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Wochenvorschau: So wird die KW43

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Wichtigster Tag der Woche?
Ich sag jetzt einfach mal: Mittwoch. Weil da die mittlere Mitte der Woche erreicht ist.

Kulturelles Highlight?



Die Handwerkskammer Bayern betreibt in München die Galerie Handwerk, einen Ausstellungsraum, in dem das präsentert wird, was man gemeinhin „Kunsthandwerk“ nennt. Seit Donnerstag läuft dort eine Ausstellung zu Innovationen im Textilbereich. Da ich ja eine ziemliche Strickliesl bin, interessiert mich, was die Künstler dort zu zeigen haben.

Was mich politisch interessiert:
Mich interessiert gerade ganz besonders, wie es mit den Flüchtlingen in München weitergeht. Im gesamten Stadtgebiet werden fieberhaft Unterkünfte gesucht, überlegt, Flüchtlinge in leerstehenden Bürogebäuden unterzubringen und Container-Dörfer an Bahngleisen zu errichten. Nächste Woche soll es auch mit dem warmen Herbstwetter vorbei sein, also müssen die ganzen Zelt-Improvisationen, wie im Kapuzinerhölzl beendet werden. Ich hoffe sehr, dass es in dieser Woche etwas anderes als Katastrophenmeldungen gibt. Und dass die Stadt München einen Weg findet, die Mammutaufgabe zu bewältigen, all die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen, die vor Krieg, Folter und Hunger zu uns geflohen sind.

Soundtrack:
Wann immer ich ein bisschen gute Laune und Motivation brauche, lege ich eine Platte von Jerry Reed auf, einem Gitarristen und Protege von Chet Atkins (und das will etwas heißen). Jerry Reed war ein unglaublich talentierter Gitarrist, eine veritabler Super-Picker. Bei uns kennt man ihn vermutlich vor allem durch seine Rolle in und den Soundtrack für „Eastbound & Down – Auf dem Highway ist die Hölle los“. Jedenfalls: Wenn ich nächste Woche immer noch so halb krank rum hänge wie gerade, dann wird Jerry Reed auf Dauer-Rotation gestellt.

https://www.youtube.com/watch?v=N7fmEDZJckY


Alles ein bisschen Las-Vegas-Showstopping-over-the-top, aber auch das hat bisweilen seine Berechtigung, wa?!
https://www.youtube.com/watch?v=gUFmceGugaA

Wochenlektüre:
[plugin imagelink link="http://ecx.images-amazon.com/images/I/41Nih50a6xL.jpg" imagesrc="http://ecx.images-amazon.com/images/I/41Nih50a6xL.jpg"] Nachdem ich lange gezögert habe, vielleicht doch ”Der Distelfink“ von Donna Tartt, wo er mir doch am Donnerstag im Tagesblog so eloquent von @weiterhinEnte und @wollmops empfohlen wurde. Kinogang: Ach. Jedes Mal, wenn ich eine Wochenvorschau schreibe, muss ich mir eingestehen: Kino wird wohl eher wieder nichts in dieser Woche. Obwohl ich mich sehr danach sehne. Wenn ich überraschend doch Zeit habe, dann gehe ich in „Das große Museum“, eine Dokumentation über das kunsthistorische Museum in Wien. Klingt etwas sperrig, aber der Trailer ist schon mal super.
https://www.youtube.com/watch?v=uSs2Sh_x0t4

Geht gut diese Woche:

Auf die Auer Dult gehen. Die findet drei Mal im Jahr in München auf dem Mariahilfplatz statt und ist so etwas wie die kleine, sympathische, etwas verkramte Cousine des Oktoberfests. Zur Hälfte Rummel, zur Hälfte Antik- und Trödelmarkt. Wenn ich es schaffe, gehe ich mindestens zwei Mal hin.

Geht gar nicht:
Dem schönen Wetter hinterher trauern. Wir müssen jetzt lernen, die guten Seiten von Herbst und Winter zu betonen und die schlechten zu verdrängen. Sonst wird das eine einzige Quälerei in den nächsten fünf Monaten.

Das neue jetzt Magazin ist da!

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Liebe Leserin, lieber Leser,

in diesem Heft geht es ums Geldverdienen. Denn Geld spielt im Leben immer eine Rolle, aber ganz besonders während des Übergangs vom Studium ins Berufsleben. Weil man das erste Gehalt als Hinweis darauf verstehen kann, wie viel es eigentlich gebracht hat, dieses Studium. Weil es einem neue Möglichkeiten gibt, aber auch einen Graben zwischen Freunde treiben kann, die nicht dasselbe verdienen. Und weil man an der Schwelle zum Berufsleben natürlich auch einfach sagen kann: „Nix da, ich geh lieber Erdbeeren pflücken, als Kohle zu scheffeln!“





jetzt Uni&Job liegt am 20. Oktober 2014 in deiner Süddeutschen Zeitung. Außerdem kannst du es digital auf dem Smartphone oder dem Tablet lesen - mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung. Du kannst die digitale Ausgabe des Hefts einzeln für 89 Cent oder zusammen mit der SZ vom Montag kaufen - für Abonnenten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Die einzelnen Texte aus dem Heft kannst du ab Montagabend auch auf jetzt.de im Label Uni_und_Job nachlesen. Für eine erste Orientierung hier das Inhaltsverzeichnis:

4 Zustand Was wir mögen, sagt, wer wir sind.
6 Flucht Wie junge Chinesen dem Leistungsdruck entkommen wollen.
18 Unterschied Wie es sich anfühlt, mehr Geld zu haben als die besten Freunde.
20 Belohnung Was Berufseinsteiger sich von ihrem ersten Gehalt kaufen.
26 Wissen Wichtiges und Unwichtiges zur Finanzbranche.
28 Ausweichen Nach dem Studium eine Ausbildung machen: ein Schritt zurück?
32 Geschmacklos Warum gibt es so viele dämliche Kochbücher für Studenten?
34 Spieler Zu Besuch in einer WG von Poker-Profis.
40 Rätsel Errätst du, welches Motiv zu welchem Geldschein gehört?
42 Interview Eine Partie „Mensch, ärgere Dich nicht“ mit Boys Noize.

Papst warnt Kirche vor „feindlicher Erstarrung“

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Zwei Wochen lang haben fast 200 katholische Bischöfe im Vatikan kontrovers über Ehe, Familie und Sexualität diskutiert – und konnten sich nicht darauf einigen, wie die Kirche mit Homosexuellen und Geschiedenen, die wieder heiraten, umgehen soll. Die drei entsprechenden Abschnitte 52, 53 und 55 des 62 Punkte umfassenden Abschlusstextes verfehlten bei der Abstimmung die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit der stimmberechtigten Bischöfe. Papst Franziskus hatte angeordnet, das Abstimmungsergebnis zu veröffentlichen. Bislang war das nicht üblich gewesen.

Am Montag noch hatte ein Zwischenbericht Aufsehen erregt, weil er Homosexuelle eine Bereicherung für die Gemeinden nannte und von der Möglichkeit sprach, Geschiedenen, die wieder heiraten, in bestimmten Fällen den Zugang zu den Sakramenten zu ermöglichen. Der Text stieß aber auf die heftige Kritik konservativer Bischöfe, denen die Vorschläge zu weit gingen; die Gegner des Textes kamen vor allem aus Afrika und Osteuropa, aber auch aus der römischen Kurie. In der Folge wurden zahlreiche Änderungen eingearbeitet, um strittige Stellen zu entschärfen. So heißt es nun zum Beispiel lediglich, man habe über das Thema wiederverheiratete Geschiedene „nachgedacht“. Das Dokument dient als Arbeitsgrundlage für eine zweite Synode, die in einem Jahr tagen soll.



Papst Franziskus: Heftige Diskussionen im Vatikan

Papst Franziskus würdigte in einer Rede zum Abschluss der Sitzungen die Offenheit der Beratungen. Er warnte vor einer „feindlichen Erstarrung“ der Kirche, aber auch vor einer „falschen Barmherzigkeit“. „Traditionalisten und Intellektualisten“ würden sich oft „im Geschriebenen einschließen und sich nicht von Gott überraschen lassen wollen“; Progressive und Liberale würden dagegen manchmal Wunden verbinden, „ohne sie zuvor zu pflegen und zu behandeln“. Die Synoden-Teilnehmer veröffentlichten am Samstagabend eine Botschaft an die Gläubigen. In ihr heißt es, die katholische Kirche sei „ein Haus mit stets offenen Türen“; in ihr solle niemand ausgeschlossen werden. Die Synodenväter riefen die Regierungen der Welt auf, die Rechte der Familien zu stärken.

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, der für die Deutsche Bischofskonferenz in Rom war, sagte, manches in der kontroversen Debatte sei „nicht erquicklich“ gewesen, nannte die Gesamtbilanz aber insgesamt „positiv“. Der Abschlusstext sei eine „Ermutigung“, weiter zu diskutieren und voranzugehen. Erstmals seit Jahren seien die Themen Sexualität, Ehe und Familie so offen diskutiert worden. Die Familienreferentin des Erzbistums Berlin, Ute Eberl, die als Beraterin nach Rom gefahren war, sagte, in der zweiten Woche der Beratungen habe eine „eher bewahrende Haltung im Vordergrund gestanden“.

Am Sonntag sprach Franziskus auf dem Petersplatz Papst Paul VI. selig, der das Zweite Vatikanische Konzil abgeschlossen, aber auch die Enzyklika „Humanae Vitae“ veröffentlicht hatte, die Katholiken den Gebrauch künstlicher Verhütungsmittel verbot. An der Zeremonie nahm auch der zurückgetretene Papst Benedikt XVI. teil.

Tagesblog am 20. Oktober 2014

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16:22 Uhr: Eine Freundin von mir schreibt gerade für den Fluter. Ein Magazin, das ich mag. Dort beschäftigt man sich seit einiger Zeit mit dem Thema Plastik.

Da gibt es Texte über plastikfressende Pilze, Mikroplastik in unseren Duschgels und die Antwort auf die Frage, wie es nutzlose Billig-Sachen aus Plastik in unseren Einkaufswagen schaffen. Ich verrate die Antwort mal: weil sie bunt und kitschig sind! So einfach und gleichzeitig so verhängnisvoll ist das also mit dem Plastik. (Gregor)


++++

16:00 Uhr: Geldbeutel immer leer, nie Geld auf der Bank und nicht mal mehr einen Hosenknopf in der Tasche? Ja, du bist arm oder mindestens nicht reich. Das ist natürlich keinesfalls etwas Verwerfliches. Und schnell ändern kann es sich auch! Mit dem ersten Job purzeln die fetten Schecks ins Haus - und man weiß dann gar nicht so recht wohin mit dem ganzen Zaster. Ein bisschen Inspiration könnt ihr euch jetzt hier holen.  Wir haben „Fünf Geschichten vom ersten Mal Luxus“ für euch gesammelt. Endlich reich! (Gregor)

++++


15:03 Uhr: Was unsere Redakteure wohl gerade machen? Die haben ja auch sturmfrei von uns... #praktikantensturmfrei. Unbedingt anklicken.

http://coub.com/view/ztsi

(Gregor)

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14:35 Uhr:
Hipper Foto-Blog aus Dänemark. Immer ein Foto plus einen Satz. Funktioniert!

http://fuckyouverymuch.dk/

(Gibt es denn überhaupt unhippe dänische Foto-Blogs irgendwo?)

(Gregor)

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14:10 Uhr:
Was ist „bildgewaltig“? Paolo Nutini mit „Iron Sky".

http://vimeo.com/102813967


(Gregor)

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13:55 Uhr:
Wo wir schon bei Graffiti sind: Die tödlich verunglückte Hamburger Sprayer-Legende „OZ“ wird in diesem schönen Sarg beerdigt. Das ist standesgemäß und irgendwie tröstlich. Ob er jetzt auch an die Himmelspforte seine Tags sprühen darf? Wahrscheinlich schon- da oben geht bestimmt alles. R.I.P „OZ“! 
 
[plugin imagelink link="http://www.blogrebellen.de/wp-content/uploads/2014/10/oz-Sarg.jpg" imagesrc="http://www.blogrebellen.de/wp-content/uploads/2014/10/oz-Sarg.jpg"]

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13:31 Uhr:
Stell dir vor die Aufzugstüren schließen sich - und du siehst das:
 




So geschehen gerade eben auf dem Weg zur Mittagspause. Wir sind einigermaßen schockiert. Und gehen mit Angt durch den Tag.

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13:04 Uhr:
So, Gezeitenwechsel: Jetzt übernehme ich die blitzblank geschrubbte Kapitänskajüte und dann muss auch mal wieder gut sein mit maritimen Metaphern.

Ich habe gefühlte 200 Tabs offen und so ziemlich alles gelesen was heute wichtig, schön, traurig, lustig, doof, banal, superb, aktuell oder schon-mal-da-gewesen ist. Dann mal Anker los! (*verdammt*)

Erstmal was in eigener Sache: Heute morgen unsanft geweckt worden?

Dann lest mal die neueste Hass-Kolumneüber Laubbläser! (Gregor)

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12:30:
Mein Schreibtisch sah mal ordentlicher aus...egal, ich gehe jetzt essen. Vielleicht räumt er sich in der Zwischenzeit ja magisch von alleine auf. Den Nachmittag übernehmt dann der Gregor. Es war mir eine Freude mit euch, viel Spaß noch! :)





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12:00 Uhr:
Die Kirchturmglocke läutet. Und wir haben neuen Stoff für euch. Passend zu unserem Berlin-Studentenatlas: "25 Dinge, die Dir nur in Berlin in der Bahn passieren können". Zum Beispiel ein Pony im Fahrradabteil:

[plugin imagelink link="http://pbs.twimg.com/media/BXkhM1bIIAAjhz7.jpg" imagesrc="http://pbs.twimg.com/media/BXkhM1bIIAAjhz7.jpg"] (Okan)

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11:47 Uhr:
Unsere Grafik-Azubine Sandra steht auf bunte Socken. Da ihre eigenen Omas leider keine stricken, lässt sie das von den Großmüttern ihrer Freunde erledigen. Sie hat zum Beispiel auch welche mit Schweinchenohren. Die hat sie aber leider im Laden gekauft. (Okan)





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11:15 Uhr:
Huch, wie schnell die Zeit vergeht. Die Meldungen des Tages wollten wir euch natürlich nicht vorenthalten:

  • Frankreich will, dass Deutschland mehr investiert. Zumindest sehen das der französische Finanzminister und sein für die Wirtschaft zuständiger Kollege so. Heute treffen sie sich mit Bundesfinanzminister Schäuble und Bundeswirtschaftsminister Gabriel.

