Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all 6207 articles
Browse latest View live

Gesucht: Scientologys First Lady

0
0
Wurde die Frau des Sektenchefs ins Straflager versetzt? Aussteigerin Leah Remini hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben

Das Celebrity Centre der Church of Scientology in Los Angeles ist ein weißer Palast mit hohen Fenstern und kleinen Türmchen, umgeben von einem gepflegten Park. Hier, mitten in Hollywood, treffen sich Tom Cruise, John Travolta, Kirstie Alley und all die anderen prominenten Mitglieder der religiösen Gemeinschaft. Leah Remini kommt nicht mehr hierher. Die 43 Jahre alte Schauspielerin, hierzulande bekannt durch ihre Rolle in der Fernsehserie "King of Queens", ist Anfang Juli ausgetreten: "Niemand sagt mir, wie ich zu denken habe, und niemand bestimmt darüber, mit wem ich reden darf und mit wem nicht. Ich werde nicht die Klappe halten", erklärte Remini ihren Austritt.



Leah Remini, bekannte Ex-Scientologin.


Der Abschied von Scientology ist mitunter mit einer öffentlichen Schlammschlacht verbunden, in Reminis Fall drehen sich die Streitereien um die Frage: Wo ist Shelly Miscavige? Die Frau von Scientology-Chef David Miscavige ist seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten, nach Angaben der Organisation ist die 52-Jährige "rund um die Uhr im Dienste der Kirche tätig, so wie sie es immer gemacht hat". Diese Auskunft genügte Remini nicht, sie gab in der vergangenen Woche bei der Polizei von Los Angeles eine Vermisstenanzeige auf. Die erklärte rasch, dass die Sorgen Reminis unbegründet seien - die Beamten hätten von Angesicht zu Angesicht mit David und Shelly Miscavige gesprochen und ihre Identität durch einen Ausweis festgestellt. Der Fall sei damit abgeschlossen. Die Polizei verriet allerdings nicht, wo sich Miscavige befindet und ob sie womöglich gegen ihren Willen an diesem Ort ist.

Genau das befürchten Remini und andere ehemalige Scientology-Mitglieder. Sie vermuten, dass Miscavige in einem geheimen Versteck in der Nähe des Lake Arrowhead im Norden von Los Angeles festgehalten wird. "Ich mache mir schon länger Sorgen, das habe ich im Jahr 2010 auch dem FBI erklärt", sagt Amy Scobee, die vor ihrem Austritt im Jahr 2005 das Celebrity Centre der Scientologen in Los Angeles geleitet hatte. Es sei sogar möglich, dass Miscavige zur Rehability Project Force geschickt worden sei. Dorthin werden Scientology-Mitglieder gebracht, die sich Verfehlungen geleistet haben - ehemalige Mitglieder der religiösen Gemeinschaft beschreiben diese Orte als Straflager.

Die Suche Reminis nach ihrer ehemaligen Freundin geht zurück bis zur Hochzeit von Tom Cruise und Katie Holmes im November 2006. Leah Remini wunderte sich damals, warum Shelly Miscavige ihren Ehemann nicht zu der Trauung begleitete. Ihre Nachfrage sei allerdings von einem Scientology-Mitarbeiter abgeblockt worden, erzählt sie. Die Begründung lautete: Sie habe nicht den Status, danach zu fragen. Von diesem Moment an hätten Repressionen gegen sie begonnen, die schließlich zum Austritt geführt hätten, sagt Remini. Kolleginnen wie Katie Holmes und Kirstie Alley hätten Berichte über sie verfasst und sie als peinlich für Scientology bezeichnet. Diese Erlebnisse will Remini bald in einem Buch veröffentlichen. Das Interesse dafür dürfte nach der Vermisstenanzeige gewachsen sein.

Scientology reagierte auf Reminis Anzeige und die Buch-Ankündigung bereits mit einer Mitteilung: "Diese schlecht beratene und unkluge Eigenwerbung verbunden mit den daraus entstandenen Anfragen der Medien sind eine unentschuldbare Ablenkung für die Polizei von Los Angeles." Anstatt ihr Leben weiterzuführen, habe Remini sich "mit einer Handvoll unseriöser, verrückter Boulevardquellen zusammengetan, die die Kirche obsessiv belästigen, um ihre egoistischen Pläne voranzutreiben." Was in der Mitteilung nicht steht: Wo sich Shelly Miscavige denn nun aufhält. Auch tat die First Lady der Scientologen bisher selbst nichts, um die Spekulationen zu zerstreuen. Weder äußerte sie sich, noch ließ sie sich im Celebrity Centre blicken.

Auch prominente Scientologen haben sich mittlerweile zu Remini geäußert. Kirstie Alley etwa richtete anfänglich einige Einträge bei Twitter an Remini; mehreren Medienberichten zufolge soll Alley sich mit Verantwortlichen von Scientology getroffen haben, um sich zu beraten, wie mit dem Ausstieg der Schauspielerin umzugehen sei. Nach der Vermisstenanzeige twitterte Alley nun reichlich unfreundlich: "Jetzt ist dir deine Glaubwürdigkeit aus dem Arsch geflogen. Was ist dein nächster lächerlicher Zug?" Ihren Eintrag versah sie mit einer bei Twitter üblichen Schlagwortmarkierung, einem Hashtag: Sie nannte ihn: schachmatt.


