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Wie bist du so als Gast?

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Ich erkenne mich kaum wieder, wenn ich zu Gast bin. Kürzlich erst: Ich war beruflich in Berlin und schlief vier Nächte bei einem Freund. Ich bekam das Zimmer der Mitbewohnerin, die gerade im Urlaub war. Ein kleines, nicht eben ordentliches Zimmer mit einem Poster von berühmten kommunistischen Anführern an der Wand. Darunter ein kleines Bett.

Ich bin nun sonst nicht gerade leidenschaftlich hausmännisch. Aber in jenen vier Tagen in Berlin fand ich mich jeden Morgen das Bett aufschütteln und glatt streichen. Dann kaufte ich Brötchen für meinen Freund und mich. Im Bad wischte ich nach dem Duschen die Bodenfliesen trocken. Obwohl ich offensichtlich der einzige Bewohner der Wohnung war, der dies tat.



Hast du dieses Frühstück deinem Gastgeber bereitet? Oder er dir?


Ich mache das Bett sonst nie morgens. Ich wische die Bodenfliesen sonst nie trocken. Aber nun? Entdeckte ich, dass ich im Gast-Modus lief. Meine sonst über Jahre eingeschliffenen Routine-Nachlässigkeiten waren abgeschaltet. Ohne es mir bewusst vorgenommen zu haben, tat ich alles, um nicht zu stören - und positiv auf die Wohngemeinschaft einzuwirken. Und ich tue das mittlerweile überall, wenn ich Übernachtungsgast bin. Dabei hätte mein Freund das nie verlangt. Und früher, erinnerte ich mich, war ich als Gast noch anders: Da lebte ich selbstverständlich wie ein Zwischenmieter, wenn ich bei Freunden meinen Schlafsack ausrollte. Die Brötchen kaufte jeden Tag ein anderer. Und aufgeräumt wurde, wenn überhaupt, am letzten Tag, bevor ich zum Bus verschwand.

Ich bin, was mein Gastverhalten angeht, rücksichtsvoll geworden. Erwachsen, nehme ich an. Seit ich in einem Alter bin, wo ich mir auch ein Hotel leisten könnte, fühle ich mich, als müsste ich mich extra vorbildlich benehmen, wenn ich umsonst bei Freunden wohne.

Wie bist du als Gast? Hast du auch einen besonderen Ordnungs-Ehrgeiz, wenn du woanders eingeladen bist? Hängt es vom Gastgeber ab? Von den Wohnverhältnissen, in denen du eingeladen bist? Oder rührst du als Gast grundsätzlich keinen Finger, weil du das "Gastsein" wörtlich auslegst und der Gastgeber gefälligst dir die Brötchen vom Bäcker holt?

Tagesblog am 6. Oktober 2014

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17:30 Uhr: Und damit reite ich mal nach Hause. Auf bald ...

Elton John – Rocket Man (I Think It's Going To Be A Long Long Time)

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Quelle: #4gifs.com

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17 Uhr:
Ich bin der Falsche, um das anzuteasern. Ich war in den vergangenen vier Jahren einmal auf der Wiesn. Vergangenen Freitag war das. Es hat mir nicht mehr dieselben körperlichen Qualen bereitet wie früher. Aber: Meine Welt wird das nicht mehr.

Halt! Vielleicht bin ich damit doch der Richtige! Weil: Wenn ich die letzte Folge unseres Rikscha-Tagebuches trotzdem gern gelesen habe, dann wird das ja was heißen, oder? Also ab dafür!




Vorbei!

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15:30 Uhr:
Mal schöne Nachrichten, so weit man bei Flüchtlingslagern überhaupt von schönen Nachrichten sprechen kann. Die Street-Art-Künstler Herakut haben vergangene Woche in der Münchner Bayernkaserne mit Flüchtlingen zwei Wände bemalt. Die Zusammenarbeit entspringt einer Geschichte, die wir über ein früheres Projekt der beiden gemacht haben. Wie schön!








Himmel, ist das sinnvoll!

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15:05 Uhr:
Mein Tagesablauf in München übrigens:

"Ich stehe früh auf und schreibe einige Artikel. Dann Tagesblog schreiben. Dann Teaser bauen. Dass Tagesblog schreiben. Dann Teaser bauen. Kein Meer. Kein Strand. Nix mit Schwimmen. Dafür viel Schreibtisch."

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Quelle: http://www.lowbird.com

Traurige Sache!

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14:54 Uhr:
War etwas still jetzt gerade, gell? Dafür gibt es hier jetzt ein schwer ordentliches Interview mit Erlend Øye, sonst Kopf von The Whitest Boy Alive und den Kings of Convenience, gerade solo. Unter anderem geht's um Pornos!




Porno, Alter!

Sein Tagesablauf auf Sizilien (Wahlheimat) übrigens:

"Ich stehe spät auf und schreibe einige Mails. Irgendwann esse ich zu Mittag und gegen 16 Uhr treffe ich meine Freunde am Strand und wir gehen schwimmen. Nach zwei Stunden im Meer geht’s zurück an den Schreibtisch."

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13:40 Uhr:
Herzlich willkommen zurück. Ich war neulich in Hannover. Nicht freiwillig, wie ich betonen möchte! Jedenfalls glaube ich ja, dass wenig so viel über eine Stadt aussagt, wie die Dinge, die sie verbietet. Wenn ich jetzt also Hannover beschreiben müsste, dann so:




Wir reden hier von einer völlig öffentlichen Treppe neben einem Hotel beim Hauptbahnhof ...

Habt ihr auch tolle Verbotsschilder? Dann her damit!

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12:39 Uhr:
Jetzt aber schnell essen! Die Kollegin Schlüter hat gerade schon so geschaut, als ob sie mir gleich das Bein abnagt ...

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12 Uhr:
Hier der Soundtrack zum Nobelpreis!

http://www.youtube.com/watch?v=nGxhozCHY94

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11:59 Uhr:
Es gibt offenbar ein "inneres GPS". Und: Wer's entdeckt, bekommt den Nobelpreis für Medizin. Erscheint logisch. Grid-Zellen: Geiler Scheiß!

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11:46 Uhr:
Ach kommt, was soll's ...

http://www.youtube.com/watch?v=hCkJ7_Libww

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11:25 Uhr:
Und noch eine große Neuerung:

Wir haben zusammen mit sz.de einen Studentenatlas entwickelt. Wer jetzt ein Studium beginnt, und dafür in eine neue Stadt zieht, kann sich da ganz wunderbar erstorientieren: Wie finde ich eine Wohnung? Wo Freunde, die ich in die Wohnung einladen will? Wo kann ich trinken, feiern, lernen, einkaufen?

Los geht es mit München. In den kommenden Wochen folgen erst Berlin und dann jede Woche eine weitere Stadt. Hier erklärt die Kollegin Hollmer, die das tolle Werk mitverantwortet, alles Wichtige.





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11:19 Uhr:
Na gut, doch eine mini Vorstellungsrunde:

Das ist der Simon Hurtz.

Und das hier der Gregor Rudat - wobei bei dem noch Luft im Profil ist ...

Herzlich willkommen.

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11:13 Uhr:
Lange Konferenz, weil zwei neue Menschen hier sind, die ausgiebig vorgestellt werden mussten. Die melden sich bestimmt demnächst eigenständig. Erscheint mir müsam, sie jetzt hier vorzustellen. Wirken aber bis hier sehr nett beide.

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10 Uhr:
Konferenz jetzt.

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9:44 Uhr:
Zack, weiter mit dem Ticker! Der Kollege Grunewald hat festgestellt, dass er seit einiger Zeit als Gast ordentlich und zuvorkommend ist: Badfliesen wischen, Kühlschrank auffüllen und Artverwandtes. Alles, um möglichst nicht aufzufallen. Beziehungsweise: nicht negativ. Wie ist das bei dir?




Gast, ordentlich

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9:35 Uhr:
Vorab aber noch schnell der Beweis: Falsch war heute hier nur einer. Der andere stand nämlich im Plan ...





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9:29 Uhr:






Fliegender Wechsel und gleich noch mal guten Morgen. Herrschaften, was sich hier alles seit Beginn des Tages angesammelt: Spinnt der Beppi, ist das ein Programm! Also mal Vorab im Stechschritt:

Ticker
Studentenatlas
sz.de-Konerenz

Gleich mehr in Ruhe!

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8:38 Uhr:
Ich habe gerade über den nächsten Eintrag hier sinniert, da steht plötzlich der Kollege Biazza in der Tür. Viel zu früh ist der da heute, denke ich. Viel zu früh ist der da, denkt auch er. Weil: Wir beide dachten, wir sind mit Tagesbloggen dran - und jetzt sind wir beide da. Welch Verschwendung kostbarer Schlafenszeit!
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8:22 Uhr:
Guten Morgen, jetzt.de! Feiertag überstanden? Ich hüstle noch so vor mich hin, und nach all der Ausschlaferei am langen Wochenende fiel es mir in diesem Nebelgrau heute ziemlich schwer, wach zu werden. Ungefähr so:
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Der Feind daheim

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Es ist nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich, dass Joachim Herrmann (CSU), der bayerische Innenminister, am Wochenende bei vielen Innenpolitikern in Berlin mindestens Stirnrunzeln ausgelöst hat. Mit seiner Ankündigung, den selbst erklärten IS-Anhänger und potenziellen Dschihad-Kämpfer Erhan A. nach dessen Interview im SZ-Magazin rasch in die Türkei abzuschieben, sendet er jedenfalls eine andere Botschaft als zuletzt die Bundesregierung. Sein Signal lautet: Weg mit dem, so jemanden wollen wir hier nicht haben. In Berlin dagegen dreht sich die Debatte bislang vor allem um die Frage, wie man es schaffen könnte, junge gewaltbereite Salafisten aus Deutschland an einer Ausreise zu hindern.

So hatten es zunächst vor allem Innenpolitiker der Union gefordert. Und so hatte es Bundesinnenminister Thomas de Maizière Ende vergangener Woche bei einem Besuch im Berliner Anti-Terror-Zentrum angekündigt. Der CDU-Politiker hatte erklärt, Verdächtige sollten statt eines Personalausweises ein Ersatzdokument erhalten, das ihnen das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland untersage.



Herrmann (l.) und de Maizière: Wie umgehen mit Extremisten?

Das ist eine klare Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Und es soll laut Bundesinnenministerium das Bemühen zeigen, gewaltbereite und hasserfüllte Islamisten daran zu hindern, in anderen Ländern unschuldige Menschen zu töten. „Die haben sich bei uns radikalisiert. Also sind wir mit verantwortlich dafür, andere Menschen vor ihnen zu schützen“, hieß es am Wochenende aus der Bundesregierung.

Dazu will Herrmanns Ankündigung, Erhan A. in die Türkei abzuschieben, so gar nicht passen. Stattdessen scheint der CSU-Politiker zu bestätigen, was zuletzt der Abteilungsleiter Terrorismusbekämpfung im bayerischen Landeskriminalamt, Ludwig Schierghofer, in einem Fernsehinterview berichtet hatte. Demnach hatten die deutschen Sicherheitsbehörden bis ins Jahr 2013 vor allem darauf gesetzt, gewaltbereite Islamisten loszuwerden. Eine Darstellung, der im Bundesinnenministerium widersprochen wird. Der Minister selbst hat sich dazu aber noch nicht geäußert.

Offen ist, ob Herrmanns Abschiebungsankündigung überhaupt funktionieren kann. Bislang nämlich weiß niemand, ob die Türkei auch bereit ist, den türkisch-stämmigen Erhan A. überhaupt aufzunehmen. Das wäre die rechtliche Voraussetzung für eine Abschiebung.

Trotz der unterschiedlichen Stoßrichtungen in München und in Berlin will niemand in der Koalition daraus einen offenen Konflikt machen. Zumal de Maizière auch darüber nachdenkt, radikalisierten Islamisten, die zwei Pässe haben, den deutschen Pass wieder abzunehmen. Das klingt weniger eindeutig danach, sie unbedingt hierbehalten zu wollen.

Wolfgang Bosbach (CDU), der Vorsitzende des Innenausschusses, plädiert denn auch dafür, jeden Fall einzeln zu betrachten und sich nicht nur auf eine Antwort zu beschränken. Es müsse möglich sein, kampfbereite Islamisten an der Ausreise zu hindern und radikale Hassprediger auszuweisen. Die Grünen-Politikerin Irene Mihalic sieht das anders. Sie wirft Herrmann vor, ohne Rücksicht auf mögliche Opfer im Ausland das Problem wegzuschieben. Eine Abschiebung nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ komme einem Export von Terror gleich. Eine solche Praxis sei angesichts der Lage in Syrien und im Irak nur „zynisch“.

Der Ministerin bleibt keine Zeit

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Nach dem Bekanntwerden einer kritischen Studie zum Rüstungswesen des Verteidigungsministeriums wächst der Druck auf Ministerin Ursula von der Leyen (CDU), politisch zu handeln. Die Probleme müssten „jetzt auch gelöst werden, und da gibt es leider keinen Zeitpuffer mehr“, sagte der Bundeswehrexperte und Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, der Süddeutschen Zeitung. „Wenn jetzt im Rüstungsbereich nicht umgestellt wird, dann ist wirklich Gefahr im Verzuge.“

Weise hatte 2010 eine Strukturkommission zur Reform der Bundeswehr geleitet. „Leider ist es so, dass ein paar Erkenntnisse, die klar vorliegen, nicht in dem Maße umgesetzt worden sind, wie es hilfreich gewesen wäre“, sagte der Oberst der Reserve. So halte er es „nach wie vor für sinnvoll, für das Beschaffungswesen eine eigene Agentur zu gründen“, nach dem Vorbild der Bundesagentur für Arbeit. Von der Leyen lobte er: Die Ministerin sei „die Erste“ gewesen, „die das Ganze strukturell angepackt und gesagt hat, sie will ein klares Lagebild, sie will eine neue Form von Controlling“. Sie dürfe nun die „einmal begonnene Entwicklungslinie nicht aufgeben“.



Von der Leyen: Druck, schnell zu handeln

Von der Leyen hatte vor einigen Monaten eine Untersuchung zum Rüstungswesen in Auftrag gegeben. In dem 50-seitigen Exzerpt der Studie, das der SZ vorliegt, kritisieren die Analysten auch das Prozessmanagement des Ministeriums: Dies sei an zentralen Punkten „nicht ausreichend dokumentiert und dadurch nicht genügend handlungsleitend“. Ein „klassisches Projektmanagement“ sei „nicht erkennbar“. Dies ist bedeutsam, weil von der Leyens Vorgänger Thomas de Maizière (CDU) eigens ein neues Verfahren hatte entwickeln lassen. Die Studie soll an diesem Montag offiziell an von der Leyen übergeben werden.