  • Die USA haben erstmals Waffen für die kurdischen Kämpfer in Nordsyrien abgeworfen, die sich dort gegen den IS stellen. (Okan)



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10:06 Uhr
: Sturmfrei haben, ist das nicht ein tolles Gefühl? Den Ticker zum Thema gibt es hier. Nur ein gutes Gefühl haben zu wollen, das wird auch Online-Protestlern oft vorgeworfen. Von "Feel-Good Activism" ist dann manchmal die Rede. Wir haben uns das das Ganze einmal genauer angeschaut. Ein Beispiel für digitalen Protest sind politische Hashtags. (Okan)

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9:30 Uhr:
Wir dürfen den Tagesblog schreiben, eine große Ehre! Unsere Reaktion, als wir davon erfahren haben:

[plugin imagelink link="http://i.imgur.com/7dHyZeJ.jpg" imagesrc="http://i.imgur.com/7dHyZeJ.jpg"] (Okan)

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9:14 Uhr:
Guten Morgen, Welt! Gleich geht's hier los. Wir laden noch unseren Energiebalken auf. Für alle, die auch (gefühlt) noch im Bett liegen:

http://www.youtube.com/watch?v=g6JYzOjglBs
(Okan)


Zwischen Ku-Klux-Klan und Wattestäbchen

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Selten war die Polizei der Terrorzelle namens NSU näher als am 25.April 2007, unmittelbar nach den Schüssen auf die Polizistin Michèle Kiesewetter und deren Kollegen Martin A. Bei einer Ringfahndung notierten Beamte das Kennzeichen eines Chemnitzer Wohnmobils: C-PW 87. Doch die Spur wurde beiseite gelegt und nicht weiter verfolgt. Hätte man den Halter des Fahrzeugs ermittelt, wäre man wohl schnell auf die Namen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gestoßen.

Selten war die Polizei von der Wahrheit über den NSU weiter entfernt als bei der Jagd nach dem sogenannten „Heilbronner Phantom”. Eine DNA-Spur legte nahe, eine aus Osteuropa stammende Serientäterin habe Michèle Kiesewetter umgebracht und Martin A. schwer verletzt; an 40 weiteren Tatorten in Süddeutschland und auch im Ausland hatte die Gewalttäterin scheinbar ihr Unwesen getrieben. Hartnäckig verfolgte die Polizei den sehr merkwürdigen Verdacht. Später stellte sich heraus: Das DNA-Material stammte von einer Frau, die die zur Spurensicherung eingesetzten Wattestäbchen verpackt hatte.



Mord an Polizistin: wichtiges Thema im Untersuchungsausschuss

Fehler und Peinlichkeiten wie diese werden zur Sprache kommen, wenn der Landtag in Stuttgart demnächst einen Untersuchungsausschuss einsetzt, der sich mit den Umtrieben des NSU beschäftigt. Ein Ausschuss wie in Thüringen, Sachsen, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, nun also doch auch in Baden-Württemberg: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel erklärte am Freitag im Namen seiner Partei das Einverständnis, nachdem sich die Sozialdemokraten dem Wunsch der Grünen bislang verweigert hatten. Eine Enquêtekommission war stattdessen eingesetzt worden, die Lehren ziehen sollte. Denn die Tat sei ausreichend untersucht.

Nun allerdings hat sich diese Kommission selbst zerlegt, auf eine so unwürdige Art und Weise, dass man sich Details ersparen sollte. Der Vorsitzende Willi Halder (Grüne) jedenfalls trat zurück, weil er ein Gutachten, das die Rechte des Gremiums klären sollte, erst Parteifreunden zeigte, bevor er es den Mitgliedern der Kommission vorlegte. Auch der grüne Obmann Daniel Lede Abal sieht sich in der Affäre mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Deshalb, sagt nun SPD-Mann Schmiedel, solle die Kommission erst einmal ausgesetzt werden; man müsse den Eindruck vermeiden, das Parlament scheue die Sachaufklärung. Den Vorsitz im Untersuchungsausschuss reklamiert die SPD für sich. Man werde den Posten mit einer Person besetzen, die der Aufgabe gewachsen sei, sagte Schmiedel, ein Seitenhieb auf Halder – und wohl auch eine Replik auf Spekulationen der Grünen, die SPD habe sich bislang verweigert, weil Innenminister Reinhold Gall seine Polizei schützen wolle.

Dem baden-württembergischen Landtag bietet der Ausschuss die Gelegenheit, das unwürdige parteipolitische Gezerre um die Bluttat von Heilbronn zu beenden. Der langjährige Generalstaatsanwalt von Baden-Württemberg, Klaus Pflieger, äußerte im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sein Unverständnis über dieses Taktieren. „Warum agiert die Politik hier nicht und lässt es zu, dass der Eindruck erweckt wird, dass etwas unter den Teppich gekehrt werden soll?”, sagte Pflieger. „Mir tut es weh, wenn ich sehe, wie Spekulationen in alle Richtungen gedeihen.“ Er erhofft sich nun auch Erkenntnisse über rechte Strömungen in der Polizei Baden-Württembergs. Mehrere Kollegen Kiesewetters waren im Ku-Klux-Klan engagiert gewesen. „Da muss man durch, auch wenn es unangenehm wird”, sagt Pflieger.

Es wird eine schmerzliche Untersuchung werden, nicht zuletzt für die Angehörigen von Michèle Kiesewetter. Denn auch die Spekulationen um Kontakte der Polizistin zur rechtsextremen Szene werden wieder zur Sprache kommen. Der Mord von Heilbronn fällt in vielerlei Hinsicht aus der Reihe der anderen NSU-Taten: offenbar ohne Vorbereitung, ganz spontan verübt, der einzige Anschlag auf die Staatsgewalt. Die erbeuteten Waffen führten Böhnhardt und Mundlos bis zu ihrem Tod wie Trophäen mit sich. Um die Tat ranken sich deshalb die wildesten Verschwörungstheorien. Warum musste Michele Kiesewetter wirklich sterben? Die letztgültige Antwort kann wohl auch ein Untersuchungsausschuss nicht geben. Die kennt wohl nur eine Person: Beate Zschäpe, die derzeit in München vor Gericht steht.

Mit der Geduld am Ende

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Zum ersten Mal seit Beginn der Proteste in Hongkong sollen am Dienstag Gespräche zwischen Regierung und demonstrierenden Studenten stattfinden. Die Gespräche sollen live im Fernsehen übertragen werden. Darauf einigten sich Vertreter beider Seiten am Wochenende. Inhaltliche Fortschritte erwartete sich allerdings kein Beobachter von dem Dialog: Hongkongs Regierung machte klar, dass ihr wegen der Vorgaben Pekings die Hände gebunden seien und sie den Forderungen der Demonstranten nach freien Wahlen im Jahr 2017 nicht entgegenkommen könne. Manche Gruppen unter den Demonstranten scheinen derweil zunehmend gewillt, der Konfrontation mit der Polizei nicht mehr aus dem Weg zu gehen. Zwei Nächte hintereinander kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten im Hongkonger Stadtteil Mongkok, es gab Dutzende leicht Verletzte auf beiden Seiten.

Die Proteste in Hongkong gehen nun in die vierte Woche, bis zum Wochenende waren sie bemerkenswert friedfertig. Mongkok ist neben dem Regierungsviertel im Stadtteil Central die zweite größere Stelle, an der Demonstranten einzelne Straßen und Kreuzungen besetzt halten, die Zahlen der Besetzer schrumpfen dabei von Woche zu Woche, tagsüber sind an manchen Stellen nur mehr ein paar Dutzend, anderswo ein paar Hundert Demonstranten zur Stelle. Demonstranten und Polizei gerieten in Mongkok aneinander, nachdem die Polizei versucht hatte, die dort besetzten Straßen größtenteils zu räumen und wieder für den Verkehr freizugeben. Die Demonstranten eroberten einen Teil der Straßen wieder zurück, Polizisten sprayten Reizgas und schlugen mit Schlagstöcken auf die vorrückende Menge ein. Vertreter beider Seiten verurteilten die Gewalt.



Hongkong: Die Proteste gehen weiter

Studentenführer Lester Shum und „Occupy Central“-Gründer Chan Kin-man sagten, Gewaltfreiheit und Dialog seien der einzige Weg vorwärts. Lester Shum und seine Hongkonger Studentenvereinigung werden am Dienstag die Studenten vertreten, auf Regierungsseite wird Verwaltungschefin Carrie Lam die Gespräche führen. Sie sagte, im Zentrum des Dialogs werde die Reform der Verfassung stehen. Die Studenten hatten im Vorfeld klargemacht, dass sie trotz Widerstands der Regierung über den Modus der Wahlen zum Regierungschef 2017 sprechen wollen. Sie wollen eine freie Wahl und die freie Nominierung der Kandidaten. Der im August von China vorgelegte Wahlmodus sieht jedoch lediglich die Wahl zwischen zwei oder drei von regierungsfreundlichen Wahlmännern ausgesuchten Kandidaten vor.

Chinas Regionen hatten vergangene Woche derweil mit eigenen Protesten zu kämpfen. In den Provinzen Guizhou und Yunnan kam es wegen der Konfiszierung von Bauernland durch Regierungskader für Entwicklungs- und Immobilienprojekte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Toten. In dem Dorf Fuyou in Yunnan sollten offenbar angeheuerte Schläger die Dorfbewohner einschüchtern. Bauherren aus der Provinzhauptstadt Kunming wollen dort mithilfe lokaler Funktionäre ein Logistikzentrum errichten, die Bauern aber wollen ihr Land nicht hergeben. Zeugen aus dem Dorf berichten von mehreren Hundert bewaffneten Angreifern, die am Dienstag im Auftrag des Bauherren ihr Dorf umzingelt und versucht hätten, das Land frei zu machen. Angreifer und Bauern gingen aufeinander los, am Ende waren zwei Bauern und sechs Angreifer tot.

Die Zwangsbeschlagnahmung von Bauernland durch korrupte Kader und Bauherren ist einer der Hauptgründe für gewaltsame Ausschreitungen überall im Land, eine der größten Sorgen für die Kommunistische Partei in Peking. Der Vorfall in Yunnan aber sticht heraus durch die vielen Todesopfer. Er geschah zu einer Zeit, da die KP sich auf einen wichtigen Kongress vorbereitet, der am Montag in der Hauptstadt beginnt. Sie will dort drei Tage lang vor allem über „Rechtsstaatlichkeit“ diskutieren. Die Volkszeitung, das Sprachrohr der Partei, schrieb in einem Kommentar, die Ausschreitungen in Yunnan hätten vermieden werden können, hätten die lokalen Behörden sich „an Recht und Gesetz gehalten“. Die KP wünscht sich offenbar ein besseres System der Kontrolle und Verantwortlichkeit mithilfe einer besser funktionierenden Justiz. An eine Unabhängigkeit der Justiz im westlichen Sinne denkt sie jedoch nicht.

Von #ArabSpring bis #YesAllWomen

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A


#Arabspring und #Arabellion: Der Arabische Frühling begann Ende 2010 mit einem Tweet über einen jungen tunesischen Gemüsehändler, der sich in Brand steckte, weil er in seinem Land keine Perspektive mehr für sich sah. Die Hashtags #Arabellion und #Arabspring halfen der Rebellion, auf Probleme aufmerksam zu machen und den Aufstand zu koordinieren.
Mehr auf Wired.com

#AskIslamicState: Unter dem Hashtag machen sich seit August 2014 Twitter-Nutzer über die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) lustig – indem sie Fragen stellen.
Mehr auf Independent.co.uk

#AuchIchBinDeutschland: deutsches Pendant zu → #ITooAmHarvard, einer Kampagne gegen Alltagsrassismus an der Uni. 

#Aufschrei: Online-grimmepreisgekrönter Hashtag, den die Netzfeministin Anne Wizorek im Januar 2013 startete. Der Hashtag sammelt Erfahrungsberichte über Alltagssexismus. Ausgelöst durch Anzüglichkeiten von FDP-Politiker Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich.
Mehr auf SZ.de


B


#BlackLifematters→ siehe #IfTheyGunnedMeDown

#BringBackOurGirls: Kampagne für die mehr als 200 Schülerinnen aus Nigeria, die 2014 von der Terrororganisation Boko Haram entführt wurden. Auch Michelle Obama machte mit und posierte mit dem Hashtag für ein Foto.
Mehr auf SZ.de


C


#ChangeTheRatio: Hashtag für mehr Gleichberechtigung von Frauen im Berufsleben.


D


#DankePolizei: Unter dem Hashtag werden Erfahrungen mit Polizeigewalt in Deutschland beschrieben. → siehe auch: #MyNYPD
Mehr auf Taz.de 

#Direnkahkaha: Der türkische Vize-Premierminister sagte im Sommer 2014, dass Frauen seiner Meinung nach nicht in der Öffentlichkeit lachen sollten. Unter dem Hashtag passiert: genau das!
Mehr auf jetzt.de   

#Douma4: Online-Kampagne für die in Douma entführte syrische Journalistin Razan Zeitouneh.
Mehr auf Faz.net  

#Drosselkom: Aus dem Netz-Protest gegen die Mogel-Flatrate-Pläne der Telekom im Jahr 2013 wurde eine – erfolgreiche! – Petition.
Mehr im Phänomeme-Blog der SZ  

#DuranAdam: Duran Adams Bild, auf dem er aus Protest still auf dem Taksim-Platz stand, ging um die Welt, zusammen mit #Gezipark und #OccupyGezi die Hashtags der Proteste in der Türkei 2013.
Mehr über Duran Adam auf SZ.de


E


#EmptySeatCampaign: Aufruf zum Boykott der Spiele der Basketballmannschaft L.A. Clippers. Der Grund: Donald Sterling, Besitzer des NBA-Teams, forderte seine Geliebte dazu auf, keine Schwarzen mehr zu seinen Spielen mitzubringen.
Mehr auf SZ.de 

#Euromaidan: Hashtag für die Proteste in der Ukraine 2013/14.
Mehr auf BBC.com


F


#FloodWallStreet: Hashtag für die Demonstrationen für besseren Klimaschutz 2014
Mehr auf Guardian.com 

#FreePalestine: → siehe #GazaUnderAttack


G


#GamerGate: Bezeichnet Kontroversen innerhalb der männlich dominierten Spiele-Community im Umgang mit Frauen. Unter dem Hashtag werden sowohl Probleme benannt als auch Frauen bedroht.
Mehr auf SZ.de 

#GameOfDrones: Unter dem Hashtag geht es um die umstrittenen Drohnen-Einsätze der USA, die immer wieder unschuldige Zivilisten töten. Als Wortspiel angelehnt an die US-Serie "Game Of Thrones". Mittlerweile eine Amnesty-International-Kampagne.
Mehr auf jetzt.de 

#GazaUnderAttack (→ auch: #HamasKillsKids, #IsraelUnderFire und #Free-Palestine): Unter dem Hashtag werden seit dem Sommer 2014 – teilweise gefälschte – Fotos aus dem Gaza-Konflikt geteilt. 
Mehr auf Aljazeera.com und Spiegel Online 

#Gezipark (→ auch: #OccupyGezi): Hashtag der Proteste in der Türkei 2013 
Mehr auf SZ.de 

#GoodellMustGo: Unter dem Hashtag wurde der Rücktritt von NFL-Boss Roger Goodell gefordert, der zugegeben hatte, seine damalige Verlobte und heutige Frau einmal bewusstlos geschlagen zu haben, und über häusliche Gewalt diskutiert. 
Mehr auf intimes.com 

#GunControlNow: Nach dem Amoklauf in Newtown im US-Bundesstaat Connecticut im Dezember 2012 wurde unter dem Hashtag (→ und unter #GunControl) über die Waffengesetze in den USA diskutiert. 
Mehr auf jetzt.de


H


#HamasKillsKids: → siehe #GazaUnderAttack 

#HeForShe: Feminismus-Kampagne von Emma Watson, gestartet 2014.
Mehr auf SZ.de


I


#IAmGirl: Kampagne für die Rechte von Mädchen und Frauen.
Mehr auf der Facebook-Seite der Kampagne