Wie behütet bist du?

0
0
Eltern übertreiben es manchmal mit dem Beschützen ihres Nachwuchses. Damit das Kind bloß nicht scheitert, greifen sie ihm in Schule, Studium und Karriere immer länger unter die Arme. Hattest oder hast du auch solche Wachhund-Eltern?

Der Kampfausdruck heißt "Helikopter-Eltern", was ja erstmal nicht schlimm klingt, sondern ziemlich cool, nach Privatjet und Poolparty. Was dahinter steckt, ist dann allerdings doch eher zum Schaudern: "Helikopter-Eltern" stauchen zum Beispiel Lehrer zusammen, wenn die ihren Kindern im Unterricht das Handy abgenommen haben. Oder wenn sie es wagen zu behaupten, ihr Sohn rauche heimlich. "Helikopter-Eltern" gehen, im Extremfall, verkleidet in die Englischklausur der eigenen Kinder, um deren Abi-Note zu retten. Manche von ihnen kriechen sogar bei der Ostereiersuche in einem Park durchs Gebüsch, damit ihr Kind auf jeden Fall genügend Süßigkeiten abbekommt.



Haben es deine Eltern mit dem Schutz manchmal übertrieben? Oder hättest du dir mehr davon gewünscht?

Mit diesen Anekdoten beschreibt ein Lehrer in der Titelgeschichte des aktuellen Spiegel einen neuen Typus Eltern, der es besonders gut meint mit dem eigenen Nachwuchs, zu gut sogar - und ihn deshalb wie aus einem Hubschrauber heraus verfolgt, bewacht und blind verteidigt. Der Artikel versammelt erwartungsgemäß haarsträubende Geschichten von Vätern und Müttern, die sich wegen der Sitzordnung in der Klasse oder der Zahl der Englischvokabeln beschweren, statt den Gedanken auch nur zu streifen, der eigene Sprössling könnte womöglich ein verwöhntes Blag mit Drogenproblem sein.

Man kann über diese Sammlung an Extremisten-Geschichten den Kopf schütteln, man kann aber auch mal kurz innehalten und die Tickerfrage stellen: Wie protektiv waren oder sind deine Eltern? Haben sie es in deiner Erziehung mit dem Beschützen manchmal übertrieben? Oder hättest du dir, umgekehrt, bisweilen sogar gewünscht, sie wären ein bisschen mehr Wachhund gewesen? Schließlich lebt es sich ja in manchen Situationen doch angenehmer mit einem Helikopter als mit einem, sagen wir, Trekkingrad.

Pinienkerne mit Tagliatelle und Spinat

0
0
Gegessen wird immer, aber jeder macht es anders. In der Kolumne Kosmoskoch dokumentieren jetzt-User und jetzt-Redakteure jeweils eine Woche lang, was am Abend bei ihnen auf den Tisch kommt, und schreiben auf, warum. Heute: jetzt-User cascalar


Diese Woche hat sich jetzt-User
cascalar die Mütze des Kosmoskochs aufgesetzt.

Samstag:




Grüne Tagliatelle mit Rahmspinat und gerösteten Pinienkernen. Zu diesem Rezept gehören eigentlich geröstete Mandelblätter. Die waren bei mir allerdings nicht vorrätig und wurden kurzerhand durch Pinienkerne ersetzt. Die versehentlich etwas groß gewählte Menge an Pinienkernen hätte eigentlich eine Umbenennung des Rezeptes in geröstete „Pinienkerne mit ...“ erfordert. Aber geschmeckt hat das dennoch sehr überzeugend. Getränk dazu: Mineralwasser.




Am Nachmittag gab es dann zum Kaffee noch ein riesiges Stück Apfelstreuselkuchen. Auf ein Abendessen konnte an diesem Tag locker verzichtet werden.  

Sonntag:



Heute gab es ein kleines Filetsteak mit gebratenen braunen Champignons, selbstgemachtem Pesto rosso und Salzkartoffeln. Auf das Steak gab es einen Klecks körnigen Dijonsenf. Dazu gab es ein Glas spanischen Rotwein, Mineralwasser und hinterher einen Espresso.




Als leichtes Abendessen gab es gepfefferte Erdbeeren in einem Zitronensaft-Olivenöldressing mit ein paar Blättchen Basilikum.  

Montag:




Nachdem ich mittags schon einen Freund zum Essen getroffen hatte und die Temperaturen nicht gerade zu schwerem Essen verlockten, gab es am Abend Caprese, bestehend aus Tomaten, Mozzarella, Balsamico-Creme und darüber gestreutem Basilikum. Dazu gepasst hätte ein Pinot Grigio. Getrunken wurde: Mineralwasser.  

Dienstag:



Das Rezept heißt "Pollo al Basilico". Wie man sieht, gehört Basilikum bei mir zu den Grundnahrungsmitteln, denn das gab es auch schon an den beiden vorherigen Tagen. Pollo, also Hähnchenfleisch, war aber wegen der Grillsaison nur entweder mariniert oder in gefrorenen 500-Gramm-Packungen erhältlich. Daher wurde das Gericht kurzerhand in "Tacchino al Basilico" umbenannt. Es bestand daher nun aus Putenbrustfilet, geschmorten Cocktailtomaten, einer Basilikumsoße und grünen Tagliatelle. Getränk: Mineralwasser.  

