zu 91 Stunden, also vier Tage, dauern könnte, nannte Weselsky „Latrinenparolen“. Die GDL werde sich von außen „weder Zeiten noch die Länge“ von Streiks vorschreiben lassen.



Die Lokführergewerkschaft GDL hat am Montag mit neuen Streiks gedroht.

Am Morgen hatte die Bahn bereits mitgeteilt, die GDL habe am Sonntagabend „vertrauliche Tarif-Gespräche kurz vor dem Durchbruch platzen“ lassen. Demnach hatten sich Vertreter der Bahn in den vergangenen Tagen dreimal mit der GDL-Spitze getroffen, um „einen tragfähigen Vorschlag zur Beilegung der Tarifauseinandersetzung zu erarbeiten“. Dabei ging es zunächst noch nicht um höhere Löhne, sondern nur um Kooperationsregeln. Eine solche Vereinbarung ist nötig, weil es bei der Bahn derzeit zwei Gewerkschaften gibt, die sich bislang nicht einigen konnten, wer welche Berufsgruppe vertreten darf.

Hatte die GDL in der Vergangenheit nur für Lokführer verhandelt, will sie nun erstmals auch für Zugbegleiter einen Tarifvertrag abschließen. In dieser Berufsgruppe dürfte aber die Eisenbahngewerkschaft EVG deutlich mehr Mitglieder als die GDL haben. Umgekehrt will die EVG diesmal auch einen Tarifvertrag für Lokführer abschließen, von denen mit Abstand die meisten bei der GDL sind. Theoretisch könnte die Bahn mit beiden Gewerkschaften zwei verschiedene Tarifverträge abschließen, doch Personalvorstand Ulrich Weber lehnt das ab. Er befürchtet eine Spaltung der Belegschaft und will verhindern, dass innerhalb ein- und derselben Berufsgruppe unterschiedliche Regeln für Löhne, Schichten und Wochenarbeitszeit gelten.

Der Vertrag, über den die Bahn mit der GDL-Spitze zuletzt verhandelt hatte, sah vor, dass die GDL – neben der EVG – tatsächlich erstmals eigenständig auch für Zugbegleiter einen Tarifvertrag abschließen darf. Umgekehrt sollte die EVG auch für Lokführer verhandeln dürfen. Die Tarifgespräche sollten jeweils parallel geführt werden. Für den Fall, dass es dabei zu einem unauflöslichen Konflikt kommt, sollte bei Lokführern die GDL und bei Zugbegleitern die EVG das letzte Wort haben.

Diesen Punkt nahm die GDL-Spitze als Beleg dafür, dass die Bahn ihr nur eine „Scheinzuständigkeit für Zugbegleiter“ zugestehen wolle. Die geplante Vereinbarung zeige, dass die GDL „freiwillig und ohne jede Begründung ihre eigenen Grundrechte und die Grundrechte ihrer Mitglieder mit Füßen treten sollte“. Einen eigenen Vorschlag, wie sich unterschiedliche Regelungen innerhalb einer Berufsgruppe vermeiden ließen, machte die Gewerkschaft nicht.

Bewegungsmelder

0
0
Dienstagmorgen, 7.30 Uhr. Verschlafen schleppt sich der Büroarbeiter in Richtung Aufzug. Plötzlich vibriert das Mobiltelefon. Nein, der Chef ist nicht dran. Auch in der Chat-Gruppe des Kegelvereins herrscht um diese Zeit noch Ruhe. Der Störenfried ist das Handy selbst. Es möchte nur kurz daran erinnern, dass man auch die Treppe nehmen könnte. Das sei besser für den Kreislauf – und das Lauftraining habe man auch schon drei Mal sausen lassen.

Was nach einer Szene aus einem schrägen Zukunftsroman klingt, findet in Wahrheit längst statt. Das amerikanische Gesundheitsministerium hat, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg meldet, im Sommer ein Experiment gestartet. Dabei wurden im Ministeriumsgebäude kleine Elektrokästen angebracht. Aufgabe der „Beacon“ genannten Apparate ist es, das Bewegungsverhalten ausgewählter Mitarbeiter aufzuzeichnen und ihnen Gesundheitstipps zu geben. Fünf Mal eine Wasserfontäne passiert und nicht gestoppt? Ringbimbim. Sie könnten mal etwas trinken! Einen Schritt zu nahe an den Süßigkeiten-Automaten herangetreten? Schon will das Telefon wissen, ob man sich den Verzehr des Schokoriegels auch gut überlegt hat.



Mit elektronischen Armbändern und einem Smartphone lässt sich der Körper noch enger überwachen.

Das Werk von Gesundheitsgurus? Das wäre zu einfach. Nachdem Technikfirmen Telefone zu Hightech-Kommunikationszentralen weiterentwickelt haben, steht der nächste große Sprung an. Die Technik soll über Körper und Gesundheit wachen. Kapitalgeber aus dem Silicon Valley sprechen seit Monaten von kaum etwas anderem. Wer ein neueres iPhone besitzt, hat von Apple kürzlich eine Gesundheitssoftware spendiert bekommen, die vom Körperfettanteil über den Blutdruck fast alles messen und analysieren kann. Die Armbanduhr, die Apple bald verkaufen will, soll dazu dienen, diese Daten unkompliziert zu erheben.

Konkurrent Google denkt derweil darüber nach, seinen Kunden eines Tages Nanopartikel ins Blut zu verabreichen. Die Partikel sollen über eine Handy-App Alarm schlagen, wenn Krebsgefahr besteht. Nebenbei entwickelt der Konzern eine Kontaktlinse, die Diabetiker vor einem raschen Blutzuckerabfall warnen soll. Das alles geschieht einerseits, weil viele in Kalifornien glauben, man könne die Welt mit Technik jeden Tag ein Stück besser machen. Andererseits steckt hinter der Datensammelei ein Milliardengeschäft. Der Verkauf von hochgerüsteten Armbändern ist lukrativ. Die Analysefirma Gartner geht davon aus, dass der Umsatz mit Körperanalysegeräten bis 2016 auf sechs Milliarden Dollar anwächst. Wer weiß, an welchen Krankheiten ein Mensch leidet und wie er sich ernährt, kann gezielter Werbung verkaufen. Die Mega-Daten sind außerdem interessant für die Gesundheitsindustrie, die ihre Produkte besser steuern kann.

Im Projekt des Gesundheitsministeriums spielt Datenschutz keine große Rolle. Ebenso wird die Frage ausgeblendet, ob es nicht ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre der Mitarbeiter sein könnte, sie ständig mit Ratschlägen zu drangsalieren. Stattdessen fragt Projektleiter Naganand Murty: „Was wäre, wenn man einen Engel auf der Schulter sitzen hätte, der einem hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen?“

Verlassen und vergessen

0
0
Es besteht kein Mangel an Ideen. Wie man inmitten der in Ballungszentren anzutreffenden Wohnraumnot alte, scheinbar überflüssig gewordene Bauwerke nutzen kann, um daraus Wohnraum zu gewinnen, dafür gibt es etliche Beispiele in Deutschland. Mitunter sind sie utopischer Art. Mut zur Lücke (wenn nicht gar zur Brücke) beweist zum Beispiel das so spektakuläre wie umstrittene Limburger Projekt „Living Bridge“ der Egenolf Entwicklungs- und Beteiligungsgesellschaft.



Leerstehende Gewerberäume in Wohnraum umwandeln? Ein bürokratischer Kraftakt.

An der Autobahn A3 könnte demzufolge zwischen Frankfurt und Köln eine mittlerweile marode Autobahnbrücke aus den 1960er-Jahren durch einen Neubau unmittelbar daneben ersetzt werden. Die Sanierung der alten Brücke wäre, wie so oft im Baugewerbe, teurer als ein Neubau. Doch auch der Abriss kostet etwas: ungefähr zehn Millionen Euro. „Warum die Brücke für viel Geld abreißen“, fragt sich nun der Investor, „wenn sich auch Geld damit verdienen lässt?“ Indem man nämlich das vorhandene Tragwerk nutzt, um daraus eine an Bienenwaben erinnernde Wohn-Brücke zu machen: Living Bridge.

Das wäre so etwas wie ein futuristischer Nachfahre des berühmten, im 14. Jahrhundert von Gerbern und Schlachtern genutzten Ponte Vecchio in Florenz. In Limburg allerdings entstünde in sechzig Metern Höhe über der Lahn kein Schlachter-Dorado wie am Arno, sondern „exklusiver Wohnraum“ plus „Wellnessareal und Medical Care“. Wobei sich die Frage stellt, ob man in Deutschland tatsächlich noch mehr Wellness braucht. Oder exklusiven Wohnraum mit Blick auf die A3.

Bräuchte man angesichts der aktuellen Brennpunkte in den Städten und Kommunen nicht eher – und zwar schnell und unbürokratisch – Wohnraum für Flüchtlinge, Studenten oder Leute, die sich in den Ballungsgebieten angesichts der heraufziehenden, zum Teil (wie etwa in Hamburg oder München) schon real spürbaren neuen Wohnungsnot exklusiven Wohnraum nun mal nicht leisten können? Fehlt es hier an Ideen zur Umnutzung? An Ideen zur Umgestaltung von Büro-Leerstand, der Millionen von sinnlosen Quadratmetern umfasst? Eher nicht. Es fehlt am Willen.

Vorhanden war dieser Wille zur Umwidmung von Büro- in Wohnraum jedoch, als man jüngst das teuerste Wohnen der Stadt Hamburg realisierte. Auf einem 50 000 Quadratmeter umfassenden Areal zwischen Harvestehuder Weg und Außenalster wurde ein neues Edler-Wohnen-Habitat in kürzester Zeit errichtet. Samt „Alstervillen“, „Townhouses“ und „Parkvillen“. Eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss war schon für eine schlappe halbe Million Euro im Angebot. Der Stellplatz dafür kostet auch nur 59 500 Euro.

Der inmitten des Areals gelegene, eigentlich denkmalgeschützte Nazi-Koloss des ehemaligen Generalkommandos der Wehrmacht, der zuletzt als Musterungsbehörde der Bundeswehr sowie als Büroraum genutzt wurde, durfte sogar nach Plänen von Karl Lagerfeld – und gegen den Einspruch der Denkmalschützer – umgebaut werden: Unter dem Säuselnamen „Sophienpalais“ hat der Projektentwickler aus einem alten Nazi-Büro-Monster Lebensraum für Besserwohnende geschaffen. Ganz still und unproblematisch.