#IchKaufDasNicht: Kampagne gegen diskriminierende Produkte und Werbung, gestartet im Frühjahr 2013 von der → #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek.
(englischsprachiges Vorbild: #NotBuyingIt)
Mehr auf SZ.de 

#IfTheyGunnedMeDown: Protest gegen den Tod des afroamerikanischen Teenagers Michael Brown, der im August 2014 in vermeintlicher Notwehr von einem Polizisten erschossen wurde. Weitere Hashtags zum Thema: #MikeBrown und #BlackLifeMatters.
Mehr auf SZ.de 

#InsideOut: Kampagne des "Fashion Revolution Days", der auf Textilproduktionsbedingungen in Ländern wie Bangladesch aufmerksam macht. 2014 posteten User an dem Tag ein Foto der Kleidung, die sie gerade trugen – mit dem Etikett nach außen.
Mehr auf jetzt.de

#IranElection: Hashtag für die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen 2009, nach denen die Anhänger der Opposition für Reformen, Meinungsfreiheit, Frauen- und Bürgerrechte demonstrierten.
Mehr auf SZ.de

#ISISMediablackout: Gegenbewegung zur Verbreitung der Gräueltaten des IS in den (sozialen) Medien, gestartet im August 2014.
Mehr bei Puls

#IsJaIrre: Erfahrungsberichte aus dem Alltag mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen
Mehr auf SZ.de

#IsraelUnderFire: → siehe #GazaUnderAttack 

#ITooAmHarvard: Hashtag gegen Alltagsrassismus an der Uni, deutsches Pendant: #AuchIchBinDeutchland
Mehr auf jetzt.de


J


#Jan25: Hashtag für die Proteste in Ägypten 2013/14, die auch "Revolution des 25. Januar" genannt wurden.
Mehr über die Proteste auf SZ.de

#JewsAndArabsRefuseToBeEnemies: Juden und Araber posten seit Juli 2014 gemeinsame Fotos, auf denen sie sich küssen und umarmen, um gegen den Konflikt in Gaza zu protestieren.
Mehr auf SZ.de 

#Justice4Trayon
: Im Februar 2012 wurde Trayvon Martin in Florida von einem Mitglied der Bürgerwehr erschossen. Der 17-Jährige mit dunkler Hautfarbe war unbewaffnet und wurde wohl nur wegen seiner Hautfarbe getötet. Erst unter dem Hashtag  #Justice4Trayvon wurde die Debatte über Rassismus und das Recht auf Selbstverteidigung groß: Knapp drei Millionen Tweets wurden zwischen März und April zu dem Hashtag abgesetzt, der Polizeichef und der Staatsanwalt traten am Ende zurück, auch Barack Obama schaltete sich ein. Der Täter wurde vor Gericht gestellt, allerdings freigesprochen.
Mehr auf jetzt.de


K


#Kony2012: → siehe #StopKony


L


#LondonRiots: Hashtag zu den Krawallen in London 2011 (→ auch unter: #ukriots und #praylondon)
Mehr auf SZ.de


M


#MikeBrown: → siehe #IfTheyGunnedMeDown  

#MomentMal
: Hashtag für Erfahrungen mit Intoleranz aller Art im Alltag, gestartet im Herbst 2014 von der SZ.
Mehr auf SZ.de

#MuslimRage: Muslimische und nicht-muslimische Twitter-Nutzer machten sich im Herbst 2012 gemeinsam über die umstrittene "Newsweek"-Schlagzeile "Muslim Rage"  lustig.
Mehr auf jetzt.de

#MyNYPD: Paradebeispiel eines "Bashtags”: ursprünglich eine Image-Kampagne der New Yorker Polizei, am Ende eine Sammlung von Erfahrungen mit Polizeigewalt.
Mehr im Phänomeme-Blog von SZ.de


N


#NotAMartyr: Der 16-jährige Mohammed Schaar wurde Anfang 2014 in Beirut bei einem Bombenanschlag getötet, seine Freunde starteten den Hashtag, unter dem später junge Menschen aus dem Libanon ihre Wut auf den Bürgerkrieg bündeln.
Mehr Infos auf jetzt.de

#NotBuyingIt: → siehe #IchKaufDasNicht 


#NothingToHide:→ siehe #StopWatchingUs

#NotInMyName
: Junge Muslime wehren sich seit Herbst 2014 unter dem Hashtag und in der dazugehörigen Kampagne gegen den Missbrauch ihrer Religion durch den IS.
Mehr auf theguardian.com

#NudelnMitKetchup: Studenten berichten seit Herbst 2013 unter dem Hashtag von ihrem Leben – zum Teil am Existenzminimum – um damit auf Probleme im Bildungssystem aufmerksam zu machen.
Mehr Infos auf jetzt.de


O


#OccupyGezi (und #Gezipark): Hashtags der Proteste in der Türkei 2013 (→ siehe auch: #DuranAdam).

#OccupyWallstreet: Das kanadische Magazin "Adbusters" rief im Sommer zur Besetzung der Wall Street auf, daraus entstand 2011 eine weltweite Bewegung.
Mehr auf jetzt.de


P


#PinkStinks: Kampagne gegen genderkonforme und sexistische Werbung.
Mehr auf SZ.de

#PrayLondon: → #LondonRiots

#PussyRiot
: Die feministische, regierungs- und kirchenkritische Band Pussy Riot trat im Februar 2012 in der in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau auf und singt einen Putin-kritischen Song. Daraufhin werden sie verhaftet. Unter dem Hashtag erhielten sie – und erhalten bis heute – Unterstützung aus der ganzen Welt.
Mehr auf SZ.de


S


#SaveOurGirl: Unter dem Hashtag forderten Aktivisten im Juli 2014 die Freilassung einer ukrainischen Kampfpilotin, die in Russland festgenommen wurde.
Mehr - auch über den Zusammenhang mit dem folgenden Hashtag -  auf SZ.de

#SaveOurGuys: Kampagne für die russischen Reporter Marat Saischenko und Oleg Sidjakin, die im Mai 2014 von der ukrainischen Nationalgarde festgenommen wurden.
Mehr auf rt.com

#SchauHin: Hashtag der Journalistin und Bloggerin Kübra Gümüşay, der Erfahrungen mit Alltagsrassismus sammelt.
Mehr auf jetzt.de

#SomosTodosMacacos(deutsch: Wir sind alle Affen) und  #WeAreAllMonkeys: Hashtags gegen Rassismus im Fußball, wo als rassistische Geste teilweise Bananen aufs Spielfeld geworfen werden. Durch den Hashtag und die Kampagne der Fußballspieler Dani Alves und Neymar wurde die rassistische Geste im April 2014 in ein Symbol gegen Rassismus umgedeutet.
Mehr auf jetzt.de

#SpanishRevolution: Hashtag der Proteste in Spanien 2011/12.
Mehr auf jetzt.de

#StandWithWendy: Fast elf Stunden sprach die Senatorin Wendy Davis im Juni 2013 vor dem Senat in Texas, um ein Abtreibungsgesetz zu verhindern – ohne Pause! Unter dem Hashtag erhielt sie Unterstützung aus der ganzen Welt.
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#StopActa: Das umstrittene Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen, kurz Acta, wurde 2012 erst durch den Netz-Protest ein Thema in den Medien – und in der Gesellschaft. 
Mehr zu Acta auf SZ.de

#StopKony(und #Kony2012): Kampagne der Organisation Invisible Children, um auf die Gewaltverbrechen des Rebellenführers Joseph Kony aufmerksam zu machen.
Mehr auf SZ.de

#StopWatchingUs: Im Juni 2013 deckte Edward Snowden den NSA-Skandal auf, unter dem Hashtag wird gegen die Überwachung durch die Geheimdienste demonstriert. Unter dem Hashtag #NothingToHide twittern übrigens Menschen, warum Überwachung nicht so schlimm ist: Sie haben "nichts zu verbergen".
Mehr auf SZ.de und jetzt.de

#SudanRevolts: Hashtag für die Proteste im Sudan 2013.
Mehr auf jetzt.de


T


#TooMuchDoubt: Nach der Hinrichtung von Tray Davis 2011 in Georgia wurde unter dem Hashtag über die Todesstrafe diskutiert.
Mehr auf Mashable.com


U


#UKRiots: → siehe  #LondonRiots

#UmbrellaRevolution
: Hongkongs Studenten beginnen im Herbst 2014 eine Protestwelle für freie Wahlen. Das Zeichen des Protests: die Schirme, mit denen sich die Demonstranten vor Tränengas schützen.
Mehr auf jetzt.de, faszinierende Twitter-Fotos aus Hongkong hat Buzzfeed gesammelt

#UniBrennt: Hashtag zum Studierendenprotest in Österreich 2009/10.
Mehr auf Taz.de


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#WeAreAllMonkeys (deutsch: Wir sind alle Affen) und #SomosTodosMacacos: Hashtags gegen Rassismus im Fußball. Dort werden als rassistische Geste teilweise Bananen aufs Spielfeld geworfen – durch den Hashtag wurde die rassistische Geste zum Symbol gegen Rassismus.
Mehr auf jetzt.de

#WeAreN(auf Deutsch: Wir sind alle Nazarener, also Christen): Solidaritäts-Hashtag mit den Christen im Irak (der IS vertrieb im Juli 2014 die Christen aus Mosul).
Mehr auf Huffingtonpost.com

#WeAreSilent: Aufruf, 24 Stunden zu schweigen, um auf die Millionen Mädchen aufmerksam zu machen, die nicht zur Schule gehen können, gestartet u.a. von der Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai.

#WhyIStayed: Erfahrungsberichte häusliche Gewalt.
Mehr auf faz.net

#WirSindAlleAffen: → siehe #WeAreAllMonkeys

#WomenShould:
UN-Kampagne gegen die frauenfeindliche Autovervollständigung der Google-Suche.
Mehr auf SZ.de


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#YesAllWomen: Nach dem Amoklauf eines 22-jährigen Studenten im Mai 2014 in Kalifornien berichten Frauen unter dem Hashtag #YesAllWomen auf Twitter von der täglichen Angst. Das Motiv des Amoklaufs war Frauenhass.
Mehr auf SZ.de


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#609060: Die Bloggerin "Journelle" veröffentlichte 2012 einen Text, in dem sie sich darüber auslässt, dass Mode in der Werbung nicht an ganz normalen Körpern präsentiert wird. "Warum ist es nicht möglich, dass Mode nicht für einen Idealkörper von 60-90-60, sondern für individuelle Körpergruppen gemacht wird?", fragte sie darin. Aus der Verwechslung mit den Idealmodelmaßen für Brust-, Taillen- und Hüftumfang von 90-60-90, wurde der Hashtag #609060– und eine neue Bewegung im Netz. Unter dem Hashtag teilen "normale Frauen in Oberbekleidung" Fotos von sich, um gegen das Schönheitsideal in den Medien zu protestieren.
Mehr Infos auf jetzt.de

Das Netz fasst mehr als jede Straße

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Und wieder diese Pappschilder. #NotInMyName steht dieses Mal darauf geschrieben. Junge und alte Muslime halten sie in die Kamera, sie gucken ernst. „Nicht schon wieder“, war bei vielen die erste Reaktion auf diese Bilder – zuvor hatten bereits Menschen mit dem Hashtag #BringBackOurGirls auf die mehr als 200 von der Terrorgruppe Boko Haram entführten Schülerinnen aufmerksam gemacht, unter #NotAMartyr distanzierten sich junge Libanesen von Selbstmordattentaten. Und das alles auf Pappschildern mit Hashtags, die abfotografiert ins Netz gestellt werden. Jetzt also #NotInMyName. „Wahrscheinlich steckt irgendeine Werbeagentur dahinter“, lästerten Twitter-User. Tatsächlich hat sich die Organisation Active Change Foundation, die sich unter anderem gegen Gewalt und Terrorismus einsetzt, die Kampagne ausgedacht.

http://www.youtube.com/watch?v=wfYanI-zJes

Schilder mit Hashtags sind das geworden, was früher Protestbanner waren, und Twitter der Rathausplatz. Unter #NotInMyName distanzieren sich Muslime davon, wie die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) ihre Religion für ihre Verbrechen missbraucht. Unter #JewsAndArabsRefu-seToBeEnemies küssen sich seit Juli auf Twitter jüdische und arabische Nutzer. Sogar Michelle Obama hat beim Schilderprotest mitgemacht: Sie posierte mit dem Statement „#BringBackOurGirls“.

Netzkampagnen werden häufiger. Vor 2013 brauchte man höchstens zwei Hände, um die politischen Hashtags des Jahres zu zählen. Seitdem kommt kein Protest ohne die Mobilisierungskräfte von Twitter aus. Weil Aktivismus im Internet etwas bewirkt, sagen die einen. Weil man sich durch ihn besser fühlt, obwohl er nichts bringt, sagen die anderen.

Die meisten Bezeichnungen für Online-Aktivismus sind nicht besonders schmeichelhaft. „Feelgood-Activism“ wird er genannt: weil man sich angeblich nach einem simplen Retweet zurücklehnt mit dem Gefühl, schon genug getan zu haben. „Twitter-Revolution“, wird oft in Anführungszeichen gestellt, was heißen soll: keine Revolution im echten Leben. Bereits in den Neunzigerjahren kam das Wort „Slacktivismus“ auf, zusammengesetzt aus Aktivismus und slacker, dem englischen Wort für Faulpelz. „Slacktivismus“, das bedeutet, dass man politische Inhalte teilt ohne sich weiter damit zu beschäftigen. Sogar das Urban Dictionary definiert Hashtag-Aktivismus als Protestform, „bei der man etwas gegen ein Problem unternimmt, indem man Links twittert oder auf Facebook postet, ohne jegliche Absicht, jemals wirklich etwas zu unternehmen.“

„Likes retten keine Leben“, sagte die Kommunikationschefin von Unicef Schweden, Petra Hallebrant, im vergangenen Jahr. In der Kampagne, die sie damals vorgestellt hat, stand auf den Plakaten: „Liken Sie uns auf Facebook und wir werden null Kinder gegen Polio impfen.“


Vor 2012 konnte man die Zahl der politischen Hashtags noch an zwei Händen abzählen. Seitdem explodieren die Zahlen.

Diese Sätze sind typisch für den Umgang mit Internet-Aktivismus. Man hört immer nur, was er nicht kann: keine Kinder impfen. Keine Kriege beenden. Keine Leben retten. Keine Demonstranten auf die Straße bringen. Kurz: Er bringt nichts!

Bei aller Liebe zum Urban Dictionary und der guten Kampagne von Unicef: Das ist völliger Blödsinn! Man kann nur gegen die Ungerechtigkeiten kämpfen, die man kennt. Egal, ob man sich mit einem Banner auf die Straße stellt oder einen Hashtag retweetet, vorher hat man sich – wenigstens kurz – über das Thema informiert, für das man eintritt, oder wurde von jemandem aufgeklärt, der sich damit beschäftigt. Für beides ist das Internet heute nun einmal der erste und wichtigste Ort.