Mittwoch:




Zu Mittag gab es überbackenen Schafskäse mit Lauchzwiebeln und den restlichen Cocktailtomaten vom Vortag. Dazu mal wieder geröstete Pinienkerne. Getränk: Mineralwasser.




Abends haben wir uns für ein cremiges Fischgratin mit Erbsen, Champignons, Schalotten, Fischfilet und Garnelen entschieden. Da dieses mit einem Weißburgunder angegossen wurde, gab es den restlichen Weißwein als Schorle dazu. Das darübergestreute Grünzeug war diesmal übrigens kein Basilikum, sondern Petersilie. Als Beilage gab es Eliche Tricolore.  

Donnerstag:




Eine bunte Gemüsepfanne aus Zucchini, Paprika und Möhren, bunt gewürzt mit allerlei Kräutern, schön scharf mit reichlich Pfeffer und zunächst durch den etwas zu sparsamen Gebrauch von Salz ein wenig lasch geraten. Dem konnte jedoch schnell abgeholfen werden, da auf dem Tisch immer eine Salz- und eine Pfeffermühle zum Nachwürzen bereitsteht. Dazu gab es Basmatireis und Mineralwasser.  

Freitag:




Zu Mittag gab es Tagliatelle al Limone mit Erbsen, Zitronensaft und hineingeriebener Zitronenschale ...




... und am Abend einen frischen Salat aus Nordseekrabben und Radieschen an einer Vinaigrette und auf Brot angerichtet. Dazu Dill nach Belieben (kann man auch vorher kleinschneiden und untermischen) und als Getränk zu beiden Gerichten Mineralwasser.

Auf der nächsten Seite liest du cascalarsAntworten auf den Fragebogen zur Kochwoche.


Welchen Stellenwert hat Essen in deinem Leben?
Nun ja, es erhält mich am Leben, von daher ist es wichtig. Wenn es dann auch noch schmeckt ... umso besser!

Was ist dir beim Essen und Einkaufen besonders wichtig?

So einzukaufen und zu essen, dass möglichst nichts verschwendet wird.

Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal für dich selbst gekocht hast und wer dir das Kochen beigebracht hat?
Vor dem Kochen war bei mir das Backen. An Weihnachtsgebäck durfte ich mich schon sehr früh alleine wagen, nachdem ich meiner Mutter einige Jahre lang dabei geholfen hatte. Meine beiden ersten Sorten waren Pfefferkuchenplätzchen und Schwarzweißgebäck. Zum Kochen bin ich gekommen, als ich von jetzt auf gleich ein paar Jahre lang für meinen Bruder und mich kochen musste. Ging aber ganz gut, zunächst immer ganz streng nach Rezept. Später habe ich dann (wie jetzt oft auch) immer nur noch nach Gusto die Zutaten zusammengeworfen und abgeschmeckt.

Was war dein Lieblingsessen als Kind?

Kartoffelpuffer mit Apfelmus und Sauerbratenreste am Montag mit gebratenen Kartoffelkloßscheiben.

Was ist dein aktuelles Lieblingsessen?

Rouladen mit Senf bestrichen, gefüllt mit Schinkenspeck und roten Paprikastreifen, gebraten mit mehreren ganzen Zwiebeln und einigen Karotten, dazu Rosmarinkartoffeln aus dem Backofen und vorzugsweise Rotkohl. Wird aber erst in der kalten Jahreszeit wieder aktuell. Außerdem fast jegliche Art von Pasta.

Was magst du gar nicht?

Datteln, Austern, Meeresgewürm mit Saugnäpfen, Schnecken.

Mittags warm und abends kalt oder andersrum?

Wie es gerade kommt, da bin ich nicht wählerisch, solange es schmeckt und satt macht. Tendenziell öfter abends warm.

Wo isst du am liebsten, am Tisch oder auf dem Sofa?

Am liebsten an meinem Küchentisch. Kurze Wege, schneller Nachschub, gut entkleckerbar. Der Platz reicht für vier Personen. Auch zu fünft haben wir es schon hinbekommen, war aber etwas beengt.

Was trinkst du zum Essen?
Zu Hause und allein vorwiegend Mineralwasser oder Tee. In Gesellschaft auch Wein, Sekt oder Bier. Nach dem Essen gern Espresso.

Wie oft gehst du auswärts essen und hast du ein Lieblingsrestaurant?

Es gibt einen Italiener, Villa Lauda, den ich hin und wieder aufsuche. Die Chefin kocht großartig. Alles andere ist eher selten und variabel.

Was isst du, wenn es schnell gehen muss?

Obst, Nüsse oder ein Stück Käse.