Warum aber gelingt so ein Umbau nicht auch dort, wo er dringender geboten wäre? Dort also, wo die Mieten explodieren, wo Studierende abgezockt, gedemütigt oder schlicht verraten werden und wo sich die Flüchtlingsströme an der Hartleibigkeit der Bürokraten brechen? Warum ist es so schwer, Wohnraum zu schaffen – angesichts des vorhandenen umbauten Raumes, der nicht genutzt wird und vor sich ineffizient und etwas asozial hindämmert?

Aktuelles Beispiel: In München prüfen Stadt und Sozialministerium, ob etwa ehemalige Siemens-Büros im Stadtteil Bogenhausen als Flüchtlingsunterkünfte zumindest zwischengenutzt werden könnten. Man darf darauf gespannt sein, wie lange sich die Prüfung hinzieht. Was wäre, würde sich ein Premium-Investor für die Büroburg interessieren, um daraus Wellness-Wohnen zu machen? Der Skandal, der darin liegt, dass langwierig zu prüfen ist, was anderswo zugunsten einer anderen Klientel reibungsärmer geschieht, ist derart offenbar, dass sich schon eine Stadt-Guerrila etabliert hat. In München nennen sich die Aktionisten „Goldgrund Immobilien“, es gibt die Facebook-Seite „Leerstand zu Wohnraum“ oder den „Leerstandsmelder.de“, der für „neue Möglichkeitsräume“ wirbt: „In vielen Städten suchen Menschen bezahlbare Wohnungen. Gleichzeitig stehen unzählige Flächen leer.“

Dem aus Österreich stammenden, in München als Architekt ansässigen und in Los Angeles lehrenden Wohnbau-Experten Peter Ebner zufolge wäre die Umnutzung von Gewerberäumen durchaus im Sinne der Städte. „Allerdings kommt es auf den Einzelfall an. Grundsätzlich geht es in der Stadtplanung ja um eine Balance aus Wirtschafts- und Wohnräumen – und es geht um langfristige Planungssicherheit.“
Der 46-jährige Architekt, der für Bauträger Umnutzungsstudien erstellt hat, etwa in Sendling, ergänzt: „Man könnte Gewerbegebiete, die heutzutage ja meist Räume für Dienstleistungen beinhalten, die also geräuschärmer sind als etwa Bauten für das produzierende Gewerbe, viel intelligenter definieren. Außerdem machen neue Bau-Technologien, hochdichte Fenster oder die automatisierte Be- und Entlüftung, das Wohnen auch dort möglich, wo es früher unmöglich erschien.“

Dagegen steht allerdings oft das Recht, denn Wohnnutzung ist nur in bestimmten Gebieten bauplanungsrechtlich zulässig. Daher kann nicht aus jeder Büroimmobilie ein Wohnhaus werden. Hinderlich sind im Einzelfall: das Abstandsflächenrecht, die Frage der Pkw-Stellplätze, die Freiflächengestaltung, Brand-, Lärm- und Schallschutzanforderungen . . .Letztlich geht es hier aber um die bürokratische Überformung unserer Lebensverhältnisse. Niklas Maak fordert in seinem soeben erschienenen Buch „Wohnkomplex – Warum wir andere Häuser brauchen“: „Die Baunutzungsverordnung muss geändert werden.“

Befreit also das Wohnen von den Bürokraten! Schafft neue Räume, andere Räume – letztlich: eine neue Welt. Schafft eine Welt, in der nicht nur Wellnessbedürftige an der Extravaganz von Autobahnbrücken oder Lagerfeld-Nazi-Bauten teilhaben. Planer, so ein Bonmot von Claude-Nicolas Ledoux im 18. Jahrhundert, seien die „Titanen der Erde“. Dann sollte es den Titanen aus Politik und Immobilienwirtschaft auch möglich sein, gerechten und zukunftstauglichen Wohnraum zu bauen. Und zwar jetzt.

„Es kann ja nicht jeder ein Genie sein“

0
0
Annie Hall aus „Der Stadtneurotiker“ machte die Schauspielerin Diane Keaton berühmt – sie würde das abstreiten, aber Annie mit ihren Männerklamotten hatte viel zu tun mit der Frau, die sie spielte, Diane Keaton, geborene Hall. Sie bekam einen Oscar für diesen Auftritt – und blieb seither eine der ungewöhnlichsten Erscheinungen des amerikanischen Kinos, ob in ernsten Rollen, als Komödiantin oder als Regisseurin. Mit „Was das Herz begehrt“ hat sie vor einem Jahrzehnt die romantische Komödie verändert: Sie war Ende fünfzig und durfte sich noch mal verlieben. Ihr neuer Film „Das grenzt an Liebe“ ist wieder eine romantische Komödie, diesmal erobert sie Michael Douglas.



Diana Keaton spricht im Interview über Rollenbilder, die wilden Sechziger und romantische Rollen mit fast 70.

SZ: Hatten Sie immer schon viel Pioniergeist? Etablierten Rollenbildern haben Sie sich ja von Anfang an nicht untergeordnet, Sie waren, Anfang der Siebziger, alles andere als eine konventionelle Schauspielerin.
Diane Keaton: Das war wegen Woody Allen – er sagte: Denk nicht mal drüber nach, mach einfach. So machte man das sonst nicht, ich hatte ja auch schon mit anderen Leuten gearbeitet. Als ich in „Der Pate“ mitspielte, war das furchteinflößend – und mit Woody war Filmemachen wie ein Camping-Trip. Er spricht nicht viel über Schauspielerei, aber er hat viel Gefühl dafür. Dafür bin ich Woody sehr dankbar.

Ein bisschen mehr Mut als andere müssen Sie doch aber selbst mitgebracht haben – Sie haben einige Male Regie geführt, das war für Schauspielerinnen Ihrer Generation absolut ungewöhnlich.
Ja, ich war immer ein bisschen seltsam, neben der Spur. Ich wollte es halt gern versuchen! Ich folge gerne meinen Impulsen.

Warum haben Sie nach „Hanging Up“ aufgehört?
Es war halt ein Flop! Ich liebte die Mädchen, und Walter Matthau – und hey, das war sein letzter Film.! Ich mochte die Arbeit daran, aber es kam kein guter Film dabei heraus. Und Sie können sich vorstellen: Ich hatte damals ein großes Budget, und ich hatte Meg Ryan, Amerikas Sweetheart – und setzte es in den Sand. Ich war am Boden zerstört. Wenn jemand viel Geld in dich investiert hat, und du setzt es in den Sand – das ist für jeden ein Desaster.

Also, dass die Leute, die letztes Jahr mit „Lone Ranger“ 250 Millionen Dollar in den Sand gesetzt haben, nie wieder einen Film machen, halte ich nicht für gesichert.

Da reden wir in ein paar Jahren drüber! Ich sage Ihnen, die werden nie wieder dieselben sein. Niemand versagt gern. Ich durfte damals immerhin 50 Millionen Dollar ausgeben für eine romantische Komödie, das war eine Riesensumme.

Was wäre wohl aus Ihnen geworden, wären Sie 30 Jahre früher geboren worden?
Darüber denke ich manchmal nach, ich hätte ziemlich oft in der Tinte gesteckt. Ich kann eigentlich nicht viel außer dem, was ich tue. Ich bin kein Managertyp. Wahrscheinlich hätte ich geheiratet und einen armen Ehemann unglücklich gemacht. Ich wäre abhängig gewesen. Nicht mein Ding. Ich möchte von keinem abhängig sein.

Wussten Sie die Sechziger damals zu schätzen? Sie sind ja dann just in den Zeiten aufgewachsen, in denen Sie einen anderen Weg hätten wählen können.

Das war mir, glaube ich, damals nicht klar. Ich wurde Schauspielerin, meine Eltern hinderten mich an nichts.

Nicht mal, als Sie in „Hair“ auftraten, haben sie gesagt: oh Gott!?
Nein, die haben mich immer unterstützt, egal was ich wollte. Schauspielern. Sängerin werden!

In „Das grenzt an Liebe“ durften Sie ja endlich mal sehr viel in einem Film singen – Ihre Figur singt, mit so viel Gefühl, dass sie dauernd dabei in Tränen ausbricht.
Darum habe ich gebeten, sie sollte Sängerin sein, eigentlich sollte sie Wandteppiche machen. Fand ich uninteressant, da sitzt man doch nur rum. Ich wollte lieber eine gescheiterte Sängerin sein. Ich glaube, das ist einfach eine bessere Idee für die Rolle.

Selbst gestalten ist wichtig für Sie, bei allem, oder?
Irgendwie schon. Ich galt immer als ungewöhnlich. Aber mir haben immer andere geholfen, es war keine Reise, die ich allein gemacht habe. Es war eine geteilte Erfahrung.

Auch die Schauspielerei?
Für mich ja. Es gibt Leute, die kommen rein, und die Szene gehört ihnen. Jennifer Lawrence, die mit Anfang zwanzig schon so viele unterschiedliche Rollen gespielt hat, oder Melissa McCarthy, die als Komikerin etwas macht, was noch keine Frau vor ihr geschafft hat und ein damit Star geworden ist. Großartig. Zu meiner Zeit war Jane Fonda radikal, total unabhängig, aber viel mehr gab es damals nicht.

Romantische Rollen mit fast siebzig – das war damals jedenfalls nicht vorstellbar für eine Schauspielerin. Was das Sprengen der Altersgrenze in romantischen Komödien betrifft, haben Sie mit „Was das Herz begehrt“ ja wirklich Pionierarbeit geleistet – und legen jetzt mit „Das grenzt an Liebe“ noch mal nach.
„Was das Herz begehrt“ war das Verdienst von Nancy Meyers, und natürlich von Jack Nicholson. Ich meine, das war ein Coup – Jack Nicholson in einem Chick-Flick.

Sie neigen dazu, den anderen die Lorbeeren zu überlassen!
Weil sie es doch aber verdienen!

Jack Nicholson sah das offensichtlich anders – er hatte bei „Was das Herz begehrt“ einen viel besseren Vertrag als Sie und hat Ihnen von seinem Anteil an den Einspielergebnissen abgegeben.
Na ja, vielleicht hat er das gedacht. Aber er ist großartig, so großzügig und hinreißend.