„Awareness“, das Bewusstsein für Missstände, „ist eine Form von Protest“, sagt die Kommunikationsexpertin Susan McPherson, die dieses Jahr bei der DLDWomen-Konferenz über die Relevanz politischer Hashtags sprach. „Es ist der erste Schritt zur Erkenntnis, ein Weg, Menschen auf etwas aufmerksam zu machen und sie wachzurütteln. Ohne das wären wir nicht in der Lage, auf Dinge einzuwirken.“

Natürlich verändert ein größeres Bewusstsein für Probleme nicht automatisch unser Handeln. Aber in vielen gesellschaftlichen Bereichen verändert es eben doch etwas. Hashtags rotten keinen Sexismus aus. Seit #Aufschreiüberlegen viele Menschen genauer, ob das, was sie gleich sagen, jemanden verletzen könnte. #Justice4Trayvon machte bewusst, dass in den USA anscheinend Menschen allein wegen ihrer Hautfarbe erschossen werden können. Und manchmal treiben Hashtags eben doch Menschen auf die Straße, wie bei #StopActa und #PinkStinks 2012 und 2013. Zehntausende demonstrierten in Deutschland gegen das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen, Hunderte Pink-Stinks-Anhänger belagerten zur Eröffnung das „Barbie Dreamhouse“ in Berlin. Über den Hashtag #OccupyWallstreet wurden die Proteste aus New York zur weltweiten Bewegung, über #Arabellion und #ArabSpring spürte man den Arabischen Frühling auf der ganzen Welt. Das Versandhaus Otto musste 2013 wegen eines Shitstorms ein Mädchen-T-Shirt mit der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“ aus dem Sortiment nehmen.

Hashtags retten keine Leben, aber sie sorgen dafür, dass wir aufmerksamer durch die Welt gehen und diejenigen, die Missstände beseitigen können, darauf aufmerksam werden. Mehr schaffen Demos im „echten“ Leben da draußen auch nicht.

„Online-Aktivismus wird oft Faulheit vorgeworfen“, sagt Susan McPherson. „Aber er ist nur faul, wenn man sich ausschließlich online engagiert.“ Auf die #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek, die Friedensnobelpreisträgerin und #WeAreSilent-Mitbegründerin Malala Yousafzai und die #SchauHin-Mitbegründerin Kübra Gümüşay trifft das sicher nicht zu. Sie setzen sich täglich für das ein, was sie auch mit ihren Hashtags vorantreiben wollten: ihren Kampf gegen Sexismus. Für eine bessere Bildung für Mädchen. Gegen Alltagsrassismus. Und auch für alle anderen, die sich online engagieren, gilt: Wer kann schon sagen, ob es bei Likes und Tweets bleibt? Und wer weiß schon sicher, ob diejenigen, die in der ersten Reihe mitprotestieren mehr hinter ihrem Anliegen stehen als jemand, der einen Hashtag twittert?

Natürlich ist es bequemer, von der Couch oder dem Schreibtisch aus gegen etwas zu sein. Ein Hashtag ist schneller getippt als ein Banner auf eine Demo getragen. Für Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, macht es aber keinen Unterschied, ob sie Tweets oder Facebook-Posts tippen oder Briefe schreiben und auf die Straße gehen, ob sie Online-Petitionen unterschreiben oder gedruckte, ob sie auf der Straße ein Schild halten oder es in die Handykamera halten. Wir leben in einer Welt, in der wir uns nicht nur für das einsetzen, was vor unserer Haustür passiert, sondern auch für Schülerinnen, die aus Nigeria entführt wurden. Das Internet ist oft der einzige Kanal, um diese Information weiterzuleiten. Manchmal wird so aus einem Mikroprotest eine Massenbewegung.

Online-Aktivismus bedeutet weniger Aufwand im klassischen Sinn. Und das ist völlig okay. Niemand lacht über Menschen, die mit Schildern auf der Straße demonstrieren gehen. Wenn sie diese in eine Kamera halten, sollte das zukünftig auch niemand mehr. Denn es kann gut sein, dass es ihnen morgen zahlreiche gleichtun und der Protest mehr Leute umfasst, als eine Straße es je können wird.

Luftschüsse

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Das erste Album der Chemnitzer Band Kraftklub war ein gewaltiger Sturm im Feuerwasserglas. „Mit K“ hieß die Platte. Noch kurz bevor die Presswehen einsetzten, sollte sie „Greatest Hits“ heißen, und so falsch wäre das gar nicht gewesen. Kraftklub klangen roh, bisschen nach Garage, aber gar nicht steif in den Knien, die Songs waren eindeutig mit dem großen Pop-Ohr komponiert, und die Texte von Sänger Felix Brummer kamen auch ziemlich frisch um die Ecke. Bei den Konzerten hüpften alle mit, klar, weil: „Wir sind deine neue Lieblingsband, die Lieblingsband deiner Lieblingsband“.




Felix Brunner, der Sänger von Kraftklub.


Mit anderen Worten: Diese Band mochten alle sofort. Und selbst als der Hype auch bei den Festivals schon lief, verschwanden die fünf jungen Herren aus Karl-Marx-Stadt nach ihren öffentlichen Workouts nicht im Nightliner, sondern streunten über die Zeltplätze von einem Cola-Rum-Rudel zum nächsten. Ein Rockstar ist, wer raucht und trinkt, und trotzdem seine Leistung bringt. Im Grunde war mit dieser Haltung auch klar, dass man sich um das zweite Album keine Sorgen machen müsste. Nun, da „In Schwarz“ (Universal) erschienen ist und sogar auf dem ersten Platz der deutschen Album-Charts landete, ist die Hoffnung zur Tatsache geworden. Und wer’s nicht glaubt, der höre einfach nur den ersten Song des Albums.


Mit „Unsere Fans“ legen Kraftklub ein Stück vor, das jeden Widerspruch unmöglich macht, natürlich lange bevor diesen Widerspruch überhaupt jemand hätte formulieren können. Oder wollen. Aber so ist das, eine junge Rockband ist einfach besser, wenn sie zu glauben vorgibt, die ganze Welt sei gegen sie: „Unsere Fans haben sich verändert / Unsere Fans haben sich verkauft / Unsere Fans sind jetzt Mainstream“. Sehr schön ist auch das Video zum Song, eine schrullige No-Budget-Parodie auf die „Mein Auto ist noch dicker als meine schon ziemlich dicke Hose“-Clips. Die ästhetische Leitung für dieses Video lag bei Gitarrist Steffen Israel. In einem Berliner Asia-Großmarkt kaufte er für 35 Euro Plastik-Blingbling, und das auf Mallorca gemietete Schnellboot konnte mit letztem Bargeld bezahlt werden.


Kraftklub funktionieren also ungefähr wie eine gute Folge der „Simpsons“. Erst mal gibt es reichlich Slapstick und Schulhofalbernheiten. Aber wer die Ernsthaftigkeit übersieht, die überall lauert, der hat doch nur den halben Spaß. Man nehme nur: „Schüsse in die Luft“. Till Brummers Bass hüpft hier gleich zu Beginn sehr fröhlich vor sich hin, aber dann setzt Felix Brummer ein und adressiert mit engagiertem Pragmatismus die politische Orientierungslosigkeit zwischen Ice-Bucket-Challenge und niedriger Wahlbeteiligung. Er beginnt mit der Widersprüchlichkeit der Ansprüche, denen man in seinen Zwanzigern heute begegnen kann: „Meine Mutter sagt, Junge, geh mal schlafen, fahr mal in Urlaub / Aber ich soll auf die Straße, sagt Farin Urlaub.“ Er kritisiert zweitens den von Ironie nur fadenscheinheilig legitimierten Rückzug ins Private, denn „Du wirst nicht enttäuscht, wenn du nie etwas erwartest / Und bevor du etwas falsch machst, dann mach mal lieber gar nichts“. Drittens greift schließlich wieder das „Simpsons“-Prinzip: Gerade als man glaubt, ein Gedankengang habe sein Ende erreicht, geht es noch mal um die Ecke. Im Fall von „Schüsse in die Luft“ mit einem Bekenntnis: „Nein ich war nie Anti-Alles, ich war immer Anti-Ihr / Doch hab’ schon lange angefangen, mich mit Dingen zu arrangier’n“. Es geht also nicht darum, sich entweder für die Revolution zu entscheiden oder doch für eine weitere Folge „Berlin Tag und Nacht“. Es geht darum, sich auf die anstrengende Suche nach der eigenen Wahrheit zu begeben, die womöglich genau dazwischen liegt.


Deutlicher verorten lassen sich Gut und Böse im Kleinen, und das Kleine trägt im Fall von Kraftklub den Namen Chemnitz. Die Brüder Felix und Till Brummer tragen den Stempel des „Atomino“ auf den Unterarm tätowiert mit sich herum, ihr Vater ist der Betreiber des Clubs. Er musste innerhalb von Chemnitz oft umziehen, das letzte Mal, weil es einem kapitalstarken Investor und seinen greisen Mietknechten zu bunt geworden war. Der Song „Meine Stadt ist zu laut“ ist eine detailgetreue und zugleich allgemeingültige Nacherzählung dieser Vertreibung nicht aus dem Paradies, aber doch einem der schönsten Teile des nicht immer schönen Chemnitz.


Um Liebe im menschlicheren Sinn geht es auf „In Schwarz“ in fast jedem zweiten Song. Und dann in fast allen Varianten: frisch verliebt („Alles wegen Dir“), zusammen, aber Fernbeziehung („Weit weg“), Freundin wird ausgespannt („Mein Rad“), getrennt und besoffen nachtrauernd („Blau“), getrennt und froh drüber („Für Immer“), getrennt und bald vergessen („Irgendeine Nummer“). Die Kunst Felix Brummers besteht aber nun darin, die Sache präzise in der Gegenwart zu verorten. Früher wurden Schmuddelhefte versteckt, bevor die Freundin kam, Kraftklub löschen den Browserverlauf. Jürgen von der Lippe war noch aufs Festnetz angewiesen, um die Exfrau zuzulallen, bei Brummer heißt es: „Immer wenn ich blau bin, ruf ich bei dir an, vorausgesetzt dass ich mich noch an meine PIN erinnern kann“. Kein Alkohol ist auch keine Lösung, sangen die Toten Hosen. „Wenn trinken keine Lösung ist, dann habe ich auch kein Problem“, singt Brummer.


Musikalisch ist „In Schwarz“ dabei im Grunde wieder eine im Studio eingespielte Live-Platte geworden, weshalb hier auch noch gemeldet sein soll, dass Felix Brummer für die Clubtour neue Spezialeffekte verspricht. Endlich soll der schon lange geplante Kleiderkreisel angeworfen und das Publikum dazu aufgefordert werden, seine Hosen über die Arme zu ziehen und die Schuhe über die Hände. Es wird dann so aussehen, als mache das komplette Auditorium einen sinnlosen Handstand. Wieder so ein Bild. Von außen wird es wie luftiges Handkasperletheater aussehen. Eigentlich stehen aber alle fest auf dem Boden der Tatsachen.

#BurkaKaffee

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Schwarz ist die Farbe von Kaffee, da hatten die Marketingstrategen schon mal recht. Was auch schwarz ist: der Niqab, das Gewand, das bis auf einen Sehschlitz den ganzen Körper verdeckt und von strenggläubigen muslimischen Frauen getragen wird. Beim Kaffee „Noir“, seit einigen Tagen das billigste Angebot für Aluminium-Kapseln in der Schweiz, kam dann für einige Kunden beides zusammen: Aus der Packung schauen zwei dunkle, weibliche Augen heraus – darüber und darunter ist alles tiefschwarz. Das sieht, wenn man freundlich sein möchte, geheimnisvoll und exotisch aus. Doch es gibt einige, die das anders beurteilen: „Das ist so tragisch, dass es fast schon wieder amüsant ist“, schreibt ein User auf Twitter und schiebt gleich das passende Hashtag hinterher: #BurkaKaffee. Andere werden noch deutlicher: „Passt genau in der heutigen politischen Lage mit IS etc.“ schreibt eine Frau namens Yasmyn S. Ein „Leserreporter“ empört sich: Ob das ein schlechter Scherz sei?


Es wird diskutiert und zwar heftig.


Ist es zulässig, in der Schweiz Kaffee im Burka-Look zu verkaufen? Der Discounter Denner, der die Kapseln seit der vergangenen Woche im Angebot hat, ist von der Aufregung überrascht worden. Es sei absolut nicht beabsichtigt, mit der Verpackung an den Ganzkörperschleier zu erinnern, sagt eine Sprecherin des Konzerns. Im Unternehmen selbst sei das niemandem aufgefallen – die Menschen seien wohl im Moment „hochsensibel“, wenn es um strenggläubige Muslime gehe. Ohnehin, heißt es bei Denner, sei das Ganze nur eine „gesuchte Geschichte“. Im Klartext: Die Medien wollen, dass sich die Kunden über etwas aufregen, was sie ansonsten wohl nie bemerkt hätten.




Eine umstrittene Werbe-Aktion sorgt für Aufregung in der Schweiz.

Ein bisschen was ist da wohl dran: Bei der aufgeregten Umfrage, die das Portal 20 Minuten in Sachen Burka-Kaffee startete, fanden nur 15 Prozent der Leser, die Verpackung gehe „gar nicht“. 62 Prozent der 9000 Umfrage-Teilnehmer antworteten: „Ich sehe da einfach Frauenaugen und verstehe die Aufregung nicht.“


Der Rest fühlte sich zwar an eine Burka erinnert, fand das aber nicht sonderlich schlimm.


Beim Discounter Denner sollte man inzwischen wissen, dass Kaffee-Kapseln für Aufregung sorgen können. Als der Supermarkt im Jahr 2010 ein neues Produkt herausbrachte, das man in die beliebten Maschinen von Nespresso einlegen konnte, erwirkte Nestlé einen sofortigen Verkaufsstopp. Die um 25 Prozent günstigere Variante verletze Markenrechte. Im August 2011 wurde das Verkaufsverbot aufgehoben. Die Noir-Kapseln sind nun noch einmal günstiger: 18 Rappen, etwa 15 Cent, kostet die Kapsel. Sie unterbieten damit selbst Aldi und Lidl um knapp zwei Cent. Die Kapseln von Nespresso kosten fast dreimal so viel. Und: Direkt unter der vermeintlichen Burka steht der Hinweis „Kompatibel mit Nespresso Maschinen.“


Denner bezieht die Kapseln von einem niederländischen Lieferanten namens Pelican Rouge. Auch dort ist man von der Reaktion der Schweizer Kunden erstaunt – das Design des Kaffees Noir gebe es seit 15 Jahren, er wird in mehr als 20 Länder geliefert – bislang ohne Probleme. Natürlich wolle man mit den „wunderschönen, dunklen Frauenaugen“ an die Herkunft des Kaffees erinnern. Arabisch eben.


Dass man die Augen einer Frau zeige, sei eine bewusste Entscheidung: So erhalte man einen persönlichen, menschlichen Eindruck, was bei den meisten Kunden sehr gut ankomme. Dass die Schweizer über den „Burka-Kaffee“ schimpfen, kann Jankees Rovers, Sprecher von Pelican Rouge, überhaupt nicht verstehen. Er sehe kaum eine Ähnlichkeit. „Man muss sich fragen: Haben sie je eine echte Burka gesehen?“

Woher der Hass? Laubbläser

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Bei Manufactum kann man verschiedene Rechen kaufen. Aus Stahl, aus Edelstahl, aus Gummi. In groß, in klein. Mit Stiel aus Eschenholz oder als Teil des Sets „Japanisches Zimmerpflanzenwerkzeug“. Ein anderes Gerät, das die gleiche Arbeit verrichtet wie ein Rechen, gibt es im Shop nicht: einen Laubbläser. Da das Motto von Manufactum „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ lautet, darf man also annehmen, dass der Laubbläser nicht als „gutes Ding“ gilt.
 
