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Kosmoshörer (Folge 31)

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Montag:
Endlich beginnt mein Praktikum bei jetzt.de. Die vergangenen Wochen waren eher langweilig, da ich bisher kaum jemanden in München kenne. Jetzt freue ich mich auf eine produktivere Zeit und erlebe einen lockeren ersten Tag in der Redaktion. Auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn denke ich mir: So kann es weitergehen! Ich habe gute Laune und daran ändert auch der nahende Herbstanfang nichts. Perfekt zu dieser Stimmung passt:  

http://www.youtube.com/watch?v=6_-QRhwSF7I  

Herrlich arrogant und Gute-Laune-Garant ist für mich derzeit auch das neue Lied von Trailerpark, in dem es kurz gesagt um das langweilige Leben als ungebildeter Superstar geht (Achtung, Ironie).

Aber hört und seht selbst:  

http://www.youtube.com/watch?v=tywkWRsjGbY  

Dienstag:
Die Woche geht musikalisch weiter. Für jetzt.de darf ich in der Rubrik „5 Songs“ neu erschienene Lieder und Stücke aus neuen Alben vorstellen, die ich mag. Bei meiner ausgeprägten Leidenschaft für Hip-Hop muss ich mich zusammenreißen, um andere Musikrichtungen nicht zu vergessen. Begeistern kann ich mich besonders für ein Lied des britischen Trios Zoot Woman: „Chemistry“ ist Elektropop vom Feinsten. Bei elektronischer Musik mag ich es sowieso sanfter, deswegen kommt mir das ganz gelegen.

http://open.spotify.com/track/1eSaFIL6sWODrhPqzg1KYk  

Ein zweites Lied aus der „5 Songs“-Liste bewegt mich schon länger, und zwar aus anderen Gründen: „Don’t Shoot“ von zehn bekannten US-Rappern und Untergrundkünstlern, ein musikalischer Tribut an den vor einem Monat erschossenen schwarzen Jugendlichen Michael Brown. Und eine emotionale Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Rassismus und der Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in den USA. Der Text ist tiefgründig und ruft unter anderem dazu auf, die eigene Stimme gegen das Unrecht erheben: „Time to take a stand and save our future.“  Dem entgegengestellt wird all die Aufmerksamkeit, welche die Ice Bucket Challenge bekommt und die Angst, dass andere wichtige Themen vergessen werden könnten: „Cause everybody care for a minute, then stop/People only there for a minute, then stop."

https://soundcloud.com/empiredistribution/the-game-dont-shoot-ft-rick-ross-2-chainz-diddy-fabolous-wale-dj-khaled-swizz-beatz  

Ein nachdenkliches Lied zum gleichen Thema kommt von T.I., der die Schuld für die Benachteiligung der schwarzen US-Amerikaner in Versäumnissen der Gesellschaft sieht:   „Man this is the result of you refusing to deal with the issues at hand. We are a product of the environment you placed us in. We ain't do it…we just live through it“  

https://soundcloud.com/tiofficial/new-national-anthem-feat-skylar-grey  

Mittwoch:
Wir bleiben bei T.I., dessen Musik mag ich nämlich sehr. Neulich habe ich noch ein Lied mit ihm entdeckt, das von einem Sampler seines Labels stammt. Ende nächsten Monat erscheint dann endlich auch sein neues Album. Ich freue mich und stelle mir vor, ich sei der „auserwählte“ Praktikant: „When you come up from the bottom, that just mean that you was chosen.“  

https://www.youtube.com/watch?v=6pAv6H50KTY

Abends muss ich leider putzen in der WG, das habe ich nun schon einige Tage vor mir hergeschoben beziehungsweise irgendwann auch einfach vergessen. Cro hält meine Laune dennoch oben und wird zwischen Staubsauger und Wischmopp angemacht: „Manchmal kommt es vor und du gewinnst nicht heut', dann wirst du eben morgen wieder King von Deutschland.“ 

http://open.spotify.com/track/2oa8KL7EzTH6jyPSpMIFH0
http://open.spotify.com/track/12iY7hLMNhn0PaVz09jXt9

Donnerstag:
Jeden Morgen und Abend fahre ich jetzt U-Bahn. Morgens um acht hin und abends um fünf zurück. Was andere Leute hassen würden - Alltagstrott und so -,finde ich irgendwie cool.  Ich fühle mich wie ein Pendler, der morgens in die „große Stadt“ hineinfährt und nach erledigter Arbeit brav wieder nach Hause geht. Das mag lächerlich klingen, ja. Aber die Fahrt gibt mir die Möglichkeit, mir Ideen für Artikel auszudenken und entspannt Musik zu hören. Zum Beispiel diese hier:  

https://www.youtube.com/watch?v=L-rQZ6IGhCM

Wyclef Jean - I Wish it Was Music (feat. T.I. & Trae The Truth)
https://soundcloud.com/thatericalper/i-wish-it-was-music-wyclef-ft

Am Abend bin ich bei der „Hate Poetry“. Da lesen eine Handvoll Journalisten mit Migrationshintergrund fremdenfeindliche bis rassistische Leserbriefe und Mails vor, die sie tagtäglich so erhalten. Anstatt den Frust in sich hineinzufressen, teilen sie die Texte bei Auftritten in verschiedenen Städten mit dem Publikum und lachen zusammen darüber. Das Ganze ist also eine Art Lachtherapie; ich hatte jedenfalls viel Spaß.

Freitag:
Seit gestern höre ich immer wieder ein altes Jessie-J-Lied von 2013, das es mir angetan hat. „Wild“ heißt es und macht gute Laune. Und zwar nicht nur durch den temporeichen Beat und den melodischen Refrain, sondern auch durch die lässigen Parts von Big Sean & Dizzee Rascal.  

http://vimeo.com/67006305

Samstag:
Zunächst einmal heißt es: ausschlafen! Da unsere Wände relativ dünn sind, bekomme ich mit, dass mein Mitbewohner in der Küche Musik hört. Durch ihn habe ich in letzter Zeit einige coole Lieder entdeckt, so auch heute. Und zwar keinen Hip-Hop, Überraschung! Me Succeeds kommen ursprünglich aus München, leben inzwischen aber in Hamburg. Electropop scheint es mir irgendwie angetan zu haben (siehe Dienstag).

https://soundcloud.com/isawmusic/me-succeeds-the-screws  

Später schlendern mein Mitbewohner und ich über das Isarinselfest. Es gibt viele Essens- und einige Infostände, er lernt etwas über das geplante Freihandelsabkommen TTIP und ich probiere einen Whoopie, einen mit Creme gefüllten weichen Doppelkeks. Man kann beliebige Zutaten nehmen, in meinem Fall war es Brombeer-Limette.

Sonntag:
Nachdem ich die ganze Woche die immer gleichen Lieder gehört habe, mache ich mich heute auf die Suche nach neuem Stoff. Beim „Auf-den-Dächern“-Festival entdecke ich Mighty Oaks, einem Berliner Folk-Trio bestehend aus einem Briten, einem Amerikaner und einem Italiener. So schön kann Globalisierung sein!

https://www.youtube.com/watch?v=KOBVHdrfOkY

Eine Band reicht mir nicht. Deshalb schaue ich noch bei iTunes und lasse mir verwandte Künstler zu Bands anzeigen, die ich mag. Bastille liebe ich beispielsweise, von Alt-J gibt es auch tolle Lieder. Und Apples Algorithmen enttäuschen mich zum Glück nicht.

https://www.youtube.com/watch?v=u9bNWJjIm-w
https://www.youtube.com/watch?v=TKKMfJ8cZoQ

[seitenumbruch]
Gute Musik – was ist das für dich?
Gute Musik spricht mich an und geht unter die Haut. Das ist nicht nur eine Phrase. Wenn ein Lied nichts innerlich mit mir macht, dann mag ich es auch nicht. Deshalb muss es bei mir in irgendeiner Form melodisch sein, Eintönigkeit mag ich nicht. Der Beat, die Melodie, etwas muss mich bewegen. Entweder zum Tanzen oder zum Nachdenken. Wenn der Text dann zusätzlich noch aussagekräftig ist – gesellschaftskritisch beispielsweise – dann finde ich das super. Manchmal finde ich aber einfach auch nur den Beat geil.  

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale?
Witzigerweise hätte ich gar keine Möglichkeit mehr, CDs anzuhören, selbst wenn ich wollte. Ich habe weder einen CD-Spieler noch hat mein Laptop ein Laufwerk. Ich höre schon lange nur auf dem Computer und auf meinem Handy Musik. Streaming-Portale finde ich sehr interessant, nutze ich bisher aber nicht regelmäßig.

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen?
Ich höre sehr oft Musik. Daheim, unterwegs, bei guter und schlechter Laune. Mal lauter, mal leiser, fast immer eigentlich. Außer ich habe gerade mal wieder meine Kopfhörer verloren.  

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst?
Es gibt niemanden, von dem ich alles mag. Einige Lieblingskünstler gibt es aber, zum Beispiel: Kanye West, Eminem, Fall Out Boy, T.I., Big Sean, ... . Blink-182 mag ich beispielsweise auch gerne, in letzter Zeit zudem Celo & Abdi. Allgemein ist Hip-Hop meine Lieblingsrichtung, mein Musikgeschmack allgemein jedoch recht vielfältig.   Welche Musik magst du gar nicht und warum? Auf die Frage nenne ich spontan eigentlich immer drei Dinge: Volksmusik, Death Metal und die extremeren Seiten von House und Techno. Jazz und Soul mag ich auch nicht so gerne.  

Was war deine erste eigene Platte – und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
Wenn man von meiner Bro-Sis-CD mal absieht, dann war mein erstes „richtiges“ Album „Lost & Found“ von Will Smith, glaube ich. Das kam 2005 raus. Und wie man an den Liedern erkennt, die ich so höre, ist meine Liebe für Hip-Hop geblieben.  

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt?
Ich würde gerne auf Konzerte gehen, wenn ich mehr Geld hätte. Bisher bin ich aus diesem Grund jedenfalls noch nicht sehr oft auf welchen gewesen. Die meisten Künstler, die ich bisher gesehen habe, haben auf kleineren Festivals in meiner Nähe gespielt. Beispielsweise waren das Cro, Wir sind Helden, Die Orsons, K.I.Z., Kraftklub, Madsen, Casper, Blink-182 und Billy Talent.  

Wie entdeckst du neue Musik und was ist deine neueste Entdeckung?
In der Regel schaue ich auf verschiedenen Hip-Hop-Seiten wie 16bars oder MeinRap, was es so an Neuem gibt. Manchmal werfe ich auch einen Blick auf die Neuerscheinungen bei iTunes. Meine neueste Entdeckung ist der Remix eines neuen Rap-Geheimtipps aus Chicago, der sich zwei bekannte Kollegen aus seiner Stadt ins Boot geholt hat. Da ich nächstes Jahr selbst für ein Praktikum dort sein werde, finde ich das Lied doppelt toll. „Never quit, never give in.“

https://soundcloud.com/gherbo/fight-or-flight-remix-f-common-chance-the-rapper  

Verrate uns einen guten Song zum...    

Aufwachen:  
http://vimeo.com/65857743

Tanzen:  
https://www.youtube.com/watch?v=CeZbbx5SPTs  

Traurig sein:    
Eines der traurigsten Lieder, das ich kenne  

https://www.youtube.com/watch?v=geig9DCpucI  

Sport treiben:  
Hört sogar der US-Präsident, wenn er seinen Puls hochbekommen möchte! ;)

http://vimeo.com/41731800

Als nächsten Kosmoshörer wünsche ich mir:  
alexander-gutsfeld, weil er mein Mitpraktikant ist.  

Alle Kosmoshörer findet ihr wie immer gesammelt hier:  
http://open.spotify.com/user/jetzt_de/playlist/5YyFFYmBTUZjbcNNCKkTcV

Möchtest du auch Kosmoshörer werden und deine Musik-Gewohnheiten dokumentieren? Dann schreib eine jetzt-Botschaft an teresa-fries oder eine Mail an teresa.fries@sueddeutsche.de




Was hältst du vom Apple-Wahn?

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Heute ist es mal wieder soweit: Apple lädt ein zu einem „special event“, um neue Produkte vorzustellen. Und wie immer warten viele Menschen darauf, dass es endlich losgeht. Genauer gesagt: darauf, dass die Neuheiten in die Läden kommen und fleißig gekauft werden können. Manche Leute haben schon jetzt keine Geduld mehr und kampieren seit Tagen vor dem Apple Store in Manhattan, um als Erste das iPhone 6 zu ergattern (viele wollen es allerdings gar nicht selbst behalten, wie hier zu lesen ist).



Bald wird es wieder lange Schlangen vor Apple Stores geben.

Die Vorstellung eines neuen iPhones gilt als sicher, genauso wie die neuer iPad-Modelle und einer „Smartwatch“. Das ist eine Mischung aus Armbanduhr und Minicomputer – Samsung beispielsweise hat bereits letztes Jahr eine auf den Markt gebracht. Viele Beobachter erwarten aber, dass Apple wie schon bei vergangenen Produkten es schafft, es eleganter hinzubekommen als die Konkurrenz. Die Firma hat deshalb erstmals Modejournalisten und –blogger zu seiner Veranstaltung eingeladen, wohl um den Accessoire-Charakter des Geräts zu unterstreichen.  Eine weitere Neuheit bahnt sich ebenfalls an: ein mobiles Bezahlsystem, mit dem man all seine Einkäufe bargeldlos erledigen kann. Dafür hat Apple bereits Verträge mit großen Kreditkartenfirmen wie Visa, Mastercard und American Express geschlossen (mehr dazu hier).

Technikblogs und berichten seit Wochen immer wieder über neue Gerüchte: wie groß die Displays der neuen Produkte sein werden, welche Sensoren im neuen iPhone stecken oder welche Auswirkungen eine „iWatch“ auf das Geschäft Schweizer Uhrenhersteller haben könnte. Die Apple-Aktie war zuletzt wieder mehr als 100 Dollar wert.  

Wie ist deine Meinung zu dem Wahn? Nervt dich das ganze Gerede um iPhone 4,5 und 6? Oder siehst du das eher locker? Benutzt du vielleicht selbst Apple-Produkte und findest sie ganz praktisch? Denkst du, Apple macht manches wirklich einfach besser als andere? Oder kannst du diesen ganzen „Gadget-Hype“ allgemein nicht mehr hören?

Neue Töne im Weißen Haus

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Die Rede des Präsidenten an die Nation folgt erst am Mittwoch, doch schon seit dem Wochenende stimmt die US-Regierung die Öffentlichkeit auf schwer Verdauliches ein. Der Einsatz gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) werde länger dauern als geplant, länger vielleicht, als Barack Obama im Amt sein werde, sagte der stellvertretende Sicherheitsberater Tony Blinken dem Sender CNN. Außenminister John Kerry erklärte auf dem Nato-Gipfel in Wales vergangene Woche: „Es mag ein Jahr dauern, zwei Jahre, drei Jahre. Aber wir sind entschlossen, dass es geschehen muss.“ Obamas Nachfolgerin oder Nachfolger könnte einen Krieg erben.



Obama will die Terrormiliz IS binnen drei Jahren besiegen.

Das sind neue Töne. Das Weiße Haus scheint entschlossen zu sein, das militärische Vorgehen gegen die IS-Milizen auszubauen. Dabei hatte die Regierung Obama lange nur von begrenzten, präzisen Eingriffen gesprochen, von Zurückdrängung, nicht von Vernichtung. Das ist vorbei: „Es gibt keine Containment-Strategie“, sagte Kerry in Wales über den IS. „Wenn wir sie in irgendeiner Weise intakt lassen, dann belassen wir einen Krebs in der Welt, der schließlich wiederkommen und uns verfolgen wird.“ Die brutalen Endzeit-Islamisten sollen dauerhaft besiegt werden.

Am Mittwoch will Präsident Obama der Bevölkerung erklären, was es dafür von Amerika braucht. Die laufenden und auch am Sonntag wieder intensiv geflogenen Lufteinsätze im Nordirak könnten in naher Zukunft auf das Nachbarland Syrien ausgeweitet werden. Noch will Obama diese Entscheidung nicht gefällt haben, doch der Boden dafür ist bereitet: Seine eigene Armeespitze hat erklärt, dass der IS ohne Einsätze in Syrien nicht zu bezwingen sei.