Das sagt nicht jeder über ihn. Bei „The Departed“ soll er Martin Scorsese regelrecht gequält haben...
Ich habe davon gehört... Kann eine andere Lebensphase gewesen sein, oder? Ich meine, es kommt auch darauf an, ob man eine Rolle, die man spielt, wirklich mag.

Sie mochten die Schriftstellerin Louise Bryant nicht, die Sie in „Reds“ gespielt haben, stimmt das? Das war doch ein grandioser Auftritt!
Also, ich mochte sie nicht. Sie war so unglücklich darüber, dass sie kein Genie war, ich meine, es kann ja nicht jeder eins sein – ist das Leben nichts wert, wenn man kein Genie ist? Ich hoffe nicht, ich bin nämlich keins. Ich fand sie rau, manipulativ – sie wollte unbedingt der Sidekick von John Reed sein, damit er sie weiterbringt. Nein, ich mochte sie nicht – aber das ist natürlich alles nur in meinem Kopf: Man findet nicht heraus, wie jemand wirklich war, nur weil man über ihn liest. So, wie Warren Beatty die Rolle geschrieben hat, macht sie ja auch eine Entwicklung durch – und das ist immer interessant. So ergeht es der Figur, die Michael Douglas in „And so it goes“ spielt, ja auch – er verändert sich, findet die wahre Liebe.

Stimmt der Eindruck, den man beim Lesen Ihrer Memoiren hat, dass Ihnen Rollen immer entweder richtig leicht fallen oder richtig schwer?
Schon. Diese hier fand ich beispielsweise richtig einfach, weil Rob Reiner sehr locker ist am Set – das gibt es ja, dass die Atmosphäre sehr angespannt ist, weil der Regisseur versucht, ganz genau das herauszuholen, was er sich vorstellt. Rob sagt: Ich arbeite mit dir und mit Michael, und wir werden versuchen, Spaß daran zu haben, diese Geschichte zu erzählen. So ist es ja nicht immer – manchmal knirscht man auch mit den Zähnen und arbeitet mit verspanntem Kiefer. Was auch in Ordnung sein kann, das kommt auf den Film an.

Diskutieren Sie viel am Set?
Nein – ich warne Regisseure eigentlich, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich engagieren: Wissen Sie, ich bin als Schauspielerin ein bisschen schlampig, ich experimentiere gern erst mal ein bisschen herum, und ich muss den Dialog nicht richtig verändern, aber ich habe gern das Gefühl, dass ich mich nicht ganz genau an Vorgaben halten muss. Ich muss in den Moment hineinfinden, mit dem Schauspieler zusammen, mit dem ich da arbeite. Ich habe bei Stanford Meisner gelernt – der hat mir beigebracht, alles mit dem Gegenüber zu entwickeln. Würde ich mit Ihnen eine Szene spielen, würde ich jetzt fragen: Warum legen Sie den Kopf auf die Seite, hey, ich weiß, Sie denken gerade irgendwas, was ist es? Man spielt, was sich da entwickelt – natürlich spielt man auch das, was im Drehbuch steht, aber man kann den tatsächlichen Moment ja dabei nicht ausschalten – man dreht nie zweimal dasselbe Take, jedes ist anders. Das Leben ist eine Komposition aus Momenten, und daraus muss man etwas machen. So habe ich es bei Meisner gelernt.

Die Komposition von Momenten – das passt ganz gut zu einem Satz aus dem Tagebuch Ihrer Mutter, den Sie in „Then Again“ zitiert haben: Es ist die Reise, die zählt. Hatten Sie als Schauspielerin jemals das Gefühl, wirklich irgendwo angekommen zu sein?

Hmm. Was meinen Sie denn da genau?

Beispielsweise bei Ihrem Oscar als beste Schauspielerin für den „Stadtneurotiker“ – das scheinen Sie ja nicht sehr genossen zu haben. Stattdessen hatten Sie den Eindruck, den Preis hätte bestimmt jemand anders mehr verdient.
Es war überwältigend, aber es hat sich eigentlich genauso angefühlt wie der Abend, als ich in der Highschool in einem Musical auftrat, und ich war gut – und ich sah meinen Vater und ich bekam Angst. Denn er strahlte vor Stolz, so habe ich ihn nie wieder gesehen. Es war die Erfüllung eines Traums, und das war auch der Oscar – und ich konnte mir nicht gestatten, das zu genießen. Sich erfüllende Träume und die Liebe sind halt komplizierte Angelegenheiten, da kann man nichts machen. Für mich sind die gewöhnlichen Momente viel außergewöhnlicher: mit dem Hund spazieren gehen, den Sonnenuntergang ansehen und sich gut fühlen. Das klingt blöd, ist aber sehr viel. Es sind Dinge nach dem Oscar passiert, die nur passierten, weil der Traum sich erfüllt hat – die ganze Regiearbeit, beispielsweise, die Rollen, die ich spielte, dass ich einen verrückten kleinen Film namens „Heaven“ gemacht habe. Verstehen Sie mich bloß nicht falsch: Ich bin dankbar. Mein Leben ist großartig gelaufen.

Der große Schritt

0
0
New York – Stephan Herrlich ist kein Typ für das Silicon Valley. Der 35-Jährige trägt glänzende Lederschuhe und Sakko mit Einstecktuch – keine Turnschuhe und Kapuzenpullis, die Uniform der Start-up-Gründer aus Kalifornien. Von endlosen Networking-Treffen mit anderen Gründern hält er nicht viel. Durch sein neues Büro fährt niemand Skateboard, es gibt keinen Kickertisch. Seine Mitarbeiterin und er sitzen still an dunklen Schreibtischen. Draußen brummt der Verkehr von Manhattans Third Avenue, drinnen wird gearbeitet.



Immer noch Anziehungspunkt für Gründer: New York.

Als Herrlich entschieden hat, dass seine Münchner Software-Firma Intraworlds nun reif für die Expansion nach Amerika ist, stand für ihn sofort fest: New York muss es werden, nicht das Silicon Valley. „Wir gehen dorthin, wo der Markt ist“, sagt der Jungunternehmer. „Hier können wir mit der U-Bahn zu 100 möglichen Kunden fahren. Keine Stadt der Welt bietet mehr Zugang zu potenziellen Kunden.“ Intraworlds hat eine Software entwickelt, die Unternehmen hilft, eine „Talent-Community“ aufzubauen. Es geht darum, geeignete Mitarbeiter aufzuspüren, anzusprechen und an das Unternehmen zu binden, zum Beispiel ehemalige Praktikanten. Herrlichs Zielgruppe sind Kanzleien, Unternehmensberatungen, Banken und große Konzerne – und die sitzen oft in New York.

Seit Anfang des Jahres ist Herrlich hier, zuerst immer nur ein paar Tage am Stück, inzwischen lebt er hier. Seine Frau kommt im Januar nach. Bei dem großen Schritt hat ihm der German Accelerator geholfen, eine Initiative, die deutsche Start-ups auf dem Weg nach Amerika unterstützt. Sie bekommen einen Schreibtisch in einem Gemeinschaftsbüro und Berater zur Seite gestellt, die Tipps über den US-Markt geben und helfen, Kontakte zu knüpfen. Deutsche Unternehmen wie die Telekom und VW sponsern das Programm. Auch das Bundeswirtschaftsministerium schießt zu, von nächstem Jahr an werden es zwei Millionen Euro sein. Der Standort in New York ist neu. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist kürzlich in die Stadt gekommen, um ihn zu eröffnen. „Für die meisten Start-ups ist eine frühe Internationalisierung insbesondere in Richtung des amerikanischen Marktes eine Überlebensfrage“, sagt er. Das gilt schon allein, weil der amerikanische Absatzmarkt so viel größer ist als der deutsche. Zwölf Start-ups pro Jahr holt der Accelerator nach New York, 24 ins Silicon Valley.

Wer nach New York kommt, sucht etwas anderes als im Silicon Valley. Gründer wie Herrlich von Intraworlds haben die technischen Fragen für ihre Unternehmensidee meist schon gelöst. Sie kommen nach Amerika, um ihr fertiges Produkt zu verkaufen und um Geld bei amerikanischen Investoren einzusammeln. Denn Kapital für Gründer ist noch immer ein Problem in Deutschland – trotz der wachsenden Start-up-Szene vor allem in Berlin. Es fehle nicht an Ideen im Land, sagt Gabriel, und wer eine gute Idee hat, finde meist auch einen Wagniskapitalgeber für die ersten kleineren Summen. „Das Problem ist die Wachstumsphase, da fehlt jungen Unternehmen oft das Geld. Es ist sehr schwer, zehn oder 20Millionen Euro für die Internationalisierung zu bekommen“, so der Minister. „Die Wagniskapital-Kultur ist bei uns längst nicht so ausgeprägt wie in Amerika. Viel weniger Großkonzerne sind bereit, Venture-Capital-Töchter zu gründen.“

Der German Accelerator in New York vermittelt auch Kontakte zu amerikanischen Geldgebern. „Ich habe ja selbst schon öfter Kapital für meine Start-ups gesammelt, jetzt kann ich anderen dabei helfen“, sagt Christian Jörg, einer der Mentoren der New Yorker Start-up-Schmiede. Er hat schon drei Firmen in der Medien- und Musikbranche gegründet und für Konzerne wie Bertelsmann gearbeitet. „Die anderen Mentoren und ich können die Gründer vorstellen, wir kennen die richtigen Leute in fast allen Branchen hier.“ Und er hilft bei den kulturellen Unterschieden. „Amerikaner sind wesentlich lockerer, besonders in der Start-up-Szene“, sagt er. „Gleichzeitig muss man aggressiver sein. Alles geht hier viel schneller, besonders in New York.“

Gründer Herrlich schwärmt von den guten Kontakten seines Mentors, eines Software-Industrie-Veteranen. Bei einer möglichen Partnerfirma konnte der Deutsche direkt beim Unternehmenschef vorbeischauen. „Ohne die Empfehlung hätte der mich vielleicht gar nicht reingelassen“, sagt Herrlich. Auch dank des Netzwerks seines Mentors hat Intraworlds schon neue Kunden in Amerika gewonnen, unter anderem die US-Tochter von Bosch. Herrlichs amerikanische Tochterfirma verdient bereits genug, um ihre eigenen Kosten zu tragen. Vor ein paar Monaten hat er seine erste amerikanische Mitarbeiterin eingestellt. „Das war ein tolles Gefühl“, sagt er. Zwei weitere Stellen hat er gerade ausgeschrieben. Herrlich hat noch drei Monate im Accelerator vor sich, dann will er es allein versuchen. Gerade hat er ein Investorenvisum bekommen – es war ein ziemlicher Papierkrieg mit 200 Seiten Antragsformular. Der Accelerator hat ihm eine Anwältin vermittelt, die ihm dabei geholfen hat. Jetzt kann er fünf Jahre in den USA bleiben.