Gilt er auch nicht. Vor einigen Tagen ging ein Foto viral; man sieht darauf eine Hand, die einen Laubbläser bedient, darüber steht: „Schon seltsam: Wir leben in einem Land, in dem es Kindern verboten ist, nachmittags auf einer Wiese Lärm zu machen, auf der morgens um sechs mit dem Laubbläser gewütet wird...“ Etwa zur gleichen Zeit startete ein neues Online-Magazin auf Klickfang mit einer Liste namens „Gedanken, die jeder kennt, der schon von einem Laubbläser geweckt wurde“ (zum Beispiel „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Nie wieder Laubbläser & Rasenmäher!“). Und auf der Webseite eines Nachrichtenmagazins erschien ein Artikel mit dem Titel „Der große Krach“. Laubbläser, heißt es darin, verschmutzten die Umwelt und wurden in Graz gerade verboten. Sie „dröhnen durch die Straßen“ und der Krach, den sie machten, sei wirklich besonders groß: „Laut dem Umweltbundesamt in Dessau lärmt der Laubsauger so laut wie eine Kreissäge oder sogar ein Presslufthammer“. Ein Bekannter outete sich kürzlich auf Facebook als „Laubbläser-Hater“. Und eine Freundin beschwerte sich bei der Stadt über den Laubbläser-Lärm vor ihrem Haus und beschimpfte das Gerät als „Porsche des Hausmeisters“.
 
So viel Hass, so viel Wut! So viele fiese Verben wie „wüten“ und „dröhnen“! Und dann auch noch die Gegenüberstellung mir dem Unschuldigsten, das im Laub herumtobt: unseren Kindern! Da kann der Laubbläser ja nur verlieren. Und während jeder Hausmeister mit Schwielen an den Händen sagt: „Wissen Sie eigentlich, wie anstrengend es ist, die ganzen Scheißblätter zusammenzurechen – und das mit meinem Rücken!“, beharren die Laubbläser-Hater auf dem einen: ihrer Ruhe.
 
Die wird nämlich gestört durch den Laubbläser. Und das ist das liebste Argument seiner Gegner, noch vor Feinstaubbelastung und Keimen aus Hundekot, die aufgewirbelt werden, vor „Wie unsinnig, man pustet das Laub wohin und dann kommt der Wind und pustet es zurück“ und der Zerstörung des Lebensraums sehr kleiner Tiere. Laubbläser sind laut. Und was laut ist, hat keine Chance, nicht in deutschen Dörfern und auch nicht in deutschen Städten, die vermutlich die leisesten der Welt sind. Lärm ist ein Gesundheitsrisiko – und dass es einen Unterschied zwischen „an der Autobahn wohnen“ und „mal eben zehn Minuten das Laub wegblasen“ gibt, ist den meisten dabei egal. Gesundheit ist Gesundheit, die gilt es vor Schaden zu bewahren, auch wenn das Risiko nur zehn Minuten lang besteht.
 
Okay, werden jetzt einige denken, der Lärm an sich, das ist doch was, über das nur grantlige alte Damen meckern. Wieso meckert dann auch die ungrantlige junge Freundin der Autorin? Auf der Suche nach einer Antwort führt der Weg zurück zu Manufactum. Lärm wird nämlich gerne mit Modernität verbunden. Mit Technik und Fortschritt. Und „Die guten Dinge“, das sind im Sinne der Manufactum-Jünger jene Dinge, die es früher schon gab. Die ein bisschen altmodisch, dafür aber irgendwie „liebevoll gemacht“ und dadurch „liebenswert“ sind. Schlank, ästhetisch, leise, zum Anfassen und mit-den-eigenen-Händen-Arbeiten. Schöne Rechen zum Beispiel. Ein grobschlächtiges Gerät wie ein Laubbläser passt nicht in diese Philosophie der schönen Gegenstände. Da würde es nicht mal helfen, ihn aus Edelstahl und Eschenholz zusammenzubauen.

Motivationskriege

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Daniel Jurgeleit spielt gern mit neuer Technik. Deshalb geht die Musik an, wenn der Englischlehrer mit dem Beamer-Wagen um die Ecke biegt. So laut, dass sich alle um ihn versammeln, als er in die Klasse kommt und das Spiel beginnt. Die ersten fünf bis zehn Minuten des Unterrichts gehören „World of Classcraft“, seit die Schüler der sechsten Klasse am Staufer-Gymnasium im baden-württembergischen Pfullendorf mit dem Fantasy-Spielen begonnen haben. Am Anfang der Stunde begrüßen die Schüler ihren Lehrer auf Elbisch, also mit der Sprache aus „Herr der Ringe“: „Alae, mellon!“ Auf dem Beamer-Bild neben der Tafel schauen sie sich ihre aktuellen Punktestände an. Dann gleich der erste Schrecken: Tom ist tot. Er hat etwas Vergiftetes gegessen. Auf dem Standbild von Toms Online-Spielfigur, das vorne erscheint, steht er noch als stolzer Krieger da. Jetzt hat ihm das Tagesereignis, bei dem heute alle Spieler zehn Lebenspunkte verlieren, den Rest gegeben.




Online-Teamwork statt einsam Vokabeln lernen - das Pilot-Projekt "World of Classcraft".


Der junge Lehrer Jurgeleit sitzt auf einem Tisch in der ersten Reihe und zückt grinsend sein Smartphone. Er verkündet die Strafe: zu Hause zwei Seiten abschreiben. Dann kann Tom wieder mitspielen. Andere hat es schon schlimmer getroffen, nachsitzen zum Beispiel. Bis auf diese lästigen Strafen lieben die Schüler das Spiel.


„World of Classcraft“ ist so etwas wie die 2.0-Version des Bienchen-Stempels. Es ist eine neue Antwort auf die alte Frage: Wie motiviere ich Schüler? Das Rollenspiel soll sie in der Welt abholen, in der sie zu Hause sind: in der virtuellen, im Universum der Online-Spiele, die viele Jugendliche fesseln, oft Stunden pro Tag. Diese Faszination soll nun dem Unterricht zu Gute kommen. „Gerade die schwachen Schüler, die sich wenig für den Unterricht interessieren, holt man mit so einem Angebot wieder zurück in den Unterricht“, sagt Stefan Aufenanger, Professor für Medienpädagogik an der Uni Mainz. „Generell ist das schon ein Trend, der auf die Schulen zukommt.“


Ein Blick ins Klassenzimmer in Pfullendorf: Konkret sammeln Schüler da Punkte über ihre Mitarbeit und Kooperation im Unterricht, sie erwerben neue Fähigkeiten und können in höhere Levels aufsteigen. Sie können Punkte auch wieder verlieren, wenn sie zum Beispiel zu spät zum Unterricht kommen oder stören. Seit diesem Schuljahr gibt es eine deutschsprachige App von „World of Classcraft“, Jurgeleit ist der Erste, der sie mit Schülern ausprobiert.


„Ich habe mit 15 angefangen zu spielen, mit dem ,Schwarzen Auge‘, diesem ganz alten Papier-und-Bleistift-Rollenspiel“, sagt der Lehrer. Der Mittdreißiger in T-Shirt und Sportschuhen hat ein Glänzen in den Augen, wenn er den Spielablauf von Classcraft erklärt: „Am Anfang des Schuljahres bilden die Schüler Gruppen von sechs bis acht Leuten. Dann kann sich jeder einen Charakter aussuchen: Sie können Krieger sein, Magier oder Priester. Jeder dieser Charakter hat eigene Fähigkeiten. Einer kann besser heilen, der andere besser kämpfen.“ Wenn die Schüler im Online-Spiel Erfolg haben, dann bekommen sie dafür Belohnungen im wahren Leben. Sie dürfen im Unterricht essen, über Kopfhörer Musik hören. Man kann sogar für die Klassenarbeit einen Spickzettel bekommen. Bis dahin muss man allerdings viele, viele Punkte sammeln. Für besonders gute Mitarbeit bekommt man nach jeder Stunde 50 Erfahrungspunkte, für richtige Antworten in der Stunde 20. Wer einen Fehler beim Lehrer entdeckt, bekommt 50 extra.


Jurgeleit macht die Eingaben locker nebenbei, auf seinem Smartphone. Als ein Schüler im Unterricht stört, bekommt dieser von ihm zehn Schadenspunkte. Aber die Mitschüler eilen ihm zu Hilfe. Ein „Krieger“ meldet sich und fängt die Schadenspunkte ab. Dann erklärt ein „Priester“, den „Krieger“ heilen zu wollen. Das alles kann schon mal eine Weile dauern. So viel Unterrichtszeit für ein Spiel? Und das auch noch im achtjährigen Gymnasium, bei dem es kaum Zeit für Extras gibt? Ist der ganze Ansatz nicht seltsam?


„Tatsächlich wird die Mitarbeit über das Schuljahr immer weniger wichtig für den Punktestand“, sagt der Lehrer, „Teamwork gewinnt an Bedeutung.“ Die Schüler sollten lernen, sich gegenseitig zu beschützen, Aufgaben gemeinsam zu lösen. Diese sozialen Fähigkeiten könnten sie auch in anderen Fächern anwenden. Mitarbeitsnoten vergibt Jurgeleit sowieso, wie bisher, nach einer separaten Strichliste.


Es geht auch um zusätzliche Motivation, über Goldmünzen. Mitten in der Stunde meldet sich stürmisch ein Mädchen. „Ich hab‘ die Extra-Arbeitsblätter gemacht.“ Wenn alles richtig ist, bekommt sie dafür Goldmünzen gutgeschrieben, mit denen sie sich im Spiel neue Ausrüstung leisten kann. Von seinem „Tod“ hat sich Tom inzwischen erholt. Nach der Stunde gibt er sich wieder selbstbewusst:„Ich finde Classcraft super. Da wissen wir halt genau, ob wir gut mitgemacht haben.“ Auch Jurgeleit ist begeistert: „Ich hatte schon Schüler, die haben sich von einer Vier auf eine Zwei hochgekämpft, mündlich und schriftlich. Viele raufen sich in den Gruppen zusammen und gucken, dass sie diese Abenteuer in Form des Schulalltags bewältigen.“ Das seien ihm die zwei Stunden wert, die er pro Woche dafür investiert.


Professor Aufenanger findet das Spiel „spannend“. Kritisch sieht er aber die Punktelisten: „Das würden wir ja eigentlich gern abschaffen, dass Schüler nach Leistungen eingestuft werden.“ Etwas sehr idealistisch findet das Jurgeleit: „Bei den Noten vergleichen sich die Kinder selbst auch ständig. Und Classcraft kann das sogar etwas entschärfen, weil man ja mit genügend Punkten auch beruhigt mal eine Hausaufgabe vergessen kann.“ Ein anderes Problem sieht Aufenanger darin, dass es begeisterte Lehrer für solche Spiele brauche. „Heutzutage gibt es eher Einzelprojekte, etwa wenn im Geschichtsunterricht ,Siedler‘ gespielt wird.“ Ob das Konzept in der Breite funktioniere, sei fraglich. Viele Lehrer hätten eher große Vorbehalte dagegen. „Die denken bei Computerspielen eben gleich an Killerspiele.“


Natürlich sei das Spiel „kein Allheilmittel für den Unterricht“, sagt Englischlehrer Jurgeleit. „Eher ein Extra obendrauf.“ Aber eines, das funktionieren kann.



Endlich reich

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Luise, 25, Studentin und Stadträtin





Zugegeben, mein Job als Stadträtin ist nicht direkt mein richtiger, erster Beruf, es ist offiziell nur eine ehrenamtliche Tätigkeit, für die man am Ende des Jahres dann eine sogenannte Aufwandsentschädigung bekommt. Ich bin schon seit der Schulzeit politisch recht engagiert, weil das bei uns in der Familie irgendwie so üblich ist.

Mit 18 war ich im Ortsvorstand der Grünen, und mit 20 wurde ich dann in den Stadtrat gewählt. Am Ende meines ersten, kompletten Jahres als Stadträtin bekam ich dann die jährlicheAufwandsentschädigung überwiesen, 3000 Euro, und das war natürlich so auf einen Schlag und mit 21 Jahren unfassbar viel Geld für mich.

Schnell wusste ich, dass ich mir davon als Allererstes etwas zum Anziehen kaufen möchte, irgendetwas Klassisches für offizielle Anlässe. Denn die, wusste ich, würden ja jetzt mehr werden. Ich ging also zum Kaufhaus Konen in München und kaufte mir für 600 Euro dieses kleine Schwarze. Ich habe es gleich ganz stolz zur Weihnachtsfeier des Stadtrats ausgeführt. So richtig oft habe ich es danach dann aber doch nicht mehr getragen, denn irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht zu jedem offiziellen Anlass immer wieder dasselbe Kleid anziehen kann. Mittlerweile habe ich also einige Kleider mehr.


Stefan, 29, arbeitet in einer Marketingagentur





Dieser schöne, große Fernseher war das Erste, was ich mir damals mit 26 Jahren von meinem ersten richtigen Gehalt gekauft habe. Ich hatte das nicht sehr lange geplant, das war eher so ein zufälliger Spontankauf. Ich stand in einem Elektronikmarkt und dachte: Wieso kaufe ich mir jetzt eigentlich nicht einfach mal einen großen Fernseher, das wäre doch ganz cool.

Ich gucke nämlich sehr gerne Filme – wohlgemerkt: nie Fernsehen, nur Filme! – und habe daher auch viele DVDs. Und da war das eben so ein Luxus, der jetzt auf einmal drin war. Ich habe mich danach aber recht schnell dran gewöhnt, mehr Geld zu haben, die monatlichen Kosten problemlos decken zu können und obendrauf immer noch etwas Spielraum für Dinge übrig zu haben, die ich mir vorher nicht leisten konnte.


Viktoria, 25, Managing Assistant in einer Markenagentur





Mein Studium habe ich mir immer durch Nebenjobs und BaföG finanziert. Als ich im April vergangenen Jahres dann endlich mein erstes Gehalt bekam, stand es für mich vor allem für den Beginn einer neuen Etappe: nie wieder Unistress, nie wieder Praktika, nie wieder jobben. Ich habe schon immer gewusst: Von meinem ersten Gehalt will ich mir eine schöne Lederhandtasche leisten. Das klingt vielleicht ein bisschen oberflächlich, aber Wunsch ist Wunsch.

Also habe ich dann tatsächlich in eine Handtasche von Céline, einer französischen Designermarke, investiert. Ich erinnere mich noch genau an den Tag: Ich war in Berlin, habe die Tasche im KaDeWe gesehen und zugeschlagen. In Bordeauxrot sieht man sie nämlich gar nicht mal so häufig. Seitdem trage ich sie sehr oft und gerne. Besonders beim Ausgehen und Reisen hat sie sich aufgrund ihrer Größe schon als ziemlich praktisch erwiesen. Langsam bekommt sie auch eine richtige Patina und wird immer mehr zum Träger vieler Erinnerun-gen – eine Investition fürs Leben, finde ich.