Die Rede aber soll weniger aufpeitschen als beruhigen. Obama wird darlegen, dass der sich weitende Kampf gegen den IS keine einsame Cowboy-Aktion der Amerikaner werden soll. Mit viel diplomatischem Aufwand hat die US-Regierung in den vergangenen Tagen mindestens neun Staaten für eine Koalition gegen den IS gewonnen: Kanada, Australien, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Dänemark, Polen und die Türkei. Gemeinsam soll nun ein Vorgehen gegen die Extremisten beraten und in Angriff genommen werden. Die USA wollen führen dabei, und zwar von vorn – „leading from behind“ war gestern. Die Verantwortung aber wird geteilt.

Eine solche Zusammentrommelung von Verbündeten gegen staatenlos agierende Islamisten erinnert auch an Obamas Vorgänger George W. Bush – an dessen „Koalition der Willigen“ im Krieg gegen den Terror und beim Einmarsch in den Irak. Obama muss versuchen, solche Assoziationen abzuwehren: „Das wird kein neuer Irakkrieg“, sagte er in einem TV-Interview. Obama war ein harscher Kritiker Bushs und verdankt seine Wahl auch der Kriegsmüdigkeit der Amerikaner. So sehr seine außenpolitische Bedächtigkeit in den USA Kritik hervorruft, so sehr ist die Bevölkerung weiter gegen einen neuen Krieg.

Am Mittwoch wird Obama, am Vorabend des 9/11-Jahrestags, daher aufzeigen wollen, wie man den IS zertreten kann, ohne den Fuß aufsetzen zu müssen. Wie ein Mantra wiederholen er und seine Beamten, es werde „keine Stiefel auf dem Boden“, geben, also keine Entsendung von Truppen. Dass im Irak die Präsenz von Militärberatern und Botschaftsschützern laufend aufgestockt wird, gilt dabei offenbar nicht als Widerspruch. Die kriegslustigen Falken sind enttäuscht: „Mit der Fernbedienung wird man den IS nicht besiegen können“, sagt Mike Rogers, republikanischer Vorsitzender des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus.

Doch Obama möchte, dass andere dem IS direkt gegenübertreten. Mit amerikanischer und internationaler Hilfe sollen lokale Kräfte gegen die Extremisten gestärkt werden. Die irakischen Sicherheitskräfte, aber auch die Peschmerga-Kämpfer und vielleicht auch sunnitische Stämme im Westen Iraks sollen vermehrt ausgebildet und aufgerüstet werden. Zudem suchen die USA in der weiteren Region Unterstützung durch Saudi-Arabien und Jordanien. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben offenbar Hilfe zugesichert. Eine Schlüsselrolle schließlich kommt der Türkei zu: Verteidigungsminister Chuck Hagel ist am Montag nach Ankara gereist. Vor allem die Grenze zu Syrien soll weniger durchlässig werden, sodass internationale Dschihadisten nicht länger über anatolische Pistazienfelder in den Krieg marschieren können.

Mit seiner Rede will Barack Obama auch seinen Kritikern an der Heimfront entgegentreten, die ihm seit Monaten Führungsschwäche vorwerfen. Dass er noch vor zehn Tagen sagte, er habe „noch keine Strategie“ gegen den IS, hat Empörung ausgelöst. Die Kritik wird so schnell nicht abreißen: Noch immer bleibt unklar, wie die USA auf syrischem Gebiet die IS-Miliz bekämpfen sollen, ohne dabei dem Diktator Baschar al-Assad zu helfen. „Assad lockt uns in einen geopolitischen Hinterhalt“, warnt Fred Hof von der Denkfabrik Atlantic Council.

Eine Zweckgemeinschaft mit Damaskus hat das Weiße Haus zwar ausgeschlossen, der Effekt des Vorgehens aber bliebe unerfreulich vielfältig. Eine weitere Schwierigkeit stellt sich zudem in Washington: Im Kongress mehren sich die Stimmen, die den Präsidenten auf das Einholen einer Kriegsgenehmigung verpflichten wollen. Im vergangenen Sommer war Obama im letzten Moment von Militärschlägen gegen Assad abgerückt, weil er eine Abfuhr des Parlaments befürchtet hatte.

Undefinierte Spielfigur

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Es gab während der zweiten Halbzeit tatsächlich ein paar ermutigende „Maaarioo-Götze“-Rufe auf der Südtribüne, sie waren klar und deutlich zu hören und wurden nach bisherigem Erkenntnisstand der Ermittlungsbehörden nicht unter Gewaltandrohung angestimmt. Sie waren aber auch nicht Ausdruck von spontaner Begeisterung über ein leuchtend schönes Mario-Götze-Spiel, sondern eine Demonstration gegen jene Besucher, die bei jedem von Götzes Ballkontakten gepfiffen haben. Einige Beobachter behaupteten daraufhin, der Meinungskampf um den ehemaligen Dortmunder, heutigen Münchner und ewigen Finaltorschützen führe zur „Spaltung“ der Anhängerschaft. Als ob nun ein religiöses Dilemma von gemeingefährlicher Bedeutung entstanden wäre.



Götzes Bemühungen blieben auch gegen Schottland weitgehend erfolglos.

Die Wahrheit ist, dass es sich allenfalls um einen Randgruppendialog handelte, der vermutlich auf Langeweile beruhte. Die meisten der rund 60000 Zuschauer im Dortmunder Stadion nahmen an der Auseinandersetzung nicht teil. Stattdessen sahen sie mit einigem Wohlwollen, wie sich Götze um Wirkung bemühte, und sie sahen mit einiger Enttäuschung, dass dieses Bemühen weitgehend erfolglos blieb.
Der 22 Jahre alte Mittelfeldspieler hatte, so viel Gutes lässt sich sagen, schon schlechtere Länderspiel-Auftritte als am Sonntagabend, übrigens auch bei jenem WM-Turnier, bei dem er unsterblichen Ruhm erwarb: Im Achtelfinale gegen Algerien zum Beispiel nahm ihn der Bundestrainer zur Halbzeit vom Platz, andernfalls hätte womöglich der eine oder andere ärgerliche Mitspieler selbst für die Auswechslung gesorgt, nachdem Götze 45 Minuten lang eine provozierend träge Figur abgegeben hatte. Im Finale setzte Löw spät auf Götze, brachte ihn aber in einer entscheidenden Phase. Was sich bekanntlich gelohnt hat.

Götzes Talent ist nach wie vor ein ungeheuerliches, das hat man auch am Sonntag in ein paar Szenen gesehen. Bei einem steilen Pass auf Marco Reus etwa oder kurz vor Schluss bei einem kunstvollen Vorstoß in den Strafraum. Es blieb jedoch bei einer Handvoll gelungener Einzelaktionen. Dazu könnte Götze vorbringen, dass er mal wieder nicht auf seiner Lieblingsposition spielen durfte, weil er mal wieder in der Rolle der verkappten Sturmspitze aushelfen musste – es ist bloß so, dass man mittlerweile gar nicht mehr weiß, welches überhaupt seine Lieblingsposition ist. Götze ist inzwischen eine undefinierte Spielfigur. Weshalb auch der andere mildernde Umstand in den Zwiespalt führt. Zwar gilt auch für Götze, was für die anderen Brasilien-Fahrer gilt: Er befindet sich wie Jérôme Boateng oder Thomas Müller im WM-bedingten Leistungsloch, doch anders als Boateng oder Müller hatte Götze schon vor der WM in einem Leistungsloch gesteckt, die Symptome gleichen sich.

Mit dem Siegtreffer gegen Argentinien im WM-Finale hat Mario Götze den mutmaßlich größten Moment seiner Karriere schon jetzt hinter sich. Es sieht aber so aus, als ob die für die Karriere wichtigste Saison seines Lebens geradewegs vor ihm liegt.

Tagesblog - 9. September 2014

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12:36 Uhr: Wir gehen jetzt essen. Ich hinterlasse euch solange einen Vulkanausbruch auf Papua Neugunea.
http://www.youtube.com/watch?v=BUREX8aFbMs

++++

12:21 Uhr:
Als jemand, der mit 16, 17 und 18 unglaublich viel Kettcar gehört hat, wird mir immer ganz warm, wenn die Band irgendwo auftaucht. Oder auch nur einer aus der Band. Gerade ist es Marcus Wiebusch, der im Frühjahr ein Soloalbum veröffentlicht hat. Ein Song darauf, "Der Tag wird kommen", ist ziemlich berühmt geworden - weil er irre lang ist, aber vor allem, weil es darin um Fußball und Homophobie geht. "Der Tag wird kommen" wurde über Social Media unglaublich oft geteilt und in vielen Fußballstadien gespielt. Und jetzt gibt es ein Musikvideo dazu. Das keines ist. Sondern ein Kurzfilm. Ein sehenswerter noch dazu.
http://www.youtube.com/watch?v=-qOg8E4Tzto

++++

11:53 Uhr:
Eben hatten wir Besuch. Simon Hurtz hat Blattkritik gemacht und uns mal unsere Social-Media-Köpfe gewaschen (bitter nötig).
Weil ich (wie immer) vergessen habe, ein Foto zu machen, gibt es hier jetzt das Foto eines anderen Besuchers, der gerade auf meinem Schreibtisch (bzw. Charlottes, an dem ich heute sitze) aufgetaucht ist und mich mit seinen plötzlichen Bewegungen erschrocken hat, als ich gerade telefonierte:




++++

11:11 Uhr:
Ich schäme mich sehr schnell und das nervt mich wie blöd. Neulich ist mir was Peinliches passiert, ich habe in der Redaktion rumgetobt vor lauter Schämen und Jakob sagte: "Nadja, schreib doch mal einen Hass-Text auf die Scham!" Ich habe mir dann einen Scham-Experten gesucht, der spannende Sachen gesagt hat. Aus dem Hass-Text wurde darum nichts. Dafür ein versöhnliches Interview (plus Vorgeschichte, in der meine Peinlichkeit erzählt wird - jetzt klickst du drauf, oder?).


Nadja schämt sich. Nicht im Bild: Nadja.


++++

09:39 Uhr:
Ikea macht jetzt übrigens auch mit:
http://www.youtube.com/watch?v=MOXQo7nURs0#t=16
Gleich dann total Apple-freier Content, versprochen!

++++

09:29 Uhr:
Guten Morgen, lieber Leser. Du wirst gerade Zeuge eines einmaligen Ereignisses: Die Präsentation des jetzt.de-Tagesblogs für den 9. September 2014! Gab es nie zuvor! Wird es auch nie wieder geben! Leider sagt das nichts über die Qualität aus, aber ich werde mir Mühe geben.

Als ersten Punkt leg ich hier schon mal den Ticker rein. Apple präsentiert nämlich heute Abend auch was: das neue iPhone. Und alle drehen durch. Du auch?

Und weil es so gut passt und es mir gestern noch mal empfohlen wurde: Der Film zur Präsentation des ersten iPhones. Mit Preacher Man Steve Jobs. War noch aufregender damals als die Geburt des Tagesblogs. Kaum vorstellbar, oder?
http://www.youtube.com/watch?v=c_m2F_ph_uU

Neues aus der Hölle

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Der Brief war mit den Worten „From Hell“ – „aus der Hölle“ – überschrieben. Neben dem Bekennerschreiben enthielt das Päckchen die halbe Niere eines Menschen. Der Absender behauptete, den Rest verspeist zu haben. Unterschrift: „Jack the Ripper“. Kurz zuvor war die Leiche der Prostituierten Catharine Eddowes im Londoner East End gefunden worden, mit durchgeschnittener Kehle. Außerdem fehlte ihr eine Niere.
Zwischen August und Oktober 1888 soll Jack the Ripper mindestens fünf Frauen getötet und teilweise verstümmelt haben. Der Mörder wurde nie gefasst. Umso wilder blühten die Spekulationen. Mehr als 70Männer wurden als Serienkiller verdächtigt, darunter ein russischer Arzt, ein amerikanischer Quacksalber, ein deutschstämmiger Maler – und ein polnischer Friseur. Selbst Prominente wie Lewis Caroll, der Autor von „Alice im Wunderland“, gerieten ins Visier der Polizei. Es gab Verschwörungstheorien um den königlichen Leibarzt William Gull, der angeblich eine Affäre des Thronfolgers Prinz Albert Victor schützen wollte. Oder war Jack the Ripper eine Frau? Hatten die Freimaurer etwas damit zu tun? Mysteriös.



Auf den Spuren Jack the Rippers: Bei einer Stadtrundfahrt wird ein Foto eines Opfers des Serienmörders rumgereicht.

126 Jahre nach den grausamen Taten soll nun endlich die Identität des Rippers feststehen. Der Geschäftsmann und Autor Russell Edwards und der Molekularbiologe Jari Louhelainen behaupten, den wohl bekanntesten Serienmörder der Geschichte mit Hilfe einer DNA-Analyse entlarvt zu haben. Bei dem Killer soll es sich um den polnischen Einwanderer Aaron Kosminski handeln, der in London als Friseur arbeitete und in Psychiatrien bekannt war für seinen Frauenhass. Im Buch „Naming Jack the Ripper“, das diesen Dienstag in Großbritannien erscheint, schreibt Russell Edwards, dass Kosminski schon damals vom leitenden Kommissar Donald Swanson als einer von drei Hauptverdächtigen genannt wurde. Kosminski arbeitete als Barbier im East End, kannte sich also bestens mit Messern aus – und er hatte ernsthafte psychische Probleme. Der Mann sei ein „paranoider Schizophrener“ gewesen, der unter Halluzinationen litt, wie Akten aus der Psychiatrie belegten, heißt es im Buch.

Der mutmaßliche Serienmörder wurde am 11. September 1865 in Klodawa geboren, einer Kleinstadt zwischen Posen und Warschau. Wegen antisemitischer Pogrome siedelte die Familie Anfang der 1880er- Jahre nach London über, wo Kosminski unweit der Tatorte von Jack the Ripper lebte. Berichten zufolge hatte ein Zeuge die Ermittler zu dem jüdischen Emigranten geführt, weil er Kosminski mit einem der Ripper-Opfer gesehen hatte. Dann soll der Zeuge aber seine Aussage verweigert haben, der Friseur wurde freigelassen. Kosminski verbrachte die meiste Zeit seines restlichen Lebens in einem Heim für psychisch Kranke. Er starb am 24. März 1919 und wurde auf dem Friedhof East Ham im Osten Londons beigesetzt.

Ein Fundstück von einem der Tatorte könnte den Friseur nun im Nachhinein doch noch als den wahren Jack the Ripper verraten haben. Den Beweis soll ein Schal liefern, der beim Opfer Catharine Eddowes gefunden wurde. Buch-Autor Edwards hatte den Schal im Jahr 2007 bei einer Auktion gekauft. Das blau-braune Stück Stoff soll bei der Leiche der Prostituierten Catharine Eddowes gelegen haben, deren verstümmelter Körper am 30. September 1888 gefunden worden war. Ein Polizist soll den Schal mitgenommen und seiner Frau geschenkt haben, die ihn aus nachvollziehbaren Gründen aber nie trug. Angeblich wurde das gute Stück 126 Jahre lang nicht gewaschen. Soweit die fast nicht glaubhafte Herkunftsgeschichte.

Edwards ließ DNA-Spuren nehmen und diese mit der DNA der weiblichen Nachfahren aller damals Tatverdächtigen abgleichen – sofern sie auffindbar und bereit waren, an dem kriminalistischen Experiment mitzumachen. Unter den Freiwilligen war auch eine direkte Nachfahrin von Kosminski, deren Identität der Hobby-Kriminalist nicht preisgeben will. Deren Blutprobe passte zu den zuerst gefundenen DNA-Spuren ebenso wie zur DNA der später entdeckten Spermaspuren auf dem Stoff – die Übereinstimmung betrage jeweils 100 Prozent, sagt Edwards. Die Spermaspuren legen nahe, dass der Schal tatsächlich Kosminski gehörte und nicht wie angenommen seinem Opfer. Sieben Jahre lang arbeitete Edwards an dem Fall. Die DNA-Analyse gab er bei Jari Louhelainen in Auftrag, einem finnischen Molekularbiologen, der an der John-Moores-Universität in Liverpool arbeitet. Dieser bestätigt den genetischen Beweis. „Wir haben ihn entlarvt“, fasst Russell Edwards zusammen.