De Maizière wäre im vergangenen Jahr wegen des Scheiterns der Aufklärungsdrohne Euro Hawk fast gestürzt. Am Wochenende gab es nun Berichte, die Drohne solle reaktiviert werden. Dabei gilt es, zwei Fragen zu unterscheiden. Zum einen geht es darum, wie die Aufklärungstechnik, die in die Drohne eingebaut ist, zu Ende getestet wird. Dafür soll offenbar das zwischenzeitlich stillgelegte Demonstrationsexemplar des Euro Hawk genutzt werden.

Die andere Frage ist, welches System am Ende in Serie beschafft wird. Hier steht das Ministerium vor der Entscheidung, die Aufklärungstechnik entweder in eine Drohne oder in ein bemanntes Flugzeug einbauen zu lassen. Aus Ministeriumskreisen verlautete am Sonntag, man favorisiere nun eine Drohne – eine weiterentwickelte Version des Global Hawk, auf dem der Euro Hawk basiert. Dabei wurde darauf Bezug genommen, dass sich in der Gesamtstudie, die dem Exzerpt zugrunde liegt, eine entsprechend klare Empfehlung für eine Drohne als Trägerplattform finde. Im Exzerpt selbst werden die jeweiligen Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen. Für eine Drohne spricht hier unter anderem die Anforderung, eine „maximale Flughöhe deutlich über dem zivilen Luftraum“ zu erreichen. Auf der anderen Seite bestünden weiter Zulassungsrisiken für unbemannte Plattformen, so die Berater.

Ausdrücklich warnen die Analysten allerdings davor, zu schnell zu entscheiden: Es bestehe „derzeit keine Grundlage für eine Auswahlentscheidung“. Es seien „weitere zeitintensive Voruntersuchungen anzustellen“. Alternativ könne man, wenn man den Bedarf schnell decken wolle, auch eine Entscheidung treffen. Dies müsse dann „unter Ausschluss nicht entscheidungsreifer Lösungsvorschläge und bewusster Inkaufnahme der Limitationen und Risiken der verbleibenden Optionen“ geschehen.

Kritisch weisen die Analysten auch auf die Risiken hin, die mit einer schnellen Entscheidung für das Luftverteidigungssystem Meads als Nachfolger der Patriot-Flugabwehrraketen verbunden wären: „Weder die bislang getätigten Investitionen in Meads noch der Zeitdruck in der Realisierungsplanung der Meads-basierten Lösungsvorschläge sollten als alleiniger Maßstab für eine Entscheidung zum künftigen System liegen.“ Hinsichtlich Meads seien „zu viele Fragen ungeklärt“. Es bestehe „die Gefahr, jetzt eine Entscheidung auf unvollständiger Informationsbasis zu treffen und eine Lösung zu wählen, die mehr kostet, später als geplant einsatzfähig ist und/oder weniger leistet als erwartet“. Man solle die auf dem Patriot-System basierenden Vorschläge und die Meads-Entwicklung nochmals genau gegeneinander abwägen und sich Zeit dafür nehmen. Es handele sich um „eines der größten geplanten Rüstungsvorhaben des kommenden Jahrzehnts“.

Die Schweden scheren aus

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Schwedens neuer sozialdemokratischer Regierungschef Stefan Löfven hat die Anerkennung eines Palästinenserstaats angekündigt – und damit ein ebenso heftiges wie geteiltes Echo provoziert. Während die Palästinenser-Führung in Ramallah den Schritt überschwänglich begrüßte, reagierte Israel empört und bestellte den schwedischen Botschafter ein. Die USA kritisierten die Ankündigung als „verfrüht“. Innerhalb der Europäischen Union könnte der Stockholmer Alleingang nun die Diskussion über den Umgang mit dem hochsensiblen und umstrittenen Anerkennungsthema wieder befeuern.



Schwedens neuer Regierungschef Löfven: Palästina anerkennen

Grundsätzlich verfolgt die EU die Linie, dass ein unabhängiger Palästinenserstaat nur durch eine Verhandlungslösung mit Israel geschaffen werden kann, bei der auch die Grenzen beider Staatsgebiete festgelegt werden. Dass diese Verhandlungslösung mehr als 20 Jahre nach den Osloer Verträgen ferner denn je erscheint, wird allerdings von manchen Mitgliedsstaaten zunehmend der israelischen Politik angelastet, vor allem wegen des ungebremsten Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten.

Die Zerrissenheit der EU bei diesem Thema war bereits vor zwei Jahren offenbar geworden, als der Status der Palästinenser bei den Vereinten Nationen zum Beobachterstaat aufgewertet wurde. Unter den 138Befürwortern waren damals auch einige EU-Staaten, darunter Schweden, Frankreich und Italien. Deutschland hatte sich wie die Mehrheit der EU-Partner enthalten. Tschechien hatte als einziges EU-Land zu den neun Nein-Stimmen beigetragen.

Zu einer einheitlichen Position hatten die Europäer auch im Anschluss nicht gefunden. Schwedens neuer Ministerpräsident Löfven preschte nun in seiner Antrittsrede vor und erklärte: „Eine Zwei-Staaten-Lösung erfordert gegenseitige Anerkennung und den Willen zur friedlichen Koexistenz. Schweden wird deshalb den Staat Palästina anerkennen.“ Einen Zeitpunkt dafür nannte er nicht. Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas lobte die Ankündigung als „ehrenhaft“, sein Außenminister Riad al-Maliki forderte die andern Europäer auf, diesem Beispiel zu folgen.

Die Palästinenser hoffen nun also auf einen Dominoeffekt und die zähe Kraft des Faktischen. Weltweit ist Palästina bereits von 138 Staaten offiziell anerkannt worden, seitdem der frühere PLO-Chef Jassir Arafat 1988 erstmals aus dem Exil heraus die Staatsgründung verkündet hatte. Innerhalb der EU haben auch schon Polen, Ungarn und die Slowakei den Palästinenser-Staat anerkannt – allerdings jeweils vor ihrem Beitritt zur Union. Solange die Palästinensergebiete unter israelischer Besatzung stehen, hat diese Anerkennung jedoch eher symbolischen Charakter.

Israels Außenminister Avigdor Lieberman verband die für diesen Montag angesetzte Einbestellung des schwedischen Botschafters mit der sarkastischen Anmerkung, der neue Stockholmer Regierungschef habe offenbar noch nicht genug Zeit gehabt, sich ins Thema zu vertiefen, sonst wüsste er, dass in den vergangenen 20 Jahren die Palästinenser ein Abkommen verhindert hätten. „Wenn er sich um den Nahen Osten sorgt“, so erklärte Lieberman, „sollte er sich besser auf die täglichen Massenmorde in Syrien oder Irak konzentrieren.“

Die Schweigespirale

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Vor ein paar Tagen verbreitete sich ein Link zu einer Facebook-Seite durchs Netz. Diese Seite trug den Titel „Unread Stories“. Auf ihr können Facebook-Nutzer all jene Beiträge sehen, die Facebook ihnen vorenthalten hat. Es sind Beiträge, die zwar grundsätzlich in die Übersichtsseite – die Timeline – des jeweiligen Nutzers passen, weil sie von Facebook-Freunden kommen oder von Websites, die diese positiv bewertet haben. Doch der Algorithmus, der die Timeline zusammensetzt, hat diese Beiträge nicht berücksichtigt.

Dieser Link suggerierte, es sei möglich, die Maschine zu überlisten. Ich sehe was, was ich nicht sehen soll. Einen Moment lang hielt man ihn für die Lösung eines Problems. Bei genauerer Betrachtung stellte sich aber heraus: Dieser Link und die Gier nach ihm sind ein Teil des Problems.



Facebook und Twitter: angepasste Meinungen im Netz

Welches Problem? Das Netz, wie es heute existiert, verstärkt bestehende Meinungen. Es verhindert Kritik. Es fördert Konformismus, um nicht zu sagen: es fordert Konformismus. Dem zugrunde liegt ein uralter Effekt, der aus den allermeisten Gesellschaften bekannt ist. Menschen in Gruppen tendieren dazu, die herrschende Meinung zu bestätigen oder wenigstens nicht infrage zu stellen. In Verbindung mit der öffentlichen Meinung sprechen Forscher von der Schweigespirale. Drastischer sind Experimente, bei denen Menschen selbst dann objektiv falsche Aussagen machen, wenn sie die richtige Antwort kennen – nur, um denjenigen, die sich bereits vor ihnen falsch geäußert haben, nicht zu widersprechen.

Im Netz kann man dieses Phänomen beobachten wie nirgends sonst. Denn erstens sind es jetzt Maschinen, die den Menschen zur möglichst populären Meinung zwingen, und Maschinen sind nur schwer zu bekämpfen, weil sie lediglich Verhalten belohnen, sich aber selbst nicht überzeugen lassen. Sie wechseln nie die Seite, ihr Ausdauern endet erst, wenn jemand den Stecker zieht; den zieht aber niemand, solange die Maschine Geld verdient.

Zweitens umgeben uns diese Maschinen rund um die Uhr. Wer sich bei der Arbeit gerne im Namen der Konfliktvermeidung der Meinung seiner Kollegen anschließt, kann zu Hause immer noch eine andere Meinung vertreten. Facebook, Google und Twitter aber sind immer und überall. Und diese drei Systeme stehen nur stellvertretend für Mechanismen, die sich im ganzen Netz ausgebreitet haben.

Postet ein Nutzer im Netz einen Beitrag, zum Beispiel auf Facebook, sind die Reaktionen derjenigen Menschen, die diesen Beitrag sehen können, maßgeblich dafür, wie weit sich der Beitrag verbreitet. Und zwar nicht nur, weil die Reaktion selbst oft eine Weiterverbreitung darstellt, zum Beispiel, wenn ein Video von Dritten „geteilt“ wird. Sondern vor allem, weil Facebooks Algorithmus Beiträge sofort abstraft, die nur wenig Interesse hervorrufen. Das Programm, das über die Verbreitung von Inhalten bestimmt, registriert im Detail, wie beliebt Beiträge sind. Und Liebe, oder Zuneigung, ist das, was man auf Facebook am einfachsten loswird. „Like“ kann man klicken, „Dislike“ aber nicht.

Dabei steht Facebook hier nur exemplarisch für die vielen Ordnungsalgorithmen, die das digitale Angebot für die Nutzer zusammenstellen. Die Ergebnisse der Google-Suche sind auf ähnliche Art zusammengebaut, sie sind für jeden Nutzer individuell zurechtgeschnitten.

Ein Aha-Erlebnis der unangenehmen Art ist es, die Google-Suchergebnisse auf dem Rechner eines Freundes mit den eigenen zu vergleichen. Auch wenn man nach demselben Wort sucht, sind die Ergebnisse unterschiedlich. Der Algorithmus tut alles dafür, die Welt so zu formen, wie der Nutzer sie haben möchte. Oder haben soll. So bleibt jeder in seiner eigenen Filterbubble, in seiner eigenen Blase. Es gibt keinen Standard mehr, an dem man sich reiben könnte. Die digitale Welt kommt für jeden in einer maßgeschneiderten Form, Zutritt in die eigene Blase erhält – automatisiert – nur, wer nicht mit abweichenden Meinungen stört.

Das hat politische Implikationen bis hin zur Gefährdung der Demokratie. Meinungen verstärken sich: Wer konservativ ist, bekommt mehr Konservatismus. Und wer Facebook hasst, erhält mehr Kritik an Facebook. Denn die Zensur erfolgt nicht inhaltlich, sondern individuell. Das macht sie so perfide. Kritik an dem, was schon da ist, wird abgestraft. Duckmäusertum ist hier klüger als Widerspruch.

Das verändert die Debattenkultur. Es gilt das Mantra „Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, sag einfach gar nichts“. Die Regel stammt ursprünglich von einem Hasen aus dem Trickfilm „Bambi“. In der Nerdkultur ist sie zum geflügelten Wort geworden. In dieser Kultur entstehen die Systeme, die unser aller Leben bestimmen. Dabei muss „nett“ nicht im Wortsinne „nett“ sein. Üble Nachrede ist erlaubt, solange sie aufs zementierte Feindbild zielt. Wohin das führt, lässt sich in Washington beobachten, wo Republikaner und Demokraten immer wieder jede Kommunikation einstellen, bis der politische Prozess stagniert. Beim Bohren harter Bretter aber kommt man ohne Reibung nicht sehr weit.

Dabei ist die Langeweile, die derzeit noch durch die sich immer selbst bestätigenden Netze entsteht – und damit auch der Link auf die Facebook-Seite der verborgenen Einträge –, nur das kleinste Problem. Sie lässt den Nutzer merken, dass etwas nicht stimmt. Je smarter die Algorithmen werden, umso weniger langweilig wird uns allen sein. Eine kleine Dosis Widerspruch oder eine Pseudo-Kontroverse werden ausreichen, damit jeder zufrieden in seiner Blase lebt, weil niemand weiß, dass es eine Blase gibt.

Dabei versprach das Internet einst das Gegenteil: Nach der fiepsenden Einwahl mit dem Modem wartete eine wilde, aufregende Welt, eine kaum kontrollierte Anarchie voll kontroverser Meinungen auf schäbig entworfenen Webseiten. Jeder Klick eine Aufregung, jede Seite eine Überraschung. Das war, als Menschen über Inhalte herrschten und Austausch mit Freunden und Gegnern so wichtig war, wie Besucher auf die eigene Seite zu bekommen.

Diese Zustände gibt es immer noch. Aber sie sind nicht länger die Regel. Man muss nach ihnen suchen und sich aus eigenem Antrieb aus der Blase entfernen. Das gelingt vielen Menschen schon im realen Leben nur mit größter Mühe.

Zum dritten Oktober posierte Mark Zuckerberg in der Facebook-Zentrale mit einem Luftballon, der an die deutsche Einheit erinnerte. „Lasst uns weiterarbeiten, sodass eines Tages jeder mit jedem verbunden ist“, schreibt er im billigen Versuch, die deutsche Geschichte für sein Marketing zu missbrauchen. „Sodass es keine Mauern mehr gibt, die uns trennen.“ Heute müsste man ergänzen: und keine Meinungen mehr, die uns unterscheiden.

Der Studentenatlas startet!

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Wenn man fürs Studium in eine neue Stadt zieht, gibt es viele Fragen: In welchem Viertel wohne ich am besten? Wie finde ich überhaupt eine Wohnung? Wo trifft man sich in der Stadt, wenn es regnet? Und wenn die Sonne scheint? Wo gibt es die besten Burger und den besten Gin Tonic? Was muss ich wissen, um die Stadt zu verstehen?  

In den vergangenen Wochen haben wir mit Studenten aus ganz Deutschland gesprochen und uns ihre Städte erklären lassen: Mit welchen Facebook-Seiten findet man eine bezahlbare Wohnung in München? Wie komme ich in Hamburg spät nachts mit dem Bus nach Hause? Was unternimmt man in Tübingen, wenn die Eltern zu Besuch kommen?  