Was war das aufwändigste Gericht deines Lebens?
Eine Baumkuchenschichttorte mit Zitronenglasur. Sehr schmackhaft und macht auch optisch was her, aber der Aufwand ist wirklich erheblich. Leider ist mir das Rezept dafür abhandengekommen, aber es ging so ähnlich wie dieses hier. Der Aufwand ist so groß, weil man fast die ganze Zeit in den Backofen peilt, damit die Form genau beim Erreichen einer schönen Oberflächenbräunung herausgenommen wird. Außerdem ist das Auftragen der jeweils nächsten Schicht heikel, weil man ja die vorige Schicht nicht aufreißen darf, was mit dem zähen Teig vorsichtiges Arbeiten unerlässlich macht (nichts für Grobmotoriker).

Hast du ein Standard-Gericht, wenn Eltern oder Freunde zu Besuch kommen?

Nö. Es gibt jedes Mal was Anderes. Sonst werde ich noch festgelegt.

Welchen jetzt-User oder -Redakteur möchtest du als Kosmoskoch sehen?  
Sonnenbluemle hat schmackhaft klingende Rezeptideen. Blueblue meinte neulich, sie hätte demnächst Besuch zu bekochen, das könnte interessant werden. Von Teresa Fries habe ich noch keinen Kosmoskochbeitrag gesehen, meine ich. Ganz toll fände ich auch ein paar Rezepte von Charlotte Haunhorsts Oma als Gastköchin im Kosmos.

Pizza fürs Volk

0
0
Um zu erfahren, wie seine Bürger politisch ticken, hat der norwegische Premierminister Jens Stoltenberg einen Tag lang Taxifahrer gespielt. Wir haben uns überlegt, wo wir die deutschen Politiker hinschicken würden.





Fahrkartenkontrolleur 

Vorteil:
Das gemischte Publikum, zumindest in S-Bahnen und Regionalzügen. Hier trifft der Kontrolleur auf Pendler und auf Säufer, auf Schulkinder, die zum Mittagessen nach Hause fahren, und auf alte Ehepaare, die eine Fahrradtour machen wollen, auf Menschen mit viel Geld und kurzen Wegen zur Arbeit und Menschen mit wenig Geld und langen Wegen, die sie sich anders nicht leisten können. Man kann, muss sogar mit ihnen allen in Kontakt treten („Die Fahrkarten bitte!“) und kann sie außerdem im Umgang miteinander beobachten. Vor den Augen des Kontrolleurs breitet sich dadurch ein großes Gesellschafts-Portfolio aus und als Politiker könnte man hier wunderbar verschiedene Zielgruppen erkennen und benennen. 

Nachteil:
Dauernd wird man aufgehalten! Die Diskussion mit dem Schwarzfahrer dauert eine halbe Stunde, bis man alle Personalien beieinander hat, an der nächsten Haltestelle muss die Tür kontrolliert werden und dann versperrt ein Junggesellinnenabschied den Gang. Es bleibt also kaum Zeit, sich eingehend mit den Menschen zu beschäftigen, wenn man sie wirklich alle kontrollieren will. Ein bisschen wie in einer Diktatur.  

Das kann man dort lernen:
Bei ausgefallener Klimaanlage sind alle gleich. Das lässt sich bestimmt auch irgendwie auf die Politik übertragen.





Amateurschiedsrichter 

Vorteil:
Für einen Politiker auf der Suche nach dem Wesen des Deutschen ist das Vereinsgelände einer Fußball-Kreisligamannschaft das Schlaraffenland. Nirgends ist der Deutsche emotionaler als auf dem Fußballplatz. Hier kann man ihm in die Seele blicken, sein wahres Ich in Reinform erleben. Wer etwas Motivation und Ehrgeiz erfahren möchte, braucht nur die Eltern am Spielfeldrand einer C-Jugend-Begegnung zu beobachten. Schlüsse über die Anforderungen an das deutsche Gesundheits- und Rentensystem lassen sich perfekt bei einem Punktspiel der AH-Mannschaft ziehen. Mit dem Platzwart kann man trefflich über Agrarpolitik diskutieren. Und falls noch Fragen offen sind: Am Stammtisch im Vereinsheim wird ohnehin über jedes erdenkliche Thema gestritten.  

Nachteil:
Als Schiedsrichter muss man im Minutentakt das tun, was jeder Politiker hasst: unpopuläre Entscheidungen treffen. Noch dazu kann man sie nicht durch komplizierte und ausweichende Satzgebilde schönreden – ein Elfmeterpfiff ist nun mal ein Elfmeterpfiff. So lehrreich der Ausflug auf den Bolzplatz also sein mag, er birgt hohe Risiken für die Popularitätswerte.

Das kann man dort lernen:
Gelb-rot: unbeliebte Koalition.  





Mitarbeiter im Baumarkt

Vorteil: Nirgends finden sich mehr Klischees über Deutschland auf so engem Raum. Im Baumarkt kommen sie alle zusammen: Die Häuslebauer und Jägerzaunaufsteller, die Gartentrimmer und Menschen, die einen Hammer kaufen, weil er aus dem Stahl eines Panzers gefertigt wurde („Geboren aus Panzerstahl. Gemacht für die Ewigkeit.“ Untertitel: „Dieser Hammer garantiert Dir das Ansehen und die neidlose Anerkennung eines jeden Heimwerkers.“). Nirgends lassen sich Menschen außerdem optisch so deutsch gehen: Zwischen Bäuchen in kurzen Sporthosen und Tennissocken in Adiletten oder Crocks kann man sich für jeden Campingurlaub abhärten. Über kurz oder lang tritt aber auch die Studenten-WG auf, die kurz vor Auszug noch streichen muss und außerdem noch ein Mittel braucht, das sehr alte Bierreste aus Teppichen entfernt. 