Der britische Genetiker Alec Jeffreys, der vor 30 Jahren den genetischen Fingerabdruck erfand, äußerte bereits Zweifel. Er forderte im Gespräch mit der Zeitung The Independent eine unabhängige Überprüfung von Edwards Funden. „Noch wurde kein tatsächlicher Beweis vorgelegt“, sagt Jeffreys. Edwards hält dagegen: „Ich habe das einzige forensische Beweisstück in der gesamten Geschichte des Falls.“

Doch wie glaubhaft ist die Herkunft dieses Schals, auf den sich die DNA-Analyse stützt? Stammt er wirklich vom Tatort? Dokumentiert wurde der Fund des Beweisstücks am Tatort nicht, selbst Fingerabdrücke wurden damals noch nicht von Verdächtigen genommen. Richard Cobb, der in London Jack-the-Ripper-Stadtführungen organisiert, sagte der Times: „Der Schal wurde von vielen Leuten angefasst, die ihn berührt, angehaucht und darauf gespuckt haben.“ Die DNA-Probe scheint deshalb nicht gerade verlässlich zu sein. Ob die Suche nach der wahren Identität des Killers wirklich an ihrem Ende angelangt ist? Jack the Ripper bleibt mysteriös.

Gut versteckte Schnäppchen

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„Die Bahn ist sowieso zu teuer“ – gerade unter jungen Menschen ist diese Einstellung verbreitet. Seitdem man mit dem Fernbus für 1,50 Euro von Mainz nach Karlsruhe fahren oder sich per Mitfahrzentrale für zehn Euro von Berlin nach Hamburg kutschieren lassen kann, verliert die Deutsche Bahn viele preisbewusste Kunden. Alleine in der ersten Jahreshälfte sind dem Konzern eigenen Angaben zufolge wegen der neuen Konkurrenz Umsätze von 50 Millionen Euro entgangen.

Längst weiß die Bahn um ihren Ruf in dieser Kundengruppe – und versucht dagegenzusteuern. Seit April lockt sie gezielt Fernbuskunden im Internet. Auf gängigen Vergleichsportalen für Busreisen lanciert der Konzern Sonderangebote, die nur dort erhältlich sind. Ein Beispiel: Wer auf busliniensuche.de für den nächsten Tag nach einer Reise von München nach Frankfurt sucht, dem werden nicht nur Fernbusfahrten, sondern auch ein Spezialpreis der Bahn angeboten: für 29 Euro mit dem ICE.



Die Bahn lockt mit Sonderangeboten auf Fernbus-Portalen.

Dieser Preis kann zwar nicht ganz mit den Busanbietern mithalten, ist aber dennoch erstaunlich. Denn an Fahrkartenautomaten, in Reisezentren oder auf bahn.de muss man mindestens 79 Euro zahlen, um am selben Tag mit demselben Zug fahren zu dürfen. Auf ähnlichen Seiten wie fernbusse.de oder beim Reiseveranstalter L’tur finden sich ähnliche Angebote.

Es klingt nach einem Geheimtipp: Wer günstig und spontan mit der Bahn fahren will, sollte sich im Internet als Fernbusreisender ausgeben – auch wenn er gar kein Interesse an diesem Verkehrsmittel haben sollte. Vielleicht bekommt er seine Fahrkarte dann – wie im Beispiel – 50 Euro günstiger. Vielleicht aber auch nicht. Denn wie viele dieser Spezialpreise zu welchen Zeiten auf welchen Strecken zur Verfügung stehen, ist nicht durchschaubar. Die Bahn will auf Anfrage keine Angaben zur Größe der Kontingente machen.

Wer denkt, der offizielle Vertriebskanal bahn.de böte einen vollständigen Überblick über die Tarife, wird hinters Licht geführt. Genauso wie die mehr als 43 Millionen Deutschen, die keine Kreditkarte besitzen. Die ist bei den Spezialpreisen nämlich das einzige mögliche Zahlungsmittel. Die Sonderangebote halten weitere Eigenheiten bereit: So können die Kunden ihre Buchung zu keinem Zeitpunkt stornieren, nicht einmal gegen Aufpreis. Ausländische Reisende haben es schwer, die Spezial-Fahrkarten zu nutzen, weil man weder mit einem Reisepass noch mit einer ausländischen Bankkarte die Echtheit seines Tickets beweisen kann. Und wer zunächst mit einem Regionalzug zum nächsten Fernverkehrsbahnhof tuckern muss, benötigt dafür eine gesonderte Fahrkarte.

Der Fahrgastverband Pro Bahn kritisiert auf Anfrage die komplizierten Auswüchse dieser Tarifpolitik: „Die Spezialpreise machen das Preissystem noch unübersichtlicher, als es sowieso schon ist“, sagt ein Sprecher. Er ergänzt: „Heutzutage braucht man mindestens Bahn-Abitur, um da noch durchzublicken.“ Zudem bemängelt Pro Bahn, dass Stammkunden mit einer Bahn-Card 25 auf die Sonderangebote nicht die üblichen 25 Prozent Ermäßigung erhalten. Die Bahn begründet dies damit, dass die Spezial-Fahrkarten bereits so stark rabattiert seien, dass kein weiterer Preisnachlass möglich sei.

Vollkommen schlechtmachen möchte der Fahrgastverband die Sonderangebote allerdings nicht. Denn gerade für junge Menschen würden sie längere Zugreisen erst erschwinglich machen, sagt der Pro Bahn-Sprecher. „Wenn wieder alle Bahnpreise vereinheitlicht würden, wären die Tarife auf einem Niveau, über das sich viele beklagen würden.“

Seit Ende 2002 bestimmt die Deutsche Bahn den Preis einer Fahrt nicht mehr strikt proportional zur Anzahl der Kilometer. Stattdessen können Reisende, die sich rechtzeitig vorher auf einen bestimmten Zug zu einer bestimmten Zeit festlegen, Sparpreise in Anspruch nehmen. Diese liegen bis zu 50 Prozent unter dem Normalpreis. Durch diese Preisunterscheidung kann die Bahn auf Nachfrageschwankungen reagieren: Zu beliebten Reisezeiten wie dem Freitagabend bietet sie weniger Sparpreise an als in Stunden mit geringerer Auslastung. Auch bei den Spezialpreisen auf den Vergleichsportalen müssen sich Reisende auf den konkreten Zug festlegen. Nur bei Ausfällen oder großen Verspätungen dürfen Reisende von der geplanten Verbindung abweichen. Auffällig ist, dass die Sonderangebote erst frühestens eine Woche vor der Fahrt gebucht werden können. Die Bahn nutze die preisbewusste Zielgruppe der Fernbusportale, um einzelne Züge vollzubekommen, erklärt eine Bahn-Sprecherin.

Gegen die Vorwürfe einer intransparenten Tarifpolitik wehrt sich der Konzern. Mit den Spezialpreisen spreche man eine Zielgruppe an, die sich sonst gar nicht erst auf bahn.de über Zugpreise informieren würde, sagt die Sprecherin. Aus Konzernsicht sei es besser, die jungen Menschen reisten für 29 Euro in nicht vollbesetzten Zügen mit, als dass sie auf die Fernbuskonkurrenz auswichen. Gerade in der Verkehrs- und Tourismusbranche ist es üblich, die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften der Kunden durch eine Vielfalt an Tarifen und Konditionen abzufangen. „Auch die Bahn hat das Recht, ihr Produkt flexibel am Markt zu platzieren“, sagt die Sprecherin. In der Luftfahrt seien die Tarifschwankungen noch viel größer.

Verbrennen, verwerten oder ins All schießen

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Die Entsorgung von Kunststoffen ist ein großes Problem. Am liebsten würden manche das Plastik ins All schießen. Ein ähnlicher Vorschlag kam schon einmal bei der Diskussion um die Entsorgung des Atommülls auf. Aber um die jährlich produzierten 300 Millionen Tonnen Plastikmüll außerirdisch zu entsorgen, müsste ein Spaceshuttle im Jahr etwa 30 Millionen Mal starten. Eine absurde Lösung also. Um das Müllproblem zu lösen, müssten stattdessen die bereits vorhandenen Kunststoffabfälle durch neue Verwertungsmöglichkeiten wertvoller gemacht werden. Zugleich werden intelligentere Plastikvarianten benötigt, die beispielsweise biologisch abbaubar sind. Bislang landet ein Großteil des regulär entsorgten Plastik schlicht in Müllverbrennungsöfen. Was also muss jetzt geschehen? Einige Ideen für die Zukunft, die derzeit erforscht werden.

Plastik-Alternative aus Garnelen

Wissenschaftler und Unternehmen forschen an sogenannten Biokunststoffen. Das sind zum einen Materialien, die aus biologischen Rohstoffen hergestellt wurden. Aus Mais, Kartoffeln oder Zuckerrüben etwa kann Milchsäure gewonnen und zu einem plastikähnlichen Stoff weiterverarbeitet werden. Zum anderen sind es Kunststoffe, die biologisch abbaubar sind. Dafür müssen sie nicht unbedingt biobasiert hergestellt worden sein. Um einen Kunststoff kompostierbar zu machen, kann man ihm zum Beispiel Enzyme untermischen. Eine biobasierte Alternative zum Kunststoff wurde auch an der Harvard University entwickelt. Dort hat ein Forscherteam eine neue Plastikart vorgestellt, die aus den Panzern von Garnelen gewonnen wird. Aus dem darin enthaltenen Stoff Chitin haben sie das plastikähnliche Shrilk hergestellt, das nach Angaben der Forscher für viele Produkte verwendet werden kann.



Die Ozeane sind nicht so sauber, wie sie manchmal aussehen.

Verpackungen aus Laubblättern

Das Münchner Start-up Leaf Republic produziert als Ersatz für konventionelle Plastikverpackungen nachhaltige Lebensmittelverpackungen und Einweggeschirr aus den Blättern asiatischer Bäume. Der Rohstoff für ihre Verpackungen sind Blätter aus Indien und Bangladesh, die dort gepflückt und zusammengenäht werden. Sind sie getrocknet, werden sie mit einer Schicht aus Biokunststoff umhüllt und anschließend in Form gebracht. Ende 2014 will Leaf Republic mit seinen Lebensmittelverpackungen aus Laubblättern in den Markt einsteigen.

Plastikmüll zum Mitessen

Bei dem Konzept des US-Unternehmens Monosol stellt sich die Frage nach dem Müll erst gar nicht. Seine Kunststoffverpackungen lösen sich in heißem Wasser vollständig auf. Der Hersteller bietet neben Lebensmitteln auch Pflegeprodukte wie Seifen oder Shampoo vorportioniert in der wasserlöslichen Folie an. Auch das Konzept „Ooho!“ basiert auf dieser Überlegung: Drei Londoner Industriedesign-Studenten entwickelten eine essbare Trinkaufbewahrung als umweltgerechte Alternative zur traditionellen Plastikflasche. Nicht-kohlensäurehaltige Getränke werden von einer dünnen Membran aus Braunalgen und Calciumchlorid eingeschlossen. Struktur und Form ähneln der eines Eigelbs. Etwa vier Zentiliter Wasser passen in eine solche Trinkblase.

Müll für den 3D-Drucker

Das Projekt Plastic Bank stellt eine neue Idee für das Recycling vor. In Zeiten von 3D-Druckern möchte das Unternehmen vor allem dem Plastikmüll in den Weltmeeren zu neuem Wert verhelfen. Dieser kann zu Plastikfasern weiterverarbeitet und in 3D-Druckern verwendet werden. Für den 3D-Druck soll aber nicht nur der Plastikmüll verwendet werden, der aktuell in den Meeren treibt. Plastic Bank möchte seine „Banken“ vor allem in ärmeren Gebieten aufbauen. Die Menschen haben dann die Möglichkeit, Müll zu sammeln und Geld dafür zu bekommen. Das Unternehmen hofft, auf diese Weise das Sammeln von Abfall an den Stränden und in den Ozeanen attraktiver zu machen.

Leben ohne Verpackung

Vor allem Tomaten, Nudeln, Süßigkeiten und Co. werden in Verpackungen gehüllt – manchmal sogar stückweise – und dann noch meist in Tüten nach Hause getragen. Hier setzen die verpackungsfreien Lebensmittelläden an. Im September soll in Berlin etwa ein solcher Supermarkt öffnen. Und in anderen Orten wie zum Beispiel in Kiel gibt es solche Läden bereits. „Original Unverpackt“, so der Name, bietet Produkte ohne Verpackung an. Die Kunden bringen Aufbewahrungsbehälter selbst mit und füllt die Produkte darin ab. Nudeln, Erbsen, Mehl und alle anderen gewöhnlich nur in Plastik gehüllten Lebensmittel gibt es dort in Bottichen. Vorbild ist der Laden „Unpackaged“ – 2007 wurde er in London als einer der ersten verpackungsfreien Supermärkte eröffnet. Seit Januar hat das britische Vorbild allerdings geschlossen: Die Besitzerin hatte an den Laden Ende 2012 ein Restaurant angeschlossen. Doch das erweitertes Konzept funktionierte nicht.

Abfall als Ressource

Auf dieser Überlegung basiert das Konzept des Urban Mining. Es betrachtet die Stadt und ihr Abfallaufkommen als Mine für Rohstoffe. Das soll das Denken über Abfall verändern: Müll wird eben nur zu Müll, wenn er als solcher deklariert wird. Im Prinzip sind Abfälle aber „Materialien, über die man keine Information hat“. So beschreibt es jedenfalls Andreas Middendorf vom Fraunhofer-Institut Berlin in dem Buch „Morgenstadt“, in dem verschiedene Forscher des Instituts ihre Ideen zur Stadt der Zukunft präsentieren. Die Autoren sind überzeugt, dass Müll in der Zukunft automatisch weiterverwertet wird. „Unser Traum für die Morgenstadt ist es, dass alles im Kreislauf geführt wird und es keine Abfälle mehr gibt.“

Diese Idee wurde auch schon in einem Konzept mit dem griffigen Namen „Cradle-to-Cradle“ („Von der Wiege zur Wiege“) umgesetzt. Produkte sollen also nicht weggeworfen, sondern nach ihrer Verwendung zur Gänze wieder zu Rohstoffen zerlegt werden. Das Modell steht im Gegensatz zum Cradle-to-Grave-Prinzip („Von der Wiege zur Bahre“), das heute noch größtenteils verfolgt wird: Das heißt, Rohstoffe werden genommen, zu Produkten verarbeitet und verkauft und enden dann auf Mülldeponien oder in Müllverbrennungsanlagen. Der Wert der Materialien ist damit unwiederbringlich verloren. Beim Cradle-to-Cradle-Modell hingegen werden Materialien wieder zu Rohstoffen, die sich in einem Kreislauf bewegen. Der Begriff „Abfall“, wie er heute benutzt wird, existiert in diesem Konzept nicht mehr. Im Video stellt das Cradle to Cradle Products Innovation Institute seine Vorstellung einer Zukunft vor. Benjamin Bongardt von der Umweltorganisatuion Nabu befürwortet das Konzept, hat aber einen Einwand: „Grundsätzlich ist das schon die richtige Herangehensweise. Das Konzept hat aber den Beinamen intelligente Verschwendung.“ Es werde nicht darauf geachtet, ob verschwenderisch mit den natürlichen Ressourcen umgegangen wird.

Die Konzepte der Forscher sind kleine Schritte auf dem Weg zu einer Welt ohne Plastikmüll – das Ziel ist aber wohl noch ziemlich weit entfernt.