Viele von Herrlichs deutschen Gründer-Kollegen haben Angst vor dem Schritt nach Amerika: zu groß, zu weit weg, zu viel Konkurrenz, fremde Kultur, fremde Sprache, die Zeitverschiebung. Manch deutsches Start-up ist an der US-Bürokratie bereits gescheitert, etwa Wummelkiste aus Berlin, das Kisten mit Bastel- und Spielsachen an Kinder verschickt, aber an harten amerikanischen Zollvorschriften nicht vorbeikam und das US-Geschäft wieder schloss. Vor so etwas soll der Accelerator schützen. In der neuen Runde ab 2015 sind unter anderem deutsche Jungunternehmen im New Yorker Accelerator, die an einem Handy-Bezahlsystem, einer iPad-Zeitung oder an Soundtechnik für Live-Konzerte arbeiten. Das Interesse an Plätzen ist groß, es bewerben sich weit mehr Gründer, als Plätze verfügbar sind, meist aus den Branchen, die in der Metropole groß sind: Medien, Musik, Finanzen, Werbung.

Manche Deutsche haben es auch ohne Accelerator in New York geschafft, zum Beispiel das Unternehmen Kitchensurfing. Das Start-up des gebürtigen Hamburgers Borahm Cho vermittelt Profi-Köche an Leute, die gern zu Hause bekocht werden wollen – es ist ein Riesenerfolg, inzwischen gibt es Kitchensurfing in acht Städten, auch in Berlin. New York war der richtige Standort, um sein Start-up zu gründen, sagt Cho. „Hier in der Stadt sind die Leute experimentierfreudig. Und jeder redet übers Essen.“ Auch die Start-up-Kultur an der amerikanischen Ostküste hat ihn angezogen. „Das Leben ist gut hier, aber die Leute sind hier, weil sie etwas tun wollen, sie wollen nicht nur reden, sondern handeln.“

Intraworlds-Gründer Herrlich hat viel gelernt, seit er in New York ist. Zum Beispiel über den Wettbewerb. Die Konkurrenten in Amerika wirkten aus der Ferne viel schillernder, als sie wirklich sind. „Man ist da leicht eingeschüchtert. Wenn man sich die Unternehmen dann anschaut, sieht man, dass sie ein Produkt bewerben, das es noch gar nicht gibt. Die Amerikaner sind besser darin, sich zu vermarkten“, sagt er. Wenn er das gewusst hätte, hätte er schon früher den großen Schritt nach New York gewagt, sagt er. „Für uns ging hier vieles leichter und schneller als gedacht. Man sollte die Herausforderungen nicht überschätzen.“


Viertelkunde: Münster

0
0



Erpho


Das bekommst du hier: den vermutlich besten Kaffee Münsters in einem der vier roestbar-Häuser (Deutsche Barista-Meisterin 2013, Coffee Shop Award 2013/2014); die urige Traditionskneipe Kling-Klang; das erlesene mehrfach ausgezeichnete Indie-Film-Programm des Arthaus-Kinos Cinema Kurbelkiste; NS-Geschichte in der Gedenkstätte Villa ten Hompel; Nähe zum Kanal, zum Bahnhof, zum Hafen und zur Innenstadt; die Katholische Hochschule NRW
Das bekommst du hier nicht: Parkplätze; Clubs; günstige Mieten
Durchschnittsmiete Erpho: 10,10 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014

+++ 

Kreuzviertel


Das bekommst du hier: Kirschbäume; pastellfarbene Jugendstil-Fassaden; Suppen und Cupcakes im Café MamsellMünsters ältestes Kino; zahlreiche Bäckereien und Apotheken; preisgekrönten Kaffee in der roestbar eins; Brunch-Buffet am Wochenende im Grotes; Ruhe - trotz Nähe zu den Partymeilen Kreuzstraße und Jüdefelderstraße im benachbarten Kuhviertel; kurze Entfernung zur Innenstadt, zum Schloss, zur Uni- und Landesbibliothek und zur FH; den Neid deiner Kommilitonen (das Kreuzviertel ist der beliebteste Stadtteil unter Studenten)
Das bekommst du hier nicht: günstige Mieten; alternative Kultur
Durchschnittsmiete Kreuz: 10 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014   

+++

Gievenbeck


Das bekommst du hier: Ruhe, weil Gievenbeck fast ein reines Wohnviertel ist und deutlich außerhalb der Innenstadt liegt; viel Grün; einen besonders niedrigen Altersdurchschnitt; mehrere öffentliche und private Wohnheime; günstige Mieten; richtig scharfe Currywurst und Burger zum Selbst-Zusammenstellen im FeuerFrei!; das sehr traditionelle Eiscafé Milano; Supermärkte; Nähe zur FH; eine gute Busanbindung an die Innenstadt
Das bekommst du hier nicht: Clubs; Studentenkneipen; unmittelbare Nähe zum Stadtkern
Durchschnittsmiete Gievenbeck: 8 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014

+++

Bahnhofsviertel


Das bekommst du hier: Münsters beste Verkehrsanbindung; fußläufige Entfernung zur Innenstadt; legendäre Konzerte im Gleis 22 (von Intro-Lesern dreimal zum besten Club Deutschlands gewählt); Varieté im GOP-Theater; warme und kalte Shakes in dermilchbar 655321; günstige vegetarische Küche aus gigantischen Pfannen und einen singenden Wirt imPeperoni; Kicker und Tischtennis im Café SpecOps(neben Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Impro-Theater und natürlich Kuchen); einen Supermarkt, der wochentags bis 24 Uhr geöffnet hat; die besten Bagels der Stadt im Teilchen & Beschleuniger; belegte Brote imDrei:klang Café & StullenschmiedeDeutschlands größtes Fahrradparkhaus
Das bekommst du hier nicht: PKW-Parkplätze; Ruhe; den Charme der Altstadt
Durchschnittsmiete Bahnhofsviertel: 9,60 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014

+++

Geist


Das bekommst du hier: frische Lebensmittel auf dem wöchentlichen Geistmarkt (mittwochs und samstags); Ruhe; Nähe zum Aasee, zum Hafen und zum Südviertel; viele kleine Geschäfte; Platz zum Entspannen im Park Sentmaring; das jährliche Hammer-Straßen-Fest; Open Mic im Café Schnabulenz; spanische und portugiesische Küche in der Tapas-Bar Peniche; durchschnittliche Mieten
Das bekommst du hier nicht: Nähe zum Leonardo- und zum Germania-Campus (ersterer ist Sitz der Kunstakademie, letzterer ein Stadtbauprojekt mit Läden, Restaurants/Clubs und Wohngebäuden); Nähe zur FH
Durchschnittsmiete Geist: 9,60 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014

+++

Südviertel


Das bekommst du hier: Vintage-Schätze im Petite 41c brocante und im Trash & Retro; Bio-Supermärkte und -Restaurants; einen der hübschesten Biergärten Münsters im Litfass; mittelalterliche Kost im Fegefeuer; Grünflächen im Südpark; Panini und Gemütlichkeit im Ecklokal Tante August; das Zentrum für Islamische Theologie der Uni Münster; Nähe zur Innenstadt, zum Bahnhof und zum Hafen
Das bekommst du hier nicht: Nähe zum Leonardo- und zum Germania-Campus (ersterer ist Sitz der Kunstakademie, letzterer ein Stadtbauprojekt mit Läden, Restaurants/Clubs und Wohngebäuden); Nähe zur FH
Durchschnittsmiete Südviertel: 9.60 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014   

+++

Aaseestadt/Pluggendorf


Das bekommst du hier: Seeblick; beste Bedingungen zum Joggen, Tretbootfahren, Segeln, Radeln und Spazieren; Mensa-Essen bis 21:30 Uhr; Woodstock-Flair im Sommer; die Gebäude und Institutsbibliotheken der Politologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Ethnologen; eine kurze Entfernung zur Innenstadt; ausreichend Supermärkte; veganes Eis im Café Schöngemacht; Live-Übertragungen von Bundesliga und Co. auf Großleinwänden im Café Uferlos; die Redaktion des Münsteraner Campussenders Radio Q; das Studentenwerk
Das bekommst du hier nicht: Clubs; günstige Mieten (Glückstreffer sind möglich, aber generell gehört die Gegend zu den teuersten der Stadt)
Durchschnittsmiete Aaseestadt/Pluggendorf: 9,92 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014

+++

Hafenviertel


Das bekommst du hier: Münsters lebendigsten Kiez, einen Hauch von Hamburg; Döner um fünf Uhr morgens (freitags und samstags); zahlreiche Kioske und Imbissbuden; Kult-Kneipen wie Doc Müller's Raketen-Café oder die Watusi-Bar; Electroswing und Live-Jazz im Hot Jazz Club; das kleine private Wolfgang Borchert Theater; unzählige Bars und Restaurants am Kreativkai; Biobäcker und Second-Hand-Läden; das stillgelegte Industriegelände Hawerkamp mit seinen Clubs, offenen Ateliers, Werkstätten und Proberäumen; Palmen und Cocktails am Coconut BeachMünsters größtes Kino; viele Möglichkeiten für Tatort-Public-Viewing (ja, natürlich wird der Münsteraner hier besonders geliebt - wie eben überall sonst in Deutschland) 
Das bekommst du hier nicht: günstige Mieten; unmittelbare Nähe zur Altstadt, die aber mit dem Fahrrad immer noch gut erreichbar ist; Nähe zum Leonardo- und zum Germania-Campus (ersterer ist Sitz der Kunstakademie, letzterer ein Stadtbauprojekt mit Läden, Restaurants/Clubs und Wohngebäuden); Nähe zur FH; Sicherheit vor Gentrifizierung
Durchschnittsmiete Hafenviertel: 9,95 Euro/qm, Quelle: LEG-Wohnmarktreport NRW 2014


Dieser Text erscheint im "Studentenatlas", ein Projekt von jetzt.de und SZ.de. Mehr Infos dazu findest du hier. Eine interaktive Münster-Karte für Studenten findest du hier

Kosmoshörer (Folge 39)

0
0
Montag:
Montage sind allseits bekannt als der unangenehme, aber leider nicht wegzudenkende Part in jeder Woche – Stichwort „Wochenende“. Alles nützt nichts, die Uni und der Alltag rufen! 