Nachteil:
Es ist schwer, hier mit allen Menschen ins Gespräch zu kommen: Nur wer sich wirklich regelmäßig in Baumärkten aufhält, wird die Ruhe zum Dialog haben. Der Gelegenheitsbesucher ist derart überfordert von Produktpalette und Geräuschpegel, dass er selbst die Bundeskanzlerin nicht erkennen würde: „Was kommen Sie mir denn jetzt hier mit Familienpolitik?! Ich suche so ein Nagelrolldings, mit dem man Tapeten perforiert, bevor man den Löser aufträgt!“ Außerdem dominieren freilich Männer.  

Das kann man dort lernen: Frauen in Führungspositionen: noch immer selten.



Pizzabote

Vorteil: Als Pizzabote trifft man die Menschen in entspannter Feierabendstimmung, da ist auch mal Zeit für einen Plausch über Steuerreformen und Streuselkuchen. Wenn dem enttarnten Spitzenpolitiker dann Unmut über die Regierungspolitik entgegenschlägt, kann er die Leute umgehend mit einer Gratis-Flasche Rotwein besänftigen, auch wenn es nur billiger Lambrusco ist. Nicht zu unterschätzen ist auch das europapolitische Signal, wenn ein deutsches Regierungsmitglied in Zeiten der Eurokrise mediterrane Speisen unters Volk bringt. Das ist der Respekt, den Italiener und Griechen von Deutschland so oft vermisst haben. Angela Merkel beispielsweise war ja bisher eher als Liebhaberin von Rouladen und Kartoffelsuppe bekannt. Und da der Bundestag das UN-Abkommen gegen Korruption abgelehnt hat, dürfte unser pizzabringender Politiker vielleicht sogar Trinkgeld annehmen.

Nachteil: Meistens ist es ja so: Der Mensch von der Bestellhotline verspricht, nach zwanzig Minuten sei die Bestellung da, allerhöchstens fünfundzwanzig. Wenn es dann nach einer dreiviertel Stunde an der Tür klingelt und ein Bote mit den inzwischen halb kalten Pizzakartons vor der Tür steht, möchte man nur noch eins: essen, und zwar sofort. Es kann also passieren, dass dem Lieferanten nach Begleichen der Rechnung ziemlich schnell die Türe vor der Nase zugeschlagen wird, Promibonus hin oder her. Brecht hätte es gewusst.

Das kann man dort lernen: Kein Überwachungsprogramm der NSA ist so schlimm wie eine Pizza Salami, wenn man doch Schinken bestellt hat.






Apotheker 

Vorteil:
Apotheker sind die Vertrauenslehrer im deutschen Gesundheitssystem. In ihrer Kompetenz sind sie zwar den Ärzten untergeordnet, dafür kann man jederzeit bei ihnen unangekündigt vorbeikommen und über Probleme reden. Egal, ob die sich in Form von roten Quaddeln am Unterschenkel, einer Grippe oder allgemeinem Unwohlsein äußern. Der Bürger hofft hier auf Heilung und aufmunternde Worte, und vertraut sich deshalb gern der verständnisvoll nickenden Person auf der anderen Seite der Theke an. In dieser bittstellerischen Situation glaubt er nicht nur alles, was ihm erzählt wird, sondern gibt auch bereitwillig private Details preis. Neben naheliegenden Zwischenfragen über die Zufriedenheit mit der Krankenkasse und die Erfahrungen mit der Praxisgebühr lassen sich also auch problemlos alle anderen Themenbereiche anschneiden: "Sodbrennen sagen Sie? Könnte auch psychosomatisch sein. Stößt Ihnen vielleicht die geforderte Steuererhöhung der Opposition sauer auf?"  

Nachteil:
Hypochonder werden bei ihrem täglichen Apothekenbesuch das Gesprächsangebot mit detaillierten Beschreibungen ihrer Beschwerden derart intensiv nutzen, dass für Unterhaltungen mit den Durchschnitts-Erkälteten und Medikamenten-Abholern kaum noch Zeit bleibt.

Das kann man dort lernen: Wenn man "Damit wird es bald besser!" sagt, schluckt der Kunde beziehungsweise Bürger selbst die bitterste Pille.

Wenn die Pflicht ruft

0
0
Weltweit riskieren viele Reporter ihr Leben. Der Verein "Journalisten helfen Journalisten", der nun 20 Jahre alt wird, sorgt für diejenigen, die ihren Einsatz nicht unversehrt überstehen.

Viele Menschen wundern sich, warum Journalisten sich selbst in Gefahr bringen, indem sie aus Kriegsgebieten oder anderen gefährlichen Orten berichten. Vielleicht ist das tatsächlich töricht. Aber wenn es eine Wahrheit zu erzählen gibt, sollte sie erzählt werden.