Ein Leben auf Probezeit

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Die Zeit für Sören Philipps läuft ab. „Ich darf noch drei Monate und neun Tage an der Uni arbeiten, dann ist Schluss“, sagt er. Philipps sitzt noch einmal in seinem Büro, Universität Hannover, Historisches Seminar, erster Stock. Sie haben den großen Raum samt dem Stuck an der Decke mit einer Wand geteilt, rechts sitzt die Kollegin Professorin, links zwängt sich zwischen zwei Bücherstapel Dr. Sören Philipps, promovierter Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent, Lehrbeauftragter, 43 Jahre. Auf seinem Schreibtisch steht ein beigefarbenes Telefon aus Zeiten der Bundespost, das noch diese großen schwarzen Tasten zum Wählen zieren, rechts daneben klemmen bunte Bücher im Regal. Das Büro ist so groß wie ein Zimmer im Studentenwohnheim, Philipps hat es sich mit einem Kollegen geteilt. Doch jetzt ist auch das vorbei. „Existenzängste?“, fragt er und lacht trocken. „Die habe ich ständig.“

Die nächsten Monate werden darüber entscheiden, ob er noch die Kurve bekommt in die Wissenschaft oder ob er aus der Bahn getragen wird. Schon jetzt reicht es ohne Arbeitslosengeld nicht zum Leben. Dabei fing alles so gut an. Der Magister, den er mit „sehr gut“ abschloss, sodass ihn seine damalige Professorin fragte, ob er nicht eine Doktorarbeit anschließen wolle. Ja, wollte er. „Ich wollte in die Wissenschaft.“ Dann vor elf Jahren die Promotion mit „summa cum laude“, der Bestnote. Philipps kann begeisternd erzählen von seiner Arbeit über die Haltung zweier deutscher Rundfunkanstalten zur Wiederbewaffnung der frühen Bundesrepublik. Präzise und all das parat habend, was sich damals ereignete. Ein Typ, dem man gerne zuhört. Man kann gut verstehen, dass sie Philipps haben wollten am Historischen Seminar und an anderen Instituten. Wenn er heute davon spricht, klingt es wie der Beginn einer Drogenkarriere. Man fühle sich ja geschmeichelt, wenn man vom Professor angesprochen werde, sagt er. „Man wird da angefüttert.“



Tausende Forscher arbeiten in unsicheren Verträgen.

Satte 84 Prozent der 160000 wissenschaftlichen Mitarbeiter an Deutschlands Hochschulen haben mittlerweile Zeitverträge. Sie unterstützen Professoren, schreiben an ihrer Doktorarbeit, managen Organisationskram, und mitunter forschen sie auch. Es gibt volle Stellen, viele halbe Stellen und manchmal nicht einmal das. Kürzlich hat der Wissenschaftsrat, das einflussreichste Beratergremium in der Bildungspolitik, die Zustände im sogenannten Mittelbau angeprangert. Die Nachwuchswissenschaftler gingen in einigen Fächern ein „beträchtliches Risiko ein“, sie seien schlecht bezahlt, eine Forscherkarriere in vielen Fällen unattraktiv. Die Chancen sind geschwunden, dass man am Ende den begehrten Posten als Professor erreicht. Denn Dank allerlei Förderprogrammen und Promotionsangeboten gibt es nun zwar viel mehr Doktoren, also mögliche spätere Professoren. Doch die Zahl der Professoren-Stellen ist in den vergangenen acht Jahren nur wenig gewachsen. Das Leben auf Zeitverträgen erweise sich häufig „erst sehr spät als Sackgasse“, schreibt der Wissenschaftsrat.

Philipps lebt mit kurzen Unterbrechungen seit 14 Jahren von Zeitverträgen in der Wissenschaft. Mal waren es drei Monate am Institut für Politikwissenschaft, mal eine halbe Stelle bei den European Studies. Bis März vertrat er eine Geschichtsprofessorin für ein Semester. Dafür bekam er netto immerhin an die 1900 Euro im Monat. Einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung hat er nicht. Es ist ein Leben auf Probezeit. Und dann gibt es da noch das Dasein als Dozent, der für einzelne Lehrveranstaltungen honoriert wird. Das ist so eine Art Sahnehaube auf dem Cocktail der Unverschämtheiten. Das Rezept geht so: Ein Seminar mit Bachelor-Studenten geht über 17 Doppelstunden, pro Stunde gibt es 25 Euro. Das klingt nicht schlecht und summiert sich auf rund 800 Euro. Doch mit den Stunden an der Uni ist es natürlich längst nicht getan. Man muss das Seminar vorbereiten und danach zig Hausarbeiten korrigieren, jeweils mit individuellem Kurzgutachten. „In Wirklichkeit ist der Arbeitsaufwand drei mal so hoch“, sagt Philipps. Und damit kommt man auf 8,33 Euro – etwas weniger als der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Für die Arbeit eines Doktors der Geschichtswissenschaft. Philipps macht es trotzdem.

„Ich habe den Lebensstandard und das Lebensgefühl eines Studenten“, sagt er. Das klingt beschwingt, doch so ist es nicht gemeint, weil man mit 43 Jahren das Studentenleben durchaus satt haben kann. Wenn er frühere Mitschüler aus seinem Abiturjahrgang trifft, sieht er Mittvierziger in gut bezahlten Jobs mit Kindern. Er hat dann die Rolle des armen Exoten und akademischen Lebenskünstlers. Mit seiner langjährigen Freundin hat er immer wieder über Kinder gesprochen. Die Freundin ist jetzt Mitte dreißig. Es wäre langsam Zeit. Aber jetzt ein Kind, in diese Unsicherheit hinein? „Ich möchte keine Kinder auf Hartz IV großziehen“, sagt Philipps.

Spricht man mit anderen Nachwuchswissenschaftlern, hört man ähnliche Geschichten. Es sind Geschichten von der ständigen Jagd nach dem nächsten Zeitvertrag, nach Drittmittelposten, gesponsert von der deutschen Forschungsgemeinschaft oder dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. Es sind Geschichten von Ausbeutung und Zweifeln, es überhaupt noch auf eine feste Stelle zu schaffen. Doch es traut sich fast niemand, darüber öffentlich zu reden. Die Professoren oder Förderer könnten ja verärgert sein – und den nächsten Vertrag verweigern. Nur wenige haben so viel Mut wie Philipps.

Wer ist verantwortlich für dieses neue Prekariat an Wissenschaftlern? In seinem eigenen Fall gibt sich Philipps auch selbst die Schuld. Er sei zu lange auf Stellen gewesen, die ihn nicht weiterbrachten, habe sich dort vereinnahmen lassen statt Aufsätze und Bücher zu publizieren, habe zu wenig an seinem Netzwerk gearbeitet. Das braucht man eben, um weiterzukommen. Aber das ist nicht alles. „Meine damalige Professorin hat es meisterhaft verstanden, einem Hoffnungen zu machen und dies auszunutzen.“ Man habe ihm und anderen Nachwuchswissenschaftlern Stellen angeboten, auf denen man nicht zum Forschen und damit nicht auf bessere Stellen komme. „Unredlich“ nennt Philipps das. Ebenso wie die übliche Praxis, Mitarbeiter befristet sechs oder zwölf Monate auf halben Stellen schmoren zu lassen, auch wenn der Professor Geld für zwei oder drei Jahre zur Verfügung hat. Der Vorteil für den Chef: die Untergebenen haben mehr Erfolgsdruck. Die Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern ist größer, wer nachlässt, dessen Vertrag lässt er einfach auslaufen.

Wer ist verantwortlich? In Hannover Harry Noormann, der Dekan der Philosophischen Fakultät und damit grob gesprochen der Oberorganisator. Der freundliche Theologie-Professor analysiert die Lage lieber wie ein Forschungsobjekt als von Schuld zu sprechen. Man werde nichts daran ändern können, dass die Uni Zeitverträge produziere als Durchlauferhitzer, sagt er. Die Logik sei, durch den Wettbewerb der Wissenschaftler Innovationen hervorzurufen. Unsicherheit wird so zum Erfolgsfaktor. Aber auch er ist unzufrieden damit: „Die Sensibilität für die Situation der Beschäftigten hat gelitten“, so drückt Noormann es aus. Schuld seien auch die Vorgaben der Politik. Die Länder geben ihren Hochschulen bis auf ein paar Ausnahmen immer weniger verlässliche Haushaltsmittel, der Anteil der befristeten Zuschüsse dagegen wächst seit Jahren. Daran hängen Stellen, die ebenfalls befristet sind. Das sieht auch Philipps als großes Problem.

Ach ja, sagt Noormann, man habe das Thema im Fakultätsrat diskutiert und Empfehlungen beschlossen. Die Verträge sollten drei Jahre laufen und Zeit für die eigene Qualifikation lassen, heißt es da. Das ist gut, aber so eine Empfehlung bindet keinen einzigen Professor. Da kann auch Noormann nichts machen. Für Philipps kommt sie ohnehin zu spät. Nach zwölf Jahren mit wissenschaftlichen Zeitverträgen muss Schluss sein, so will es das Gesetz. Philipps hofft auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Sie soll ihn noch ein paar Jahre finanzieren für seine Habilitation. Für eine Professoren-Stelle wäre er dann trotzdem zu alt. „Ich muss gar nicht Professor werden, mir reicht mehr Sicherheit“, sagt er.

Nach dem Gespräch in Hannover dann die gute Nachricht: Er habe eine volle Stelle bekommen, sagt Philipps am Telefon, ab dem 1. Oktober. Für drei Monate.

"Da hat sich schon der alte Darwin den Kopf drüber zerbrochen"

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Meistens passiert so was ja, wenn man grade gute Laune hat und übermütig wird. Ich zum Beispiel habe neulich fröhlich jemandem am Aufzug verabschiedet, "bis bald", "schön, dass du da warst", "komm gut heim", der Aufzug kam, drin eine Gruppe ernsthafter Aufzugfahrer, der andere stieg ein. Ich wollte noch winken, aber mich auch schon auf den Rückweg ins Büro machen – und lief mit voller Wucht statt durch die Glastür dagegen. Aus dem Aufzug starrten mich die ernsthaften Aufzugfahrer an. Keiner regte sich, nicht das leiseste Lächeln konnte ich sehen. Mir wurde sehr heiß und in meiner Verzweiflung rief ich auch noch "Wow, das war cool!", bevor sich die Aufzugtür ganz schloss. Dahinter fremde Menschen, die ich nicht kannte, aber denen ich jederzeit begegnen kann. Im Aufzug zum Beispiel.  

Zurück im Büro tobte ich ein bisschen herum, wie peinlich das gewesen sei und wie schrecklich es mich nerve zu wissen, dass ich die heiße Scham jedes Mal wieder spüren werde, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. Das Schöne war: Alle Kollegen im Raum stimmten mit zu. Ja, sagten sie, stimmt, Scham ist immer gleich schlimm. Scham nervt extrem. Scham ist vielleicht das nervigste und hemmendste Gefühl überhaupt und sie kann einen immer überkommen, jeden Tag, in jeder Sekunde, wenn mal wieder was runterfällt oder man selbst fällt, wenn man mal wieder zu vorlaut war oder ein Bier zu viel getrunken hat und morgens mit dem Gedanken "Oh mein Gott, ich werde den anderen nie wieder unter die Augen treten können!" aufwacht.  

Wir waren uns einig: Wir brauchen einen Experten, der uns die Scham erklärt. Wir fanden: Jens Tiedemann, Psychologe und Psychotherapeut, der sich seit langer Zeit wissenschaftlich mit Schamgefühlen beschäftigt. Er hat schon diverse Artikel und mehrere Bücher zum Thema verfasst. Vielleicht kann er uns mit der Scham versöhnen. Und mit den Glastüren dieser Welt, die so gerne genau dort sind, wo man selbst gerade langgehen will.  



Wie peinlich!

jetzt.de: Die Idee für dieses Gespräch kam mir, als mir auffiel, dass ich mich immer wieder aufs Neue schäme, wenn ich im Nachhinein an peinliche Situationen denke. Wieso verjährt Scham nicht, im Gegensatz zu zum Beispiel Schuld oder Trauer? 
Jens Tiedemann: Weil Scham sich in unserem Gedächtnis in Form von bildhaften Szenen abbildet. Und weil es beim Schämen immer einen verinnerlichten Anderen gibt, von dem man fürchtet, verachtet zu werden.  

Ein  "verinnerlichter Anderer" muss also niemand Bestimmtes sein?

Nein, das ist das Paradoxe: Oft schämt man sich vor einer anonymen Masse. Zum Beispiel, wenn man im Winter zur Tür rausgeht, es ist glatt und man fällt hin – die meisten Menschen drehen sich sofort um, um zu schauen, ob sie jemand gesehen hat. Scham ist sehr stark an den Blick gebunden. Entscheidend ist auch, ob eine Person zuschaut oder fünf Millionen.  

Bringt uns Scham eigentlich auch etwas, abgesehen von quälenden Erinnerungen?
 
Scham ist es ein zutiefst sozialer Affekt, vielleicht sogar der sozialste, den wir haben, ein Klebstoff, der eine Gesellschaft zusammenhält.  

So wie Moral?
 
Moral hat eher damit zu tun, wie man handelt, da kommen wir in den Bereich der Schuldgefühle. Scham und Schuld werden sehr oft verwechselt – bei Schuldgefühlen geht es darum, was ich jemandem angetan habe. Bei Schamgefühlen geht es eher um das Selbst, darum, was mir passiert ist und was jemand anders gesehen hat.  



Jens Tiedemann

Wenn Scham ein sozialer Affekt ist, dann ist sie erlernt und nicht angeboren, oder?
 
In der Psychologie herrscht darüber Uneinigkeit. Scham ist ein relativ komplexer Affekt, der zusammen mit Schuld erst spät entsteht, mit etwa drei Jahren. Die Anlage ist sicherlich angeboren, genauso wie Angst oder Wut. Aber wie genau die Inhalte der Scham sind, das lernt man. Scham richtet sich nach gesellschaftlichen Konventionen, was erlaubt ist und was nicht. Und es gibt natürlich auch eine familiäre Prägung.  

Gibt es zwischen verschiedenen Gesellschaften Unterschiede, wofür man sich schämt?
 
Von anthropologischer Seite gibt es die mittlerweile etwas veraltete Unterteilung in Schuldkulturen und Schamkulturen. Nach dieser Definition sind Schuldkulturen vor allem die westlichen, christlich-jüdisch geprägten Kulturen, Schamkulturen zum Beispiel die japanische und die islamische. In denen geht es sehr stark um Ehre und Gesichtsverlust. Es ist also schon kulturbedingt, wofür man sich zu schämen hat. Einige Sachen sind aber kulturübergreifend, zum Beispiel in einer öffentlichen Toilette die Tür zu öffnen und jemanden vorzufinden. Nacktheit ist generell etwas sehr Universelles, für das man sich schämt.  

Wie im Paradies...
 
Ja, in der christlichen Kultur geht das zurück bis zum Sündenfall – das ist der Anfang des Schamgefühls und interessanterweise auch der Anfang des Menschseins, da gibt es einen direkten Zusammenhang.  

Was passiert physiologisch, wenn wir uns schämen?
 
Als erstes das, was so eigenartig ist: Die Schamröte tritt uns ins Gesicht. Da hat sich schon der alte Darwin den Kopf drüber zerbrochen. Denn Rot ist ja eine Signalfarbe, die signalisiert "Schau her!" Alles andere, was körperlich beim Schämen passiert, ist eher ein Wegwenden – man verbirgt sein Gesicht, man wendet sich ab. Der Ursprung des Wortes Scham, das indogermanische "kêm", bedeutet auch "sich verhüllen".  

Kann man Scham denn verarbeiten? Muss dafür zum Beispiel ein anderer kommen und sagen "Das war doch gar nicht schlimm!"
 
Nein, das hilft eher bei Schuld, da ist das Gegenmittel die Vergebung des anderen. Bei Scham geht es aber um einen selbst. Ein Gegenmittel für Scham ist, mit einer gewissen Milde auf sich selbst zurück zu schauen. Das gelingt nicht jedem.  

Ich glaube, am häufigsten habe ich mich während meiner Pubertät geschämt. Wieso?
 
Psychologisch wird Scham als die Diskrepanz zwischen einem Ist-Zustand und einem Soll-Zustand definiert, wie ich bin und wie ich gerne sein möchte. Pubertät ist eine Schamzeit par excellence, weil man sich als Identität herausbildet und es sehr stark darum geht, wie man sein möchte, aber einem auch oft bewusst wird, dass man noch nicht dort angekommen ist.  

Es gibt ja auch noch die Fremdscham. Die ist relativ neu, oder?
 