Die Antworten auf diese Fragen sammeln wir im „Studentenatlas“. Wir starten in der Stadt, in der wir die größte Kompetenz haben: in München. Wir erklären, wie das Semesterticket funktioniert und wie man das Münchner Nachtlinien-System durchschaut, welche München-Blogs man kennen muss, wie man die wichtigsten Partys findet und wie man ein guter Münchner wird.  

Wir möchten auch deine Eindrücke in unseren Studentenatlas aufnehmen. Wenn du uns deine Tipps in München oder einer der folgenden Studentenstädte schicken möchtest, freuen wir uns über eine Nachricht unter: studentenatlas@sz.de

Danach kommt jede Woche eine neue Studentenstadt dazu. Einen Überblick über die Städte in unserem Studentenatlas findest du hier:

München


* Eine interaktive München-Karte für Studenten
* Welche Studenten sind unbeliebt bei Maklern? Wann finden Vermieter WGs okay, und wie punktet man beim Besichtigungstermin? Ein Gespräch mit der Maklerin Eva Miller.


Überblick auf SZ.de

Neue Wut und alte Wunden

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Das Telefon klingelt, Mareile Kirsch geht ran, und gleich bekommt ihre Stimme einen weichen Tonfall. Nein, es werde wieder spät heute, sagt sie mit leisem Bedauern in den Hörer und muss gleich Schluss machen, weil sie im Interview sitzt. „Das ist mein Sohn“, sagt sie, als sie das Handy zur Seite legt. „Bald weiß ich nicht mehr, wie der aussieht.“ Er geht in die elfte Klasse. Er steht also ein Jahr vor dem Abitur? „Leider“, sagt Kirsch und ist sofort wieder drin in ihrem Thema: G8, das achtstufige Gymnasium, die vor zwölf Jahren auf Wunsch der Wirtschaft eilig eingeführte Schulform, in der Mareile Kirsch einen Anschlag auf Lebensqualität und inneren Frieden der Jugendlichen sieht; und die sie mit einer solchen Hartnäckigkeit bekämpft, dass sie mittlerweile gefürchtet ist in der Hamburger Bürgerschaft.

Die Rückkehr zum neunstufigen Gymnasium ist mittlerweile in vielen Bundesländern ein Thema. Aber in Hamburg scheint die Debatte besonders konfliktreich zu sein. Sie verläuft in Form eines mit langem Atem inszenierten Eltern-Aufstandes, der in diesen Tagen seinen vorläufigen Höhepunkt erfährt. Die Volksinitiative „G9-Jetzt-HH“, welche die Journalistin und Hausfrau Mareile Kirsch angestoßen hat, ist noch bis zum 8.Oktober im Rahmen eines Volksbegehrens in Hamburg unterwegs, um Unterschriften zu sammeln für einen möglichen Volksentscheid, der die Politik in der Hansestadt zum Handeln zwingen könnte. 63000 Autogramme müssen Kirsch und ihre Mitstreiter binnen drei Wochen sammeln. Sie haben mit Spenden eine kleine Zentrale in der City aufgebaut. Sie haben die Stadt voll plakatiert mit der Schülerforderung: „Lasst uns mehr Zeit zum Leben und Lernen!“ Seit dem 18.September stehen die G-9-Aktivisten jeden Tag an ausgewählten Plätzen in der Stadt, um die Hamburger zum Mitmachen zu bewegen. Und Mareile Kirsch ist natürlich mit vollem Eifer dabei. Bis zu 13 Stunden ist sie täglich für die Initiative unterwegs.



Volksinitiative "G9-Jetzt-HH"

Sie findet diese Strapazen in Ordnung, und in ihrer direkten, furchtlosen Art kann sie auch ganz gut erklären, warum. „Dass man den eigenen Kindern dieses G8 zugemutet hat, ohne uns Eltern zu fragen, gegen jegliche grundsätzliche Lebensprinzipien und Werte, die wir vertreten mit unseren Familien“ – das habe sie herausgefordert, sagt sie. Ihr Hauptvorwurf: Der gedrängte Lehrplan des G8 lasse den Schülern kaum noch Zeit für Aktivitäten neben der Schule und eine ganzheitliche Entwicklung. „Ein Lebensjahr unserer Kinder wurde geraubt“, sagt Mareile Kirsch.

Es ist letztlich aber ein leiser Aufstand. Im großstädtischen Alltag geht die Initiative fast unter. Trotzdem ist sie nicht zu unterschätzen, und das wissen wohl auch alle, die gegen Kirsch sind. Ihre Initiative hat viele mächtige Gegner. Unter Eltern und Lehrern findet sie genug Zustimmung, mit 84 Prozent bezifferte zuletzt eine Umfrage des NDR die Pro-G-9-Haltung der Hamburger. Aber in der Wirtschaft steht man weiterhin zu G8, auch die Parteien der Bürgerschaft finden den Kirsch-Vorstoß nicht gut. Nicht einmal CDU und FDP, die vor der Bürgerschaftswahl im Februar jedes Thema gegen die SPD-Regierung gut gebrauchen könnten, die aber das G8 einst selbst eingeführt haben. „Die führen eine richtige Abwehrschlacht gegen mich“, sagt Kirsch. Aber auch aus dem Rathaus spüre sie wenig Gegenliebe: Die Initiative „stört unsere Regierung wahnsinnig“.

Das will Schulsenator Ties Rabe so direkt natürlich nicht sagen. Volksbegehren und Volksentscheid als Werkzeuge der politischen Teilhabe mag der SPD-Politiker nicht kleinspielen. Aber wenn er über Kirsch und ihre Forderungen spricht, bekommt er doch einen spitzen Ton. „Völlig irre Idee“ nennt er die Kirsch-Forderung, die Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 an allen Gymnasien einzuführen. Er findet sie auch nicht angemessen, weil neben den 60 G-8-Gymnasien in Hamburg an 59 Gesamtschulen, sogenannten Stadtteilschulen, das Abitur nach 13 Jahren möglich ist.

Zudem betrachtet er die Kirsch-Initiative „auch mit Sorge“. Rabe, früher Lehrer, ist selbst kein G-8-Fan, er war seinerzeit sogar gegen die Einführung. Aber den „ein Jahrzehnt dauernden Umbauprozess“, den er vorhersieht, falls die G-9-Anhänger sich durchsetzen, hält er für kontraproduktiv. Er sagt: „Diese ständigen Gewaltreformen schaden den Kindern und den Schulen viel mehr, als wenn man die Schulen endlich mal in Ruhe lassen würde.“ Aus den Gymnasien habe er nach Abstimmungen in deren Schulkonferenzen die Botschaft empfangen, dass man keine Reformen mehr wolle. Rabe befürchtet deshalb eine „Zerreißprobe“ zwischen G-9-Anhängern und Reformverächtern. Die Atmosphäre rund um die Volksabstimmung im Jahr 2010 über das Vorhaben der damaligen Regierung, eine sechsjährige Grundschulzeit einzuführen, hat Rabe in schlechter Erinnerung: „Wir hatten damals eine sehr, sehr aufgeheizte Atmosphäre. Teilweise haben Schulleitungen heute noch Probleme, auf ihre Nachbarschulen zuzugehen, weil das so viele Wunden hinterlassen hat.“ Medien sprachen damals von einem „Schulkrieg“.

Mareile Kirsch ist davon nicht beeindruckt. Sie hat Argumente, hat Erkenntnisse von Fachleuten gesammelt, die ihre Haltung stützen. Und sie hat Beharrlichkeit. Ob sie schon mal das Gefühl hatte, dass der Gegenwind zu stark werde? Sie überlegt kurz. „Hm. Nö. Ich bin über die Phase hinaus, wo ich mich noch furchtbar erschrecken lassen.“ Sie hat angefangen mit ihrem Kampf. Und jetzt zieht sie ihn auch durch.

Deutschlands neue Teilung

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Den Herren der deutschen Stromnetze traut Horst Seehofer bestenfalls so weit, wie ein Elektron lang ist. „Um nichts anderes als eine Geldanlage mit sicherer Rendite“ gehe es den hiesigen Netzbetreibern, sagte Bayerns Ministerpräsident kürzlich der SZ. Deshalb wolle er auch alle neuen Stromtrassen durch Bayern noch einmal auf den Prüfstand stellen, sowohl die 800 Kilometer lange Nord-Süd-Leitung Suedlink als auch die „Gleichstrompassage Süd-Ost“, die von Sachsen-Anhalt nach Augsburg führen soll. Gerade von Letzterer hält Seehofer nichts.

Insofern dürfte auch der alarmierende Vortrag an Seehofer abprallen, den Boris Schucht vor einiger Zeit gehalten hat, der Chef des ostdeutschen Netzbetreibers 50Hertz. Titel: „Hintergründe und Auswirkungen einer innerdeutschen Preiszonenaufteilung“. Die Folien liegen der SZ vor. Schucht beschreibt darin ganz nüchtern eine neue Teilung Deutschlands, diesmal beim Strom. Ohne die Süd-Ost-Passage, die zu großen Teilen von 50Hertz gebaut werden würde, „droht ein chronischer Engpass in Deutschland und damit eine innerdeutsche Preiszonenaufteilung“, heißt es darin.



Horst Seehofer ist gegen geplante Stromtrassen

Und das zulasten Bayerns. „Im Norden, wo ein Überschuss an günstiger Energie vorliegt, sinken die Preise, und im Süden steigen sie.“ Den Preisunterschied taxiert der Netzbetreiber auf 0,6 Cent je Kilowattstunde – was sich für einen Durchschnittshaushalt in Süddeutschland auf rund 20 Euro im Jahr läppern würde. Eine Studie der EU, die der Spiegel zitiert, taxiert die Mehrbelastungen süddeutscher Stromkunden im Fall einer Marktspaltung sogar auf bis zu zehn Prozent.

Unter Experten wird eine solche Spaltung des Strommarktes schon länger diskutiert, auch das Bundeswirtschaftsministerium hatte in internen Gesprächen bereits davor gewarnt. Zum einen strapaziert deutscher Windstrom auf dem Weg nach Süden immer stärker die Netze der Nachbarländer und sorgt dort für Verdruss – während in Norddeutschland und zur See neue Windparks entstehen. Zum anderen würde der Verzicht auf neue Leitungen die Verbraucher über kurz oder lang teuer zu stehen kommen – und zwar überall im Land. Denn ohne neue Stromleitungen steigen die Kosten für Eingriffe in den Strommarkt. Das sogenannte Engpassmanagement würde wichtiger, das flexible An- und Abfahren von Kraftwerken. Das kostet schon jetzt dreistellige Millionensummen, Tendenz steigend. Da wäre die Teilung des Strommarktes günstiger – jedenfalls für Kunden nördlich des Mains. „Es kann nicht sein, dass der Rest der Republik für die Eskapaden des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer zahlt“, warnt Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer.

Entsprechend wenig Freunde macht sich Seehofer derzeit auch im ebenfalls südlichen Baden-Württemberg. „Bayerns Ministerpräsident macht Politik gegen sein Land“, sagt dort der grüne Umweltminister Franz Untersteller. „Er betreibt eine Politik der Deindustrialisierung.“ Seehofer selbst wiederum sitzen Bürgerinitiativen im Nacken, die sich gegen die „Monstertrassen“ durch Bayern wehren. Und den Netzbetreibern traut er eben nicht.

Die Debatte über unterschiedliche Preiszonen jedenfalls beeindruckt die Bayern nicht weiter. „Damit wird immer wieder gedroht“, sagte Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) am Sonntag der SZ. Ohnehin müsse die Bundesregierung einer solchen Aufteilung des Marktes zustimmen, und an der ist die CSU schließlich beteiligt. Die neuen Trassen dagegen will sie nun noch mal gründlich prüfen, der „erheblichen Eingriffe in die Natur“ wegen. Schließlich verliere die Energiewende sonst an Akzeptanz.

Und so wird geredet statt geplant: diesen Dienstag beim Koalitionsausschuss in Berlin, danach mit Betroffenen in Bayern, für ein paar Monate. „Diese Zeit“, sagt Aigner, „sollten wir uns gönnen.“ 

München-Viertel für Anfänger

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Au/Haidhausen


Das bekommst du hier: französisches Flair, Sojamilch, Münchens einzigen Drogeriemarkt, der auch am Sonntag und bis 22 Uhr geöffnet hat (im Ostbahnhof), hübsche Lokale und Cafés, gepflegte Topfpflanzen auf Balkonen, Isarwasser, das schönste Münchner Hallenbad (Müller'sches Volksbad), den Weißenburger Platz (mindestens so schön wie der Gärtnerplatz!), die tollsten Kinos, den Markt und den Biergarten am Wiener Platz, den Muffatbiergarten, Bars mit einem umfangreichen wie ausgefallenen Bierangebot
Das bekommst du hier nicht: Verständnis von den Nachbarn, wenn’s mal laut wird (die haben nämlich alle Kinder, die um acht schlafen sollen), Clubs, günstige Mieten
Durchschnittsmiete Haidhausen: 18,72 €/qm; Au:16,91 €/qm

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Maxvorstadt


Das bekommst du hier: Nähe zur LMU, Eis mit Schweinebratengeschmack, Last-Minute-Copyshops, den Englischen Garten, dunkle Kaschemmen zum Abstürzen und teure Cocktailbars, Fußballkneipen, Münchens wichtigste Kunstmuseen, hübsche kleine Boutiquen, die Stabi, einen Friedhof, auf dem man picknicken kann (Alter Nordfriedhof in der Arcisstraße), das angeblich älteste Kino der Welt (Gabriel Filmtheater), das TU-Dach, die HFF mit vielen Filmveranstaltungen, Riesenschnitzel (Steinheil), immer jemanden zum Fußball- oder Basketballspielen (im Maßmann-Park), das Siegestor und die Feldherrenhalle (zum nachts Lichter-Vorbeirauschen-Lassen), Boule-Turniere im Hofgarten
Das bekommst du hier nicht: verhandlungsbereite Vermieter (der nächste lauert schon auf deine Wohnung), einen Parkplatz, gute Clubs, günstige Restaurants und Wohnungen
Durchschnittsmiete Maxvorstadt: 14,07 €/qm 

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Giesing


Das bekommst du hier: günstigere Mieten (zum Teil), den ersten McDonald's Deutschlands (in der Martin-Luther Straße), skatende Jugendliche vor dem Giesinger Bahnhof, Boazn & Kneipen, freitags von 13 bis 18 Uhr einen Wochenmarkt mit tollen Antipasti (am Giesinger Bahnhof), die Trainingsgelände zweier großer Münchner Fußballvereine (der FCB trainiert an der Säbener Straße, 1860 an der Grünwalder Straßer), den Perlacher Forst (wunderbar zum Spazieren), eine Zimtschneckenfabrik
Das bekommst du hier nicht: fußläufige Distanz zur Innenstadt, Klavierunterricht für den kleinen Jonathan, Schickeria
Durchschnittsmiete Obergiesing: 14,51 €/qm, Untergiesing: 17,13 €/qm