Die meisten Journalisten wissen um die Gefahren, auf die sie sich einlassen, während sie ihren Job machen. Vor allem, wenn sie aus Krisengebieten berichten. Abschrecken lassen sie sich davon trotzdem nicht. In vielen Redaktionen auf der ganzen Welt gibt es Debatten über solche Einsätze auf unsicherem Terrain. Und die Chefredakteure geben nach, wenn ihre Journalisten schmollen und sich weigern, vom Bürostuhl aus zu recherchieren.

Ehrlich gesagt ist es ja oft so: Die Wahrheit zu beschreiben, erfüllt den Reporter oft mit einem so tollen Gefühl, dass die Gefahr in dem Moment schlicht keine Rolle spielt. Man schuftet einfach weiter, unerschrocken. Und erst der nächste Drohanruf oder sonst ein Einschüchterungsversuch konfrontiert einen dann wieder mit der Realität. Die Gefahr ist real.



Wenn Jounalisten in Krisengebiete reisen, riskieren die für ihre Arbeit dort häufig ihr Leben.

Das sind die schwierigsten Momente. Da stehen auf der einen Seite Pflichtgefühl und Überzeugung. Und auf der anderen Seite warten die nackte Angst und der unbedingte Wille, am Leben zu bleiben. Ist das eine leichte Entscheidung? Schwer zu sagen, vor allem, wenn die nächste Geschichte wartet, die nächste Wahrheit, über die es zu berichten gilt. Plötzlich sind die wichtigen Abwägungen in einer abgelegenen Ecke gelandet. Ich nenne es den "Ruf der Pflicht". Andere nennen es: Sturheit.

Mit ihrem unstillbaren Hunger über alles zu schreiben, was geschieht, bewegen sich viele Journalisten auf sehr dünnem Eis, sie setzen sich unvorstellbaren Gefahren aus. Oft nimmt es ein tragisches Ende. Aber wenn so etwas Tragisches geschieht, dann sind es natürlich auch genau diese Geschichten über Mut, die junge Menschen inspirieren, Journalisten zu werden.

Journalisten helfen Journalisten (JhJ) ist so eine Organisation, die aus dem Mut und aus der Überzeugung einer Gruppe von Menschen heraus entstand, die sich vom Tod eines lieben Menschen, eines Kollegen, nicht unterkriegen lassen wollten. Der Verein wurde im Andenken an Egon Scotland gegründet, der 1991 getötet wurde, als er für die Süddeutsche Zeitung über den Balkankrieg berichtete. Bis heute hat JhJ Hunderten Journalisten in der ganzen Welt geholfen, der Verein wird dieses Jahr 20 Jahre alt. Bei einem Fest zu diesem Jahrestag trafen viele Journalisten aufeinander. Kollegen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, nur, weil sie ihren Job gemacht hatten. Und weil sie sich nicht einschüchtern lassen wollten. Die Gemeinschaft gab allen ein Gefühl der Bestätigung. Dabei war es nicht die physische Sicherheit, die uns ein gutes Gefühl gab. Es war das wiedergewonnene Vertrauen in die eigene Arbeit.

In Indien, wo ich herkomme, sind viele Journalisten gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. Er ist zu gefährlich, nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familien. Journalisten, Whistleblower und Aktivisten bezahlen einen hohen Preis für die Meinungsfreiheit, auch wenn sie von der Verfassung garantiert wird. Ich selbst habe über Frauenrechte und Korruption geschrieben und bin im Juni 2012 vor der Redaktion der Arunachal Times angeschossen und an der Wirbelsäule verletzt worden. Die Hintergründe der Tat sind bis heute ungeklärt. Es gibt nach solchen Ereignissen dann vielleicht mal einen aufgebrachten Bericht in den Medien und ein paar Protestmärsche, aber dann wird alles wieder unter den Teppich gekehrt, bis wieder etwas passiert. Es gibt massenhaft Beispiele dafür, dass Menschen verfolgt werden, weil sie ihre Meinung sagen - auch von staatlichen Institutionen. Der Karikaturist Assem Trivedi wurde ins Gefängnis gesteckt, seine Webseite wegen Volksverhetzung gesperrt. In seinen Zeichnungen ging es um Korruption in unterschiedlichen Bereichen des Systems. Traurigerweise gehört Humor zu den Dingen, die den indischen Gesetzesmachern und -hütern abgehen.

Trotzdem aber gibt es einen Platz für Trivedi und andere wie ihn, wo sie sagen können, was sie denken. Sieht man auf den Zuspruch in den sozialen Medien, dann wurde er gehört - und ihm wurde applaudiert.
Während Stimmen wie die seine an einem Ort unterdrückt werden, werden sie anderswo gefeiert. Indien, wie die ganze Welt, ist widersprüchlich.

Ich persönlich kann mir das vergangene Jahr nicht wegwünschen, auch nicht, wenn es mir heute gesundheitlich wieder besser geht. Der Angriff ist passiert, er hat mir viel Schmerz gebracht und das Gefühl, verwundbar zu sein. Das alles kann ich nicht beiseite schieben. Aber in demselben Jahr habe ich mit der Unterstützung vieler Menschen gelernt, dass ich das Gefühl von Unterdrückung durchaus beiseite schieben kann. Dass ich die Hand beiseite schieben kann, die mir meinen Stift nehmen will. Oder meine Tastatur.