Kilian, 32, Landschaftsarchitekt





Von meinem ersten Gehalt in einem Architekturbüro habe ich meine Eltern zum Essen eingeladen. Einfach so, als symbolischer Cut, um „Danke“ zu sagen für die jahrelange Finanzierung und um zu sagen: So Leute, jetzt ist mal Schluss. Ich habe ja neben der Uni eigentlich auch immer gejobbt und mein eigenes Geld verdient, aber sie haben mich trotzdem unterstützt. Und ohne diese Unterstützung wäre meine Studienzeit deutlich stressiger gewesen. Es war ein ziemlich teurer Laden, in den ich sie da ausgeführt habe.

Und erst, als wir das Restaurant gemeinsam betreten hatten, haben meine Eltern, glaube ich, überhaupt geschnallt, dass ich sie hier gerade offiziell ausführe und nicht einfach mal so nebenbei mit ihnen essen gehe. Es gab ein Drei-Gänge-Menü und eine Menge Wein. Nach der dritten Flasche sind sie allerdings eingeschritten und haben gesagt: Jetzt reicht es aber, die Nächste zahlen wir! Das Restaurant gibt es heute nicht mehr, und ich weiß auch gar nicht, ob meine Eltern sich noch so eindrücklich an den Abend erinnern wie ich. Aber für mich war es eine wichtige Geste der Abnabelung.


Mai-Phuong, 26, Softwaretesterin





Bevor ich im März dieses Jahres meinen Job als Softwaretesterin bekommen habe, habe ich wirklich am Existenzminimum gewirtschaftet. Noch im Februar habe ich nach Zahlung der Miete von gefühlt 50 Euro gelebt. Als das erste Gehalt dann endlich auf dem Konto war, bin ich zum Uhrmacher gegangen und habe endlich eine alte Uhr reparieren lassen. Sie ist ein altes Familienerbstück, ich habe sie von meiner Tante geschenkt bekommen, die sie einst schon von ihrer Oma geerbt hat. Die Uhr lag schon mehr als zwei Jahre beim Uhrmacher, ich habe sie nach dem Kostenvoranschlag von 100 Euro bis auf Weiteres dort gelassen, weil ich mir die Reparatur nie hatte leisten können.

Umso befriedigender war es, als ich nach all den Monaten endlich sagen konnte: Jetzt aber! Ich merke, dass ich mich schon etwas dran gewöhne, endlich Geld zu haben. Ich lebe einfach viel unbesorgter, kaufe öfter Klamotten, gehe häufiger essen und mit Freunden aus. Das nächste große Ziel ist es, endlich mal wieder in den Urlaub zu fahren. Und zu sparen natürlich, ich muss mich nun natürlich auch endlich mal um eine gute erwachsene Sparstrategie kümmern.

Hamburg verstehen

Schöner Schein

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Die folgenden Geldschein-Motive ...



... sind auf Scheinen welcher der folgenden Länder zu finden?





Auf der nächsten Seite findest du die Auflösung.
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Abgestiegen?

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Ein bisschen schämt Stephanie sich schon. Das merkt man, wenn sie Freunden oder Verwandten erzählt, wie es beruflich weitergeht für sie: „Übrigens: Ich werde jetzt Azubi.“ Dann lacht sie und sagt: „Bitte lach auch!“ Sie habe das allen so erzählt, sagt sie, auf diese witzige Art, „weil ich ein bisschen Angst vor der Reaktion hatte.“ Stephanies Biografie ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Sie hat einen Realschulabschluss gemacht, dann das Abitur draufgesetzt, sie hat Geschichte und Germanistik studiert, in der Regelstudienzeit, Abschlussnote 2,1.

Und sie hat sich auf Jobs beworben. Hauptsächlich im Kulturbereich, in Mu-seen, in Verlagen, auf Volontariate. Auch auf ein Praktikum im Bundesarchiv, dort hat man sie abgelehnt, weil sie „überqualifiziert“ sei. Zu gut, zu schlecht, irgendwann hatte sie genug von den Absagen. Und da-rum gab sie ihrer Biografie diese kleine Wendung, die bei Freunden und Bekannten Erstaunen hervorruft: Sie bewarb sich mit 27 Jahren und einem Uniabschluss um eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Sie bekam eine Zusage. Sie freute sich.

Aber manchmal sorgt sie sich doch, versagt zu haben. Nicht gut genug gewesen zu sein. Vor allem: dass „die anderen“ das denken könnten. Auf die Idee mit der Ausbildung ist Stephanie unter anderem gekommen, weil ihr Freund ebenfalls Buchhändler wird. Er hat seine Ausbildung schon begonnen, gerade ist er im Schulbuchgeschäft tätig.





Alexander, 27, Magisterabschluss in Anglistik, Germanistik und Geschichte, Durchschnittsnote 1,2, Promotionsangebot vom prüfenden Professor, klebt derzeit sehr viele Etiketten auf sehr viele Bücher. An seiner Uni gab es kein Geld für eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter, auch an einer anderen Uni hat er nichts gefunden. Also hat er den Promo-tionswunsch verworfen und fast zwei Jahre lang Bewerbungen geschrieben. Er bekam: Absagen. Nebenher arbeitete er als Aushilfe in einer Buchhandlung. Dort war man so zufrieden mit ihm, dass man ihm einen Ausbildungsplatz anbot. Alexander haderte lange. Dann nahm er doch an. „Es ist besser als nichts“, sagt er, „und wird gekrönt von einem fantastischen Arbeitsumfeld.“

Alexander mag seinen neuen Job. Und doch ist da diese leise Scham, die auch Stephanie kennt. „Würde ich Leute wieder treffen, die ich lange nicht gesehen habe, würde ich sehr genau überlegen, wie ich das formuliere“, sagt er, „weil ich schon ein bisschen Angst habe, in deren Augen als Versager dazustehen. Als jemand, der immer die falschen Entscheidungen getroffen hat.“

Mehr als 500000 Ausbildungsverträge werden jedes Jahr geschlossen. Die meisten dieser mehr als 500000 jungen Menschen schämen sich nicht dafür, sie machen keinen Witz daraus, wenn sie davon erzählen, und haben keine Angst, dass jemand sie als Versager bezeichnen könnte. Weil sie vorher nicht studiert haben, so wie Stephanie und Alexander. Weil sie nicht mit dem Magister, Bachelor oder Master in der Tasche an die Berufsschule wechseln. Weil der Beginn einer Ausbildung für sie der logische nächste Schritt ist und kein Schritt zurück.

Aber: Ist es wirklich einer? Ist man gescheitert, wenn man nach dem Uniabschluss eine Ausbildung macht? Und wenn ja: woran? An den eigenen Ansprüchen oder an denen anderer? Stephanie und Alexander haben sich aus dem gleichen Grund und mit der gleichen Zuversicht für ein Studium entschieden wie viele andere Abiturienten. Sie dachten: Jetzt habe ich die Hochschulreife, also studiere ich auch – danach werde ich schon einen Job finden. Allerdings gibt es längst keine Jobgarantie für Akademiker mehr.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Studienanfänger nahezu verdoppelt, heute gibt es jährlich fast genauso viele Erstsemester wie neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Mehr Akademiker bedeuten auch härter umkämpfte Jobs für Akademiker. Gleichzeitig hat sich der Arbeitsmarkt gewandelt, ist flexibler und vielseitiger geworden. Berufsbiografien, gerade die der Absolventen in den theorielastigen Geistes-, Sprach- oder Kulturwissenschaften, erfordern zunehmend Umwege, Weiterbildungen, Umorientierungen. Dazu kann auch eine Ausbildung gehören. „Eine Ausbildung ist immer eine Entscheidung für die Praxis“, sagt Michael Hümmer, Berufseinstiegsberater der Agentur für Arbeit an der Uni Erlangen, „viele entdecken dann erst, dass das genau ihr Ding ist.“

Der Unterschied zwischen Studium und Ausbildung ist also erst einmal der zwischen Theorie und Praxis, nicht der zwischen oben und unten. Warum dann diese Abstiegsangst? Weil es bei der Frage „Ausbildung oder Studium?“ gesellschaftlich eben doch um Status geht. Der Anteil an Uni-Absolventen, die einen Ausbildungsvertrag abschließen, wird im Gegensatz zu sonstigen Vorbildungen nicht statistisch erfasst, wohl auch, weil es so selten vorkommt. Alexander war selbst lange der Meinung: „Ich habe nicht fünfeinhalb Jahre mit großem Erfolg studiert, um dann eine Ausbildung zu machen!“ So sehen es die meisten. Es gibt ein Wertschätzungs- und Prestigegefälle, Studium oben, Ausbildung unten.


„Das Thema ist ein Minenfeld“, sagt Michael Hümmer, „die Botschaft in der Politik und der Gesellschaft lautet immer noch: ‚Mach ein Studium, dann gehört dir die Welt!‘“ Die Status-Unterscheidung funktioniert zum Beispiel über den einfachsten aller Wertmaßstäbe: Geld. Stephanie und Alexander verdienen im ersten Lehrjahr 630 Euro brutto im Monat, im zweiten 690, im dritten 800. Die neue gemeinsame Wohnung, in die sie gerade gezogen sind, werden sie sich mit ihren beiden Gehältern gerade so leisten können, Urlaub und langfristige Zukunftsplanung müssen hinten anstehen. Zum Vergleich: Das Einstiegsgehalt für Akademiker liegt im Schnitt bei 3400 Euro brutto im Monat.

Statistisch gesehen verdienen Stephanie und Alexander also je 2770 Euro weniger, als sie verdienen könnten. Statistisch gesehen ist das ein Abstieg. Oder zumindest ein verpasster Aufstieg. Schwerer als die Statistik wiegt natürlich das direkte Umfeld. Dr. Hans-Uwe Hohner ist Berufs- und Organisationspsychologe mit dem Schwerpunkt berufliche Entwicklung an der FU Berlin. Er weiß, dass Freunde und Verwandte viel Anteil am Gefühl des Scheiterns haben können. Weil man dazu neigt, sich selbst durch ihre Augen zu betrachten. Gerade im Hinblick auf den familiären Hintergrund von Stephanie und Alexander erscheint ihm das einleuchtend: Beide sind in ihrer Familie die ersten mit Uniabschluss.

„Als Aufsteiger trägt man die Last der ganzen Sippe auf seinen Schultern. Die einen sind stolz, die nächsten zwiespältig, und andere machen hämische Bemerkungen, wenn es doch nicht klappt: ‚Er wollte was Besseres sein als wir und hat es nicht geschafft!‘“ Der Aufstieg erfolgt eben über eine Treppe. Und eine Stufe zurückzugehen ist besonders unangenehm, wenn man dabei beobachtet wird.

Stephanie und Alexander haben die ganze Bandbreite des Unverständnisses kennengelernt. Manche sagten: „Dann war ja alles umsonst!“ Oder: „Das hättest du ja auch schon vor sieben Jahren haben können!“ Sie fragten, warum man mit Studium keinen Job findet. Warum man sich dann auch noch ausgerechnet für eine Ausbildung in der „toten“ Buchbranche entscheidet. „Einer wusste nicht mal, dass es den Beruf Buchhändler gibt, der dachte, ich erzähle ihm irgendeinen Scheiß“, sagt Alexander.

Stephanie vergleicht ihren Weg manchmal mit dem alter Freunde aus der Realschule. Die es mit einer Ausbildung und ohne Studium weit gebracht haben, heute finanziell besser dastehen als sie und beruflich mehr Verantwortung tragen. Klar, dass man da auch selbst anfängt zu grübeln: ob man mit Mitte, Ende 20 nicht ein bisschen spät dran und zu alt ist für eine Ausbildung. Allein der Gedanke, in eine Berufsschule gehen zu müssen, kann für ehemalige Studenten belastend sein – immerhin haben sie jahrelang eigenverantwortlich gelernt und müssen dann plötzlich wieder zurück in eine Klasse.

Auch die Frage, ob vielleicht schon der erste Schritt, das Studium, die falsche Entscheidung war, kommt unweigerlich auf. Stephanie und Alexander bereuen ihr Studium nicht. Wenn man sie fragt, was es ihnen gebracht hat, zählen sie neben den fachlichen Aspekten vor allem die viel beschworenen Soft Skills auf: Zeitmanagement, Organisation, die Fähigkeit, selbstständig Probleme zu analysieren und zu lösen, Herausforderungen zu begegnen und sie zu bewältigen. Klar kann das Schönrederei sein. Aber vielleicht ist es auch der richtige, weil gelassene Umgang mit dem Studium, weit weg von Bologna-Reform, Praxisori-entierung, Arbeitsmarkttauglichkeit, aber auch von Prestige und falschem Akademikerstolz: das Studium als die gute alte Charakterschule. Als Zeit, die man vielleicht noch braucht, um herauszufinden, was man machen will.

„Wir sind beide sehr glücklich mit unserer Entscheidung für die Ausbildung“, sagt Stephanie, „wir haben das Gefühl, dass es die richtige war – und dass wir gerade wegen unseres Studiums viele Vorteile haben.“ Michael Hümmer sieht das auch so: „Die Semester, die ich gemacht habe, gehören mir. Ohne sie wäre ich nicht, wie ich bin.“ Ohne sie hätte Alexanders heutiger Chef ihm vielleicht gar keinen Ausbildungsvertrag angeboten.

Damit wäre die Ausbildung, was sie für die meisten ist: kein Rückschritt, sondern der logische nächste Schritt. Das klingt zwar ein bisschen nach Schicksalsergebenheit. Aber in jedem Fall besser als: „Dann war ja alles umsonst!“ Die Angst vor dem Statusverlust und vor dem Scheitern loszuwerden, ist denkbar einfach und denkbar schwer: das Selbstbewusstsein steigern und sich unabhängig vom Umfeld machen. Die eigenen Erwartungen in Ruhe abwägen. Sich vorsagen, was man schon erreicht hat. Und es ganz rational sehen: Wenn man einen Schritt zurück macht, kann man anschließend ja trotzdem drei nach vorne machen.

Geteilte Welt

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Ich bin viel reicher als alle anderen. So fühlt es sich zumindest an. Ich bin fertig mit dem Studium, ich arbeite, ich zahle meine Miete und meine Krankenkasse und außerdem Steuern und kann mir trotzdem mehr leisten als viele meiner Freunde. Weil sie noch studieren.


Das Beste an richtig guten Freunden ist ja, dass man mit ihnen so viel teilt. Interessen, Erinnerungen, die Vorliebe für Granatapfelkerne im Joghurt. Aber weil dennoch jeder seinen eigenen Weg geht, gibt es etwas, das man nicht immer teilen kann: die aktuelle Lebensphase. Und das führt zu komischen, manchmal sogar unangenehmen Situationen. Vor allem, wenn man auf einmal arbeitet, während die anderen noch zur Uni gehen.





Seit ich einen Job habe, fallen mir laufend die Unterschiede zwischen mir und Studenten auf, die mir andersherum, als ich noch studierte, während andere schon arbeiteten, nie so bewusst waren. Wie gesagt gibt es da einmal die Sache mit dem Geld. Wenn ich meinen Kühlschrank mit dem einer studierenden Freundin vergleiche, dann sind bei mir die teureren Sachen drin. Ich mache auch den teureren Urlaub: den, für den der Flug mehr kostet als der monatliche BaföG-Satz hergibt. Und ich habe auf einmal viel mehr Klamotten als früher.