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Ludwig- und Isarvorstadt


Das bekommst du hier: Schlachthof- und Dreimühlenviertel, im Sommer das wunderbare "Viehhof"-Freiluftkino, Absturzkneipen, Tramschienen auf jeder Straße, kulinarische Köstlichkeiten gepaart mit düsteren Dönerbuden, arabische Gemüsehändler, Shisha-Cafés (und wenn es warm ist, ein bisschen Urlaubsfeeling, weil es so nach fremden Gewürzen riecht), das "Substanz", die Wiesn samt Bavaria
Das bekommst du hier nicht: einen Sitzplatz in einer angesagten Bar nach 19:30 Uhr
Durchschnittsmiete Ludwigs-/Isarvorstadt: 17,79 €/qm

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Glockenbachviertel


Das bekommst du hier: den Gärtnerplatz (und die ewige Frage, ob der Gärtnerplatz nun zum Glockenbach gehört, ein eigenes Viertel markiert - oder doch beides einfach Ludwig- und Isarvorstadt ist), Schweini (der findet, dass es ein eigenes Viertel ist), die komplette queere Szene Münchens, zahlreiche Verkleidungs- und Travestieläden, Clubs, in denen es nach zwei Uhr erst richtig losgeht, Gentrifizierung
Das bekommst du hier nicht:
einen Sitzplatz in einer angesagten Bar nach 19:30 Uhr
Durchschnittsmiete Glockenbach (wie Ludwig- und Isarvorstadt): 17,79 €/qm

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Westend/Schwanthalerhöhe


Das bekommst du hier: ein bisschen Berliner Flair, die Alte Kongresshalle, die Hackerbrücke, die Theresienhöhe, viele Cafés, Kneipen und Bars, hübsche kleine Läden, viele Familien, den Bavariapark, die Schnecke "Ilse" (ein vier Meter hohes Töpferwerk von seltener Hässlichkeit), das Ziegelgebäude der Augustiner-Brauerei, die Donnersbergerbrücke, Singles (60 Prozent der gemeldeten Haushalte sind Single-Haushalte), sehr volle U-Bahnen zur Wiesn
Das bekommst du hier nicht: eine Gelegenheit, die schicke Ecke deines Kleiderschranks auszuführen, Clubs, Cocktails mit Ingwer
Durchschnittsmiete Schwanthalerhöhe: 16,02 €/qm 

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Schwabing


Das bekommst du hier: Altbauwohnungen, Kultkneipen und Straßencafés, Rudern auf dem Kleinhesseloher See im Englischen Garten, den ruhigeren Luitpoldpark, das Ungererbad, Monaco Franze aus Bronze (sitzt auf einer Bank an der Münchner Freiheit), die preisgekrönte Designer-Bus- und Tramhaltestelle Münchner Freiheit, den Raumschiff-U-Bahnhof Münchner Freiheit, laue Nächte auf den Stufen der Sankt-Ursula-Kirche, donnerstags den Wochenmarkt an der Münchner Freiheit, im Dezember den Weihnachtsmarkt, das Streetlife-Festival, viele Public-Viewig-Adressen und den Corso Leopold, einen Blick auf Rainer Langhans, der gern mit dem Fahrrad rumfährt
Das bekommst du hier nicht: Hipster, Skateboards, coole Klamottenläden, abgeranzte Ecken, Boazn, Spätis, einen Platz, an dem man sich gut treffen kann
Durchschnittsmiete Schwabing: 16,94 €/qm

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Sendling


Das bekommst du hier: das Freilicht-Kino Münchens mit dem schönsten Namen: "Kino, Mond & Sterne", den Flaucher, Münchens beliebteste Isarbadestelle, die legendäre "Gruam", die Großmarkthalle (und die unerreichten Weißwürste im Wirtshaus dort), das Südbad, den Westpark, ziemlich viele Autos
Das bekommst du hier nicht: Altbauwohnungen, eine hohe Kneipendichte, Historie, viel Kultur
Durchschnittsmiete Sendling: 14,29 €/qm, Sendling-Westpark: 14,11 €/qm 

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Altstadt/Lehel


Das bekommst du hier: nur mit unverschämt viel Glück eine Wohnung, Touristen mit Fotoapparat, viel Isar und Englischen Garten, jede Menge Anwalts- und Steuerberaterkanzleien, die Eisbach-Welle, lange Wege von der U-Bahn-Station Lehel, das Haus der Kunst - und darin die berühmteste Promi-Disco Deutschlands, das P1
Das bekommst du hier nicht:
Wohnraum (vor allem in der Altstadt), Studenten-Partys, Clubs, Bars, eine hohe Drogeriemarkt-Dichte
Durchschnittsmiete Altstadt:
16,23 €/qm; Lehel: 16,04 €/qm

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Nymphenburg/Neuhausen


Das bekommst du hier: unbezahlbare Villen (schön zum Angucken und Träumen), das Nymphenburger Schloss plus herrschaftlicher Parkanlage zum Durchschlendern (am Wochenende wird man allerdings eher geschoben), Laufnähe zur Theresienwiese, eine Eisdiele mit 135-jähriger Geschichte und angeblich dem besten Eis der Stadt (Sarcletti am Rotkreuzplatz), das Stammhaus der ältesten Brauerei Münchens: Augustiner (plus Hopfen-Duft an manchen Tagen), sehr laute und sehr ruhige Straßen
Das bekommst du hier nicht: Shoppingmöglichkeiten, Clubs, ein Straßencafé neben dem anderen, Nachbarn, bei denen es mal laut werden darf
Durchschnittsmiete Nymphenburg: 14,37 €/qm; Neuhausen: 17,25 €/qm

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Garching


Das bekommst du hier: Nähe zu den TU-Fakultäten, Chemie, Informatik, Maschinenwesen, Mathematik, Physik und die Munich School of Engineering, den Garchinger See, Wald plus U-Bahn-Anbindung, unschlagbar günstige Mieten, gute Luft, die Isarauen samt tollen Radwegen
Das bekommst du hier nicht: hippe Cafés und Clubs, Touristen, Geisteswissenschaftler  
Durchschnittsmiete Garching: 9,48 €/qm


Alle Angaben zum Mietpreis über: Mietspiegel von Wohnungsboerse.net (Stand: Oktober 2014)
Garching: Garching.de (Stand: 6. Oktober 2014)


Dieses Interview erscheint im "Studentenatlas", ein Projekt von jetzt.de und SZ.de. Mehr Infos dazu findest du hier.Eine interaktive München-Karte für Studenten findest du hier.

"Hast du gerade Porno-Soundtrack gesagt?"

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Hipster, Nerd, Genie: Der Norweger Erlend Øye, bekannt als Kopf und Sänger der Gruppen Kings Of Convenience und The Whitest Boy Alive, macht schon lange Pop-Musik, die immer anders und doch stets unverkennbar ist. Mittlerweile lebt der 38-Jährige auf Sizilien „das Leben, nach dem ich so lange gesucht habe.“ Wie das aussieht und welches Konzept hinter seinen Produktionen steckt, erzählt er im Interview.
 
jetzt.de: Erlend, hattest du einen guten Sommer?
Erlend Øye: Ich habe viel Zeit in Paris verbracht, um das Mastering und die Cover-Gestaltung meines neuen Albums fertig zu machen. Ansonsten waren es sehr entspannte Tage, vor allem dann, wenn ich sie zu Hause verbringen konnte.

Wie sieht ein typischer Sommertag bei dir auf Sizilien aus?
Ich stehe spät auf und schreibe einige Mails. Irgendwann esse ich zu Mittag und gegen 16 Uhr treffe ich meine Freunde am Strand und wir gehen schwimmen. Nach zwei Stunden im Meer geht’s zurück an den Schreibtisch.

Seit zweieinhalb Jahren lebst du auf Sizilien. Was gefällt dir an der sizilianischen Kultur am besten?
Dass hier alle zur selben Zeit essen. Denn: Wenn an einem Ort alle etwas gleichzeitig tun, weiß man genau, wann sie auf keinen Fall zu erreichen sind. Wenn man die Leute auf Sizilien um 12.15 Uhr anruft, machen sie sich gerade fertig fürs Essen. Um 15 Uhr sind alle müde und wollen ein Nickerchen machen. Man meldet sich also am besten davor oder danach.




Erlend Øye

Wie sieht’s mit der italienischen Pop-Musik aus? Hast du dich damit schon arrangieren können?
Was ich wirklich mag, ist italienische Musik aus den Sechzigern, Siebzigern und auch ein bisschen was aus den Achtzigern. Danach wurde es allerdings ziemlich schlimm, das muss man leider sagen.

Was magst du am Pop aus diesen Jahrzehnten?
Er ist sehr verspielt. Diese Musik klingt, als hätten die Leute damals sehr viel Spaß dabei gehabt, sie zu machen. Und als hätten sie keine Angst davor gehabt, neue Ideen zu verwirklich. Die Songs sind irgendwie . . . süß. Ja, süß trifft es. Und ich mag süße Songs nun mal am liebsten.

Dein neues Album klingt auch nach dem leichten Leben auf der Insel. Und irgendwie hört sich das alles schon wieder sehr neu an. Noch unbekannt. Ist das dein Ziel beim Musikmachen?
Das, was ich jetzt mache, ist zumindest ein bisschen neu, das stimmt. Nicht viele Leute haben sich an dieser Art von Musik schon versucht. Aber eigentlich wollte ich, dass es am Ende fast so klingt wie Steely Dan. Und eins muss man sagen: Es ist nicht leicht, so zu klingen wie Steely Dan.

Ein bisschen klingt dein neues Album auch wie ein Achtzigerjahre-Pornosoundtrack.
Hast du gerade „Porno-Soundtrack“ gesagt?

Ja.
(wirkt sehr irritiert) Interessant. Und komischerweise bist du nicht der Erste, der mir mit so was kommt. Ganz ehrlich: Ich habe noch nie einen Achtzigerjahre-Porno gesehen, deshalb kenne ich auch die Soundtracks nicht. Aber wenn die so klingen wie das, was ich gerade mache, müssen es unglaublich gute Soundtracks gewesen sein (lacht).

Du hast mal gesagt, du hättest ein bestimmtes Konzept verfolgt, wenn du Songs entworfen hast. Dieses Konzept, heißt es jetzt, hättest du für dieses Album verworfen. Was für ein Konzept war das? Und: Wie bist du’s letztlich losgeworden?
Wenn man ehrlich ist, steckt ja eigentlich hinter allem, was man macht, ein gewisses Konzept. Auch beim Musikmachen. Ein Album zum Beispiel hat in der Regel immer bestimmte Grenzen, in denen sich die Songs bewegen. Das führt dazu, dass es ein ganz bestimmtes Gefühl erzeugt. Und wenn ein Hörer sich nach diesem Gefühl sehnt, legt er genau dieses Album auf. Solche Grenzen kannte ich bis jetzt auch, wollte sie aber nicht mehr. Keine Limits mehr! Ich hatte zwar kein Problem damit, mich für die neuen Songs auch mal auf dem Spielplatz zu bewegen, auf den ich für The Whitest Boy Alive und Kings Of Convenience immer gegangen bin. Aber ich wollte eben mehr als das. Mehr Freiheit.

Klingt trotzdem, als würdest du sehr kontrolliert und reflektiert an die Musik rangehen.
Meistens schon. Denn Kontrolle und Reflexion sind extrem wichtig beim Musikmachen. Wenn man sich nur treiben lässt, wird man nie wissen, ob und wie ein Song funktioniert.

Wie weißt du denn, dass er funktioniert?
Wenn ich ihn mir zusammen mit meiner Band anhöre und währenddessen niemand etwas sagt. Das heißt, dass etwas mit den Leuten passiert. Also dass der Song funktioniert.

Isolation, hast du schon oft erklärt, wäre ein erprobtes Mittel für dich, dieses Ziel zu erreichen.
Viele der Texte sind in der Isolation entstanden.

Was passiert in der Isolation mit dir?
Erst mal bin ich ungestört. Ich kann in Ruhe meine Sachen machen und auch mal wirklich alles rauslassen. Das gilt vor allem für die Lyrics. In meinen Augen wird man niemals gute Lyrics schreiben können, wenn man sich ständig mit Leuten umgibt. Der Output ist einfach größer, wenn man für sich ist.

Isolation hilft dir also beim Schreiben. Was noch?
Deadlines. Ich brauche einen konkreten Zeitpunkt, wann ich fertig sein soll. Irgendwann will ich die Sachen auch mal beiseitelegen und es gut sein lassen können.

Irgendwelche Schreibroutinen?
Nein, so was habe ich überhaupt nicht. Es kann passieren, dass ich neun Monate lang kein einziges Wort schreibe. Ich schreibe immer nur dann, wenn ich auch etwas zu schreiben habe. Wenn Dinge passiert sind, die mich dazu bringen. Ich schreibe auch nie, während ich gerade ein Album aufnehme oder während der Tour. Ich vermeide es, Prozesse zu vermischen.

Auf dem neuen Album singst du: „I am so full of love, but also full of ideas.“ Heißt das, deine Kreativität hält dich manchmal vom wirklichen Leben ab?
Finde ich gut, diese Interpretation. Diese Zeile bedeutet aber einfach nur, dass ich wahnsinnig viele Ideen habe, wie ich die Menschen und die Welt um mich herum verbessern könnte. Und wenn mich jemand wirklich mal in seine Welt lässt, könnte es passieren, dass ich sie komplett verändern will. Obwohl da so viel Liebe in mir ist.

Wenn also jemand deine Liebe will, sollte er vorsichtig sein?
Ja, aber es kommt dann natürlich darauf an, von welcher Art Liebe wir sprechen, denn auch in einer normalen Freundschaft kann Liebe stecken. Grundsätzlich finde ich es aber super, dass Songzeilen wie diese irgendwann für irgendjemanden total viel bedeuten können, weil dieser jemand etwas ganz Bestimmtes darin sieht. Denn diese Zeilen sprudeln aus mir immer nur heraus – ohne dass ich selbst weiß, was sie für mich eigentlich bedeuten.