Das Geheimnis der alten Dame

0
0
Trip von Israel nach Warschau: Rutu Modans Graphic Novel "Das Erbe"

Ja, auch in Israel gibt es eine Comic-Szene. Sie ist klein, aber aufregend. An erster Stelle stand lange "Actus Tragicus", eine Gruppe von drei Zeichnerinnen und zwei Zeichnern, die 1995 zusammenkam und sich 2010 auflöste. In dem deutsch-schweizerischen Comic-Magazin Strapazin sind einige ihrer kurzen Arbeiten veröffentlicht worden. Zu den "Actus"-Mitgliedern zählte auch Rutu Modan. Im Jahr 2006 erschien ihre vorzügliche Graphic Novel "Blutspuren", in der ein junger Taxifahrer sich auf die Suche nach seinem unsteten, schürzenjägerischen Vater macht, der angeblich bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag ums Leben gekommen ist.



Rutu Modans Graphic Novel "Das Erbe"

In "Das Erbe" reist nun Mika, eine junge Frau, mit Regina, ihrer fast 90-jährigen Großmutter, nach Warschau. Hier ist Regina in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, bevor sie noch vor dem Krieg nach Israel auswanderte und nie mehr zurückkehrte. Allerdings verfügt sie über ein Dokument, das sie als rechtmäßige Eigentümerin der schönen Wohnung ausweist, die ihre Eltern in der Zeit der Verfolgung verloren haben. Diesen Besitz will Regina, bevor sie stirbt, einklagen. So scheint es zumindest: Denn nach und nach begreift Mika, dass die alte Dame mit dem Trip nach Polen noch ganz andere, sorgfältig verborgene Ziele verfolgt.

Wie "Blutspuren" dreht sich "Das Erbe" um ein Familiengeheimnis, genauer gesagt, um die auch für ein längst erwachsenes Kind schockierende Erfahrung, dass Liebe und Sexualität für Eltern und Großeltern genauso ein Thema sein können wie für die jungen Nachgeborenen. Anders als in der vorherigen Graphic Novel greift Rutu Modan hier aber überwiegend zu den Mitteln der Komödie. Regina ist die jüdische Version der komischen Alten, eine Über-Oma von großem Charme und damenhafter Würde, zugleich aber dominant, zickig und stur bis zum Anschlag.

Schon ihr erster Auftritt am Flughafen von Tel Aviv macht das klar: Weil sie die Flasche Wasser, die sie mitschleppt, nicht an Bord nehmen darf, zettelt Regina einen Riesenaufstand an; dass sie alle anderen Reisenden damit aufhält, ist ihr herzlich egal. Klamaukig ist "Das Erbe" dennoch nicht; die komischen Effekte gehen nicht auf Kosten einer differenzierten Konstruktion der Figuren. Hierzu tragen auch die Zeichnungen Modans bei, die stark der Ligne claire verpflichtet sind, diese oft aber realistischer auslegen, als es bei Hergé und seinen Nachfolgern der Fall ist.

Überaus anrührend ist es etwa, wenn Regina sich für einen wichtigen Ausflug in die Stadt herrichtet, mit Schminke, Ohrringen, einer feinen Bluse - und wenn sie dann vor dem Spiegel traurig, zweifelnd das Ergebnis betrachtet: Sie ist eben nicht mehr die junge Frau, die sie in diesem Moment so gerne wieder wäre.

Sehr geschickt verbindet Modan zudem die individuellen Schicksale mit der Zeitgeschichte. Auch hier verschränken sich Komik und Ernst in durchaus waghalsiger Weise. Da bemerkt ein Lehrer, der neben Regina im Flugzeug sitzt, nahezu kennerisch: "Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger." Und in Warschau begegnet Mika einer aufgedrehten Dame, die Touren veranstaltet, auf denen junge Touristen aus aller Welt sich einen gelben Stern anstecken und von als Nazis verkleideten Polen auf Lkws "deportieren" lassen: Irgendwie muss man die Event-Generation ja erreichen!

Der Titel dieser ebenso amüsanten wie klugen und feinfühligen Graphic Novel erweist sich somit als doppeldeutig: Das Erbe, um das es hier geht, das sind auch die Geschichte der europäischen Juden und der Holocaust - und die Frage, wie heute in angemessener Weise an beides zu erinnern ist.

Rutu Modan (Text und Zeichnungen): Das Erbe. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen Verlag, Hamburg 2013. 224 Seiten, 24,90 Euro.

Gewalt gegen Polizisten

0
0
Gerade in Berlin werden Polizisten häufig Opfer von Gewalt. Die Gewerkschaft der Polzei fordert jetzt einen besseren Schutz für die Beamten.

Berlin - Auf Demonstrationen werden sie mit Flaschen beworfen, bei Festnahmen gekratzt und gebissen: Hunderte Berliner Polizisten sind Jahr für Jahr Opfer von Gewalttaten. Laut einem Zeitungsbericht liegt die Hauptstadt bundesweit an der Spitze. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) verlangt einen besseren Schutz. "Mir verschlägt es die Sprache, wenn ich die Tatenlosigkeit unserer Politiker sehe", sagte der Berliner Landesbezirksvorsitzende Michael Purper am Montag.