Ganz so gewöhnlich war meine Kosmoshörer-Woche dann doch nicht, da meine Mutter und Schwester zu Besuch kamen. Vorlesungen, Rugbytraining und Sightseeing mit der Familie unter einen Hut zu bekommen, hört sich leichter an, als es ist.

An solchen Tagen begleiten mich Songs wie:

http://vimeo.com/84222759

Dienstag:
Mein Vorlesungs-Plan am Dienstag eignet sich außerordentlich gut für Freizeitaktivitäten in der Innsbrucker Natur: Bürgerliches Recht früh morgens um acht, Vormittag, Mittag und Nachmittag frei, Europarecht abends um halb sieben!

Da es Ende voriger Woche den ersten Schnee gab und wir diese Woche mit goldenem Herbstwetter beschenkt wurden, war klar, wohin ich meine Familie entführen musste! Zehn Minuten mit der Gondel auf die Nordkette, und schon standen wir im weißen Paradies. Strahlender Sonnenschein, Schnee und ein perfekter Blick auf Innsbruck rufen nach Gute-Laune-Musik.

http://www.youtube.com/watch?v=IoBP24I2lwA

Mittwoch:
Über Mittwoch gibt es nicht viel zu erzählen. Von morgens bis abends im Hörsaal gesessen, keine Zeit für meine Familie gehabt, hartes Rugbytraining, aber ein bombastisches Essen am späten Abend. Deftiger Schweinsbraten und viel Bier (meine Mutter entschied sich für einen Rotwein, meine Schwester durfte zumindest mal nippen am Bier)

http://www.youtube.com/watch?v=jltN3fLFmTQ

Donnerstag:
Ähnlicher Start wie am Dienstag: 08:00 Uhr morgens Uni! Die schlechte Laune machte allerdings ein grandioser Brunch am eigenen Balkon mit meiner Familie und meiner zweiten Familie (meine Mitbewohner) wieder wett.

Weiterhin zeigte sich Innsbruck von seiner allerbesten Seite mit strahlendem Sonnenschein und weißen Bergspitzen. Am Mittag verabschiedeten sich dann jedoch meine Mutter und meine Schwester gen Heimat – neuneinhalb Stunden Fahrt mit dem Auto…

Da die Vorlesung am Freitag aufgrund eines Vortrages des Professors bereits abgesagt wurde, war klar, was am Donnerstagabend anstand – WG Party bei einem Freund, und das verlängerte Wochenende feiern! Dazu hab ich meinen aktuellen Lieblingssong aufgedreht:

http://www.youtube.com/watch?v=zk3r-K8TQ5g

Freitag:
Mein Hangover machte es äußerst mühsam, am Freitag irgendetwas zu tun, jedoch konnte ich mich irgendwie motivieren, Ordnung in meine Mitschriften aus der Uni zu bringen. Fast erfolgreich hatte ich verdrängt, dass am Freitag Halloween wieder mal vor der Tür stand. (Ich bin ein totaler Verkleidungsmuffel muss ich dazu sagen.)

Mein ehemaliger Mitbewohner schaffte es allerdings doch, mich zu überreden, verkleidet auf seiner WG Party aufzutauchen. Ein uninspiriertes Piraten-Kostüm war die Folge. Der Abend und besonders die Nacht waren trotz großer Unlust und Hangover super gut.

http://www.youtube.com/watch?v=BuMzDuE3YCU

Samstag:
Ein noch schlimmerer Hangover als schon am Freitag führte zu einem Tag auf der Couch. Die Fußballbundesliga ab 15:30 Uhr lief am Samstag bis zum Abend und meine einzige Bewegung des Tages war das Umschalten des Programms auf das Rugby Match USA – New Zealand. Alles in allem ein langweiliger Tag.

http://www.youtube.com/watch?v=uFX_ZQCPerk

Sonntag:
Früh aufgestanden, vor lauter Elan Frühstück vorbereitet für meine WG und dann Pläne für den Tag gemacht. Da ein Freund aus Wien in der Stadt war, entschieden wir uns für eine letzte Bike Tour vor dem Winter auf den Berg. 3 Stunden bergauf radeln und eine starke Jause später fuhren wir glücklich in Richtung Innsbruck zurück.

Eigentlich wollte ich anschließend meinen Kosmoshörer Text zuende schreiben, bin aber leider direkt ins Bett gefallen und eingeschlafen.

https://soundcloud.com/cee-roo/cee-roo-work-song
[seitenumbruch]
Gute Musik – was ist das für dich?
Ich stehe auf viele, teilweise völlig verschiedene Genres, deshalb muss Musik für mich möglichst eingängig sein und gerne auch mal verrückt!

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale?
Entweder höre ich meine spärlich bestückte iTunes Mediathek, oder ich durchforste Soundcloud. Meistens höre ich allerdings egofm über Internetradio!

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen?
Da ich gefühlte zwanzig meiner Kopfhörer verloren habe, habe ich es aufgegeben, mir neue zu kaufen und höre deshalb nie unterwegs Musik. Dagegen läuft meine heimische Anlage jede freie Minute, auch zum Einschlafen.

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst?
Ich lege mich selten auf einen bestimmten Künstler fest. Zurzeit läuft häufig Nico Pusch aber das wird sich sicher bald wieder ändern.

Welche Musik magst du gar nicht und warum?
Deutsch-Rap. Ich finde die Texte einfach nur dämlich und uninspiriert: Gerne lasse ich mich aber vom Gegenteil überzeugen!

Was war deine erste eigene Platte – und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
Siehe oben „spärlich bestückte Mediathek“. Ich kaufe selten Alben oder Songs. Und eindeutig sagen, wohin mein Geschmack ging/noch geht kann ich nicht.

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt?
Auf Konzerte bin ich noch nie gegangen, meist nur zu Auftritten von DJs in Clubs. Im Sommer war ich zuletzt auf dem Zuckerbrot&Peitsche-Festival in Regensburg.

Wie entdeckst du neue Musik, und was ist deine neueste Entdeckung?
Da ich hauptsächlich egofm laufen lasse, entdecke ich dort die meiste meiner neuen Musik. So auch das neueste Stück von Kendrick Lamar:

http://www.youtube.com/watch?v=jltN3fLFmTQ

Verrate uns einen guten Song zum...
Aufwachen:

http://www.youtube.com/watch?v=6teOmBuMxw4

Tanzen:

https://soundcloud.com/dillonofficial/dillon-thirteen-thirtyfive

Traurig sein:
Bin ich nicht.

Sport treiben:
Da stehe ich wieder vor dem Problem mit den Kopfhörern...

Was ist dein Bild der Wiedervereinigung?

0
0
Stell dir vor, der Mauerfall würde sich heute ereignen. Wie sähe das wohl aus? Also: Wie würden wir die Umstürze festhalten? Und hätten die Bilder andere Inhalte oder einen anderen Zugang als damals? Gäbe es immer noch einzelne Bilder, die exemplarisch für die Ereignisse stehen, oder hätten wir stattdessen viele Millionen Fotos, die in Summe nur sortiert in Hashtags ihre Wirkung entfalten?

Eine fiktive Frage, klar. Aber eine, die sich zumindest weiterdenken lässt: Wie dokumentieren wir heute, was uns wichtig ist – privat und gesellschaftlich? Und wie hat das Internet das verändert, was man kollektives Gedächtnis nennt? Oder wieder konkret: Wie tauchen Teilung und Wiedervereinigung dort auf?





Das hat uns interessiert. Deshalb wollen wir zusammen mit Flickr ein Online-Fotoalbum füllen. Es soll an dieses hier anknüpfen (1961 bis 1989) und zeigen, wie 25 Jahre Einheit dokumentiert wurden. Dafür brauchen wir euch: Ladet Bilder aus eurem Fundus und solche, die ihr ganz aktuell gemacht habt, hoch. Wir wollen alles sehen, was ihr mit der Wiedervereinigung verbindet: Mauerreste, Street-Art, Aufkleber, Lampen, Tapeten, Menschen, Tiere. You name it. Je subjektiver, desto besser.

Lohnen kann sich das auch noch. Unter allen hochgeladenen Bildern wird zweimal je eine Kamera verlost. Die Aktion läuft 25 Tage. Zum Mitmachen einfach hier zum Fotoalbum, mit einem Flickr-Account anmelden und Bilder hochladen. Die Gewinner werden über ihre Accounts kontaktiert.

Vorher haben wir mit der Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Christine Lohmeier darüber gesprochen, wie wir uns im Internet an historische Ereignisse erinnern. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München und Vertretungsprofessorin an der Universität Bremen und sie wird am Ende der Aktion die hochgeladenen Bilder analysieren.

jetzt.de: Frau Lohmeier, die Mauer-Bilder bis zur Wiedervereinigung stammen aus einer Zeit, in der Fotografie noch etwas Exklusives war. Heute hat quasi jeder in Handy oder Smartphone eine Kamera. Was bedeutet das für die Aufnahmen von damals und heute?
Dr. Christine Lohmeier: Zunächst mal ganz banal, dass es weniger gab. Daraus folgte aber auch, dass es für besonders gute, aussagekräftige Fotos leichter war, über die Aufmerksamkeitsschwelle zu kommen. Einzelne Bilder wurden damit wohl eher ikonisch, also prägend für eine Zeit oder ein bestimmtes Ereignis.

Hat sich die Art, Ereignisse festzuhalten, verändert?
Die Materialkosten waren früher sehr hoch. Möglicherweise waren die Bilder deshalb fokussierter. Man musste sich schließlich genauer überlegen, was man fotografiert und wie. Heute können wir mehr knipsen. Entscheidender bei alldem erscheint mir allerdings, dass wir heute dafür genauer wissen, was mit unseren Bildern passieren soll.