Woher der Hass? Mathe

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Wer schon einmal montagsmorgens um acht Uhr in einer Schule war (also die allermeisten), der weiß, was für ein hasserfüllter Ort das sein kann: Der Hass rieselt durch den Klassenraum, in den Staubwolken der Tafelkreide, er hockt hinter den Getränkepäckchen, die der Hausmeister auf dem Pausenhof aus seinem Kiosk verkauft, und er ist eingebrannt in den stinkenden Boden der Turnhalle. Die Holzstühle kommen einem um diese Zeit noch härter vor als sonst und wenn man Schüler ist, dann kann einem schon mal die Angst das Bein hochkrabbeln, dass das Leben mindestens genauso hart werden könnte. Die Schule, an so einem Montagmorgen scheint sie nur einen Zweck zu haben: die jungen Menschen schon einmal darauf einzustimmen, dass das Leben wenig zu bieten hat. Hauptsache man funktioniert, ist nützlich und hält durch, bis man irgendwann alt und dement wird und wenigstens nichts mehr merkt von allem.




 
Das klingt jetzt pubertär, klar. Aber das lässt sich so auch nur leicht sagen, wenn man kein Pubertierender mehr ist und nicht mehr zur Schule muss. Und nicht gleich auch noch Doppelstunde Mathe hat, das große Epizentrum des Schulhasses: Polynomdivision bei Frau Schlingen, mit ihren unangekündigten Tests und den hässlichen Blusen und blöden Witzen.
 
Während der andere Pubertätshass irgendwann vergessen, verdrängt oder wenigstens geleugnet wird, bleibt eines aus der Schule fürs ganze Leben: der Hass auf Mathe. Es gibt wohl kein Bekenntnis zur Unfähigkeit, für das man so viel Applaus, Konfettiparaden und Bundesverdienstkreuze einheimsen kann wie für den Satz „In Mathe, also da kann ich wirklich gar nichts.“ Und nicht nur das: Man finde es, fahren die Leute fort, sogar widerlich und abstoßend und müsse schreien, wenn einem zufällig irgendwo eine Formel über den Weg laufe. Den meisten Erwachsenen passiert das nur noch in Albträumen, nachdem sie zu viel schlechten Weißwein getrunken haben: Da müssen sie dann die Mathearbeit aus der 10. Klasse noch einmal schreiben und sterben tausend Tode. Der wichtigste Satz beim Mathe-Hassen ist aber dieser: „Ich habe das nie wieder gebraucht!“ Schnaubend-enttäuscht vorgetragen. Als habe man die Höllenqualen damals in der Schule nur überstehen können, weil einem versprochen wurde, dass man später im Leben hin und wieder eine Textaufgabe lösen muss, um weiterzukommen.
 
Das Problem ist natürlich schon länger bekannt. Inzwischen hat sich von Intellektuellen wie Hans Magnus Enzensberger bis zu den Vorsitzenden der örtlichen Handelskammern schon jeder dazu zu Wort gemeldet und den Missstand beklagt. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei gefährdet, rufen die einen, wenn nicht endlich dieser Mathe-Hass aufhöre! An den Hochschulen könnten die Erstsemester nicht einmal ihr Alter an den Fingern abzählen, rufen die anderen, und bald werden unsere Autos bei Nieselregen sofort explodieren, weil gute Ingenieure fehlen!
 
Also, wer hat daran Schuld? Woher der Hass auf Mathematik? Für den großen Mathematik-Liebhaber Enzensberger sind die Schulen dafür verantwortlich: Die öden Routinen, die man zu Beginn der Schulzeit lerne, sie verderben einem den Spaß: „Es ist so, als würde man Menschen in die Musik einführen, indem man sie jahrelang Tonleitern üben lässt. Das Resultat wäre vermutlich lebenslänglicher Hass auf diese Kunst.“
 
Das klingt plausibel, aber vielleicht spielt noch eine andere Sache eine Rolle. Warum bloß rufen die Mathehasser so gern ihren Schlachtruf „Ich habe das nie wieder gebraucht“? Oder, wie es ein beliebtes Internet-Mem formuliert: „Well, another day has passed . . . and I still haven’t used Algebra.“
 
Der Hass auf Mathe ist auch der Hass auf ein gebrochenes Versprechen – das Versprechen, das in Lehrer-Sätzen wie „Mathe steckt in allem“ und „Ohne Mathematik würde deine Playstation nicht funktionieren“ enthalten ist. Natürlich stimmt beides und niemand wird ernsthaft bestreiten, wie nützlich Mathematik ist – aber eben nicht für jeden auf eine so direkte Weise, wie einem ständig eingeredet wird. Ein aktuelles Mathe-Buch für die 10. Klasse hat eine Achterbahn auf dem Cover. Klar, zu Achterbahnen kann man sicher irgendwas Langweiliges berechnen – aber was hat das mit dem Spaß am Achterbahnfahren zu tun?
 
Vielleicht muss man ja radikal umdenken. Vielleicht macht genau das Mathe erst recht langweilig, für Pubertierende und Erwachsene: dass es nur noch eine Sache mehr ist, die man braucht, um in den Alltagsmühlen zu bestehen und auf harten Holzstühlen auszuharren. Noch etwas, das helfen soll, zu funktionieren – na toll, danke auch. Vielleicht sollte man die Mathematik dann besser in ihrer abstrakten Nutzlosigkeit feiern. „Ich habe nie etwas gemacht, was ,nützlich‘ gewesen wäre“, hat der Mathematiker Godfrey Harold Hardy einmal geschrieben. „Für das Wohlbefinden der Welt hatte keine meiner Entdeckungen – ob im Guten oder Schlechten – je die geringste Bedeutung, und daran wird sich auch vermutlich nichts ändern.“ Das klingt nach einer Herangehensweise für montagmorgens, acht Uhr in der Schule.

Rikscha-Tagebuch: Wir wurden wie sie!

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Es ist vorbei. Die vergangenen 16 Tage waren intensiv, aufregend, manchmal aber auch sehr anstrengend. Das Schlimmste waren nicht die betrunkenen Gäste. Die waren meistens angenehm zu fahren. Viele von ihnen waren froh, nicht mehr selbst laufen zu müssen. Völlig fertig und ihrer Koordination beraubt, lagen sie hinten in meiner Rikscha und bewunderten meine Arbeitsleistung. Andere Gäste waren total euphorisiert und bejubelten mich. Selbst diejenigen, die unangenehm wurden und sich in einer Machtposition wähnten, weil ich für sie in die Pedale trat, waren meistens auszuhalten. Dann schaltete ich einfach auf Autopilot und dachte an das Geld, das ich am Ende der Fahrt bekam.





Das wirklich Anstrengende an meiner Arbeit war die ständige Reizüberflutung. Die meisten Wiesn-Besucher sind auf der Suche nach dem ultimativen Rauscherlebnis. Ständig erlebt man extreme Situationen: Schlägereien, wild knutschende Paare, Menschen, die auf der Straße liegen und ihren Rausch ausschlafen. Überall um einen rum sind Leute, die aufs Ganze gehen oder bereits gegangen sind. Diese Stimmung übertrug sich auch auf uns Rikschafahrer. Überall blickte man in überanstrengte und müde Gesichter. Manche verloren die Nerven. Am Freitag soll ein Fahrer einem anderen Pfefferspray ins Gesicht gesprüht haben. Zwei andere haben sich angeblich geprügelt.

Auch ich habe diesen Überdruss bei mir gespürt. Am letzten Wochenende hatte ich langsam genug von all den blöd-glücklichen, berauschten Menschen, die in Tracht durch die Straßen laufen und „Atemlos“ grölen. Nach 16 Tagen Wiesn kann ich keine Menschen in Lederhosen oder Dirndl mehr sehen. Und trotzdem: Als ich den letzten Gast zu seinem Ziel gefahren hatte, bin ich nicht nach Hause gefahren. Ich habe mich nicht in mein Zimmer eingesperrt, mit dem Wunsch, eine Woche lang nicht unter Menschen zu gehen. Stattdessen habe ich mich mit anderen Rikschafahrern getroffen – und mich betrunken.

Die Rikscha-Party war ein seltsames Erlebnis. Menschen, die in den vergangenen Tagen mit lauter Betrunkenen konfrontiert waren, wurden in wenigen Stunden selbst zu diesen Menschen. Die meisten von uns unterschieden sich bald nicht mehr von den typischen Wiesn-Besuchern. Angetrieben von dem Bedürfnis, endlich die Sau rauszulassen und das Erlebte hinter sich zu lassen, wurden wir bald zu einer euphorische Menschenmenge. Wir waren betrunken und froh, es endlich geschafft zu haben.

Was hattest du an?

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Viele junge Frauen (und sicher auch einige junge Männer) sind ganz aus dem Häuschen, weil heute in Deutschland ein Buch erscheint, auf das sie warten, seit vor zwei Jahren bekannt wurde, dass die Autorin dafür dreieinhalb Millionen Dollar Vorschuss bekommen hat: Lena Dunhams autobiografische Essay-Sammlung „Not That Kind of Girl“. „A young woman tells you what she’s ‚learned’“ lautet der Untertitel (der leider mit „Was ich im Leben so gelernt habe“ übersetzt wurde) und ja, das erzählt sie wirklich: Liebe und Sex, Körper, Freundschaft, Arbeit, das sind die erwartbaren Bereiche, die sie abhandelt, aber eben auch die wichtigsten, wenn man erwachsen wird. Manchmal denkt man beim Lesen „Kenn ich!“, manchmal „Ach du meine Güte, zum Glück kenne ich das nicht!“ und immerhin fast nie „Laaangweilig!“ Der Mehrwert für den Leser ist so mittel, aber das Lesen erscheint, als würde man eine sehr, sehr lange „Girls“-Folge anschauen, darum werden viele junge Frauen (und sicher auch einige junge Männer), die „Girls“ mögen, sehr glücklich sein mit diesem Buch.  



Erinnerst du dich?

Während der Lektüre fällt aber vor allem ein Detail auf, das vielleicht bloß erfunden ist, aber von einem erstaunlichen Gedächtnis zeugt, wenn nicht: Lena Dunham kann sich sehr oft daran erinnern, welche Kleidung sie in bestimmten Situationen getragen hat. Zum Beispiel, als sie ihren Chat-Freund Igor das erste Mal im echten Leben treffen wollte. Da war sie in der neunten Klasse. Und trug, ihrer Erinnerung zufolge, ein Tanktop, eine Cargohose und eine eingelaufene Jeansjacke. Oder als sie ihre Affäre in einer Bar in Queens gedatet hat, da trug sie Netzstrümpfen und ein graues Kostüm. Oder als sie auf eine Geburtstagsparty ging, da trug sie ein schwarzes Kleid ihrer Mutter. Und immer so weiter.  

Vielleicht hat sie gut Buch geführt. Tagebuch. Oder, wie gesagt, alles erfunden. Oder sie hat immer sehr ausgefallene Sachen getragen. Oder sie hat in ihrem Gehirn eine Verbindung zwischen „Klamotten“ und „Gefühle“ – und wenn sie sich an wichtige Momente erinnert, dann ist an diese Erinnerung kein Geruch oder ein Song gekoppelt, sondern diese pinken Leggins, die sie damals trug.  

Bei mir funktioniert das überhaupt nicht. Keine Ahnung, was ich auf dieser einen Geburtstagsparty damals anhatte oder als ich verliebt war in diesen Jungen und eine Verabredung mit ihm hatte. Ich kann mich nur mit Mühe daran erinnern, was ich an meinem Abiball getragen habe, und welches Kleid ich am Morgen des 90. Geburtstags meiner Oma ausgesucht habe, das weiß ich nur, weil es ein Foto von der Feier gibt. Ich kann mich eher erinnern, welche Kleidungsstücke ich in einer bestimmten Phase besonders häufig getragen habe (eine zu große Cordjacke mit 13 und 14, einen Nietengürtel mit 15 und 16).  

Kannst du dich gut erinnern, was du wann anhattest? In welcher Jacke, welchem Kleid, welchen Schuhen du in einem wichtigen Augenblick stecktest? Und wenn ja, wieso ist deine Erinnerung damit verknüpft? Und wenn nein, wieso nicht?

Warnung vor der Männerquote

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Mehr Frauen auf Chefposten in Firmen und im öffentlichen Dienst, das ist eine der wichtigsten Missionen von Familienministerin Manuela Schwesig. Als Ostdeutsche, Mutter und Jüngste im Kabinett hat sie bekanntlich wenig übrig für Bedenken gegen die sogenannte Frauenquote. Einwände gab es da reichlich, erst aus der Wirtschaft, dann aus unionsgeführten Ministerien, die schon mit dem Wort „Frauenquote“ fremdeln. Auf den Barrikaden sind aber auch diejenigen, die eigentlich Schwesigs Mitstreiterinnen sein müssten: die Gleichstellungsbeauftragten der obersten Bundesbehörden. Sie warnen vor einer „Männerquote“ im öffentlichen Dienst, manche halten Schwesigs Gesetzentwurf sogar für „absolut unzureichend“.

Um zu verstehen, wogegen der Zorn sich richtet, sollte man wissen, dass das Gesetz, mit dem Schwesig mehr Frauen auf Spitzenposten befördern will, keineswegs nur die Förderung von Frauen vorsieht. Angestrebt wird die „gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen“ in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst. Im Klartext heißt das: Sind Frauen in einem Betriebsteil oder auf einer Hierarchieebene der Verwaltung in der Minderzahl, soll ihnen mehr Einfluss gesichert werden. Das gleiche gilt aber auch für Männer.



Bundesfamilienministerin Schwesig setzt sich für mehr Frauen in Führungspositionen ein.

Hier aber beginnt der Ärger. Denn wenn Männer in manchen Jobs selten sind, dann meist, weil diese schlechter bezahlt oder wenig attraktiv sind. Die Altenpflege etwa, den Sekretärinnenposten oder den Beruf der Grundschullehrerin meiden Männer nicht wegen Diskriminierung, sondern weil es attraktivere Jobs für sie gibt, sagt die Präsidentin des Deutsche Juristinnenbundes, Ramona Pisal: „Eine strukturelle Benachteiligung von Männern kann ich nicht erkennen.“ Die Förderung von Männern per Gesetz sei „überflüssig“. Pisal bewertet Schwesigs Gesetzentwurf grundsätzlich positiv und warnt davor, ihn zu zerreden. Immerhin schreibe er erstmals eine gesetzliche Quote fest. „Wir begreifen das als ersten Schritt“, sagt sie. „Aber wir hätten uns natürlich mehr gewünscht.“

Solche Töne sind in etlichen Verbänden zu hören, die bis Dienstag zu Schwesigs Referentenentwurf Stellung nehmen sollen. Gefragt sind da oft Frauenverbände, die seit Jahrzehnten für Gleichberechtigung kämpfen. Nach den bleiernen Jahren unter der Familienministerin Kristina Schröder (CDU) hofften sie auf einen Quantensprung unter SPD-Ministerin Schwesig – und stehen nun vor einem Entwurf, den nicht alle für einen Fortschritt halten.