Zumindest gab es den Begriff "Fremdscham" vor fünf Jahren noch nicht. Er weist aber auch eine wichtige Charakteristik der Scham hin: Sie ist extrem ansteckend. Neurophysiologisch ist das belegt, es gibt die sogenannten Spiegelneuronen und mein Gehirn versetzt sich automatisch in den Bewusstseinszustand und das Gefühl eines anderes. Fremdschämen zeigt, wie intensiv ich mich mit anderen identifiziere und mit ihnen verbunden bin. Ich weiß dann nicht mehr genau: Wo höre ich auf und wo fängt der andere an? Wessen Scham ist es eigentlich? Das macht auch viel vom Reiz der Castingshows aus. Sich mit jemand Peinlichem zu identifizieren und doch zu wissen: Ich bin es nicht wirklich.  

Ist das wie Horrorfilme schauen, weil man sich gerne gruselt oder ekelt?
 
Ja, weil man dann spürt, dass man das meistern kann, dass am Ende des Films das Licht angeht und nichts passiert ist. So ist das bei Scham auch.  

In der vergangenen Woche gab es mal wieder eine große Diskussion um Nacktfotos, die öffentlich gemacht wurden. Sorgen die neuen Medien, das Internet und die sozialen Netzwerke dafür, dass wir uns heute mehr schämen oder mehr beschämt werden als früher?
 
Es gibt schon eine größere Schamangst, also Angst davor, dass man im Internet etwas über sich finden könnte, das einen bloßstellt. Andersrum wird sich weniger geschämt. Der Grundsatz "Ich werde gesehen, also bin ich" ist heute oft stärker. Viele glauben, nur in der Reflexion einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu existieren. Dabei kommt es zu einem Überspringen der Scham. Bei Soziologen und Psychologen herrscht ein gewisser Kulturpessimismus vor, dass darum das Schamgefühl verloren geht. Dabei ist die Scham ja extrem wichtig: Sie ist die Wächterin unserer Privatheit. Sie sagt uns, was wir besser nicht preisgeben sollen.

Habt uns bitte wieder lieb!

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Achtung, dieser Text enthält Spoiler!

So ein Happy End macht es sich natürlich einfach: Alle sind glücklich. Mindestens bis an ihr Lebensende. Wahrscheinlich darüber hinaus. Wer soll das glauben? Ein Happy End ist schön, aber immer auch unbefriedigend.
Dass es sich die Macher von „How I Met Your Mother“ mit ihrem Serienfinale eben nicht so einfach gemacht haben, war mutig. Doch die meisten Fans sahen das anders.  

Am 31. März lief in den USA das Finale von „How I Met Your Mother“ im Fernsehen, im August wurde es schließlich in Deutschland ausgestrahlt: In der letzten Folge erfährt man im Schnelldurchlauf, dass Teds Frau Tracy stirbt und Ted am Ende wieder mit Robin zusammenkommt.
Vor allem in den USA und auf Twitter wurde das Finale viel kommentiert und vor allem kritisiert: Die Spannbreite der Kommentare reichte von „that was the worst finale I have ever watched“ bis „what a brilliant finale“. Es gab sogar eine Petition, die forderte, das Ende neu zu schreiben und zu drehen. Gut 22.000 Personen haben unterzeichnet.





Schon wenige Tage nach der Ausstrahlung des Finales in den USA twitterte Craig Thomas, der Erfinder der Serie, dass es einen „Plan B“ gebe. Von Anfang an hatten er und sein Team zwei verschiedene Enden geplant. Der alternative Schluss sollte auf der DVD-Box, die im Herbst erscheint, als Bonusmaterial enthalten sein. Doch nun tauchte er bereits am vergangenen Wochenende im Netz auf. Die Videos wurden teilweise gelöscht, hier kann man das Ende aber noch sehen (Stand: 9.9.14).  

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Die neue Fassung ist vor allem eine gekürzte Version des Original-Schlusses und endet mit drei glücklichen Paaren und ohne Todesfall. Am Schluss sagt Ted: „Und so, Kinder, habe ich eure Mutter kennengelernt.“

Serien- und Filmfans sind oft enttäuscht von Enden, besonders von dramatischen oder offenen Ausgängen. Zum Beispiel nach dem legendären Finale von „The Sopranos“: Die Fans rätseln noch sieben Jahre nach dem Ende der Serie, ob die Hauptfigur Tony Soprano am Ende stirbt oder nicht.  

Dass uns gerade Serienfinale und Filmenden so beschäftigen, so aufregen, liegt einerseits an der Erwartungshaltung, die im Laufe von Staffeln und Filmminuten immer mehr wächst. Um die zu befriedigen, braucht es einen besonderen Schluss – und der ist, seien wir ehrlich, nur selten ein Happy End. Auf der anderen Seite wird der Schluss das Gefühl bleiben, das man mit einer Serie oder einem Film verbindet, das Gefühl, das wir haben, wenn wir nach einem Film aus dem Kino auf die Straße stolpern oder nach der Serie von der Couch aufstehen und Zähneputzen gehen. Tief im Herzen wünschen wir uns, dass die Sache für die Protagonisten gut ausgeht. Es ist ein Dilemma. Eins, das schon viele Fans die Enden von Filmen und Serien umschneiden ließ: Auf YouTube bekommt man 600.000 Treffer, wenn man nach „alternate ending“ sucht. Ein Video mit den zehn schlimmsten Filmenden wurde knapp zehn Millionen Mal angeklickt.  





Auch vom Finale von „The Sopranos“ gibt es mehrere alternative Schlussszenen, vor allem quatschige, in denen Tony Soprano zum Beispiel in der letzten Szene pupst oder die Erde von einem Raumschiff angegriffen wird. Andere alternative Enden entstanden aus emotionalem Antrieb: Fans der in Deutschland relativ unbekannten Serie „Chuck“ waren nach deren offenem Ende so enttäuscht, dass sie ein Happy End bastelten, in dem die Hauptfiguren Chuck und Sarah doch wieder zusammenkommen.  

Der Wunsch, Geschichten umzuschreiben, existiert vermutlich so lange wie das Geschichtenerzählen selbst. Erste einzelne Fan-Fiction-Autoren, die die Geschichten um ihre Hauptfiguren um- oder weitererzählen, sind seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Damals schrieben sie die Geschichten von Jane Austen oder um Sherlock Holmes weiter. Seit es YouTube und Schnittprogramme gibt, mit denen auch Laien umgehen können, ist Fan-Fiction auch im Bewegtbild möglich. Längst hat nicht mehr nur der Geschichtenerzähler allein das Recht, seine Geschichte zu Ende erzählen. Er muss es sich mitunter mit seinen Lesern und Zuschauern teilen.

Die Filme- und Serienmacher haben das erkannt. Heute ist es ein wenig Mode geworden, dass sie selbst Alternativen anbieten und sich damit auch nach den Wünschen der Zuschauer richten. Manchmal, wie bei dem Science-Fiction-Film „I Am Legend“ mit Will Smith, um als alternatives Ende auf der DVD noch den Schluss der Romanvorlage zu berücksichtigen. Manchmal auch, um die Fans zu versöhnen, wie bei „How I Met Your Mother“: Für die „Final Haters“ gibt es jetzt optional ein Happy End, oder wenigstens einen offenen Schluss. Für den Moment sind jedenfalls alle Protagonisten glücklich. Viele Fans auch. Damit geht der Plan der Macher der Serie auf, die ihre Fans wohl vor allem deshalb besänftigen wollten, damit diese die DVD-Box mit dem Bonusmaterial kaufen.  

Manchmal beweisen die Drehbuchautoren mit alternativen Enden auch einfach Humor, wie bei „Breaking Bad“: Auf der DVD gibt es ein alternatives Ende, das „Breaking Bad“ als Prequel der Comedy-Serie „Malcolm mittendrin“ inszeniert: In dem Video wacht der Walter-White-Darsteller Bryan Cranston plötzlich als Hal Wilkerson aus „Malcolm mittendrin“ auf. In der Sitcom spielte er einen überforderten, aber sehr liebenswerten Familienvater. Was er in „Breaking Bad“ erlebt hat, war demnach nur ein Albraum. „Ich war ein Weltklasse-Chemiker und kochte ultrareines Methamphetamin“, erzählt er seiner Frau Lois. Die lacht nur uns sagt: „Als ob du irgendetwas kochen könntest!“  
Und tief im Herzen sind wir schon froh, dass es noch ein Ende gibt, in dem es Bryan Cranston gut geht. Ob als Walter oder als Hal, ist dann auch ganz egal.

http://www.youtube.com/watch?v=GtYNX3JWzjc 

Mein Professor macht mich an. Wie kann ich mich wehren?

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Alles fing auf einer kleinen Weihnachtsfeier des Fachbereichs an, die in einem Restaurant stattfand. Nach dem gemeinsamen Essen zerstreute sich die Gruppe. Einige gingen nach Hause. Manche, darunter auch mich, verschlug es an die Bar. Es wurde viel getrunken. Ich unterhielt mich mit zwei Kommilitonen über unsere Abschlussarbeiten. Das Übliche. Plötzlich tauchte mein betreuender Professor neben uns auf. Zwei Drinks in der Hand. Einen reichte er mir. „Für dich, Vera!“ Die zwei Kommilitonen starren mich an. Ich wurde rot. Peinlich. „Danke“, sage ich. Der Professor blieb bei uns stehen und wollte wissen worüber wir reden. Als ich ging, sprach mich eine Kommilitonin an: Der Professor sei ja bekannt für seine Anmachen. Also hatte sich die Geschichte mit dem Drink schon herumgesprochen.  

Ab diesem Tag war es mir unangenehm mit ihm alleine zu sein. Es war zwar nichts passiert und vielleicht übertrieb ich auch, aber ich hatte das Gefühl, dass er unser Student/Dozent-Verhältnis nicht wahren wollte. „In diesem Fall können sich die Studentinnen oder Studenten an die Frauenbeauftragten, die Rechtsabteilung oder an eine Studien- oder Konfliktberatungsstelle wenden“, sagt Mechthild Koreuber, Frauenbeauftragte an der Freien Universität Berlin.  

Wegen meiner Abschlussarbeit musste ich öfter in seine Sprechstunde. Er erzählte mir, dass er in der Beziehung zu seiner Frau unglücklich sei, sie nur noch wegen der Kinder zusammen wären. Dann fragte er mich, ob wir nicht einmal zusammen ins Theater gehen wollten und anschließend zum Essen. Seine Erzählungen über sein Privatleben und seine Bitte mit ihm auszugehen waren mir unangenehm. Das ging eindeutig zu weit. Ich hätte am liebsten sofort nein gesagt, aber ich wollte nicht unverschämt sein. Ich war in einer schwierigen Situation. Ich wollte ihm klar machen, dass ich kein Interesse habe und ihn gleichzeitig auch nicht gegen mich aufbringen. Ein bisschen feige von mir, aber schließlich würde er auch meine Abschlussarbeit bewerten. Ein Drahtseilakt. Ich sagte ihm, dass ich viel zu tun habe und leider keine Zeit für Theater und Abendessen. Und dass ich die Zeit, die ich hätte, gerne mit meinem Freund verbringe. Ich hoffte, dieser Hinweis würde ihn von seinen Eroberungsversuchen abbringen. „Ich rate dazu, nicht allzu viel über sein Privatleben zu verraten. Andererseits kann es helfen, wenn man sich zum Beispiel nach einer Veranstaltung deutlich sichtbar vom Partner abholen lässt“, sagt Mechthild Koreuber.  

Ich ging auf Abstand. Meine Taktik hieß: Höflich sein, aber keine privaten Gespräche führen. Ich versuchte immer Kommilitonen um mich zu haben. Ich wollte nicht, dass er dachte ich würde seine Anmache genießen. Schließlich hatte ich die Gerüchte gehört, dass er mit seinen Versuchen nicht bei allen Studentinnen so erfolglos war wie bei mir. Ein paar Wochen lang zeigte er mir die kalte Schulter. Offensichtlich war meine Ablehnung nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Ich bekam Angst, dass sich alles auf meine Note auswirken würde. „Falls die Betroffenen einen Gutachterwechsel anstreben, sollten sie bei der Stelle an die sie sich wenden, beispielsweise bei der Frauenbeauftragten ihrer Hochschule, ausdrücklich betonen, ob sie wünschen, dass der Grund des Gutachter/Prüferwechsels anonym bleibt“, sagt die Frauenbeauftragte.   Meine Sorge war glücklicherweise unbegründet. Mittlerweile liegt meine Abschlussarbeit bei meinem Professor und er hat bereits angedeutet, dass er ziemlich zufrieden ist. Ich bin froh, dass sich alles relativ problemlos geregelt hat. Vielleicht hat er ein neues „Opfer“ gefunden- wer weiß.        

Marie-Charlotte Maas, 26, hat für diesen Text Vera, 25 Jahre, protokolliert, die rückblickend froh ist, dass sie die Annäherungsversuche des Professors einfach souverän ignoriert hat.     
Fünf Tipps zum Umgang mit dem Professor/Dozenten:

1. Alle Studentinnen und Studenten, die sich von ihren Professoren oder Professorinnen angemacht fühlen, können sich an die Frauenbeauftragten, die Rechtsabteilung oder, falls vorhanden, an eine Antidiskriminierungstelle oder an eine Studien- oder Konfliktberatungsstelle wenden. All diese Abteilungen sind natürlich zur Verschwiegenheit verpflichtet.

2. Ab wann gilt das Verhalten überhaupt als sexuelle Belästigung? Grundsätzlich gilt die alte Regel: „Nein heißt nein!“ Wenn der Professor oder der Dozent sich über die Ablehnung der Studentin hinwegsetzt, ist das falsch.  Was als sexuelle Belästigung gilt, steht auch im Beschäftigtenschutzgesetz. Viele Hochschulen haben zudem eigene Regeln im Umgang mit sexueller Diskriminierung/Belästigung.

3. Hat man ein seltsames Gefühl, sollte man vorsichtshalber Gedächtnisprotokolle anfertigen, die man zum Beispiel der Frauenbeauftragten vorlegen kann.

4. Grundsätzlich gilt: Gegenüber dem Professor oder Dozenten besser keine privaten Informationen bekannt zu geben. Hilfreich kann es allerdings sein, etwa nach einer Arbeitssitzung deutlich erkennbar vom Partner abgeholt zu werden.

5. Falls man in Prüfungen steckt und befürchtet, dass sich die Ablehnung auf die Noten auswirken könnte, kann man einen Gutachterwechsel wünschen. Wichtig ist, dass die Studierenden ausdrücklich betonen, ob sie wünschen, dass der Grund des Gutachter/Prüferwechsels anonym bleibt.

Was ist deine Lieblingsstudie?

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Ich bin Linkshänder. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man noch versucht, mich deswegen umzuerziehen, und mich dazu gebracht, mit der rechten Hand zu schreiben. Denn Linkshänder galten früher als langsam und ungeschickt. Heute ist das anders. Denn heute gibt es wissenschaftliche Studien. Eine sagt mir, dass überdurchschnittlich viele Linkshänder hochbegabt sind. Seitdem ich das gehört habe, sehe ich mich in einer Ahnenreihe mit da Vinci, Mozart, Einstein und Picasso – alles Linkshänder.



  

Dieselbe Studie besagt allerdings, dass es unter uns auch überdurchschnittlich viele Minderbegabte gibt. Das bedeutet, dass es im Schnitt keinen Unterschied zwischen der Begabung von Links- und Rechtshändern gibt. Das ist aber nicht so wichtig für mich. Ich wähle aus einer Untersuchung nämlich immer nur die Information aus, die mich interessiert. Und die ist hier: Linkshänder sind häufiger hochbegabt. Diese Trumpfkarte spiele ich immer aus, wenn der richtige Augenblick dafür gekommen ist.  

Der Trick ist nämlich, Studien so zu interpretieren, dass sie dich klüger erscheinen lassen oder deinen Lebenswandel rechtfertigen. Zum Beispiel besagt eine Studie, dass intelligente Menschen nachts später schlafen gehen. Seitdem weiß ich jeden Morgen in der Arbeit, warum ich in der Nacht zuvor wieder erst um halb zwei das Licht ausgemacht habe. Das war ein Zeichen meiner unglaublichen Intelligenz.  