Dr. Christine Lohmeier

Weil wir fotografieren, um es direkt mit anderen zu teilen?
Genau. Wir halten Dinge und Ereignisse fest, um sie auf Facebook, Instagram oder Flickr zu stellen. Das kann eine rein persönliche Komponente haben: Wenn man sich Bilder bis 1989 ansieht, fällt auf, dass der Fotograf kaum eine Rolle in seinem Motiv gespielt hat. Die technischen Entwicklungen haben es leichter gemacht, dass er heute selbst in irgendeiner Form auftaucht. Nicht nur in Selfies. Es kann aber auch eine politisch-gesellschaftliche Dimension entwickeln. Wir haben das bei den Revolutionen im arabischen Raum gesehen. Es ist natürlich nur ein Gedankenspiel, was passiert wäre, hätten die Menschen damals die Möglichkeiten von heute. Aber vermutlich hätten Bilder eine noch größere Rolle bei den Umstürzen gespielt.

Sind bei den Bildern im neuen Album also mehr subjektive Aufnahmen zu erwarten?
Da kann man nur spekulieren. Ich vermute schon, dass mehr Bilder ein persönliches Element haben. Es wird aber sehr spannend, zu sehen, wie sich historische Ereignisse mit persönlichen Biographien verknüpfen. Subjektive und kollektive Erinnerungen sind in der Regel enger verwoben als wir denken.

Was heißt es denn eigentlich genau, wenn wir sagen, ein Ereignis sei „im kollektiven Gedächtnis“?
Das kollektive Gedächtnis ist wie ein Bewusstsein für eine gemeinsame Vergangenheit. Es kommt zum Beispiel an Gedenk- und Feiertagen zum Ausdruck. Auch Archive, Museen und Monumente sind Teil und zugleich Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses. Es ist damit ein entscheidender Aspekt der gesellschaftlichen Identität und des Selbstverständnis’ – und keinesfalls nur in Bezug auf historische Rückblicke relevant.

Sondern?
Das kollektive Gedächtnis beeinflusst auch Visionen, die für die Zukunft entwickelt werden. Wir entscheiden damit, was für machbar, sinnvoll und ethisch vertretbar gehalten wird und was nicht.

Verändert das Internet die Art, wie wir uns erinnern? Funktioniert es als kollektives Gedächtnis?
Für sich genommen: nein. Das Internet funktioniert nicht als kollektives Gedächtnis.

Wieso?
Das Internet ist zunächst eher eine Art von Archiv. Es speichert nur Daten und Transaktionen. Und auch darin ist es nicht besonders verlässlich, weil Firmen die Macht über die Daten haben. Sie entscheiden, was damit gemacht wird. Und damit natürlich auch, was gelöscht wird. Damit aus diesen Daten aber überhaupt kollektive Erinnerung werden kann, braucht es die Interaktionen der Menschen – das Posten, Teilen, Hochladen, Vernetzen. Erst daraus entsteht Erinnerungsarbeit – individuell wie kollektiv. Das Internet hat dafür allerdings mehr Möglichkeiten geschaffen. Ich kann jetzt mit einer Person, die auf einem anderen Kontinent lebt, zum Beispiel ein gemeinsames Fotoalbum erstellen. Die Erinnerungskultur ist grenzüberschreitender geworden und erlaubt einzelnen Usern, aktiv dazu beizutragen.

Wir haben also heute mehr Möglichkeiten, zum Erinnern beizutragen?
Ja. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Internet automatisch eine demokratische Teilhabe an der Erinnerungskultur fördert. Nicht alle haben die gleichen Chancen und die technischen und ökonomischen Vorrausetzungen, um beizutragen. Ältere Menschen sind immer noch weniger im Netz – obwohl gerade die aus der Vergangenheit logischerweise viel zu erzählen hätten. Auch soziale Ungleichheit beschränkt die Teilhabe.

Es ergibt sich also ein Zerrbild?
Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. Im Internet wird darüber verhandelt, was erinnert und was vergessen wird. User sind nicht gleich Bevölkerung! Entsprechend erinnert sich das Netz zum Teil an andere Themen als die Offline-Welt.

Wir wirken Bilder auf unsere Erinnerung?
Die meisten Menschen nehmen einen Großteil der nötigen Informationen visuell auf. Fotos und Filmaufnahmen sprechen uns unter anderem deswegen sehr an, weil wir viel über eine historische oder aktuelle Situation durch aussagekräftiges Bildmaterial erfahren können. Manche Fotografien oder Filmaufnahmen werden zu Ikonen eines bestimmten Ereignisses oder einer Epoche – man denke etwa an den Mitschnitt, der den Moment zeigt, als am 11. September 2001 ein Flugzeug in den zweiten Twin Tower fliegt. Oder eben an Aufnahmen der Maueröffnung. Sehr eindrückliche Bilder historischer Ereignisse erinnern uns nicht nur an das Geschehnis selbst, sondern sind verwoben mit der eigenen Biographie. So erinnern sich die meisten Menschen sehr genau, wo und in welcher Situation sie gerade waren, als sie von den Anschlägen auf die Twin Towers oder von der Maueröffnung erfahren haben. Bilder sind Erinnerungsobjekte. Sie können sowohl kollektive als auch individuelle Erinnerungen auslösen und die eigene Biographie mit historischen Ereignissen in Verbindung setzen.

Hingucken oder Wegsehen?

0
0
Ich habe in den vergangenen Wochen viele Texte über den Islamischen Staat gelesen. Es waren gute Texte: beeindruckende Rechercheleistungen, kluge Essays, berührende Reportagen. Trotzdem frage ich mich, ob ich diese Texte wirklich hätte lesen sollen.





Bevor ich meine Selbstzweifel erkläre, kurz zu den angesprochenen Texten: Da wäre diese Reportage der New York Times. Die Korrespondentin Rukmini Callimachi hat die letzten Monate im Leben von James Foley und anderen Geiseln der IS rekonstruiert. Sehr lang, sehr detailliert, journalistisch herausragend.

Oder Friederike Haupt, die in der FAZ über die perfide Strategie des IS schreibt: Früher waren Hinrichtungsvideos extrem brutal, man sah jedes Detail. Heute inszenieren die Terroristen ihre Enthauptungen mit Bedacht, verzichten auf extreme Gewaltdarstellungen und spielen mit der Imagination der Zuschauer. Während die alten, unzensierten Aufnahmen die meisten Menschen abgeschreckt haben, erreichen die Videos der Hinrichtungen von James Foley oder Steven Sotloff ein Millionenpublikum und werden in den sozialen Netzwerken weiterverbreitet.

Die Analyse von Friederike Haupt ist scharfsinnig und hat mich zum Nachdenken gebracht. Dennoch hatte ich nach dem Lesen ein seltsames Gefühl: Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich den Text nicht besser ignoriert hätte.

Dieses Gefühl hat sich noch verstärkt, als ich auf den Gastbeitrag des Schriftstellers Clemens Seitz in der Zeit gestoßen bin. Wie Friederike Haupt arbeitet er sich an den Enthauptungsvideos von IS, Al Kaida oder mexikanischen Drogengangs ab, schildert Szenen, von denen er schreibt, es sei „unmöglich, sich das in der ganzen Länge anzuschauen. Wer es tut, ist am Ende innerlich blind und hilflos.“ Demgegenüber seien die jüngsten Aufnahmen geradezu „benutzerfreundlich“, da sie die „Reaktion durchschnittlicher westlicher Internetnutzer“ vorausberechneten: das Wegsehen bei zu brutalen, zu blutrünstigen Details.

Die explizite Beschreibung der Hinrichtungen hat mich schockiert und angewidert. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich künftig lieber weiterblättere oder -scrolle, wenn ich irgendwo die Buchstaben IS lese. Das Ziel dieser Organisationen ist es, Angst und Schrecken zu verbreiten – sie terrorisieren nicht nur die Menschen vor Ort, sondern setzen darauf, mit ihren Videos Menschen auf der ganzen Welt zu erreichen und zu schockieren. Je intensiver wir uns damit beschäftigen, desto größer wird die Bühne, die ihnen einräumen.

Selbst die differenzierteste Auseinandersetzung mit den Motiven und Strategien des IS spielt diesem letztendlich in die Hände. Damit meine ich nicht, dass wir die Geschehnisse im Irak und seinen Nachbarstaaten ignorieren sollten: Natürlich ist es keine Lösung, alle Schreckensmeldungen auszublenden. Ich finde es wichtig zu wissen, was in Kobani passiert und wie es den hunderttausenden Menschen geht, die nach Syrien, in die Türkei und auch nach Deutschland flüchten. Aber was nützt es mir, wenn ich erfahre, dass wieder ein Mensch gekidnappt wurde? Muss ich wissen, dass erneut zwei Geiseln hingerichtet wurden?

Das ist einerseits eine medienethische Frage (sollten Journalisten darüber berichten?) – da ich aber keinen Einfluss darauf habe, worüber die New York Times schreibt oder was in der Tagesschau läuft, breche ich die Frage lieber so herunter, dass ich mit meinem Verhalten tatsächlich etwas ändern kann: Wäre es besser, in Zukunft einen Bogen um Informationen über den IS zu machen, die über die knappe Zusammenfassung der politischen Lage hinausgehen? Selbst wenn ich mir nicht die Enthauptungsvideos selbst anschaue, sondern mich „nur“ auf einer Meta-Ebene damit beschäftige, bleibt die Wirkung auf mich dieselbe: Ich grusele mich und bin entsetzt ob der unfassbaren Gräueltaten, die sich Menschen gegenseitig antun.

Wie geht ihr damit um? Lest ihr solche Texte, weil ihr es wichtig findet, nicht die Augen vor dem Leid so vieler Menschen zu verschließen? Glaubt ihr, dass euch diese Auseinandersetzung hilft, die Welt oder zumindest die Beweggründe der Terroristen besser zu verstehen? Oder sagt ihr: Ich muss das nicht wissen, ich will das nicht wissen, ich ignoriere das!

Update: Ihr habt es natürlich sofort bemerkt: Einen ganz ähnlichen Ticker hatten wir bereits im August. Das ist mein Fehler: Die anderen Redakteure hatten mich darauf hingewiesen, ich habe den entsprechenden Text auf die Schnelle dann aber nicht gefunden und es danach vergessen. Bitte entschuldigt.