Die schärfste Kritik kommt derzeit aus dem Interministeriellen Arbeitskreis der Gleichstellungsbehörden der obersten Bundesbehörden (IMA). Zu ihm gehören rund 150 Gleichstellungsbeauftragte des Bundes, unter ihnen die Gleichstellungsbeauftragte im Familienministerium, Kristin Rose-Möhring. Ein Statement zum geplanten Gesetz mag sie nicht abgeben, sie ruft lieber gar nicht erst zurück. Vielleicht weiß sie, dass wenig Lob dabei herauskäme.

Nach der jüngsten Stellungnahme der IMA, die der SZ vorliegt, halten die Gleichstellungsbeauftragten des Bundes das geplante Gesetz für hochproblematisch. Für Protest sorgt hier die Novellierung des Bundesgleichstellungsgesetzes, das Frauen im öffentlichen Dienst fördern soll. Dass nun „Männerförderung“ geplant sei, stoße auf „große Bedenken“, heißt es. Auch wenn Männer in manchen Bereichen unterrepräsentiert seien, bedürften sie „ keiner Förderung.“ Ministerin Schwesig sieht das anders: Eine gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter sei „zeitgemäß“, sagt sie.

Die Gleichstellungsbeauftragten lassen nicht locker. Ein „entscheidender Rückschritt“ sei, dass die bisher angestrebte Frauenquote von 50 Prozent im öffentlichen Dienst „verwässert“ werde, schreiben sie. Im alten Gesetz galten Frauen als unterrepräsentiert, wenn sie weniger als die Hälfte eines Arbeitsbereichs stellten. In Schwesigs Entwurf heißt es, bei dieser 50-Prozent-Quote seien „geringfügige Abweichungen in Höhe von bis zu fünf Prozent unschädlich“. Inakzeptabel, finden die Gleichstellungsbeauftragten. So werde der „paritätische Ansatz“ des Gesetzes untergraben, lange bevor das Ziel erreicht sei.

Und es gibt weitere Einwände. Auch in Zukunft sollen Gleichstellungsbeauftragte kein Klagerecht in der Sache erhalten. Werden sie bei einer Postenvergabe nicht gehört, können sie zwar klagen. Aufschiebende Wirkung hat eine Klage nicht. Der erfolgreiche Bewerber bleibt also auf seinem Posten. „Das ist der absolute Witz“, sagt Regine Mertens, Vorsitzende im Bonner Arbeitskreis der Gleichstellungsbeauftragten der Bundesbehörden. Wer mehr Frauen in Führungspositionen wolle, dürfe ihnen kein „stumpfes Schwert“ in die Hand drücken. Auch sei es ein Rückschritt, dass die Gleichstellungsbeauftragte nun „frühzeitig“ gehört werden soll. Bisher hieß es: zum „frühest möglichen Zeitpunkt“, also schon in der Planungsphase einer Personalentscheidung. Das Familienministerium hatte ursprünglich auch geplant, die Zahl der Gleichstellungsbeauftragten erheblich zu vergrößern. Das wurde kassiert, man hatte sich irgendwie verrechnet.

Monika Schulz–Strelow stößt leise Stoßseufzer aus, wenn sie an solche Geschichten erinnert wird. Sie ist Präsidentin der Initiative „Frauen in die Aufsichtsräte“, die am Donnerstag zu einer Tagung in Berlin lädt. Natürlich wird es da auch um Schwesigs Gleichstellungsgesetz gehen. 108 Dax-Konzerne müssen demnach von 2016 an eine feste Frauenquote von 30 Prozent in Aufsichtsräten erfüllen. 3500 etwas kleinere Betriebe müssen sich von 2015 an selbst zu einer Frauenquote verpflichten. „Da hätte ich mir Sanktionen bei Nicht-Erfüllung gewünscht“, sagt Monika Schulz-Strelow. „Aber wir sollten erst einmal froh sein, wenn die Sache gesetzlich geregelt ist.“

Mehr war nicht rauszuholen, vorerst, ist die Botschaft. Oder um es mit den Worten der Ministerin zusagen: „Ich gehe davon aus, dass es weiter Diskussionen gibt.“ Sie will nicht locker lassen bei der Quote, hat Manuela Schwesig neulich gesagt: „Viele haben sich mehr erhofft. Ich auch.“

Die Ökonomie der Liebe

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Man fragt sich das: Wenn eine Konferenz des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über Frauen, Karriere und Familie mit dem sperrigen Titel „Gender Studies Tagung“ mit mehr als tausend Anmeldungen doppelt überbucht ist; wenn man in das für diesen Donnerstag in der Deutschen Oper Berlin angesetzte Forum des Vereins „Frauen in die Aufsichtsräte“ seit langem nur noch über Warteliste hereinkommt: Deutet das eher auf Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen oder auf Verzweiflung über deren Abwesenheit hin? Es belegt zumindest, dass der Hunger nach Informationen, Strategien und Lösungen groß ist. Denn mit der Gender-Forschung verhält es sich offenbar wie mit den Erkenntnissen zu Demenz-Krankheiten: Die Diagnose verbessert sich stetig, Therapie oder gar Heilung scheinen weit entfernt zu sein.



Gleichstellung: Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist nötig

Dieses Missverhältnis hat Gründe. Ein wichtiger ist, dass ein Thema zunehmend rein ökonomisch betrachtet wird, in das große Fragen des Lebens hineinspielen, deren Antworten sich nicht einfach ausrechnen lassen. Es geht um Liebe, Ängste und um Gerechtigkeit. Und es ist ein Thema, das auch mit Umverteilung zu tun hat: von Macht, Geld, Fürsorge und Verantwortung. Eines also, bei dem es immer auch Verlierer gibt. Hinzu kommt, dass selbst in der Fachwelt oft nicht sauber unterschieden wird zwischen Familien- und Gleichstellungspolitik. Dabei ist die Verknüpfung klar: Gleichstellungspolitik ohne Familienpolitik wird nur schwer funktionieren. Familienpolitik alleine bedeutet aber noch lange keine Gleichstellungspolitik.

Die Ökonomisierung der Geschlechterfrage liegt im Trend. Sie passt zu einer Welt, in der alles erfasst und nach dem Effizienzprinzip bewertet wird. Natürlich kann man dankbar dafür sein, dass sich Frauenpolitik nicht länger in wahlweise kämpferischer oder angestaubter Rhetorik erschöpft, sondern es in den Mainstream der Ökonomie geschafft hat. Sowohl der Staat als auch die Unternehmen brauchen einen Business Case, wenn es um Millionen- oder Milliardeninvestitionen geht: in Krippen-, Kita-, Hort- und Altenpflegeplätze, Lohnersatzleistungen wie Eltern- oder Familiengeld, familienfreundliche Infrastruktur. Oder wenn Firmen ein Budget bereitstellen sollen für Coachings, Workshops, die Umstellung auf Lebensarbeitszeitmodelle und Mechanismen zur gerechten Personalauswahl. Jeder, der über Geld zu entscheiden hat, muss fragen: Rechnet sich das?

Und natürlich muss etwas passieren. Schließlich sind die Probleme seit Jahrzehnten klar, und wie kürzlich auf der Tagung von DIW und Friedrich-Ebert-Stiftung demonstriert wurde, ist die Beweislage erdrückend: Gender-Pay-Gap, Gender-Wealth-Gap, Gender-Pension-Gap – die Ökonomen kamen mit dem Klicken durch ihre Präsentationen kaum hinterher, so viele Tabellen hatten sie aufzubieten um zu belegen, dass Frauen weniger verdienen, weniger besitzen und im Alter weniger bekommen als Männer, insbesondere übrigens, wenn sie verheiratet sind oder waren und Mütter sind. Dies gepaart mit den Statistiken über Scheidungen, gescheiterte Beziehungen und Alleinerziehende legt nahe, dass der Staat ein Interesse daran haben muss, sich dem Gleichstellungsthema von der rechnerischen Seite zu nähern: Jede Frau, deren Finanzlage verbessert werden kann, ist ein Risiko weniger für die öffentlichen Haushalte und eine Einnahmequelle mehr, jedes Kind einer solchen Frau hat bessere Startchancen. Aber manchmal wird eben nur noch gerechnet. Und nicht mehr auf die Wirklichkeit geschaut.

Da ist zum Beispiel die Sache mit der Liebe. Der Staat kann damit naturgemäß nichts anfangen. Er baute bislang auf die Ehe als kleinste Versorgungs- und Verantwortungsgemeinschaft. Seitdem aber verblichene Liebe als Grund für die Auflösung dieser Gemeinschaft akzeptabel und finanzierbar geworden ist, hat der Staat ein Problem. Ihm bleibt praktisch gar nichts anderes übrig, als jeden Partner in einer Zweierbeziehung als jemanden zu betrachten, der für sich allein wirtschaftet. Schließlich trägt sonst der Steuerzahler viele der Folgekosten gescheiterter Ehen, insbesondere die Kosten von Armut. Die Rechtsprechung setzt heute schon voraus, dass jeder Partner nach einer Trennung schnellstmöglich eigenes Einkommen hereinholt. Regelungen wie das Ehegattensplitting sind Überbleibsel aus einer Zeit, in der häufig Pflicht und wirtschaftliche Logik Ehen zusammenhielten.

Das widerspricht aber fundamental dem Lebensgefühl vieler Paare. Sie betrachten sich nach wie vor als Lebensgemeinschaft und haben weder das Verlangen danach noch die Energie dafür, sowohl das Haushalts- als auch das Zeitbudget auf Cent und Minute genau aufzurechnen, um praktisch jederzeit für eine Trennung gerüstet zu sein. Sie wollen sich auf ihren Partner und ihre Partnerin verlassen – und der Statistik trotzen. Genau deswegen gibt es einen Graben zwischen dem, was Ökonomen und progressive Politiker als familienpolitisch richtig betrachten – Abschaffung von Ehegattensplitting und Betreuungsgeld – und dem, was viele Familien gut finden: Steuervorteile für Ehepaare und Geld fürs Betreuen der Kinder daheim.

In Partnerschaften, in denen Kinder leben oder Alte zu pflegen sind, wird es das nämlich immer geben: Der eine oder andere steckt mal mehr, mal weniger in der Karriere zurück, um für die Menschen da zu sein, die ihm meistens noch näher sind als der Chef, die Kollegen und die Kunden.

„Wir müssen über Liebe reden“ heißt denn auch ein Kapitel in dem jüngst erschienenen Buch „Die Alles ist möglich-Lüge“ von Susanne Garsoffky und Britta Sembach. Die Autorinnen belegen mit reichlich Material, dass die Rechnung für die meisten Paare nicht aufgeht: Mann macht Karriere, Frau macht Karriere, Kinder sind versorgt und glücklich. Nach der Analyse der Autorinnen kann das selbst bei schönstem Betreuungsangebot und auch in den oft als Vorbild genannten Familienparadiesen Frankreich und Schweden nicht klappen.

Liebe – zu den Kindern, dem Partner, pflegebedürftigen Eltern – braucht Zeit. Fakt ist aber, dass die neue Flexibilität in der Arbeitswelt, die gerne mit dem Stempel familienfreundlich versehen wird, dergestalt in die Familien einsickert, dass jede Stunde des Tages produktiv genutzt werden muss. Die häufig geforderte „Ergebnis- statt Anwesenheitskultur“ bedeutet eben auch: Hauptsache das Ergebnis fürs Unternehmen stimmt, egal um welchen persönlichen Preis. Und der heißt oft: Erschöpfung, Belastung der Partnerschaft, der Kinder, ständiges Krisenmanagement. Die Folgen davon tragen auch Staat und Gesellschaft.

Als familien- und gleichstellungspolitisches Mittel der Wahl gilt derzeit das Modell der reduzierten Vollzeitarbeit. Das geht etwa so: Wenn in einer Familie der Mann seine Wochenarbeitszeit von 40 auf 32 Stunden reduziere und die Frau ihre auf 32 Stunden aufstocke, sei dies kombiniert immer noch mehr Arbeitszeit, als wenn einer 40 Stunden und der andere null Stunden arbeite. Dies tue dem Staat gut, weil er zusätzliche Sozialbeiträge einnehme und der Familie auch, weil sich die Karrierelücken bei Mann und Frau in Grenzen hielten – was wiederum der Gleichstellung förderlich sei.

Aber die Argumentation hat Löcher. Man kann nämlich auch darüber nachdenken, dass der nicht erwerbstätige Partner bestimmt nicht herumgesessen hat. Die 24 Stunden, die zuvor für die Kinder, die Familie oder ehrenamtliches Engagement zur Verfügung standen, sind nur vom gesellschaftlichen in den betrieblichen Raum gewandert. Der Karriere mag das in dem einen oder anderen Fall nutzen. Aber wer leistet die zuvor unbezahlte Arbeit?

Wissenschaftler sprechen da von einer Fürsorge-Lücke. Denn all jene Stunden müssen natürlich nun von Erzieherinnen, Sozialarbeitern, Putzkräften oder Altenpflegerinnen übernommen werden. Man kann argumentieren, dass auch das die Wirtschaft stärkt. De facto bildet sich aber ein Betreuungsprekariat heraus, dass tendenziell von den schwächeren in die stärkeren Volkswirtschaften zieht. Die Fürsorge-Lücke entsteht bei den Schwächsten, aktuell zum Beispiel bei Kindern in Ländern wie Rumänien, die sich selbst überlassen sind, weil ihre Eltern im Westen Alte pflegen, Wohnungen putzen oder fremde Babys versorgen. Was in Entwicklungsländern schon lange üblich ist – arme Frauen versorgen die Kinder der Mittelschicht – wird in der Betreuungsgesellschaft zu einer Art globaler Klassenfrage.

Zu durchbrechen ist diese Entwicklung nur mit einem neuen Generationenvertrag. Und den können Staat und Unternehmen unterstützen. Die Politik muss Anreize dafür entwickeln, Menschen jenseits der Rentengrenze in gesellschaftliche Aufgaben einzubinden. Viele Senioren sind noch voller Energie und leiden darunter, nicht mehr gebraucht zu werden. Ihre Kraft könnte dort eingesetzt werden, wo sie der jüngeren Generation fehlt.

In den Firmen wiederum muss es einen Kulturwandel geben. Mütter und Väter dürfen nicht für familienbedingte Auszeiten haftbar gemacht werden, späte Karrieren müssen möglich sein. Dazu gehören aber Einstellungs- und Beförderungsprozesse, in denen das Alter keine so große Rolle mehr spielen darf wie bislang. Dies ist schwierig in einem recht inflexiblen, von Besitzständen geprägten System wie dem deutschen, in dem die ältere Arbeitskraft automatisch die teurere ist. Aber je ausgeprägter der Jugendkult, desto komplizierter wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Arbeitszeit-Modelle hin oder her.

Der allerbeste Generationenvertrag wird allerdings kaum dazu beitragen, den Anteil von Frauen in Top-Positionen maßgeblich zu erhöhen. Dazu bedarf es wieder ganz anderer Modelle. Und die haben mit dem Brechen von Machtstrukturen zu tun.