Eine Studie, von der einem jeder zweite Alkoholiker erzählt, lehrt uns angeblich, dass es nicht nur unbedenklich, sondern sogar gesund ist, jeden Abend ein Glas Wein am Abend zu trinken. Dass die Ergebnisse der Untersuchung nicht haltbar sind  – egal. Und dass bei vielen, die auf die Studie verweisen, aus einem Glas schnell auch mal eine Flasche werden kann, ist auch zweitrangig.  

Schließlich geht es beim Zitieren solcher Studien vor allem um die gefühlte Wahrheit. Darum, die Informationen zu filtern, die man gerne hören und glauben möchte und die man stolz der Welt verkünden kann.  

Wie ist bei dir? Welche Studie kramst du hervor, wenn du auf ein besonderes Talent von dir verweisen willst? Welche Untersuchung gibt dir ein besseres Gefühl beim Aufstehen? Kurz: Was ist deine Lieblingsstudie?

Tagesblog - 10. September 2014

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13:45 Uhr: Yeaaaaah, da isses, das erste Herzchen!

Kurze Live-Schalte in mein Büro:

[plugin imagelink link="http://www.reactiongifs.com/r/floppy.gif" imagesrc="http://www.reactiongifs.com/r/floppy.gif"]

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13:32 Uhr:
Behind The Scenes, Teil 2: Im Grafikzimmer herrscht heute eine strenge Schuhordnung.





(Echt jetzt, sowas wollt ihr sehen? Nach Studium und Journalistenschule muss ich Schuhe fotografieren, um meine Leser zu befriedigen? Wehe, ihr sagt das meiner Mutter.)

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13:25 Uhr:
Na gut, ihr netten kleinen Meckerliesen, euer Wille sei mein Imperativ!

Behind The Scenes, Teil 1: Wir hatten gestern Abend eine längere Zukunftskonferenz. Der Chef brachte Bier vorbei, das er noch in seinem Büro hatte. Das Bier, das er brachte: es war ABGELAUFEN!





Nein, Chef will man wirklich nicht sein.  

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12:52 Uhr:
Zum Beispiel mehr Persönliches? Wie wärs damit: Nadja hat ja gestern schon verraten, dass ich gerade beim Burning Man war. Diese Woche posten ja schon alle wie blöd Bildergalerien mit den bombastomanischsten Fotos des Festivals (ist ja auch sehr fotogen, das ganze).

Was ich bis jetzt rätselhafterweise noch in keiner Fotostrecke gesehen habe, ist dieses Objekt hier:





Dabei ist das allgegenwärtig auf dem Gelände.

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12:50 Uhr:
Na, ihr knausert aber heute ganz schön mit Lesenswertpunkten! Wünscht ihr euch was bestimmtes?

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11:59 Uhr:
Bevor wir hier runter in die Kantine flitzen, sei noch diese Sammlung von Grafikdesign-Fails empfohlen - episch!

[plugin imagelink link="http://pbs.twimg.com/media/BhwA4o5IgAAz2i7.jpg" imagesrc="http://pbs.twimg.com/media/BhwA4o5IgAAz2i7.jpg"] 

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11:50 Uhr:
Kennt ihr das Münchner Westend? Das ist schon seit Jahren das angeblich nächste In-Viertel, aber dankenswerterweise hat sich diese Prophezeiung nie so richtig erfüllt.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ch/christian-helten/text/regular/1025424.jpg" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ch/christian-helten/text/regular/1025424.jpg"]

In der neuen Folge von "Meine Straße" erklärt uns Westend-Bewohner Jens den Menschenschlag, der in diesem Viertel wohnt: "entspannt, leicht hippiesk, aber selten hip oder trendy." Ich finde, er hat recht! Hier geht's zur ganzen Folge über die Guldeinstraße.

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10:45 Uhr:
Weil hier in den Kommentaren der dringende Wunsch nach Apple-Content geäußert wurde (ich hätte ja drauf verzichtet, aber bitte): Die größte Frage nach der Präsentation gestern ist die nach der Identität des Mannes, der auf der Bühne mit einem iPhone spielte - und dabei nebst amtlicher Prinz-Eisenherz-Friese diesen lila Schal trug:

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Im Internet heißt er seitdem "Scarf Guy", hat seinen eigenen Fake-Twitter-Account und wird als heißer Verkleidungs-Trend für die kommende Halloween-Saison gehandelt.

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Auch sein Stilvorbild ist längst eruiert:

[plugin imagelink link="https://pbs.twimg.com/media/BxHCo9eCMAAGOzl.jpg" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/BxHCo9eCMAAGOzl.jpg"]

Wer ist der Mann? Wer hat seinen Schal designed? Und: Ist er Single? Wir bleiben dran.

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9:38 Uhr:
Ich bin übrigens Linkshänder. Aber statt großkotzig Studien zur Hochbegabung zu zitieren, sag ich immer nur bescheiden: "Wie Barack Obama."

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9:30 Uhr:
Ein super Steinbruch für unverbindlichen Partygesprächsstoff: wissenschaftliche Studien. Vor allem, wenn die irgendwas belegen, was einen selbst in feinem Licht dastehen lässt. Zum Beispiel: Intelligente Menschen gehen abends später ins Bett. Linkshänder sind besonders oft hochbegabt. Menschen mit Brille sind im Schnitt intelligenter als solche ohne.

Deshalb fragen wir heute im Ticker: Welche Studie zitierst du am liebsten?

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/al/alexander-gutsfeld/text/regular/1025387.jpg" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/al/alexander-gutsfeld/text/regular/1025387.jpg"] Ach ja: Ein Glas Rotwein pro Tag macht das Herz fit!

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9:00 Uhr:
Guten Morgen, liebe Friendos! Hier in München-Ost startet der Tag mit einer kapitalen Oberleitungsstörung, weshalb hier alle ein wenig hektischer durch die Flure stapfen.

News und Lesenswertes aus der SZ.de-Konferenz:

- Jean-Claude Juncker, neuer Präsident der EU-Kommission, stellt heute seine Kommissare vor. Der Mann für Digitales wird - wer sonst? - Günter Öttinger.

- Im Kampf gegen den IS erwägt Barack Obama Luftschläge gegen Syrien. Interessant, weil: Jahrelang wollte er genau das nicht.

- Nun ist es statistisch erwiesen: Das Semikolon stirbt aus. Die NZZ hat dazu ein lesenswertes Textchen, bitte hier entlang.



Auch ohne Uni gut gebildet

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Trotz der steigenden Zahl an Studienanfängern weist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im „Bildungsbericht 2014“ auf einen Rückstand Deutschlands hin. 31 Prozent der jungen Leute werden im Lauf ihres Lebens voraussichtlich ein Studium abschließen, heißt es in der am Dienstag präsentierten Studie. Im Schnitt der OECD-Nationen seien es 38 Prozent, in europäischen Ländern wie Finnland, Dänemark oder Polen sogar um die 50 Prozent. Die „Bildungsexpansion“ in vielen Ländern habe Menschen die Möglichkeit verschafft, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen als ihre Eltern. In Deutschland sei dagegen „kein wesentlicher Zuwachs“ von Generation zu Generation zu erkennen. Nur 24 Prozent der Erwachsenen seien höher gebildet als Vater und Mutter; und 65Prozent der jetzigen Studenten stammen aus akademischen Elternhäusern.



In Deutschland studieren weniger Leute als in anderen Ländern.

Allerdings würdigt die OECD in dem jährlich veröffentlichten Statistik-Bericht ausdrücklich das System der Berufsausbildung – und die „damit einhergehenden niedrigen Erwerbslosenquoten“. Das duale System der Lehre in Betrieb und Berufsschule sei wohl ein Anreiz, dass die Neigung zum Studium in Deutschland schwächer ausgeprägt ist als andernorts, schreiben die Autoren. Erst seit dem Bericht 2013 betont die OECD die Besonderheit des deutschen Systems – in den Jahren zuvor hatte es dagegen Konflikte zwischen der Organisation und der Bundesregierung gegeben. Zum Beispiel des Generationenvergleichs entgegnete 2012 die damalige Bildungsministerin Annette Schavan (CDU): „Wenn der Vater Professor und der Sohn Optiker ist, ist das kein Abstieg.“ Die Statistik sei „völlig abwegig“. Neben der Akademikerquote von 31 Prozent werden nach OECD-Schätzung 15 Prozent der jungen Bürger eine Meisterausbildung oder ähnliche höhere Berufsqualifikationen abschließen, die zum Hochschulbereich zählen.

Insofern konnten die politisch Verantwortlichen am Dienstag ohne jeden Groll auf die Ergebnisse blicken. „Deutschland bildet sich wie nie zuvor. Der Erfolg unseres Systems resultiert auch daraus, dass den jungen Menschen mit Hochschulausbildung und beruflicher Bildung zwei gleichwertige Alternativen zur Verfügung stehen. Beide bieten optimale Möglichkeiten für die berufliche Zukunft“, sagte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU). Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) lobte die „enormen Anstrengungen“ der vergangenen Jahre.

Längst gibt es jedoch hierzulande eine Debatte, ob die Studentenzahlen nicht allmählich zu hoch werden. Seit 2011 beginnen jedes Jahr eine halbe Million Studienanfänger. Das gemeinnützige Centrum für Hochschulentwicklung sprach unlängst in einer Analyse vom „Normalfall Hochschulbildung“. Zum Beginn des Ausbildungsjahres vergangene Woche hatte sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) besorgt zu Wort gemeldet: „Wir müssen aufpassen, dass wir noch genügend junge Leute haben, die auch eine duale Ausbildung machen.“ Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) macht gar einen „Akademiker-Wahn“ aus, Zehntausende Lehrstellen seien unbesetzt. „Perspektivisch dürfte sich das Einkommensgefüge zugunsten der beruflich Gebildeten verschieben, wenn der Trend zur Akademisierung weitergeht“, stellte DIHK-Chef Eric Schweitzer kürzlich in Aussicht. Laut OECD allerdings verdienen die deutschen Akademiker derzeit im Schnitt 74 Prozent mehr als Erwerbstätige ohne ein Studium. Eine wachsende Kluft: 2000 lag der Vorsprung nur bei 45 Prozent, im OECD-Schnitt sind es 59 Prozent.

In weiteren Fragen verteilt der Bericht Lob wie Tadel für Deutschland. Nur ein Zehntel der Unter-30-Jährigen sei weder im Job noch in Bildung oder Lehre – im OECD-Schnitt sind es 15 Prozent. Gleichwohl habe der Bildungsaufschwung „nur bedingt zur besseren Teilhabe bildungsferner Schichten beigetragen“. Positiv sei dagegen: 96 Prozent der Vierjährigen nehmen frühkindliche Bildung wahr. Immer mehr Frauen studieren naturwissenschaftliche Fächer. Mittlerweile stellen sie 44 Prozent dieser Absolventen.


MH17 wurde „durchsiebt“

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Das Mitte Juli in der Ostukraine abgestürzte Passagierflugzeug ist von einer großen Anzahl von Objekten durchsiebt worden. Die Maschine sei noch in der Luft in mehrere Teile zerborsten, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten vorläufigen Ermittlungsbericht. Von einer Rakete ist dort nicht ausdrücklich die Rede, aber die beschriebenen Schäden seien typisch für Flugabwehrgeschosse, die in unmittelbarer Nähe ihres Ziels explodieren und eine große Anzahl von Splittern streuen.



Schreckensbild: Von der malaysischen Boing blieben nur die Trümmerteile zurück.

Beim Absturz der Maschine der Malaysia Airlines auf dem Flug MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur starben 298 Menschen. Laut dem 34 Seiten langen Zwischenbericht wurden an Bord keine Probleme festgestellt. Sieben Sekunden nachdem die Flugsicherung am Boden zuletzt Kontakt zur Maschine hatte, brachen um 15.20 Uhr Ortszeit die Aufzeichnungen von Flugschreiber und Stimmenrekorder ab. „Es wurde kein Notruf empfangen“, heißt es im Bericht. Ein Kampfflugzeug sei nahe der Flugroute nicht geortet worden. Der russische Generalstab hatte zehn Tage nach dem Absturz erklärt, ein ukrainischer Kampfjet vom Typ SU-25 sei der Boeing gefolgt.

Es ist die erste Zwischenbilanz der international besetzten Kommission. Gemäß den Regeln der Internationalen Zivilluftfahrtbehörde (ICAO) arbeiten Experten aus dem Herkunftsland der Fluggesellschaft, den Herkunftsnationen der Opfer sowie aus dem Land, in dem die Maschine abgestürzt ist, an der Aufklärung. Die Niederlande, aus denen 192 Opfer kamen, leiten die Ermittlungen. Da keine russischen Staatsbürger betroffen waren, ist Russland den Regeln gemäß nicht beteiligt.

Die Regierungen der Ukraine, der europäischen Staaten und der USA gehen davon aus, dass die Maschine von prorussischen Separatisten abgeschossen wurde. Einer von deren Anführern hatte kurz nach der Katastrophe im Internet den Abschuss eines ukrainischen Militärflugzeuges gemeldet. Als sich herausstellte, dass eine Passagiermaschine getroffen wurde, entfernte er den Eintrag von seiner Website. Der ukrainische Geheimdienst hatte ein Telefonat veröffentlicht, in dem ein prorussischer Kämpfer einem zweiten gestand, versehentlich ein Zivilflugzeug getroffen zu haben. Mehrere Separatisten bestätigten Journalisten gegenüber, dass sie zum Absturzort geschickt wurden, um den Piloten zu ergreifen. Piloten von Kampffliegern können sich bei einem Angriff mit dem Schleudersitz retten.

Das russische Luftfahrtamt kritisierte den Bericht als wenig aussagekräftig. Bis zu seinem Erscheinen sei „zu viel Zeit verstrichen“, sagte ein Sprecher. Die Leichen der Passagiere hätten lange ohne Untersuchung am Absturzort gelegen, die Wrackteile seien in der Kampfzone möglicherweise beschädigt worden. Miroslaw Rudenko, Sprecher der Separatisten, sagte indes Interfax, der Bericht belaste die Regierung in Kiew: „Es ist offensichtlich, dass es eine Provokation der ukrainischen Armee war, um Russland und die Volkswehr zu diskreditieren.“ Ihre abschließenden Ergebnisse wollen die Experten bis nächsten Juli vorlegen – wenn es die Situation an der Absturzstelle zulässt.

Der Letzte seiner Art

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Dieser Schatten vor dem Schaufenster, in der blauen Stunde der Hamburger Dämmerung. Steht da wer? Auf dem Kopfsteinpflaster hinter dem Bahnhof spiegelt sich Neonlicht: Videoshow-Pink. Erotikclub-Gelb.

Der Kragen seiner schweren Jacke ist hochgeschlagen, gegen den Regen und gegen die Zeit. Der Mann muss warten, bis sich gegenüber was tut, in der versteckt liegenden Moschee. Aber könnte er sagen, worauf? Und weiß er, dass er ein Dinosaurier ist, kurz vor dem Aussterben, der Letzte seiner Art?



Philip Seymour Hoffman in seiner letzten Rolle.

Günther Bachmann ist ein deutscher Geheimdienstmann. Für Männer wie ihn muss einst das Wort „Schlapphut“ erfunden worden sein. Längst klingt es wie aus der Zeit gefallen – genau wie Spione, die wirklich noch im Nieselregen draußen stehen und den Kragen hochschlagen. Statt einfach, omnipräsent und entspannt, im Hightechbüro in ihren Sesseln zu lümmeln und durch gehackte Smartphones in die Schlafzimmer ihrer Opfer zu starren.

Dieser Bachmann war jedenfalls einst in Beirut und hat dabei zu viel gesehen. Jetzt muss er im Inland weiterspionieren. Auch die Lage erfordert es. Denn in den Hamburger Moscheen beten vielleicht Attentäter, neue Dschihadisten könnten dort heranreifen. Was nun wirklich niemanden wundern würde, siehe Mohammed Atta. Siehe auch: 9/11, die Vorgeschichte.

Philip Seymour Hoffman stattet diesen deutschen Helden – denn ein solcher ist er zweifellos, auch noch und sogar besonders am Ende der Geschichte – mit seiner einzigartigen Präsenz aus. Was man hier wirklich ein Geschenk nennen muss.