Allerdings finde ich, dass es durchaus einen Unterschied zwischen der heutigen Frage und der von Christina gibt: Beim ersten Ticker geht es vor allem um die Brutalität der Videos, die Frage lautet: Willst du das sehen. Das kommt für mich ohnehin nicht in Frage; wenn ich ein solches Enthauptungsvideo anschauen würde, könnte ich tagelang nicht schlafen. Ich frage eher: Willst du dich mit der Berichterstattung über den IS auseinandersetzen? Oder wäre es nicht besser, alle detaillierten Informationen über solche Terrororganisationen zu meiden, weil auch das letztendlich ein Teil ihrer Propaganda-Strategie ist?

Tagesblog - 5. November 2014

0
0
09:43 Uhr: Charlotte kam grade und ist sehr fröhlich, weil sie ein Geschenk bekommen hat:



Das, liebe Freunde, ist ein Dinosaurier-Ei. Und ja, Dinosaurier sind eigentlich ausgestorben. Aber das ist uns egal. Bald schlüpft er. Und dann ist Ende mit Zivilisation.

+++

09:25 Uhr:
+++Der jetzt.de Tagesblog-Newsticker+++

+++Große Niederlage für Obama: Die Republikaner haben die US-Kongresswahlen gewonnen+++

+++tickticktick+++

+++Andrea Nahles plant Maßahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit+++

+++tickticktick+++

+++Bahnstreik: Pressestimmen+++

+++tickticktick+++

+++Thomas Gottschalk wirbt nicht mehr für Haribo. Dafür dann Bully. Och.+++

+++tickticktick+++

+++Reicht ja erst mal, oder?+++

++++

08:37 Uhr:
Muss jetzt gleich in die Konferenz. Habe vorher noch die aktuelle BILD-Schlagzeile entdeckt. Alles Verrückte.




++++

08:31 Uhr:
Ihr seid ja sicher schon längst wach und eure Gehirne in Hochform. Da könnt ihr gleich mal zum Ticker gehen. Der ist heute schwere Kost: Simon fragt, ob es richtig und wichtig ist, sich über alle Gräueltaten des IS zu informieren - oder ob man ihm damit zu sehr in die Hände spielt.


Meinung her!

++++

08:24 Uhr:
Guten Morgen! Ich bin heute sehr früh aufgestanden und sehr früh hier. Warum auch schlafen, wenn draußen die Son...ach nee, stimmt gar nicht.

Und darum und weil ich mich ja im Tagesblog den thematischen Bilder-Tagen verschrieben habe und weil heute Sopranos-Tag ist, bin das hier ich:
[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/zQm0rSOmXcDm0/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/zQm0rSOmXcDm0/giphy.gif"]Bis gleich!

Nützliche Idioten

0
0
Als vor einem Jahr im Unterhaus über den globalen Abhörskandal diskutiert wurde, übten die Chefs der britischen Geheimdienste keine Selbstkritik, sondern gingen sofort in die Offensive. Die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, so lautete ihr Fazit, hätten britische Operationen gefährdet. Snowden sei ein Verräter. Al Qaida profitiere von seinem angeblichen Verrat. „Unsere Gegner reiben sich die Hände“, sagte einer der Geheimdienstchefs. Und die Journalisten, die über den Stoff schrieben, könnten das Material nicht richtig beurteilen. Versager, Wichtigtuer.




Robert Hanningan, neuer GCHQ-Chef, hat Internetfirmen wie Twitter und Facebook als "nützliche Idioten" für Terrorgruppen wie den IS bezeichnet.

Die Offensive geht weiter. Der neue Chef des Geheimdienstes GCHQ, Robert Hannigan, schrieb am Dienstag an prominenter Stelle in einem Gastbeitrag in der Financial Times, die sozialen Netzwerke seien inzwischen „die bevorzugte Kommandozentrale von Terroristen“. Dieser Bedrohung könnten sich Regierungen und Geheimdienste nur entgegenstellen, wenn die Internetfirmen künftig enger mit den Diensten zusammenarbeiten würden. Man könne manchmal den Eindruck haben, so Hannigan, „dass manche Technologieunternehmen ihre eigene Instrumentalisierung leugnen“.

Nimmt man Hannigan beim Wort, heißt das: Die Terrorbande IS befehligt ihre Schreckensarmee über Dienste wie Facebook, Youtube, Twitter und Whatsapp . Die Internetfirmen sind dabei ebenso nützliche Idioten wie die Journalisten, die Snowdens Enthüllungen verbreiten.

Vielleicht ist ja wirklich James Bond schuld daran, dass britische Nachrichtendienstler noch mehr als ihre Kollegen einen Hang zur Übersteigerung von Problemen haben. Immer geht es um alles oder nichts, und die Bedenken der anderen zählen nicht viel. Das kommt in England nicht schlecht an, vermutlich weil die Briten keine Gestapo, keine Stasi hatten und die Bürger ihren Geheimdiensten eher vertrauen.

Vielleicht aber will der britische Geheimdienst den öffentlichen Versuchen der Internetfirmen, sich aus der Umklammerung der Geheimdienste zu lösen, etwas entgegensetzen. Und der Dienst GCHQ greift gern zur moralischen Keule. So oder so geht es auch ums Geschäft.

Enthüllungen Snowdens hatten gezeigt, dass beispielsweise US-Geheimdienste in großem Umfang von den Tech-Firmen Informationen zu deren Nutzern einfordern. Wie freiwillig oder unfreiwillig die Kooperation war, ist umstritten.

Die Unternehmen erklären, sie seien gesetzlich gezwungen worden zu kooperieren; das schade aber ihrer Reputation. Und dem Geschäft. Regierungsbehörden in Deutschland gehen beispielsweise dazu über, wegen des Treibens von NSA und GCHQ ihre IT-Aufträge vorwiegend an deutsche Unternehmen zu vergeben.

Es gibt überall Irritationen. Das Ausmaß der Spionage sei „für alle bei Google“ ein „Schock“ gewesen, erklärte der Chairman des Unternehmens, Eric Schmidt, im Sommer im Spiegel: „Ich hatte den Umfang und die Reichweite der Aktivitäten vorher nicht vollständig begriffen.“ Andererseits: Was bedeutet vollständig?

Nun zeigt eine Reihe von Snowden-Dokumenten, dass die amerikanischen IT-Unternehmen nicht nur durch Gesetze zur Kooperation gezwungen wurden, sondern früher entgegenkommender waren. So nutzt die NSA beispielsweise die Gesichtserkennung eines Unternehmens, das Google vor einigen Jahren gekauft hat.
„Seither haben sie nicht für die NSA gearbeitet“, behauptete Schmidt in dem Interview.

Fest steht: Auch weil die Internetfirmen jetzt unter Druck ihrer Kunden geraten sind, wollen sie ihre Nutzer darüber unterrichten, in welchem Umfang Geheimdienste von ihnen Informationen verlangten.
Weil sie aber darüber, angeblich zum Schutz der nationalen Sicherheit, nicht en détail die Öffentlichkeit informieren dürfen, hat beispielsweise das Portal Twitter neulich vor einem Bundesbezirksgericht in Kalifornien Klage gegen das US-Justizministerium und das FBI eingereicht.

Diese Form der Distanzierung per Klage löste bei Geheimdienstlern Irritationen aus, weil sie von Berufswegen ihre Arbeit als Dienst am Vaterland verstehen. Sie schützen gegen die Bösen. Hannigans Angriff auf die angebliche Kommandozentrale der Terroristen passt da ins Bild.

Unbestritten ist sein Hinweis, der IS sei „die erste Terrorgruppe, deren Mitglieder im Internet aufgewachsen sind“. Die Mörder nutzen das Netz für Rekrutierung, für Propaganda und für üble Nachrichten.

Soziale Medien haben versucht dagegenzuhalten. Offensichtliche IS-Konten wurden gelöscht, Twitter-Apps, die IS zuzurechnen waren, verschwanden, aber die virusartige Verbreitung von Bildern in den sozialen Medien ist nur schwer zu verhindern. Das alles ist in der langen Geschichte des Terrorismus neu. Bevor es das Web gab, kannten Terrorbanden nur Flugblätter oder Bekennerschreiben, wie die Mörder von der RAF. Die zehn Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) wurden erst bekannt, als die Mörder tot waren.

Terrorismus unter Ausschluss der Öffentlichkeit war das Gegenteil von der in diesem Milieu üblichen Propaganda der Tat. In den sozialen Medien sind die amerikanischen Dienste auf vielfache Weise zugange. Neuerdings twittert dort auch – offenbar anders als der Dienst GCHQ – die CIA.

Das erste Gezwitscher löste im Netz Proteste aus. Der Account wurde getrollt. Es erschienen Artikel über klandestine Operationen der CIA. Hannigans Attacke auf die sozialen Medien löste bei Bürgerrechtsaktivisten die üblichen Reflexe aus. Die Dienste hätten doch schon jetzt weitreichenden Zugriff auf Daten im Internet, erklärten Sprecher mehrerer Gruppen.

Internationale Scheinheiligkeit

0
0
Bei einem Brand in einer pakistanischen Textilfabrik sind vor zwei Jahren 254 Menschen ums Leben gekommen, 55 wurden verletzt. Das European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat jetzt angekündigt, den Hauptabnehmer der Fabrik, den deutschen Textildiscounter KiK, vor Gericht bringen zu wollen.



Das internationale Wirtschaftsrecht ist gut entwickelt. Wenn es aber um Verantwortung geht, nutzen die Konzerne die jeweiligen Rechtsräume und die Beschäftigten aus - wie hier in Bangladesh..

SZ: Frau Saage-Maaß, Sie waren nach dem Brand insgesamt drei Mal in Pakistan und haben mit den Betroffenen gesprochen. Wie ist Ihr Eindruck?

Miriam Saage-Maaß: Ich war vor allem beeindruckt, wie gut sich die Verletzten und Hinterbliebenen des Unglücks organisiert haben. In anderen Ländern haben wir oft erlebt, dass die Arbeiter in ähnlichen Situationen relativ hilflos reagiert haben. In diesem Fall aber haben sich die Betroffenen zusammengeschlossen, um strategisch agieren zu können: Sie versuchen jetzt die Sicherheit in anderen Fabriken zu verbessern, sie fordern selbstbewusst ihre Rechte ein und wollen vor Gericht ziehen. Dabei geht es ihnen nicht nur um Entschädigungen, sondern auch im politischen Sinne um Gerechtigkeit. Das formulieren sie sehr exakt. Man spürt, dass es in Pakistan eine andere Gewerkschaftstradition gibt als zum Beispiel in Bangladesch.