Falscher Optimismus

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Wenn von Umweltpolitik die Rede ist, geht es in Deutschland meist um Klimapolitik. Doch der Klimawandel und die Übernutzung der fossilen Brennstoffe, deren Verbrauch den Klimawandel maßgeblich auslöst, sind nicht die einzigen Umweltprobleme. Es gibt beispielsweise auch eine übermäßige Inanspruchnahme von Wasser, Natur, Böden und Metallen, die spätestens mittelfristig zu existenziellen Knappheitslagen zu führen droht. Diese Probleme betrachtet das neue Buch des Umweltforschers Friedrich Schmidt-Bleek, der sich seit Jahrzehnten Ressourcenproblemen widmet.

Der übermäßige Ressourcenverbrauch liegt nicht etwa in erster Linie am weltweiten Bevölkerungswachstum. Entscheidend sind vielmehr der hohe Wohlstand in den Industriestaaten und seine schrittweise Übernahme durch die Ober- und Mittelschichten in Schwellenländern wie China. Schmidt-Bleek hat zu diesen wichtigen Themen einiges zu sagen. Von der Lektüre sollte man sich nicht durch gelegentliche Eitelkeiten in der Darstellung sowie den populistischen Titel abschrecken lassen.



Blockheizkraftwerk in Berlin: Deutschland könnte besser sein im Klimaschutz

Entlarvungsformeln über „grüne Lügen“ und angeblich daran allein schuldige Politiker und Unternehmen mögen vielen gefallen, doch sind sie zu einfach, da Politiker und Unternehmer sich mit Wählern und Konsumenten gegenseitig beeinflussen. Inhaltlich hat Schmidt-Bleek dennoch in wichtigen Punkten recht. Umweltschutz, so seine Hauptthese, ist nicht nur Klimaschutz. Und auch beim Klimaschutz stünden Deutschland und die EU keineswegs an der Spitze, sondern würden sich oft in die Tasche lügen. Damit liegt er richtig: Unsere Emissionen verweilen absolut auf hohem Niveau, und die Emissionsreduktionen sind oft bloße Verlagerungen in andere Bereiche. Beispielsweise sind manche klimafreundliche Produkte im Verbrauch sparsamer, dafür aber in der Herstellung umso energieintensiver.

Schmidt-Bleek illustriert solche in der Politik, der Öffentlichkeit und teils auch in der Wissenschaft ignorierten Befunde näher. Biosprit und Elektroautos etwa dienen in mancher Hinsicht nur vordergründig dem Klimaschutz: In der Summe setzen sie schlimmstenfalls mehr statt weniger Klimagase frei. Beide Innovationen verbrauchen auch jede Menge Natur beziehungsweise seltene Metalle. Das Elektroauto in seiner bisherigen Form erzeugt zudem viel giftigen Abfall. Schmidt-Bleek sucht daher – seit Jahrzehnten – nach einer Gesamtumweltbilanz für Produkte. Er bringt sie auf eine einfache Formel: den Material-Input pro Serviceeinheit, kurz MIPS. So soll errechnet werden, was für Herstellung, Nutzung und Entsorgung an Umweltverbrauch auftrete.

Schmidt-Bleeks Forderung lautet also: Man muss bei Produkten und Tätigkeiten immer eine optimale Gesamtbilanz in puncto Klimaschutz und auch generell in puncto Umweltschutz anstreben. Es stimmt: Wenn ein Produkt in der Nutzung zum Beispiel weniger Klimagase ausstößt, dafür aber umso mehr in der Produktion verschlingt, dann ist das keine gute Lösung. Doch ist das Ganze nicht so einfach, wie es Schmidt-Bleek propagiert. Denn verschiedene Umweltschäden lassen sich untereinander nicht so einfach vergleichen, und manche sind schlimmer als andere.

Zu optimistisch erscheint ferner Schmidt-Bleeks Vorstellung, auf rein technischem Wege die Ressourcennutzung auf ein verträgliches Maß zu begrenzen. Zwar sind technische Optionen wie eine effizientere Ressourcennutzung und der Umstieg von endlichen auf erneuerbare Ressourcen richtig und wichtig. Dass die Ressourceneffizienz in allen Lebensbereichen relativ rasch um den Faktor zehn erhöht werden könnte, dürfte jedoch eine gewagte Hoffnung sein.

Damit zeigt sich, dass ein zentraler Punkt bei Schmidt-Bleek fehlt: Probleme wie der Klimawandel sind vielleicht gar nicht auf ausschließlich technischem Wege zu lösen. Dafür sind die Herausforderungen vielleicht schlicht zu groß – nötig ist auch, dass wir alle uns anders verhalten. Also nicht nur effizienter Auto fahren, sondern einfach auch weniger Autos haben. Weniger haben könnte dann aber heißen: Abschied von der Wachstumsgesellschaft nehmen. Das muss nicht einmal die Bilanz unserer Lebensqualität verschlechtern.

An der Endlichkeit des Planeten Erde, die ewiges Wachstum naturgemäß unwahrscheinlich macht, kann die Menschheit wenig ändern. Man sollte also nicht wie Schmidt-Bleek noch mehr wirtschaftlichen Erfolg versprechen. Das stimmt allenfalls beim Umweltschutz durch technische Neuerungen, denn die kann man verkaufen. Ein bisschen recht hat er trotzdem: Sich kontrolliert zu beschränken, ist auch rein wirtschaftlich betrachtet wohl klüger, als Kriege um Ressourcen zu riskieren.

Natürlich ergeben sich Folgefragen: Unter welchen Bedingungen ist ein gesellschaftlicher Wandel überhaupt möglich? Und was wären wirksame politische Maßnahmen für einen breit angelegten Umweltschutz? Erstere Frage lässt Schmidt-Bleek ganz aus, letztere beantwortet er mit einem prinzipiell treffenden Hinweis: Man müsse endlich umfassend Ressourcenpolitik und nicht nur Klimapolitik betreiben, etwa indem der Ressourcenverbrauch durch Abgaben verteuert wird. Dass man dies international organisieren müsste, um nicht wieder nur Probleme ins Ausland zu verlagern, und mit welchen Tricks man unwillige Staaten ins Boot holen könnte, wird leider nicht behandelt. Auch bleibt unbeantwortet, wie mögliche soziale Verteilungsfragen gelöst werden sollen, die sich ergeben, wenn der Staat Ressourcen planmäßig verteuert.

Trotz all dieser zentralen Auslassungen ist Schmidt-Bleeks Buch ein äußerst lesenswerter Weckruf zur rechten Zeit für all die, die glauben, Deutschland sei auch beim Umweltschutz weltmeisterlich.

Friedrich Schmidt-Bleek: Grüne Lügen: Nichts für die Umwelt, alles fürs Geschäft – wie Politik und Wirtschaft die Welt zugrunde richten. Ludwig, München 2014. 301 Seiten, 19. 99 Euro

Da will ich hin!

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Es lässt sich sicher streiten über den richtigen Ort für so ein einschneidendes Lebensereignis, aber im Flugzeug rechnet man wohl eher selten mit einer Lebensehrung. Als der Sekretär des Nobelpreiskomitees am Montagmittag im schwedischen Karolinska-Institut ans Pult trat, um die ersten Laureaten der diesjährigen Nobelpreise bekannt zu geben, saß der norwegische Neurobiologe Edvard Moser jedenfalls in einem Flieger Richtung München – allein, seelenruhig, das Handy brav ausgeschaltet und nichts ahnend, dass er sich mit seiner Ehefrau May-Britt jetzt eine Hälfte des diesjährigen Medizin-Nobelpreises teilen darf.

Die andere Hälfte der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung erhält der in Großbritannien forschende Neurobiologe John O’Keefe. Gemeinsam haben die Forscher grundlegende Erkenntnisse zu zwei existenziellen Fragen gewonnen, die sich nicht nur Flugzeugpiloten, Autofahrer und morgendlich Erwachende andauernd stellen, sondern von der Bakterie bis zum Säugetier auch jede andere Kreatur auf diesem Planeten: Wo bin ich? Und wo muss ich jetzt hin?



Edvard Moser wird mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet

Bereits in den 1970-Jahren hatte der gebürtige US-Amerikaner O’Keefe in Versuchen an Ratten herausgefunden, dass es für das „Wo?“ offenkundig spezialisierte Zellen gibt: Wann immer sich die Tiere an einem bestimmten Ort aufhielten, wurden in einer fürs Gedächtnis wichtigen Region des Gehirns, dem Hippocampus, ganz spezifisch die gleichen Nervenzellen aktiviert. O’Keefe nannte diese Neuronen Platzzellen und gemeinsam mit seinem Kollegen Lynn Nadel kam er, damals noch an der McGill University in Montreal forschend, zu dem Schluss, dass diese besonderen Zellen anhand von Landmarken biologische Karten erstellen und speichern können.

Jede Platzzelle wird dabei fix einem bestimmten Merkmal der jeweiligen Umgebung, einer sogenannten Landmarke, zugeordnet. Während O’Keefe und Nadel sich noch mit Experimenten an Labornagern begnügen mussten, ermöglichten invasive Behandlungsmethoden an Epilepsiepatienten in den vergangenen 15 Jahren endlich auch den Nachweis von Platzzellen im menschlichen Gehirn. Tatsächlich scheinen sie auf die gleiche Weise zu funktionieren, wie es zuvor in anderen Säugetieren gezeigt worden war.

Als O’Keefe schon mitten in seinen Forschungen über das „Wo?“ steckte, gingen May-Britt und Edvard Moser noch zur Schule. Sie lernten sich erst in den 1980er Jahren kennen, als sie an der Universität von Oslo Psychologie studierten und mit großem Ehrgeiz ein Ziel verfolgten: Sie wollten eine Brücke schlagen zwischen der reinen Verhaltensforschung und der biologischen Struktur des Gehirns.

Nachdem das Paar unter anderem mit John O’Keefe in Edinburgh zusammengearbeitet hatten, gingen die Mosers zurück nach Norwegen, an die Universität von Trondheim, wo ihnen 2005 schließlich der zweite entscheidende Schritt im Verständnis der räumlichen Orientierung gelang. Die Forscher fanden eine weitere Klasse spezialisierter Zellen, sogenannte Rasterzellen. Anders als Platzzellen ist die Aktivität dieser Zellen nicht an bestimmte auffällige Eigenschaften – also Landmarken – in der Umgebung gebunden. Sie scheinen stattdessen ein inneres Raster aus Koordinaten zu formen, eine Art eingebautes Navigationssystem, das unter anderem Informationen über die Lage von Kopf und Extremitäten verarbeitet. Gemeinsam mit den Platzzellen vermittelt es Säugetieren nicht nur, an welchem Ort sie sind. Sondern auch, woher sie kommen und wohin sie gehen.

Besonders große Freude löste die Ehrung für John O’Keefe bei einigen Kollegen aus. So erinnerte sich der emeritierte Oxford-Physiologe John Stein am Montag daran, wie skeptisch O’Keefes Erkenntnisse in der Fachwelt zunächst aufgenommen worden waren. Einige Kollegen hätten die Entdeckung der Platzzellen als „Artefakt“ bezeichnet. O’Keefe sei außerdem bezichtigt worden, den Geruchssinn von Ratten unterschätzt zu haben. „Heute, wie bei vielen Ideen, die zunächst sehr kontrovers waren, sagen die Leute: Ja, das ist doch klar!“

Auch deutsche Wissenschaftler sehen den Preis bei den drei Preisträgern gut aufgehoben: „Die Entdeckung dieser zwei Zelltypen hat die entscheidende Grundlage für das Verständnis der Orientierung von Säugetieren geschaffen“, sagt Tobias Meilinger vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Er erforscht dort die Orientierung von Menschen in Alltagsumgebungen. Beim Menschen allerdings, da ist sich der Forscher sicher, spielen noch einige besondere Eigenschaften eine Rolle für die Orientierung. „Wie diese einzelnen Zellen zum Verhalten beitragen können, bleibt sicher noch für viele Jahren ein spannendes Forschungsfeld“, sagt Meilinger.

Obwohl die Zellen allein die enormen Fähigkeiten vieler Säugetiere vermutlich kaum erklären können, sich im Raum zu orientieren – wie zum Beispiel Fledermäuse, die in völliger Dunkelheit durch komplizierte Höhlensysteme fliegen können – sind sich Forscher über die Bedeutung der Arbeiten der Mosers recht einig. Schon vor vier Jahren äußerte sich vor allem der bekannte amerikanische Neurowissenschaftler Eric Kandel begeistert über ihre Erkenntnisse. Er bewundere die Arbeit der beiden ganz außerordentlich, sagte er damals der New York Times.

Für Edvard Moser allerdings war wohl nicht wirklich klar, dass er und seine Frau heiße Kandidaten für die wichtigste Trophäe der Wissenschaft waren. Als er am Montag schließlich in München landete, soll ihm eine Frau einen Blumenstrauß überreicht haben. Er habe einen Preis gewonnen, sagte sie, sie wisse aber nicht welchen. Er wusste es auch nicht. Erst als er einen Anruf seines Münchner Kollegen Tobias Bonnhoeffer vom Max Planck Institut für Neurobiologie auf seinem Mobiltelefon entdeckte, sei es ihm allmählich gedämmert, berichtete Moser auf einer eilig einberufenen Presse-Konferenz am Institut in Martinsried. Nicht allein diese Ahnungslosigkeit macht den Preis für die Mosers besonders. Sie sind in der Geschichte der Nobelpreise erst das vierte Ehepaar, das gemeinsam für seine wissenschaftliche Leistung ausgezeichnet wird, und sogar erst das zweite Paar, das den Nobelpreis für Medizin zusammen erhält.

Die Befürchtung, er werde nun den ersten Flieger nach Oslo zurück nehmen, um am gleichen Ort mit seiner Frau feiern zu können, konnte er den Kollegen nehmen. Moser wird im kommenden Monat als Gastforscher in München gemeinsam mit Bonhoeffer einen genaueren Blick auf die Rasterzellen im Gehirn werfen, und zwar mit speziellen Mikroskopen, mit denen sich die einzelnen Neuronen genau untersuchen lassen.

Die neuen Methoden werden auch zeigen, inwieweit das innere Navigationssystem bei Menschen zur Orientierung beiträgt. Und ob sich das Prinzip der Rasterzellen womöglich auch auf andere Prozesse der Informationsverarbeitung übertragen lässt. Denn das, was der Neurobiologe und seine Frau May-Britt entdeckt haben, hält Moser erst für „die Spitze eines Eisbergs“.