Ich muss mir weniger Sorgen um Geld machen und dadurch fühle ich mich unter Studier-Freunden manchmal geradezu dekadent. Weil ich nicht auf die Karte schauen muss, bevor ich mich für eine Bar entscheide, sondern nur darauf, ob sie mir gefällt. Weil ich ein Taxi nach Hause nehmen kann, wenn die nächste S-Bahn erst in 20 Minuten kommt. Und weil ich mir ein neues Handy leisten kann, wenn beim alten der Akku schwächelt. Ich schäme mich dann, ich versuche, mich zu rechtfertigen, und ich hoffe, dass das Taxi mich nicht aus Versehen ganz weit von meinen Freunden wegfährt, weil sie es versnobt finden, dass ich nicht 20 Minuten auf die S-Bahn warte.


Dann ist da noch die Sache mit der Zeit. Ob ich denn „dann und dann“ „da und da“ sein könne – Fragen dieser Art konnte ich früher, trotz Uni und Studentenjob, sehr oft mit Ja beantworten –, auch wenn das „dann und dann“ ein Mittwochnachmittag um drei war. Neulich waren zwei Freundinnen aus einer anderen Stadt in meiner Stadt zu Besuch. Eine andere Freundin, die hier wohnt und noch studiert, konnte die ganze Zeit mit ihnen zusammen sein, ich nur am Wochenende und an den Abenden. Weil ich arbeiten musste. Wenn ich mehr Zeit mit meinen Freunden verbringen will, muss ich dafür auf einmal Urlaub nehmen, anstatt einfach drei Vorlesungen ausfallen zu lassen.





Und die Woche ist auf einmal viel mehr eine wirkliche Woche, wie sie sich der Erfinder der Woche so gedacht hat. Während früher die Wochentage verschwammen und ich den Unterschied zwischen einem Donnerstag und einem Sonntag nur vage wahrnahm (Geschäfte auf – Geschäfte zu), hat der Sonntag jetzt erheblich an Bedeutung gewonnen. Vor meinen Freunden traue ich mich kaum, das zuzugeben – aber ich möchte an diesem Tag am liebsten das Bett gar nicht erst verlassen, höchstens, um wie eine alte Dame im Park spazieren zu gehen, was eher keine Studenten-Sonntagsbeschäftigung ist. Ich möchte Luftholen vor der Arbeitswoche, in der jeder Tag gleich lang ist, und es vor allem nicht mehr in meinem eigenen Ermessen liegt, wann ich was mache. Ich kann mich nicht mehr nachmittags zum Kaffee treffen und dafür dann abends in die Bibliothek gehen. Ich kann mich nur noch abends zum Kaffee treffen. Aber dann will niemand mehr Kaffee trinken.


Ich fühle mich nicht nur reicher, ich fühle mich auch älter als meine Freunde an der Uni. Wahrscheinlich ist es nicht nur ein Gefühl, wahrscheinlich ist es wahr. Mein Lebensstandard hat sich verschoben, meine Prioritäten haben sich ebenfalls verschoben. Manchmal möchte ich meine Freunde in ein Zeitreise-Taxi setzen und sie damit ins Berufsleben fahren lassen, ich würd’s auch zahlen, kann’s mir ja leisten. Aber ich fürchte, das geht nicht. Ich fürchte, ich muss abwarten und dann kommen sie ganz von alleine dort an. Und dann nehmen wir Samstagnacht, wenn wir alle frei haben, zusammen ein Taxi nach Hause. Ist ja günstiger, wenn man es teilen kann.




Für dumm verkocht

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„Ananas-Sahne-Traum“ heißt das traurige Häufchen aus klebrig-glänzenden Obststückchen, ein paar Tupfern Dosensprühsahne und Schokosoße. Und wirklich, in den Zutaten stehen: Schokoladenglasur, ein Becher Sahne und eine Ananas. Ein Löffel Nutella gäbe ein ähnlich raffiniertes Dessert ab.

Der „Ananas-Sahne-Traum“ stammt aus dem Kochbuch „Satt durch alle Semester“. Wie die meisten Studentenkochbücher ist es eine triste Lektüre. Auf den Titelseiten dieser Bücher stehen immer die gleichen Floskeln und Wortspiele: „Studentenfutter“, „Probieren geht über Studieren“. Sie sind auch immer gleich aufgebaut: Schnitzel und Pfannkuchen (Kapitel „Futtern wie bei Muttern“), Chili con Carne und Tiramisu (Kapitel „WG-Party“) und natürlich: viel Pasta. Die trostlose Rezeptauswahl ist nicht einmal das Problem. Auch nicht die unappetitlichen Fotos und die quietschige Grafik. Das Problem beginnt viel früher: bei der Idee des Studentenkochbuchs.





Es gibt Menschen, die eigene Kochbücher brauchen. Diabetiker. Oder Allergiker. Vielleicht auch (Teilzeit-)Veganer. Studenten brauchen kein eigenes Kochbuch, genauso wenig wie Erdkundelehrer. Warum auch? Feuerwehrfrauen haben auch keine Feuerwehrfrauenkoch- bücher im Regal stehen. Doch in fast jeder Studenten-WG liegt mindestens ein Studentenkochbuch. Kochbücher für angehende Akademiker werden regelmäßig Bestseller. Der Markt ist inzwischen unüberschaubar: Knapp 200 deutschsprachige Ergebnisse liefert eine Suche auf Amazon, allein 2014 ist die Liste um etwa zehn Neuerscheinungen länger geworden.

Wie Studenten kochen und essen, lässt sich nicht zusammenfassen. Trotzdem bedienen diese Bücher immer dieselben Klischees. Billig muss ein Studentenessen sein, die Zubereitung darf möglichst wenig Zeit kosten. Das mögen für manche Studenten die beiden wichtigsten Kriterien bei der Nahrungsaufnahme sein. Aber sicher nicht für alle. Nicht mal für die meisten.

Studentenkochbücher beginnen immer mit einem verkappten Vorwurf: Studenten sind faul und unselbstständig. In jedem Vorwort steht etwas wie „Der Pizzaservice wird irgendwann langweilig“, „Wer will schon jeden Tag in der Mensa essen?“ und „Schon wieder Dosensuppe, Tütennudeln oder Tiefkühlpizza?“

Und selbst wenn Studenten die unreifsten Menschen dieses Planeten wären: Diese Art von Kochbüchern wäre nicht das richtige Gegenmittel. Weder „Ananas-Sahne-Traum“ noch „Cola-Braten“ begeistern angeblich kochfaule Studenten für den Herd. Der Ratschlag, aus zwei Packungen Maggi-Fix, drei Bechern Sahne und vier Schnitzeln „Zwiebelschnitzel“ zu machen, auch nicht. Dafür braucht man kein Kochbuch. Nicht mal ein Pixi-Kochbuch!

Außerdem gibt es längst Grundlagen-Kochbücher für Kochanfänger. Darin stehen Rezepte für Rührei (ja, man kann da wirklich viel falsch machen!) oder Nudeln mit brauner Butter und Parmesan. Sie erklären, was ein Wasserbad ist und dass Käse ins obere Fach im Kühlschrank gehört. Dass für den Kochalltag eine Pfanne und mindestens zwei Kochlöffel hilfreich sind, wie man Nudeln al dente kocht und wie man ein Schnitzel paniert. Für diese Weisheiten braucht man keine Studentenkochbücher.

Mittlerweile gibt es sogar einzelne hübsche Exemplare, mit matter Instagram-Optik, mit Kapiteln über graue-Zellen-förderndes Brain Food vor der Prüfung und Anleitungen für Kimchi und Panir. Viele dieser Bücher haben ihre Berechtigung, weil schnelle, einfache Rezepte nun mal ihre Berechtigung haben. Nur „Studentenkochbücher“ müssten sie nicht heißen. Und das mussten sie noch nie. Wie man Spaghetti Bolognese kocht, von denen die Freunde noch Wochen später erzählen, wollen nicht nur Erstsemester wissen, sondern auch Schneiderlehrlinge und Grafik-Azubis.

Die meisten Studentenkochbücher sehen aus, als hätten Eltern gebrainstormt, was ihre studierenden Kinder wohl „knorke“ finden könnten – und das, obwohl die Bücher teilweise in Kooperation mit Unis erscheinen oder sogar von Studenten verfasst sind. Buttons mit der Aufschrift „Cook mal!“ findet man da, auf die Buchseiten kopierte Farb- und Soßenspritzer und Rezeptnamen wie „Muscle Man Omelette“, „Krawumm-Auflauf“ und „Gustls guter Nudelsalat“. Vermutlich ist das sogar Absicht. Denn: Nur Eltern kaufen Studentenkochbücher. Eltern, die sich sorgen, dass ihre Kinder nicht mehr ordentlich essen, sobald sie ausgezogen sind. Sie sind die wahre Zielgruppe der Verlage. Eigentlich sollten diese Rezeptsammlungen anders heißen: „Studentenelternkochbücher“.

Boys Noize, ärgere dich nicht

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„Clärchens Ballhaus“ am frühen Nachmittag. Kellner mit Berliner Schnoddrigkeit in schicken Westen. Boys Noize, der eigentlich Alexander Ridha heißt und mit einem Eiskaffee in der Hand mehr einschwebt als -läuft, passt nicht ganz in die Szenerie: zu schüchtern, zu höflich. Sanft beinahe. Was ja auch ein Kontrast zu seiner Musik ist, die manche für arg krawallig halten, und andere genau deshalb für die Rettung des deutschen Electro. Gerade hat er ein Album mit dem Pianisten Chilly Gonzales veröffentlicht. Am Ende werden wir uns der Zeit wegen auf ein Unentschieden einigen. Los geht es mit der ersten Sechs bei seinem ersten Wurf.


jetzt.de: Was war für dich der bisher schwerste Rückschlag?
Boys Noize: Ich war mit meiner ersten Band, Kid Alex, bei einem Major Label unter Vertrag. Wir sollten eigentlich gerade unser zweites Album veröffentlichen – und wurden plötzlich komplett ignoriert.

Weil das Erste sich so schlecht verkauft hatte?
Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie gut das erste Album lief. Ich war zu dem Zeitpunkt 17. Da war meine Einstellung zu dem Ganzen: Ich mache einfach jede Woche ein Album! Wenn eines nicht funktioniert, habe ich nächste Woche eben 15 neue Songs. Nein, das Problem war, dass wir ihnen angeblich keine Single geliefert haben. Und dann haben sie eben auf Stopp gedrückt. Wahrscheinlich war dieses Scheitern aber das Beste, was mir passieren konnte.

Inwiefern?
Danach habe ich mit Boys Noize angefangen. Und aufgehört, Kompromisse einzugehen.

Weil die das Problem waren?
Weil Kompromisse wahnsinnig schwierig sind, wenn es um Kreativität geht. Ich habe klare Vorstellungen, wie meine Musik sein muss. Da kann niemand von außen eingreifen.

Wie ging das dann beim „Octave Minds“-Album, das du gerade mit Chilly Gonzales gemacht hast?
Das ist etwas ganz anderes. Da gehe ich gezielt mit einem anderen Künstler in einen Raum, weil ich seinen kreativen Input will. Dadurch entsteht etwas Eigenes. Das ist gut. Aber sobald der Eingriff von außen kommt – von Plattenfirmen oder Managern –, macht das etwas kaputt.

Wem spielst du Sachen vor, wenn du Feedback brauchst?
Hauptsächlich den Leuten, die kommen, wenn ich auflege. Die wissen dann aber nicht, dass es etwas Neues ist. Live-Marktforschung? Das ist das beste Feedback, das du bekommen kannst: völlig neutral, sehr direkt, sehr ehrlich.

Er blickt solchen Worten auf sehr sympathische Art unsicher hinterher. Fast so, als überlege er, ob es ihm gebührt, sie auszusprechen. Und während er so schaut, schlage ich eine Figur. Eine fiesere Frage jetzt also:

Sind DJs echte Musiker oder doch nur Jukeboxen mit einem Gespür für Atmosphären?
Genau diese Diskussion hatte ich vor ein paar Wochen mit Gonzales. Ich komme mir neben einem grandiosen Pianisten wie ihm immer total mickrig vor. Er sieht das ganz anders. Für ihn spielt sich die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und zu beeinflussen, auf einer Meta-Ebene ab. Für ihn ist das Kunst. Allerdings hat sich da auch viel verändert: Als ich angefangen habe, gab es DJs und es gab Produzenten. Heute ist jeder DJ auch Produzent.

Ist es heute schwerer oder leichter, als DJ einzigartig zu klingen?
Nur anders. Jeder kommt leichter an alles. Und weil das für alle gilt, musst du eben selbst produzieren, um einzigartig zu klingen.

Das ist dank Musikprogrammen mit vorgefertigten Beats auch sehr viel einfacher geworden.
Ist es, ja. Ich finde das aber auch völlig okay. Als 14-Jähriger alle Möglichkeiten zu haben, Musik zu machen und dabei schnell zu Ergebnissen zu kommen, ist doch genial. Erst danach kommt irgendwann das Problem, dass sich viel gleich anhört. Ich glaube aber, dass sich Qualität trotzdem immer noch durchsetzt.
 
Ein kleiner Ausbruch, als ich eine zweite Figur schlage. „Der ganze Weg umsonst!“

In Kritiken, vor allem zu deinem Album „Out of the Black“, stand oft, dass du dich selbst kopierst: wenig Entwicklung, immer gleich krawallig.
Berührt mich überhaupt gar nicht. Ich merke ja selbst am besten, was passiert, wenn im Club 800 Leute auf meine Musik reagieren. Außerdem habe ich früh gelernt, mit Kritiken umzugehen. Am Anfang gab es eigentlich nur schlechte, weil der Sound überhaupt nicht in den Zeitgeist gepasst hat.

Noch ein winziger Ausbruch, als er eine meiner Figuren schlägt. Dann weiß er allerdings nicht, was er bewerben soll:

Über „Octave Minds“ haben wir ja eigentlich schon gesprochen. Na ja, ich bewerbe, dass es auf meinem Label erscheint. Wir haben „Nein“ zum Major Deal gesagt.

Musst du als Labelbetreiber geschäftlicher denken als als Produzent?
Vielleicht müsste ich. Aber ich tu’s nicht. Ich habe noch nie etwas gesignt, weil ich dachte, dass es ein Hit wird, sondern immer nur, weil ich’s geil fand. Fertig. Für mich ist das Label ein Baby, das ich liebe. Ich glaube nicht, dass ich der Richtige wäre, um da ein Business draus zu machen. Dafür wäre mir meine Zeit auch zu schade.

Moment, ich würfle schnell eine Drei, schlage dich und frage dann die nächste logische Frage.

Gesagt, getan.

Dann ist das Label ja nur ein Abschreibungsprojekt.
Lacht. Ich habe tatsächlich schon öfter drüber nachgedacht, das Label zu schließen. Ich habe bis heute noch nie Geld herausziehen können. Eigentlich pumpe ich sogar nur rein. Aber: Am Ende des Tages ist es mir das dann doch immer wert, weil es eine Art Identität für mich ist. Ich möchte das einfach nicht aufgeben.

All In

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Als der Vermieter fragte, was sie beruflich machen, sagten sie: „Wir sind selbstständig.“ Als der Vermieter fragte, wie sie ihr Einkommen nachweisen wollen, fragten sie: „Ist es in Ordnung, wenn wir Ihnen morgen eine Jahresmiete überweisen?“ Sandro und seine beiden Mitbewohner sind Pokerspieler. Hauptberuflich. Zwei Monate nach seinem Umzug stehen noch Kartons im Flur. „Wir wissen den Schlüsselcode für den Keller nicht“, sagt Sandro.