KiK ist ein dramatischer, aber nicht der erste Fall. Warum bleibt es so schwierig, Konzerne für die Arbeitsbedingungen in ihren Zulieferbetrieben zur Verantwortung zu ziehen?

Rechtlich gesehen handelt es sich um verschiedene Firmen. Aus der nationalen Perspektive des 20. Jahrhunderts, die immer noch das Bürgerliche Gesetzbuch dominiert, haben KiK und seine Zulieferer keinerlei Verantwortung füreinander. In einem nationalen Kontext mag das sinnvoll sein, aber den globalen Wirtschaftsstrukturen wird das nicht mehr gerecht. Die globalen Zulieferstrukturen sind heute so verzweigt, dass Unternehmen ihre Verantwortung problemlos auslagern können. Es herrscht eine „organisierte Verantwortungslosigkeit“. Da muss das Recht der Realität angepasst werden.

Könnte man das Problem so beschreiben: Es gibt einen Wirtschaftsraum, aber verschiedene Rechtsräume, die gegeneinander ausgespielt werden?

Nicht ganz. Das internationale Wirtschaftsrecht ist vergleichsweise gut entwickelt. Wenn es aber um Verantwortung geht, nutzen die Konzerne die jeweiligen Rechtsräume aus: Rechtlich gesehen, ist Nestlé Kolumbien zum Beispiel von der Schweizer Mutter absolut unabhängig, ökonomisch ist es aber ein vollkommen integrierter Konzern. Wenn die Zahlen nicht stimmen, wird die Konzernleitung sofort eingreifen. Wenn es aber um Menschenrechtsverletzungen geht, soll allein die Tochterfirma in Kolumbien zuständig sein.

Könnte man sich nicht auf transnationale Rechte wie die Menschenrechte berufen?

Zum einen können die Menschenrechte nur eingeklagt werden, wenn sie in der nationalen Gesetzgebung Eingang gefunden haben. Zum anderen kommt schnell der Vorwurf des Kulturimperialismus. Dieser Vorwurf ist aber zynisch, wenn er genutzt wird, um lebensgefährliche Arbeitsbedingungen zu legitimieren. Unsere Diskussionen im globalen Süden zeigen, dass die Menschen dort natürlich keine Bevormundung aus Europa wollen, die universellen Menschenrechte aber sehr wohl in ihrem Kontext und ihrem Kampf um soziale Rechte wichtig sind.

Und Gerichtsprozesse in Deutschland können daran etwas ändern?

Wenn wir auf die menschenrechtswidrigen Verhältnisse in Pakistan oder Kolumbien aufmerksam machen, hören wir oft, dass wir doch einfach klagen sollen. Wenn wir das tun und verlieren, ist das schon hilfreich, denn so können wir zeigen, wie ungenügend die Rechtslage in Deutschland ist. Wir sehen auch, dass unsere Arbeit in den Ländern, in denen die Menschenrechte verletzt werden, wahrgenommen wird und dass die Prozesse dort wichtige Debatten anstoßen. Wir nennen das den Pinochet-Effekt: Nach dem Ende der Diktaturen in Argentinien und Chile sind die Zivilgesellschaften dort entscheidend in ihren Bemühungen um Aufarbeitung der Diktaturverbrechen gestärkt worden, als Pinochet mit einem spanischen Haftbefehl in England verhaftet wurde.

Was wäre also der beste denkbare Ausgang dieses Prozesses?

Dass wir mittelfristig einen rechtlichen Rahmen schaffen, in dem Unternehmen juristisch zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie Menschenrechte verletzen, und zwar auch im Ausland und auch durch Tochterfirmen und Zulieferer. Vor Kurzem hat das oberste Gericht Ecuadors den Ölkonzern Chevron zum Beispiel zur Zahlung von fast zehn Milliarden Dollar verurteilt, weil er in Ecuador die Umwelt und viele Ureinwohner großen Risiken ausgesetzt hatte. Ein angemessenes Urteil, das auch ein Signal setzt, selbst wenn das Geld letztlich nicht fließt.

Haben Sie das Gefühl, dass die politische Elite für das Problem der globalen Verantwortung internationaler Konzerne sensibilisiert ist?

Unverbindliche Richtlinien werden von den Parlamenten immer wieder verabschiedet und von den Wirtschaftsverbänden beklatscht. Die Oppositionsparteien interessieren sich für das Thema und arbeiten mit uns zusammen. Wenn sie allerdings Regierungsverantwortung tragen, flaut der Austausch schnell ab.

Aber die Verbraucher sind doch eigentlich gut informiert. Ethischer Konsum ist ein großes Thema.

Die Verbraucher haben aber kaum die Möglichkeit, sich darüber zu informieren, welche Zulieferer an der Herstellung welcher Produkte beteiligt sind. Sie werden gezielt im Dunklen gelassen. Auch hochpreisige Marken arbeiten oft mit denselben Fabriken. Das kann kein Konsument so einfach durchschauen. Solange die Unternehmen ihre Zulieferketten nicht offenlegen, ist es scheinheilig, die Verantwortung auf den Konsumenten abzuwälzen.

Sollte man jetzt nach dem Wirtschaftsrecht also auch die Menschenrechte exportieren?

Wir wollen gar nichts exportieren. Das müssen wir auch nicht, denn es gibt genug Menschen im globalen Süden, die sich selbstbewusst auf die universellen Menschen- und Arbeitsrechte berufen. Es geht uns darum, jene Organisationen zu unterstützen, die sich vor Ort gegen ihre Entrechtung wehren und ihnen Zugang zum Recht zu verschaffen. In Europa haben wir ja nur deshalb ein halbwegs ausgeglichenes Wirtschafts- und Sozialsystem, weil es immer eine starke Opposition wie die Arbeiterbewegung gegeben hat.

Und welche Rolle kann das Recht dabei spielen?

Das Recht kann für diese Gegenbewegungen Freiräume schaffen. Und es kann dafür sorgen, dass Machtunterschiede ausgeglichen werden. Wenn eine pakistanische Frau in Deutschland einen Konzern verklagen könnte, wäre sie juristisch plötzlich gleichgestellt und müsste ernst genommen werden. Dann könnten auch andere Akteure ganz anders agieren. In den USA gibt es schon seit 1789 den Alien Tort Claims Act (ATCA), der genau das ermöglicht. Das ist eine der ganz wenigen Möglichkeiten, sich bei extraterritorialen Menschenrechtsverletzungen auf das Völkerrecht zu berufen.
 

Verbindung beendet

0
0
Die wendungsreiche Beziehungsgeschichte zwischen Apple und der Russischen Föderation ist um ein bemerkenswertes Kapitel reicher. Nachdem der Firmenchef Tim Cook in der vergangenen Woche seine Homosexualität öffentlich gemacht hatte, wurde ein zwei Meter hohes iPhone abmontiert, das auf dem Campus der Sankt Petersburger Universität für Informationstechnologie an den verstorbenen Vorgänger Cooks und Apple-Gründer Steve Jobs erinnerte.



Apple-CEO Tim Cook hatte Ende Oktober seine Homosexualität öffentlich gemacht.

Damit wolle man dem Gesetz Genüge tun, das die Propaganda von Homosexualität unter Minderjährigen verbietet, erklärte Maxim Dolgopolow, der das Denkmal 2013 gestiftet hatte. An einem Ort, an dem sich junge Studenten und Schüler aufhielten, habe das Monument nichts verloren. Außerdem sei Dank Edward Snowden bekannt, dass Apple Nutzerdaten an die NSA weitergebe. Schwul und Verräter – das ist gerade eine ganz ungünstige Mischung in Russland.

Dabei begann das Verhältnis einmal herzlich. Dmitrij Medwedjew, damals Präsident, strahlte wie ein Kind, als Steve Jobs ihm bei einem Besuch in Kalifornien im Sommer 2010 ein iPhone4 überreichte, noch bevor es in den Handel kam. Als der Apple-Gründer starb, drückte Medwedjew schließlich auf Twitter seine Anteilnahme aus: „Menschen wie Steve Jobs verändern die Welt.“

In diesem Sommer wurde der von vielen Russen für seine verspielte Technik-Begeisterung belächelte Medwedjew Opfer eines Hacker-Angriffs. Erst twitterten die Eindringlinge im Namen des Premiers, er trete zurück („Was die Regierung macht, ist peinlich. Entschuldigung“) und werde künftig als Fotograf arbeiten. Dann veröffentlichten sie den Inhalt von drei seiner iPhones im Netz. Wie erwartet kam dabei außer Selfies und Bestellungen bei europäischen Versandhändlern nichts Bemerkenswertes zutage – was das gängige Bild von Medwedjew als macht- und harmlosen Politiker bestätigte.

Seit im Zuge des aktuellen Konflikts um die Ukraine massiv amerikafeindliche Stimmung geschürt wird, ist das iPhone zu einem der Symbole geworden, an denen sich die Wut entlädt. So wie in jenem Youtube-Video, auf dem ein Russe erst eine Flasche Cola in den Ausguss schüttet und dann iPhone und iPad mit dem Hammer zertrümmert, um es Obama einmal richtig zu zeigen.

Dazu passte so gar nicht, dass Rosneft kürzlich für 27000 Euro Apple-Technik bestellte. Zumal der größte Ölproduzent des Landes kurz zuvor Hilfe vom Staat in Höhe von mehr als 36 Milliarden Euro erbeten hatte, um die Auswirkungen der Sanktionen abzufedern. Die Variante der Konkurrenz ist indes nicht billiger: Zwei Millionen Euro gibt Gazprom für die Entwicklung von einem „mobilen Arbeitsplatz mit berührungsempfindlichem Bildschirm“ aus, über den der Vorstandsvorsitzende des Konzerns, Alexej Miller, den Konzern steuern kann – auf Basis des iPad, aber mit eigener Software.

Der Petersburger Dolgopolow schließt derweil nicht aus, dass das Denkmal an seinen alten Platz zurückkehrt, dann aber mit neuen Funktionen. Von dem Terminal könnten dann Beschwerden an die Apple-Führung und die NSA verschickt werden, versprach er. Eine Errungenschaft aus dem Westen, die selbst gegen den Westen gerichtet wird – ein russischer Klassiker. Sollten die Pläne umgesetzt werden, würde aus dem profanen Touchscreen-Terminal am Ende doch noch so etwas wie ein echtes Denkmal.
Viewing all 6207 articles
Browse latest View live




Latest Images