Mit der Sprache der Gewalt

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Es wird immer grausamer und gruseliger in der Schlacht um Mexiko, die Brutalität kennt längst keine Grenzen mehr. Da verschwinden in einem der wichtigsten Industriestaaten der Welt auf einmal 43 Studenten. Erst werden die Demonstranten von Gemeindepolizisten beschossen, dann nehmen die Uniformierten sie mit. Nun tauchten verkohlte Leichen in versteckten Massengräbern auf. Die Reste von vorläufig 28 Toten wurden am Rande der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero gefunden, die Zuordnung kann lange dauern. „Die Opfer wurden auf Zweige und Stämme gelegt und mit einer schnell entzündbaren Substanz bespritzt, also Diesel, Öl oder Benzin“, berichtete der Staatsanwalt Iñaki Blanco. Aller Wahrscheinlichkeit sind darunter Vermisste dieser neuesten Horrorgeschichte, die am 26.September begann.



In der mexikanischen Stadt Iguala kümmern sich nach der Massenerschießung von Studenten  Bundespolizisten um die Sicherheit.

An dem Tag hatten die Lehramtskandidaten aus dem Weiler Ayotzinapa im nahegelegenen Iguala angeblich zwei Busse besetzt. Sie wollten damit zu einer Gedenkfeier für den Massenmord von Soldaten und Sicherheitskräften an Universitätsstudenten 1968 in Mexiko-Stadt reisen, die Metropole liegt ungefähr 180 Kilometer nordöstlich. Zunächst feuerten Bewaffnete aus unbekannten Gründen auf die Männer und nahmen ein weiteres Fahrzeug unter Beschuss. Sechs Menschen starben sofort, darunter auch ein Busfahrer, ein 15 Jahre alter Fußballspieler und eine Frau in einem Taxi, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren. 44 Studenten wurden offenbar von Polizisten mit Verbindung zu der kriminellen Bande Guerreros Unidos (Vereinte Krieger) verschleppt.

Tags darauf präsentierten Gerichtsmediziner zunächst den schrecklich verstümmelten Julio César Mondragón, er hatte vergeblich versucht wegzulaufen. Die Mörder zogen ihm die Gesichtshaut ab und stachen ihm die Augen aus, sadistischer Terror ist die Regel im Krieg der Drogendealer und Entführer im Süden der USA. Die Kartelle des organisierten Verbrechens kommunizieren auf diese Weise. Sie köpfen und hängen auf, sie zersägen und lösen ihre Beute in Salzsäure auf. Es ist die Sprache von Gangs wie den Zetas, einer ehemaligen Eliteeinheit der Armee, den Tempelrittern oder eben dieser neuen Splittergruppe Unidos de Guerrero und ihrer staatlichen Kumpanen. Es geht um Routen und Märkte für Kokain, Marihuana und Pillen, um Piraterie, Prostitution, Waffenhandel und Menschenschmuggel. Es geht um Abschreckung. Um Geld und Macht. Ein Kampf, der Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat, viele sind verschwunden.

Die westliche Region Guerrero mit dem berühmten Seebad Acapulco und der ebenfalls viel besuchten Silberstadt Taxco ist dabei ein besonders umkämpftes Revier in diesem Gemetzel. Die Gegend liegt strategisch günstig zwischen Pazifik und Mexiko-Stadt, allein im Touristenhafen Acapulco wurden in den vergangenen Tagen 16Morde gezählt. Es ist die derzeit wohl gefährlichste Großstadt Mexikos, zuletzt traten zum Beispiel Söldner in den Frühstücksraum eines Hotels und streckten einen Spitzenpolitiker neben seiner Familie nieder. Und fünf Passanten wurden auf einer Straße getötet wie Vieh, darunter zwei Lehrerinnen. Niemand half ihnen, das ist der Alltag an den ständig wechselnden Schauplätzen des Schreckens.
14 von zunächst mehr als 50 Studenten tauchten wieder auf, dafür fahndete man auf einmal auch nach dem Bürgermeister von Iguala. 22 Polizisten wurden derweil festgenommen, sie gelten als Verbündete der Guerreros Unidos oder gar als deren Mitglieder. Zwischen organisiertem Verbrechen und staatlicher Schutzmacht besteht oft kaum ein Unterschied, die schlecht bezahlten Ordnungshüter haben sich zu Tausenden der besser bezahlenden Mafia angeschlossen. „Plata oplomo“, Geld oder Kugel. Zeugen unter den Verhafteten sollen laut der Justiz bestätigt haben, dass die verdächtige Polizeieinheit mindestens 17 Studenten an einen Hügel bei Iguala gebracht und dort getötet hat. Das Kommando stammte offenbar von einem Anführer der Guerreros Unidos, der den Namen „Chucky“ trägt. Doch wieso traf es junge Unbeteiligte, die gelegentlich Straßen sperren, aber ansonsten Lehrer werden wollten? „Welche Leute können so etwas tun?“, fragte ein Überlebender.

Solche Fragen stellt sich Mexiko, doch man kennt die vage Antwort – manche Landstriche Mexikos werden von Killern beherrscht. Die Behörden sind katastrophal unterwandert, auch der neue Präsident Enrique Peña Nieto bekommt die Tragödie trotz seiner Reformen und strahlenden Auftritte nicht in den Griff. Er fordert den Gouverneur von Guerrero dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. Spezialisten identifizieren derweil die entstellten Körper von Iguala und suchen nach den übrigen Studenten.

„Komplett irrsinnig“

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Längst wird in manchen Ländern berechnet, ob ein Mensch noch wertvoll genug ist, um ihm eine medizinische Behandlung zuteilwerden zu lassen. Der Dokumentarfilmer Peter Scharf hat nachgeforscht, was er selbst wert ist und festgestellt, dass diese Frage zwar durchaus kuriose Aspekte birgt, rasch aber erschreckende Dimensionen erreicht. Sein Film „Was bin ich wert“ kommt am 9. Oktober in die Kinos.

SZ: Herr Scharf, Sie haben über Monate Ihren eigenen Wert recherchiert – wie hoch ist er denn?
Peter Scharf: Realistisch ist wohl ein kleiner einstelliger Millionenbetrag – irgendetwas zwischen ein und zwei Millionen Euro.

Das ist aber eine große Spanne...
Weil die Berechnungsmethoden so unterschiedlich sind. Wenn ich nur Modelle berücksichtige, die auch tatsächlich von Unternehmen und Regierungen verwendet werden, kommt ich auf etwa 1,1 Millionen Euro. Und wenn ich alle irgendwie gerade noch akzeptablen Theorien verwende, lande ich bei gut zwei Millionen Euro, aber das ist eigentlich schon nicht mehr in Ordnung, weil dann auch so kuriose Zahlen wie mein Materialwert einfließen, den mir ein Apotheker ausgerechnet hat.

Auf welche Summe kommt der?
Zwischen 1500 und 1600 Euro. Die gut 16 Kilo Kohlenstoff bringen mit 1100 Euro am meisten.



Der Wert eines Lebens lässt sich mathematisch berechnen.

Doch jenseits solcher eigentümlichen Zahlen – womit rechnen offizielle Stellen, wenn es um den Wert eines Lebens geht?
Die Ökonomen berücksichtigen dafür vor allem das Alter, das Aufschluss darüber gibt, wie viel Geld ich in meinem Leben noch erwirtschaften kann, den Gesundheitszustand, den Bildungsgrad, zuweilen auch die Zahl der Kinder, wenn es um den Wert eines Menschen als Versorger geht.

Welche Länder setzen solche Konzepte besonders offensiv ein?
Vor allem die angelsächsischen Länder arbeiten schon sehr konkret mit solchen Modellen. Im britischen Gesundheitswesen etwa wird ausgerechnet, ob ein Leben angesichts bereits vorhandener Erkrankungen oder fortgeschrittenen Alters noch so wertvoll ist, dass es die Behandlungskosten der Behandlung rechtfertigt.

Was ist ein gesundes Lebensjahr in Großbritannien wert?
Zwischen 20000 und 30000 Pfund. Multipliziert man die Zahl mit der jeweils noch vorhandenen Lebenserwartung, ergibt sich der Wert des Restlebens. In Schweden soll ein ähnliches System eingeführt werden und einzelne Elemente wohl auch in Deutschland.

Ist das ökonomischer Zynismus? Oder nur Transparenz für etwas, was es eh schon überall gibt?
Auch bei uns wird natürlich mit Budgets gearbeitet, oft aber ist unklar, wann die greifen. Hier sagt man vielleicht einem 75-Jährigen im Krankenhaus: „Die Hüftoperation wirst du wahrscheinlich nicht überleben. Lass das mal lieber.“ Tatsächlich steckt jedoch – womöglich – der Gedanke dahinter: Du bist 75, ökonomisch ist es nicht mehr sinnvoll, dich zu operieren. So gesehen ist das System in Großbritannien in seiner Transparenz ehrlicher. Gleichzeitig gelangt man aber in einen Bereich, der komplett irrsinnig ist.

Warum irrsinnig?
Weil in England nicht nur der Wert eines Lebensjahres berechnet wird, sondern mit statistischen Methoden auch die Lebensqualität definiert wird – unabhängig davon, wie es einer Person tatsächlich geht. Da steht man dann plötzlich vor Fragen wie: Können Lebensjahre eines Menschen mit Behinderung noch mit der höchsten Summe bewertet werden? Oder wird allein schon für die Behinderung ein Zwangsabschlag vorgenommen?

Wer antwortet auf solche Fragen?
In Großbritannien das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), ein Institut, das sich in Deutschland noch am ehesten mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitsweisen vergleichen ließe. Dem NICE geht es aber nicht um einzelne Fälle. Es bestimmt grundsätzlich, welche Therapien Kranke erhalten können, und welche zu teuer sind.

Wie läuft so etwas ab?
Gesundheitsökonomen befragen zum Beispiel einige Tausend Menschen mit Brustkrebs, wie sie ihre Lebensqualität bewerten, und legen anschließend für eine solche Krankheit Parameter fest. Nur diese Statistiken zählen dann, nicht aber, wie die tatsächlich Betroffenen ihre Situation selbst einschätzen. Die Konsequenz: Der Patient kann noch so zufrieden mit seinem Leben sein – im Extremfall bestimmt die Statistik, ob er noch weiterleben darf.

Was sagen die Patienten, denen eine Operation verweigert wurde, selbst dazu?
Es war überraschend schwierig, welche zu sprechen: Es ist uns in der Zeit dort nicht gelungen. Wir hatten es über drei Patientenorganisationen probiert, doch die wehrten ab. Möglicherweise wollen sie sich nicht gegen die staatliche Gesundheitspolitik stellen, weil sie befürchten, dass das für ihre Verbände Nachteile haben könnte.

Gibt es eine Berechnungsmethode, die Ihnen mehr zugesagt hat als die britische?
Am meisten beeindruckt hat mich das sogenannte Modell vom Wert eines statistischen Lebens, weil dort die Menschen – anders als in Großbritannien – im Grunde selbst ihren Wert schätzen. Es ist absurd spekulativ und zugleich unheimlich simpel. Es wurde von dem US-Ökonomen Kip Viscusi entwickelt und wird vor allem in den Vereinigten Staaten eingesetzt.

Wie funktioniert das?
Ein vereinfachtes Beispiel: Man bittet Leute, sich vorzustellen, dass sie jeweils einer von 10000 Menschen in einem Fußballstadion wären. Bis zum Ende des Spiels werde einer sterben, jeden könne es treffen. Die Frage an sie ist dann: „Wie viel würden Sie zahlen, um nicht dieser eine zu sein?“ Im ersten Moment sagen die meisten: „Alles.“ Dann denken sie kurz nach und korrigieren sich: „Nicht alles“, weil das Risiko ja gar nicht so groß ist, nennen aber beispielsweise 500 Euro. Wenn diese Summe jeder der 10000 in dem Stadion nennen würde, läge der Wert eines Lebens rechnerisch bei fünf Millionen Euro.

Ist diese Methode weit verbreitet?
Sie ist überaus populär, in den Vereinigten Staaten müssen sogar viele Organisationen mit ihr arbeiten. Etwa wenn es darum geht, Neuerungen im Verkehr einzuführen, die einerseits Leben retten, andererseits viel Geld kosten. Diese Methode hat einige Besonderheiten: Die errechneten Werte passen sich von ganz allein an die jeweilige Region an, weil Menschen in reicheren Gegenden mehr für ein Leben zahlen als in ärmeren. Bemerkenswert ist aber auch, dass weiche Faktoren wie Ängstlichkeit in diese harten Finanzentscheidungen ebenfalls einfließen.

Wird so auch in Deutschland der Wert eines Lebens berechnet?
Es gibt hier Organisationen, die ähnlich arbeiten. Das Umweltbundesamt rechnet beispielsweise mit einer Summe von 50000 bis 75000 Euro für ein Lebensjahr. Allerdings ist dieser Wissensstand schon vier Jahre alt. Mein Co-Autor Jörn Klare, der zu diesem Thema schon mal ein Buch veröffentlicht hatte, sprach die Behörde seinerzeit darauf an. Danach wollte das Umweltbundesamt nicht mehr mit einem reden.

Warum nicht?
Möglicherweise aus Angst vor ethischen Tretminen.
Es gibt Ökonomen, die haben keine Sorge vor Tretminen und argumentieren, dass die Menschen mit ihrem Körper machen können, was sie wollen. Sollen Menschen ihre Organe verkaufen dürfen?
In Iran ist es erlaubt, teilweise auch in Israel. Doch meine Erfahrungen mit diesem Thema waren überaus bedrückend. Ich habe in Moldau Menschen getroffen, von denen ich zunächst angenommen hatte, dass sie ihre Organe freiwillig verkauften. Doch dann zeigte sich, dass alles ganz anders war, dass ihnen in der Türkei Arbeit versprochen und sie dann zu Operationen gezwungen wurden. Die können heute kaum mehr arbeiten. Und dann ist da das Schamgefühl und die Demütigung, dass ihnen etwas genommen wurde. Totale Resignation. Das sind die Opfer einer total durchökonomisierten Welt.

Hat die Auseinandersetzung mit dem Thema Ihr eigenes Denken verändert?
Mir ist deutlich geworden, wie intensiv sich Menschen auf so vielen Ebenen mit diesem Thema beschäftigen und welche Bedeutung der ökonomische Wert eines Menschen hat. Da geht es schnell auch um die Rolle des Selbstwertgefühls: Was passiert mit mir, wenn ich in dieser Gesellschaft krank oder arbeitslos werde und meinen Wert verliere? Es erschreckt mich, dass ein solcher Wertverlust nicht nur von mir selbst wahrgenommen wird, sondern auch von der Gegenseite – ganz offiziell. Und er hat dann leider sehr viele reale Auswirkungen: Meine Kreditwürdigkeit sinkt, meine medizinische Versorgung wird schlechter. Ein Wertverlust kann sehr schnell sehr bedrohlich werden. Und er macht deutlich: Ich bin mühelos austauschbar.
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