Wenn er so vor der Moschee lauert und schließlich den jungen Informanten herauskommen sieht, den er mühevoll angeworben hat, sie beide in einen Kiosk gehen, ohne sich anzuschauen, und unter der Hand ein Päckchen Zigaretten austauschen, das dann geheime Informationen enthält – da spürt man eine große Romantik, ja fast schon ein blutendes Herz.

So war sie einmal, die Geheimdienstarbeit. Persönlich, fußläufig, nur durch Kreppsohlen vom Boden der Tatsachen getrennt. Alles dagegen, was heute ist – Massenabhörwahn, Drohnenkrieg, Big Data – wirkt dagegen wie die reinste Barbarei.

So zumindest suggerieren es der britische Schriftsteller John le Carré in seiner Romanvorlage und der holländische Regisseur Anton Corbijn, die sich für die Verfilmung von „A Most Wanted Man“ zu einem kongenialen Nostalgie-Gespann zusammengefunden haben.

Und wer weiß: Vielleicht hat John le Carré, der als junger Agent des Secret Service einmal selbst in Hamburg stationiert war, tatsächlich manch geheime Zigarettenschachtelbotschaft im Rotlicht des Bahnhofsviertels ausgetauscht. Davon will er jedenfalls erzählen, auch mehr als fünfzig Jahre nach der Erfindung seines Meisterspions George Smiley und nach „Der Spion, der aus der Kälte kam“, seinem Durchbruch und Welterfolg.

Nur heute sind es eben interessanterweise die Deutschen, denen le Carré solch ehrlich-unzeitgemäße Geheimdienstarbeit noch zutraut. Die Amerikaner, hier verkörpert von Robin Wright, verbindlich im Ton, aber am Ende völlig skrupellos, schweben in ihren Cybersphären und greifen am Ende nur rachsüchtig die Ergebnisse ab. Die Briten wiederum sind derart von den Amerikanern dominiert, dass sie es aus dem Roman gar nicht mehr in den Film geschafft haben.

Günther Bachmann dagegen würde man die spezielle Agentenfähigkeit noch zutrauen, die George Smiley immer ausgezeichnet hat – innerhalb von Sekunden in einer Menschenmenge zu verschwinden. Vielleicht ist er kein legitimer Nachfolger, aber ein illegitimer. Dazu passt, dass seine Einheit nicht mal einen Namen hat. „Wir existieren nicht“, sagt Bachmann. Auch le Carré weiß, dass deutsche Spione nicht einfach in Hamburg anwenden können, was sie in Beirut gelernt haben.

Im konkreten Fall geht es darum, einem besonders angesehenen und moderaten Imam, der keineswegs Hass predigt, eine Falle zu stellen – weil aus seinem engsten Kreis die Information kommt, dass er mit Spendengeldern Terroristen finanziert. Nun braucht es Beweise, und dafür kommt ein gläubiger und zugleich völlig unschuldiger Tschetschene ins Spiel, der Asyl sucht und als Schachfigur missbraucht wird – mit ihm, hat le Carré gesagt, wollte er dem Guantanamo-Opfer Murat Kurnaz eine Art Denkmal setzen.

Mit unter die Räder geraten eine deutsche Asylanwältin (Rachel McAdams) und ein Hamburger Bankier mit Gewissensbissen (Willem Dafoe). Bachmann aber ist der Schachspieler, unterstützt von tollen Kollegen (Nina Hoss, Daniel Brühl), die alles für ihn tun würden. Weil er, trotz seiner illegalen und zum Teil recht rabiaten Methoden, niemanden vernichten will. Umdrehen, die Täter auf die andere Seite ziehen, darum geht es. Alte George-Smiley-Schule. Aber auch Smiley konnte nie sicher sein, dass er nicht selbst nur eine Schachfigur war, in einem noch größeren Spiel.

Wenn man Philip Seymour Hoffman jetzt in dieser Rolle sieht, kann man das natürlich nicht mehr trennen von dem Wissen, dass der Schauspieler zum Zeitpunkt der Dreharbeiten heroinabhängig war. Dass er – nach vielen Jahren ohne Drogen, unbemerkt selbst von den Kollegen am Set – rückfällig geworden war. Und dass ihn diese Sucht, im Februar in New York, das Leben kosten würde.

Aber diese bodenlos tiefe Erschöpfung, die man zu spüren glaubt, wenn seine Augen in diesem Film manchmal leer werden – ist das wirklich nur die Figur oder Einbildung im Nachhinein? Dieser Weltekel in seinem Blick, dieses Immer-wieder-Aufraffen nach der letzten Niederlage? Da schwingen doch erstaunliche Resonanzen mit, die widerhallen in der Realität dieses hochbegabten, furchtlosen, unbedingten und viel zu kurzen Lebens.

Andererseits strahlt auch ein Kampfgeist aus dieser Performance. Eine starrköpfige Weigerung, den anderen einfach das Feld zu überlassen – all den Nichtskönnern und Schleimscheißern, den vorsichtigen Zynikern und den Lügnern, deren Wort nichts zählt und denen ein zerstörtes Menschenleben nicht mehr wert ist als ein Schulterzucken. Auch die gibt es ja überall, nicht nur in Geheimdienstkreisen.

Günther Bachmann, am Ende unter Druck von seinen Vorgesetzten und Kollegen und von den Amerikanern und eigentlich von allen Seiten, weigert sich, einfach so abzutreten. Er will es noch einmal wissen. Das wird zwar nichts ändern, aber es wird sein Erbe sein.

Die letzte Sequenz, in der diesem Mann buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird, von Kräften, die so viel stärker sind als er selbst – sie fällt nun zusammen mit dem Abschied eines großen Schauspielers. Und fügt dem Werk von Philip Seymour Hoffman noch einmal ein unauslöschliches Bild hinzu.

A Most Wanted Man, GB/D 2014 – Regie: Anton Corbijn. Buch: Andrew Bovell. Kamera: Benoît Delhomme. Mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Willem Dafoe. Senator, 122 Minuten.

Wer bin ich?

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Dies ist ein Porträt einer Person, die nicht existiert. Man weiß eine ganze Menge über diesen Mann, er heißt Aaron Brown. Brown hat struwwelige braune Haare, grüne Augen, einen Leberfleck am Hals und spärlichen Bartwuchs. Er ist 1,82 Meter groß, 72 Kilo schwer, 30 Jahre alt und lebt in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. Er hat einen Bootsführerschein, fährt einen Toyota, spricht Englisch und Spanisch und twittert gern. Im August 2013 musste er eine Telefonrechnung in Höhe von 72,42 Dollar bezahlen. Aaron Browns auffälligste Eigenschaft ist, dass es ihn nicht gibt. Sein Schöpfer heißt Curtis Wallen, er ist 25 Jahre alt und lebt im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Er hat tätowierte Arme, einen dunklen Bart und dieselben Augen wie Aaron Brown – dieselben, nicht die gleichen.

Er wird diesen Tag nie vergessen, sagt er, an dem er Brown endgültig zum Leben erweckt hat. Im April 2013 kam Wallen nach Hause und in seinem Briefkasten wartete ein Brief aus Ohio. In ihm war Browns Führerschein, eine makellose, pinkfarbene Plastikkarte ausgestellt vom Gouverneur von Ohio, in Amerika funktioniert der Führerschein wie ein Personalausweis. Auf dem Umschlag klebte eine Briefmarke mit der amerikanischen Flagge und dem Schriftzug „Liberty Forever“, es ist eine Standard-Marke und fühlte sich doch bedeutsam an, sagt Wallen: „Ich fand das sehr passend.“ Denn die offizielle Bestätigung von Browns Existenz bedeutete für ihn: Freiheit.



Anonym im Netz unterwegs sein: Geht das?

Wallens Aaron-Brown-Projekt begann vor eineinhalb Jahren. Er war gerade mit dem College fertig, wo er Fotografie studiert hatte, arbeitete als Assistent einer New Yorker Künstlerin und beschäftigte sich mit der Frage, was Identität bedeutet – gerade in Zeiten des Internets, in dem sich jeder ein wenig neu erschaffen kann. Er las viel über Überwachung im Netz, über die Online-Fahndung der US-Behörden nach Terroristen, über die Internet-Aktivitäten der NSA, des CIA und FBI, über die Geschäftsmethoden der Internetkonzerne wie Facebook oder Google, die mit den Daten der Internetnutzer Geld verdienen, und über technische Möglichkeiten und Grenzen. Er wollte, dass seine Daten, seine Identität, wieder ihm gehören. „Ich habe versucht, zu verschwinden“, sagt er. Wallen richtete eine neue E-Mail-Adresse ein und kaufte einen gebrauchten Laptop auf einer Kleinanzeigen-Website, zur Übergabe trug er seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Er löschte alle Daten auf dem Rechner und installierte eine Verschlüsselungssoftware. Doch sein normales Online-Leben konnte er nicht führen. Jedes Mal, wenn er sich bei Facebook einloggte, wenn er für ein Projekt im Internet spendete, bei einem Online-Händler einkaufte, eine E-Mail schrieb oder empfing oder bei Google recherchierte, sammelte jemand seine Daten. Die Informationen-Jäger waren überall. „Ich habe schnell gemerkt, dass man nicht verschwinden kann.“ Die einzige Lösung, dachte er, sei eine neue Identität. Nur jemand, der gar nicht wirklich existiert, kann anonym sein im Internet.

Das war der Anfang von Aaron Brown. Wallen schoss Fotos von sich selbst und seinen drei Mitbewohnern. „Ich brauche das für ein Projekt, macht euch keine Gedanken“, sagte er. Er hat sie nicht eingeweiht, er hat niemandem von seiner Idee erzählt. Geheimhaltung und Unauffälligkeit sind der Schlüssel zum Versteckspiel. Aus den vier Fotos mischte er am Computer mit Photoshop ein neues zusammen: Das Kinn vom einen Mitbewohner, die Nase und die Haare vom zweiten, die Stirn vom dritten und Wallens eigene Augen. Aaron Brown hatte ein Gesicht.

„Irgendetwas fühlt sich immer komisch an, wenn ich Aaron Brown anschaue“, sagt Wallen heute. „Wahrscheinlich liegt es an den Augen. Ich sehe sie jeden Morgen im Spiegel und dann plötzlich in einem anderen Gesicht.“ Doch ein Passfoto reichte nicht, Brown brauchte ein Leben. Jeder Spion weiß: Eine glaubwürdige neue Identität braucht eigene Interessen, sie muss Spuren hinterlassen haben – und sie braucht Ausweise. In der Schattenwelt des Internets, dem so genannten Deep Web, suchte Wallen auf seinem verschlüsselten Computer nach Dingen, die Aaron Brown zum Leben erwecken würden.

Das Deep Web ist der Teil des Internets, in der keine normale Suchmaschine wie Google etwas findet, weil alle Daten verschlüsselt oder durch Passwörter geschützt sind. Erst wenn ein User eine spezielle Anfrage an die Datenbank schickt und das Passwort kennt, produziert diese das gewünschte Ergebnis. Im Deep Web sind nicht nur Kriminelle unterwegs, auch die Informationen der Nasa sind hier gespeichert oder die Kataloge von Bibliotheken, für die man Passwörter braucht. Man findet im Deep Web aber auch Datenbanken und Netzwerke für Waffen- und Drogenhändler, Auftragsmörder und allerlei falsche Ausweispapiere.

„Am Anfang war das Trial and Error“, sagt Wallen. „Ich musste erst einmal lernen.“ Durch das Deep Web bewegte er sich mit Hilfe von Tor, einer Art digitalem Schleier. Das Netzwerk ist eine kostenlose Software, mit der er einigermaßen anonym im Internet surfen kann, sie verschlüsselte Wallens Verbindung mehrfach und leitete sie über Zwischenstationen um. Mit Tor waren seine Bewegungen im Internet für Überwacher schwer nachzuverfolgen.

Wallen besorgte Bitcoins für Aaron Brown, das Internet-Zahlungsmittel, das man in Dollar tauschen kann, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit den Bitcoins kaufte er einen Studenten-Ausweis, eine Autoversicherungskarte, die Kabelrechnung, den Bootsführerschein, einen Ausweis der Zugehörigkeit zu einem amerikanischen Indianer-Stamm und den Führerschein im Deep Web – alles gefälscht für insgesamt sieben Bitcoins, damals waren das rund 400 Dollar.

Browns Interessen konnte er sich nicht aussuchen, er musste nehmen, was er kriegen konnte. „Das Projekt war schwerer, als ich dachte, aber aus anderen Gründen“, sagt Wallen. „Es ist leicht, eine neue Person im Internet zu erschaffen, aber es ist sehr schwer, es richtig zu machen. Man muss ständig aufpassen, dass man sich nicht verrät.“ Ihm sind viele kleine Fehler unterlaufen, er hat zu viel seines Versuchs, nicht dokumentiert zu werden, selbst dokumentiert.

Die größte Herausforderung, sagt er, war stets darauf zu achten, die richtigen Programme, Netzwerke und Deep-Web-Marktplätze mit den richtigen Kennwörtern zu verwenden. Es gab schließlich E-Mail-Adressen, die mit ein paar Tricks zurück zu Curtis Wallen geführt hätten. An Wallens Bildschirm in seiner Wohnung in Brooklyn klebte seit dem Anfang des Projekts ein Post-it: „Vermische die Identitäten nicht“. All seine Passwörter schrieb er in ein Notizbuch, den einzig sicheren Ort vor den Datensammlern. „Wenn jemand sich wirklich bemühen würde, könnte er wahrscheinlich eine Verbindung zwischen Aaron Brown und mir herstellen. Ich würde mir wünschen, dass es nicht ginge, aber wenn die Behörden einen wirklich finden wollen, schaffen sie es doch fast immer. Es wäre allerdings nicht leicht.“

Im vergangenen Oktober hat das FBI zum Beispiel nach jahrelanger Suche den ausgesprochen gewieften Betreiber des Deep-Web-Netzwerks Silk Road verhaftet, eine Art Ebay für Gangster. Wichtig für Aaron Browns Glaubwürdigkeit war außerdem Twitter, der falsche Mensch muss sich äußern – aber ohne auf Wallen hinzuweisen. Der 25-Jährige hat Browns Twitter-Konto @aaronbrown216 mit einem Programm verbunden, so dass jeder den Account benutzen und in Browns Namen twittern kann. Erst twitterten nur ein paar inzwischen eingeweihte Freunde unter dem Namen, dann wurden es mehr und mehr Menschen, es gibt Liebeserklärungen, Witze, Beschimpfungen und politische Statements unter @aaronbrown216. Gerade hat einer „Fuck you Curtis Wallen“ getwittert. Wallen kichert, als er das sieht. „Seit es ein paar Medienberichte über das Projekt gab, ist die Verbindung von Aaron Brown zu mir nicht gerade ein Geheimnis.“ Aaron Brown sei ihm ans Herz gewachsen, sagt Wallen. „Aber ich bin jetzt an einem Punkt, an dem ich finde, dass jeder mit ihm machen kann, was er will.“

Aaron Brown lebt. „Gerade sucht er nach einer Wohnung in Cleveland, habe ich gehört“, sagt Wallen – und grinst. Schließlich sei sein geheimer vorheriger Wohnsitz ja bekannt, seit Wallen in den Medien von ihm erzählt. „Aaron mag aber Anonymität.“ Das Spiel mit den Identitäten macht Wallen Spaß, manchmal redet er von ihm wie von einer richtigen Person und manchmal ist er nur ein Projekt. „Als plötzlich Leute auf Spanisch über @aaronbrown216 twitterten, dachte ich: Wow, wo hast du denn Spanisch gelernt, Aaron?“ Nun sucht er für Brown nach einer Wohnung in Cleveland, die er für ein bis zwei Monate mieten will. Dort soll Brown dann mit seinem Computer, seinen Fotos, dem Post-it und all seinen Dokumenten einziehen, Wallen will das dokumentieren – es wird eine Art Galerie, die zwar niemand besuchen soll, die man aber im Internet aufspüren kann. Mit den falschen Ausweisen hat Wallen Gesetze gebrochen, er hat deswegen schon mit einem Anwalt gesprochen. Die Polizei habe sich noch nicht bei ihm gemeldet, aber mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, mit jedem Zeitungsartikel über ihn wächst die Gefahr. Im Oktober spricht er sogar auf einer Konferenz in Deutschland über sein Projekt, auf der „border:none” in Nürnberg. Schlimmstenfalls drohe ihm Gefängnis, sagt er. „Ich habe entschieden, dass es das Risiko wert ist. Ich bin ja jung.“ Er habe niemanden betrogen und hatte keine kriminellen Absichten, darum hofft er auf eine – wenn überhaupt – milde Strafe.