Er ist ins europäische Ausland gezogen. Abschlussarbeit abgegeben und weg. Er bewohnt jetzt zusammen mit zwei anderen Jungs eine Fünf-Zimmer-Maisonette-Wohnung. Zentrumsnah, Erstbezug im aufgestockten Altbau. Parkett, Balkon, Dachterrasse, Sonne bis fünf Uhr nachmittags. Man muss sich das so vorstellen: Der Studienabschluss, der Umzug, der Entschluss, nur noch Poker zu spielen – das ist Sandros Einstieg ins Berufsleben.

Um mir dieses Leben als Pokerspieler anzuschauen, um zu verstehen, wie es ist, professionell zu spielen, besuche ich ihn für ein paar Tage in seinem neuen Leben. Wir kennen uns schon lange, wir sind Freunde, wir haben zusammengewohnt. Es ist ein vertrautes Wiedersehen. Er hat sich wenig verändert über die Jahre, ein bisschen älter ist er geworden, klar, und sein Teint verrät, dass er oft nachts wach ist.





Sandro trägt Hoodie und Baggy-Jeans, die langen blonden Haare sind zu einem Knoten gebunden. Die Hose hängt so tief, dass man seine Boxershorts sieht. Er trägt seine Hosen so, seit ich ihn kenne, es ist eine Art Markenzeichen. Er ist groß, androgyne Figur, liegt am Stoffwechsel. Mädchen auf dem Campus, die seinen Namen nicht kannten, nannten ihn Legolas, wenn sie über ihn sprachen. Die Wände sind kahl, der Herd hat eine Kindersicherung, das Sofa ist riesig, und die Fensterfront im Wohnbereich ist es auch.

Hier leben drei Jungs, die wie Studenten wirken, in einer Wohnung für Großverdiener. Und Großverdiener sind sie alle. Man sieht es ihnen bloß nicht an. Auf der Galerie öffnet Sandro ein kleines Zimmer mit den Worten: „Und hier ist das Büro.“ In einem abgedunkelten Raum mit Dachschräge stehen sich zwei Schreibtische gegenüber, darauf vier sehr große Bildschirme. Seine Mitbewohner spielen hier. Sie beraten sich und sind sich gegenseitig verbale Prellfläche, wenn der Puls mal hochgeht. Sandro spielt in seinem Zimmer, an nur einem Bildschirm. Er will nicht im Büro sitzen, bei den anderen beiden. Er wolle sich nicht anstecken lassen, wenn es bei einem mal schlecht läuft, sagt er.

Angefangen zu pokern hat Sandro mit Freunden, um ein paar Cent, mit dem Pokerkoffer, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Das war 2006. Sein Vater war es auch, der ihn früh mit Glücksspiel in Kontakt brachte: Als Kind würfelte er mit Sandro um dessen Weihnachtsgeld und gab es nicht wieder her, auch wenn er seinem Sohn wirklich alles abgenommen hatte. „Das war eine wichtige Lektion für mich“, sagt Sandro heute. „Ich habe damals schon gelernt, dass Spielen reale Folgen haben kann.“

Als er älter wurde, besserte er sein Taschengeld im Canasta gegen seinen Vater auf. Bis der nicht mehr gegen ihn spielen wollte, weil Sandro immer gewann. „Ich hab das geknackt“, sagt er. Ein Freund machte ihn dann auf eine Pokerschule im Internet aufmerksam, die unter dem Werbeslogan „Learn to win“ kostenlos Lehrvideos, Strategieartikel und persönliche Spielanalysen anbietet. Wer sich registrierte und ein kleines Pokerquiz fehlerfrei beantwortete, bekam 50 Dollar Startguthaben bei einem Online-Pokeranbieter geschenkt.

Sandro begann Turniere zu spielen, 180 Teilnehmer, Einsatz 4,40 Dollar. Er spielte so lange, bis er genug gewonnen hatte, um sich höhere Einsätze leisten zu können. Und dann noch höhere. Heute spielt er mit Einsätzen zwischen 400 und 1000 Dollar an bis zu zehn Tischen gleichzeitig. Die Höhe des Einsatzes und die Anzahl der zeitgleich gespielten Tische hängen davon ab, wie viele schlechte Spieler gerade unterwegs sind. Mit einer Analysesoftware, die die Spielstatistiken seiner Gegner auswertet, findet Sandro diese „Fische“. Dann nimmt er sie aus.





Als wir zusammenwohnten, ging das Spielen gerade so richtig los bei ihm. Nicht selten kam er in mein Zimmer gestürzt, euphorisch, mit Erfolgsmeldungen, „Final Table, Baby!“ Oder niedergeschlagen, wütend, wenn er verloren hatte. Ich weiß noch, dass er mindestens ein Mal seine Tastatur so laut auf den Schreibtisch knallte, dass ich es im Nebenzimmer hören konnte. Zu dieser Zeit sah er auch den Film „Rounders“, mit Matt Damon und Edward Norton. Matt Damon spielt einen jungen Jurastudenten und sehr talentierten Pokerspieler. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Studium und Spiel, darum, ob man seinen Obsessionen folgen sollte und der Hoffnung, mit seinem Talent Erfolg zu haben. 

Nach seinen ersten Erfolgserlebnissen keimte auch in Sandro die Hoffnung, da mehr draus zu machen. Er habe, sagt er, nicht unbedingt „for a living“ spielen wollen, „aber schon extrem hoch“. Er spielte damals sechs Stunden netto am Tag, online, bei heruntergelassenen Rollos und geschlossenen Fenstern, rauchend. „Damals hatte ich das Gefühl, dass es Zeitverschwendung gewesen wäre, etwas anderes zu machen“, sagt er. Oft bestellte er Essen, oft Pekingente. Geschirr und Besteck sammelten sich auf seinem Schreibtisch oder in unserer Spüle. Er war lange wach und schlief bis mittags. Ich brachte ihm manchmal Früchtetee ans Bett, wenn ich seinen Wecker mehrere Male klingeln hörte, er aber nicht aufstand.

Man kann das schon so sagen: Sein Zimmer war eine Zockerhöhle. Es roch ein bisschen nach Pumakäfig. Was man bei einem solchen Lebensstil nicht gleich vermutet: Was er da machte, machte er konzentriert und achtsam und vor allem sehr erfolgreich. Er will nicht sagen, wie viel Geld er mittlerweile erspielt hat. Ein sechsstelliger Betrag wird es sicher sein. Die hohen Einsätze und diese Wohnung wird er sonst nicht bezahlen können, ohne zu viel von seinem Spielkapital zu riskieren. Investiert hat er nur ein Mal: 80 Dollar.

Der Gang ins Ausland ist folgerichtig. In Deutschland ist die Rechtslage für Online-Poker und dabei erspieltes Geld ungeklärt, Pokerspieler machen immer wieder Bekanntschaft mit Staatsanwälten oder Steuerfahndern. Sandro heißt eigentlich anders, sein Umzug war eine Vorsichtsmaßnahme.

Wir gehen einkaufen. Ein paar Sachen zum Frühstücken. Nach 200 Metern fällt Sandro ein, dass er schon wieder den Brief vergessen hat, den er noch einwerfen muss. Er wird ihn jedes Mal vergessen, wenn wir in den nächsten zwei Tagen das Haus verlassen, und es wird ihm jedes Mal an der gleichen Stelle einfallen. Bankkonto, Versicherungen, Handyvertrag, alles Sachen, um die er sich noch kümmern muss – aber heute nicht mehr. Sandro kauft Freilandeier, nicht Bio. Die seien hier so teuer.

Überhaupt, er merke das schon, die Lebenshaltungskosten an seinem neuen Wohnort seien höher als in Deutschland. Wenn Sandro über Geld und die Gewinne aus dem Pokerspiel spricht, sagt er Sätze wie: „Erfolg ist eine Herausforderung.“ Oder: „Manche Spieler vergessen, wie hart man für so viel Geld hätte arbeiten müssen.“ Aber auch: „Am Tisch muss dir egal sein, wie viele Grillteller du mit deinem Einsatz hättest kaufen können.“ Er ist ein verpeilter Mensch, aber ein reflektierter Spieler.

Später gehen wir essen. Ein Steak-Restaurant. Sandro trinkt Radler und wird nachdenklich. Natürlich kann er sich nicht vorstellen, mit 50 noch jeden Tag vor seinem Bildschirm zu sitzen und die Maus zu klicken. Aber was kommt nach dem Spielen? Was macht ein Pokerspieler, der seine Karriere beendet, und wann ist es Zeit aufzuhören? Sandro weiß es noch nicht. Er tunkt sein Steak in die Cognac-Pfeffer-Soße und sagt: „Alle Spieler, die man so trifft, erzählen einem, sie wollen sich später unbedingt selbstständig machen, aber keiner weiß, womit.“ Er glaubt, Immobilien seien in Deutschland ein todsicheres Ding. 

Pokerspieler, die freiwillig aufhören zu spielen, sind wie Sportler, die ihre Karriere beenden, meistens reich und meistens ohne Berufserfahrungen in irgendeinem anderen Bereich. Sicher ist dann nur eins: So werden wie Boris Becker will niemand.

Vieles ist wie früher. Am Abend, einem Mittwochabend, trinken wir Schnaps und spielen Fifa 14. Als wir betrunken genug sind, hören wir alte Rap Classics und lallen die Hooklines mit. Wir rufen uns ein Taxi und fahren in einen Club. Als wir wieder zurückfahren, wird es hell. Sandro beschwert sich beim Taxifahrer, weil er einen Umweg fährt. Am nächsten Morgen freuen wir uns beide, dass die Putzhilfe erst um halb zwei kommt und nicht, wie angekündigt, um elf. Sandro bleibt lange auf seiner Couch liegen, und ich bringe ihm Rührei mit Schinken und Brot aufs Zimmer. Später reicht er mir ein Handtuch, es sei noch neu und ungewaschen. Es ist von Joop!, das Etikett hängt noch dran.





Sandros Berufseinstieg fühlt sich an wie ein feuchtfröhlicher Studienbeginn. Nur mit mehr Komfort. Mit den Inhalten seines wirklichen Studiums konnte er sich nie identifizieren, er ging nur zu Pflichtveranstaltungen und sagt, die Klausuren am Semesterende hätten immer „funk-tioniert“. Mit funktionieren meint er bestehen. Seine Eltern hatten Bedenken, ja, sie sorgten sich aber vor allem darum, dass ihr Sohn sozial vereinsamen könnte. Aber solange klar war, dass er seinen Abschluss macht, gab es keinen Widerstand. Die Gewinnsummen haben dabei sicherlich geholfen. „Es war das erste Mal, dass ich den Eindruck hatte, etwas richtig gut zu können und dafür was zurückzubekommen“, sagt Sandro. Daher der Ehrgeiz und die Bereitschaft, so viel Zeit zu investieren.

Das kann ein Problem werden, zum Beispiel, wenn man eine Freundin hat. Sandro ist seit drei Jahren mit Annabelle zusammen. Sie haben sich während des Studiums kennengelernt. Annabelle wohnt und arbeitet in Sandros Heimatstadt. Emotional sei das dort ihre gemeinsame Wohnung, sagt er. Er plant, vier Monate im Jahr dort zu verbringen. Sie kann ihn besuchen und in seiner Wohnung Homeoffice machen. Als sie zusammenkamen, als alles noch in der Schwebe war, in diesem merkwürdigen Zustand, in dem man nicht weiß, was mit diesem neuen Menschen wird, der da im eigenen Leben rumwirbelt, dachte Sandro darüber nach, ob sein Spiel unter einer Beziehung leiden würde – nicht andersherum. „Das war auf einmal ein anderer Style“, sagt er.

Er musste Kompromisse eingehen. Es gab ein langwieriges Hin und Her zwischen den beiden. Mittlerweile haben sie einen Rhythmus gefunden. Wenn er bei ihr ist, spielt er, während sie arbeitet. Sie unterstützt ihn bei dem, was er tut. Aber über allem hängt die Frage: Wie lange will man eine Beziehung so führen, dass man in ein Flugzeug steigen muss, wenn man sich sehen will? Ist das Pokern das wert? Denn da ist ja noch das Problem der fehlenden Wertschöpfung.

Das Spielen füllt zwar Sandros eWallet, aber er erzeugt damit keinen Gegenwert. Am Ende eines Tages liegt nicht ein Stein mehr auf dem anderen, ist kein Projekt geplant und umgesetzt worden. Wenn er gewinnt, verliert jemand anderer. Das ist alles. Und auch das ist ihm bewusst. Er überlegt, sich ehrenamtlich zu engagieren, im Altenheim Zeitung vorzulesen oder „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen, das hat er schon während des Zivildienstes gemacht. Er bemüht sich um einen strukturierten Alltag.

Er ist besser geworden darin, „ich hab schon das Gefühl, dass ich hoch muss, wenn der Wecker klingelt“, sagt er. Er achtet auf seine Ernährung und hat Spaß am Kochen gefunden. „Ich check bei so einer App voll gern die neuen Rezepte.“ Und der Arbeitstag? Hat der auch eine Struktur? Einen festen Spielrhythmus hat Sandro nicht. Er beginnt zwei bis drei Stunden nach dem Aufstehen und spielt so lange, wie es gut läuft und er das Gefühl hat, sein bestes Spiel, sein „A-Game abzurufen“.

Am letzten Abend fahren wir in ein Pokercasino. Der Laden ist groß. Ungefähr 40 Pokertische, zweimal Black Jack, eine kleine Bar. Das Personal trägt Hemd, Weste, Krawatte und Hose komplett in Schwarz. Sie bedienen uns am Tisch. Wir könnten uns sogar ein ganzes Gericht auf einem Servierwagen bringen lassen und beim Essen weiterspielen, wenn wir wollten. Wir bezahlen jeder 100 Euro direkt beim Dealer und erhalten den Gegenwert in Chips. Rolexdichte am Tisch: eins. Frauen: eine. Gold- und Silberschmuck: viel. Los geht’s.

Aber schnell ist klar: Eigentlich geht gar nichts richtig los, am Tisch passiert kaum etwas, und die meisten Hände werfe ich weg. Poker ist vor allem auch ein Geduldsspiel. Sandro sitzt mir gegenüber, ziemlich krumm, er sieht viel kleiner aus, als er ist. Als jemand einen großen Pott mit der viel schlechteren Hand gewinnt, verdreht er die Augen. Sonst lässt er sich nichts anmerken, in keiner Situation, als hätte er Reptilienblut. Trotzdem nicht zu übersehen dabei, er checkt ab, er ordnet ein, er sortiert seine Gegner.

Manchmal fragt er jemanden nach seinen Karten oder worauf er spekuliere, um an der Reaktion etwas ablesen zu können. Nach gut zwei Stunden hat er seinen Einsatz fast verdoppelt, ich bin 23 Euro im Plus, wir lassen uns an der Kasse ausbezahlen. Im Aufzug lästern wir über unsere Gegner und analysieren die gespielten Hände. Sandro sagt: „Der eine Typ war doch komplett braindead.“ Und: „So einen Tisch muss man eigentlich komplett zerstören!“ Den schwächsten Gegner finden, Tische zerstören, wenn es geht, zehn auf einmal. Das ist Sandros Job.
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