„Die meisten Leute interessieren sich nicht für Datenschutz, weil sie glauben, dass sie nichts zu verstecken haben“, sagt Wallen. „Aber das ist sehr egoistisch. Andere Leute könnten ja etwas zu verstecken haben und einen guten Grund dafür. Auch Martin Luther King wurde vom FBI überwacht und nun ist er ein Nationalheld. Ein gewisser Grad von Anonymität ist wichtig für den Fortschritt der Gesellschaft.“

Wallen ist gleichzeitig Künstler und politischer Aktivist, seine Kunst soll Menschen die Augen öffnen. „Es gibt mit den Regierungen und mit Konzernen wie Facebook oder Google zwei mächtige Gruppen, die ein Interesse daran haben, dass das Internet nicht frei ist“, sagt er. Und: „Der erste Schritt zur Freiheit ist, dass die Leute wissen, was diese Gruppen tun.“ Das Projekt hat sein Leben verändert, sein Leben als Curtis Wallen. Er hat sein iPhone verkauft, als der Berliner Chaos Computer Club die Sicherheitslücken der Handys aufdeckte. Er hat sich bei Facebook abgemeldet. Die Kamera an seinem Laptop hat er mit schwarzem Klebeband zugeklebt. Wenn er im Internet surft, benutzt er Sicherheitsfilter. Er arbeitet nicht mit Windows, sondern mit dem Konzern-unabhängigen Betriebssystem Linux. Alle E-Mails verschickt er mit einer verschlüsselten Software – jede Kleinigkeit, sogar die Einladung zum nächsten Grillabend an einen Kumpel. „Man macht sich bei den Behörden ja schon dadurch verdächtig, dass man Verschlüsselungsprogramme einsetzt. Die denken dann, man hätte etwas zu verbergen“, sagt er. Und: „Das wird sich erst ändern, wenn sie mehr und häufiger benutzt werden, auch für harmlose Dinge.“

Zeitgeist

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Apple, das war einmal diese Firma mit dem Zauberhut, aus dem der Magier Steve Jobs immer wieder neue Produkte hervorholte, die den Alltag veränderten. Den iPod im Jahr 2001. Das iPhone, 2007. Das iPad, 2010.

Doch das ist lange her. Der Aktienkurs, der viele Jahre nur stieg, stürzte 2012 ab. Zuletzt sprang er wieder spürbar nach oben, weil der Konzern für viele Milliarden Aktien zurückkaufte – Apple wusste einfach nicht mehr, wohin mit seinem Geld.



Wird die Apple Watch so kultig wie iPod und iPhone?

Jetzt, im September 2014, hat der Nachfolger des verstorbenen Firmengründers Steve Jobs, Tim Cook, eine iShow aufgeführt, von der sich Aktionäre, Analysten und Apple-Fans Großes versprechen. Der Konzern wagt sich mit der „Apple Watch“ an eine neue Produktklasse, die intelligente Uhr. Sie klopft aufs Handgelenk, wenn eine E-Mail kommt; sie zeichnet den Puls auf, wenn der Träger Sport macht; sie zeigt, wer sich gerade sich gerade auf Facebook anfreunden will. Die Uhr sei das „intimste Gerät“, das der Konzern je gebaut habe, schwärmt Tim Cook, als er das Gerät am Dienstagabend im kalifornischen Cupertino vorstellt, wo der Konzern sitzt. Die Uhr kann den Herzschlag aufzeichnen und an den Partner schicken.

Apples Trick besteht nicht darin, dass der Konzern vor allen anderen auf die Idee kommt, zum Beispiel einen digitalen Musikspieler für unterwegs zu entwerfen oder einen Computer in ein Handy einzubauen. Aber die Apple-Geräte waren stets die richtigen Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort, begleitet von einer enormen Marketingmaschine. Auch sogenannte Wearables – also computerähnliche Geräte, die man am Körper trägt – sind bereits einer der großen Trends der vergangenen zwei Jahre. Immer mehr Menschen tragen verschiedene Arten von Sensoren, um zu zählen, wie viele Schritte sie täglich gehen. Darüber hinaus gibt es bereits Computeruhren mit Bildschirm, die auf neue Nachrichten oder die Wetterprognose hinweisen – LG, Sony und Samsung bieten solche Geräte schon an. Und nun also eine Armbanduhr aus Cupertino mit Internetanschluss. Das soll jetzt die nächste Revolution werden?

Die Analysten waren sich vor der Präsentation nicht einig. Die Investmentbank Morgan Stanley hatte im Juli vorgerechnet, dass Apple 30 bis 60 Million Uhren verkaufen könnte. Das wären mindestens 10,5 Milliarden Dollar zusätzlicher Umsatz. 2007, im ersten iPhone-Quartal, verkaufte Apple fast 1,2Millionen Smartphones. Im vergangenen Jahr hat Apple mit allen Produkten rund 171 Milliarden Euro erlöst, der Gewinn lag bei 49 Milliarden Dollar, etwas weniger als zuvor. Der Marktforscher Jan Dawson hat Tausende Konsumenten befragt, um die Erfolgsaussichten einer Apple Watch einzuschätzen. Die Ergebnisse dürften dem Konzern nicht gefallen haben: Kaum ein Konsument wartet darauf, mit seiner Uhr Körperwerte zu messen oder Banküberweisungen zu tätigen. „Die intelligenten Uhren versuchen bisher, Bedürfnisse zu erfüllen, die die meisten Menschen einfach nicht haben“, sagte Dawson. Die Börse reagierte gemischt auf die neue Uhr: Während der Präsentation stieg der Kurs der Apple-Aktie stark an – um anschließend wieder auf das Ausgangsniveau zu fallen.

Apple verlangt stets einen hohen Preis für seine Produkte und sichert sich so große Margen. Die neue Uhr ist in den USA ab 350 Dollar zu haben, das sind rund 100 Dollar mehr, als etwa Samsung für sein Gerät als Preis empfiehlt – allerdings erst 2015. Apple setzt nicht nur auf neue Uhren, auch das iPhone bekommt eine Politur: Erstmals hat der Konzern iPhones in zwei Größen vorgestellt. Darunter ist eines, das dem zunehmenden Trend zu immer größeren Handys Rechnung trägt. Der Bildschirm ist 5,5 Zoll groß, das sind 14 Zentimeter. Diese Gerätekategorie heißt in der Branche Phablet, ein Mischwort aus dem kleinen Phone und dem Tablet, zu denen das iPad gehört. Ihr Marktanteil hat sich seit 2013 binnen Jahresfrist verfünffacht, haben die Analysten der Firma Flurry berechnet. Es geht zudem um mehr als die technische Verpackung. Schon der Musikspieler iPod war nicht allein ein Design-Schmuckstück. Der Erfolg stellte sich auch ein, weil es Steve Jobs gelungen war, einen für die damalige Zeit revolutionären Pakt mit der Musikindustrie zu schließen. Erstmals konnte man sich Lieder für rund einen Dollar pro Stück herunterladen – völlig legal.

Den richtigen Zeitpunkt könnte Apple nun wieder mit seinem neuen Dienst erwischen: „Apple Pay“ soll das mobile Bezahlen ermöglichen, der Konzern kooperiert zu diesem Zweck mit amerikanischen Kreditkartenanbietern. Dies wird es zumindest Besitzern des neuesten Apple-Handys erlauben, mit ihren Smartphones überall dort zu bezahlen, wo Kreditkartenterminals bereits auf kontaktloses Bezahlen umgestellt sind. Diese Umstellung ist derzeit in den USA im Gange. Aus Sicherheitsgründen soll das alte Verfahren abgeschafft werden, bei dem die Daten lediglich von einem Magnetstreifen ausgelesen werden. Auch in Deutschland wollen Kreditkartenunternehmen auf das Bezahlen per Funk umstellen.

Sowohl für das mobile Bezahlen als auch für die Fitnessfunktionen hat Apple vorgearbeitet, die entsprechenden Apps sind fertig. Der Fingerabdrucksensor, der bereits mit dem iPhone 5s kam, soll künftig Geldtransfers auf vergleichsweise sichere Weise authentifizieren.

Das gierige Netz

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Kieren Mayers hat sich wirklich bemüht. Er hat sich die neuesten verfügbaren Daten besorgt. Er hat alle erdenklichen Faktoren berücksichtigt: die Zeit, die Kunden im Online-Laden herumklicken, den Stromverbrauch der Internetverbindung, das mangelnde Recycling der Paletten, mit denen die bestellte Ware transportiert wird, den Füllgrad der Lastwagen auf der Rückfahrt zum Lager. Er hat gerechnet, abgewogen, aufgeschrieben.

Und er ist zu einem überraschenden Schluss gekommen. Mayers, Informatiker an der privaten Insead Business School im französischen Fontainebleau, ist überzeugt, dass es fürs Klima günstiger ist, wenn Besitzer von Spielekonsolen ihre neuen Programme nicht herunterladen, sondern ganz altmodisch im Geschäft kaufen – zumindest solange die Spiele nicht kleiner sind als 1,3 Gigabyte. Dann belasten der Download und der damit verbundene Stromverbrauch die Umwelt mit bis zu 27,5Kilogramm des Klimagases Kohlendioxid, während der Kauf im Laden lediglich 20,8 Kilogramm CO₂ verschlingt.



Das neue U2-Album: Herunterladen oder im Laden kaufen?

Kieren Mayers trifft mit seiner Studie, veröffentlicht im Fachblatt Journal of Industrial Ecology, einen Nerv. Private Daten liegen – wenn sie nicht von Hackern veröffentlicht werden – zunehmend in der „Cloud“, einem Speicher in fernen Datenzentren. Musik wird fast nur noch digital verbreitet; sie wird entweder online gekauft oder über eine Flatrate auf Computer und Smartphones übertragen. Auch Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sind längst nicht mehr nur auf Papier zu haben.

Wie sich die Digitalisierung und die damit verbundenen Datenberge, auf Stromverbrauch, CO₂-Ausstoß und Klima auswirken, ist zu einem großen Problem der modernen Welt geworden. Mayers’ Studie ist hier ein weiteres Mosaiksteinchen. Seine Untersuchung, so sorgfältig sie ausgeführt wurde, zeigt aber auch, wie schwer es ist, die Folgen der Datenflut zu quantifizieren: Einschränkungen, Annahmen, Interpretationen nehmen fast die Hälfte der 14-seitigen Studie ein.

Das beginnt bei der zentralen Frage, wie viel Strom die Datenzentren brauchen, wenn sie Informationen speichern und im weltweiten Netz verteilen. Viel und immer mehr, wäre die einfache, unwissenschaftliche Antwort: Mehr als zehn Prozent des deutschen Stromverbrauchs fließen derzeit in den Informations- und Kommunikationssektor, ergeben Berechnungen von Fraunhofer-Forschern. Bis zum Jahr 2020 soll der Wert auf 20 Prozent steigen. Etwa 33Millionen Tonnen Kohlendioxid blasen Computer & Co. jährlich in die Luft, so das Umweltbundesamt – mehr als der Flugverkehr in Deutschland.

Streng wissenschaftlich ist die Frage nach dem Verbrauch der einzelnen Bits und Bytes viel schwerer zu beantworten. Die meisten Datenzentren werden von privaten Firmen betrieben. Informationen zu Datendurchsatz und Stromverbrauch bleiben unter Verschluss. Zwar behauptet Google, 100 Suchanfragen würden nur so viel Strom verbrauchen wie das Bügeln eines Hemdes – und von einmal Wäschewaschen könne man drei Wochen Videos bei Youtube anschauen. Welche Faktoren dabei berücksichtigt werden, bleibt aber das Geheimnis des Internetkonzerns.

Einfach nur den Stromverbrauch durch die verschickte Datenmenge zu teilen, hilft ohnehin nicht weiter: Viele Zentren schubsen nicht nur Informationen ins Internet, sie beschäftigen sich auch mit energieintensiven Berechnungen – zum Beispiel für die Finanzbranche. Jens Malmodin vom Ericsson-Forschungszentrum in Stockholm hat sich deshalb die Verbrauchswerte von sieben großen Rechenzentren, 15 Bürogebäuden und 58 Geschäften beschafft und mit Datenblättern von 100000 Komponenten in Computern, Netzwerken, Modems und Handys verglichen. Herausgekommen ist die bislang beste Abschätzung des Stromverbrauchs einer Datenübertragung von der Quelle bis zum Endgerät: etwa 1,5 Kilowattstunden pro Gigabyte.

Die Ergebnisse, vor wenigen Monaten im Journal of Industrial Ecology veröffentlicht, beruhen allerdings auf Messungen aus dem Jahr 2010. Neuere Daten sind kaum zu bekommen – ein gravierendes Problem der Computerforscher, schließlich entwickelt sich die IT-Welt rasant weiter: Alle 18,8 Monate halbiert sich der Energiebedarf, der für einen Rechenschritt benötigt wird, so ein empirisches Gesetz, das der Stanford-Informatiker Jonathan Koomey vor einigen Jahren aufgestellt hat.

Die Besitzer von Rechenzentren unternehmen zudem große Anstrengungen, um den Betrieb ihrer Stromfresser sparsamer und umweltfreundlicher zu gestalten. Da heutzutage fast die Hälfte des Stroms zur Kühlung der Computer gebraucht wird, zieht es die Zentren in den eisigen Norden. Google und Microsoft lassen in Finnland rechnen, zum Teil gekühlt mit Wasser aus der Ostsee. Facebook betreibt ein Datenzentrum in Schweden. Und Island buhlt mit seinen kühlen Temperaturen und dem umweltfreundlichen Strom aus Erdwärme weltweit um Datenpakete.

Für Malmodin sind die Rechenzentren aber ohnehin nicht die größten Stromfresser. Das Hauptproblem steht zu Hause unterm Schreibtisch: „Die Komponenten in direkter Umgebung der Nutzer haben den größten Einfluss“, sagt der Informatiker. Ein klassischer PC, von denen Malmodin 400 Stück in schwedischen Haushalten untersucht hat, verbraucht demnach 220 Kilowattstunden pro Jahr. Berücksichtigt man den Energiebedarf bei Herstellung und Transport des Computers, ergibt sich ein Kohlendioxid-Ausstoß von mehr als 100 Kilogramm pro Gerät und Jahr. Damit ist der PC für mehr als die Hälfte des klimaschädlichen Fußabdrucks bei der Datenübertragung eines Downloads verantwortlich.

Doch auch hier ist Linderung in Sicht: PCs gelten – zumindest abseits vom Büro-Alltag – als Auslaufmodelle. Im Internet gesurft und bestellt wird zunehmend über Tablets und Smartphones. Hier sehen die Zahlen, die Malmodin ermittelt hat, deutlich besser aus: Ein typisches Handy verbraucht zum Beispiel nur 2,7 Kilowattstunden pro Jahr und belastet die Umwelt mit 24 Kilogramm Kohlendioxid.

Mindestens genauso wichtig wie die Technik ist allerdings das Verhalten der Menschen, so die Erkenntnis von Kieren Mayers: Fahren die Kunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Computerladen und kaufen unterwegs noch im Supermarkt ein, erhöht sich der Umweltvorteil von Programmen auf physischen Datenträgern um ein weiteres Drittel. Steigen die Fans dagegen allein wegen eines neuen Spiels ins Auto und fahren zum Geschäft, könnten sie die Programme auch herunterladen – ganz egal wie groß sie sind.

Dass sich an diesem Verhalten etwas ändern wird, daran hat Mayers große Zweifel: „Die Kohlendioxid-Emissionen bei Herstellung und Vertrieb werden nicht als wichtige Gründe angesehen, die Kunden beim Kauf von Elektronik oder digitalen Medien beeinflussen könnten“, sagt der Forscher. Allen Berechnungen, Abwägungen und Mühen zum Trotz.
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