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Benedikt Lux, versicherte: "Die Polizei hat den vollen Rückhalt der Berliner Politik." Laut der Zeitung Die Welt wurden 2012 bundesweit 60294 Polizeivollzugsbeamte im Dienst angegriffen oder verletzt - 9,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Demnach lag Berlin mit 95,3 Fällen auf 100 000 Einwohner an der Spitze. Zum Vergleich: In Hessen seien es nur 29,7 Fälle gewesen. Die Zeitung beruft sich in ihrem Bericht auf ein internes Lagebild des Bundeskriminalamtes (BKA). "Interne Dinge kommentieren wir nicht", hieß es aus der Pressestelle in Wiesbaden.



Nicht nur die Demonstranten müssen einstecken. Häufig werden auch Polizisten bei Protesten  verletzt.

Die Zahl von 60 294 Beamten findet sich aber auch in der öffentlich zugänglichen, bundesweiten Kriminalitätsstatistik. In Berlin verletzten sich laut der dortigen Polizeilichen Kriminalstatistik im vergangenen Jahr 914 Polizisten, als Widerstand gegen Vollzugsbeamte geleistet wurde. Im Vorjahr waren es knapp 800. Dagegen reduzierte sich die Zahl der Opfer bei den Körperverletzungen um 19,3 Prozent auf 1572.

Zugleich gab es 2012 laut Statistik 550 erfasste Fälle, in denen Polizisten im Dienst eine Körperverletzung begangen hatten. Das ist ein Anstieg um 3,6 Prozent.

Die Berliner GdP fordert, dass sich der Senat hinter die Beamten stellen müsse. Zudem sei ausreichend Geld für eine gute Ausstattung nötig, so dass Beamte zum Beispiel eine eigene Schutzweste bekämen. Auch forderte Purper eine "angemessene Entlohnung" von Polizisten in Berlin. "Die bundesweit am stärksten gefährdeten Polizistinnen und Polizisten werden am schlechtesten bezahlt." Lux nannte es "besorgniserregend", dass in der Hauptstadt die meisten Polizisten attackiert würden. "Jeder Angriff gegen Polizisten muss schnell und konsequent geahndet werden", betonte der Grünen-Politiker. "Der Senat ist gefragt, alle politischen Kräfte und die Beschäftigtenvertretungen an einen Tisch zu holen, damit gemeinsam beraten werden kann, wie in Zukunft Angriffe gegen Polizisten in Berlin verhindert werden können."

Skandal mit Kästner-Touch

0
0
Bei den Filmfestspielen in Locarno hatte "Feuchtgebiete" Premiere

Helen ist ein Teenager, wie er im Buche steht. Blond gelocktes Haar, das manchmal engelhaft ausgeleuchtet wird, eine Stimme, die ein wenig belehrend klingt und gern ins Raunen gerät. Bedächtig beschreibt sie Probleme, die sie mit ihren Körperregionen hat. Sie ist fasziniert von Ausscheidungen, auf ihren Analbereich fixiert. Bei einer Rasur dort reißt sie sich eine hässliche Wunde und muss deshalb ins Krankenhaus.

'Feuchtgebiete' ist die unvermeidliche Verfilmung von Charlotte Roches Roman aus dem Jahr 2008. Man sieht dem Film an, wie viel Überzeugung investiert wird im Umgang mit all dem, was das Buch damals aufsehenerregend machte. Auf den Millimeter genau sind die Einstellungen berechnet, daraufhin, was man gerade noch sehen soll und darf. Es ist leichter, über Blut und Scheiße zu schreiben, als sie zu zeigen.



Carla Juri spielt in der Verfilmung von "Feuchtgebiete" die Hauptfigur Helen.

Helen ist süß, aber für eine Lolita nicht cool genug. Immerhin: Carla Juri, die Helen spielt, traut sich manchmal hinreißend zu grimassieren und die Zähne zu fletschen. Am Ende wird sie dann aber doch als Romantikerin enttarnt.Helen will provozieren, und der Film will es nicht. Regisseur David Wnendt hatte mit 'Kriegerin', seinem Regie-Debüt, einen beachtlichen Erfolg - es ging um ein Mädchen, das sich in der deutschen Neonazi-Szene herumschlägt. Am Sonntag feierte nun 'Feuchtgebiete/Wetlands' im Wettbewerb des Festivals von Locarno Weltpremiere. Mit Heimvorteil gewissermaßen, denn Carla Juri kommt aus dem Tessin.

Das Festival hat Probleme, nach Cannes und vor Venedig große, aufregende Filme für seinen Wettbewerb zu finden. Immerhin liefen diesmal neue Filme des Rumänen Corneliu Porumboiu und des Koreaners Hong Sang-soo. Locarno selbst sorgt mit seiner touristischen Atmosphäre für Familiensinn. 'Der Film', hieß es brav im Programmheft zu 'Feuchtgebiete', 'enthält Szenen, die die Sensibilität einiger Zuschauer schockieren könnten. Nicht geeignet für Zuschauer unter 16 Jahren. Ausweiskontrolle beim Einlass.' Ausweiskontrolle, Jugendschutz - das ist natürlich merkwürdig, ausgerechnet bei einem Film, der von der und für die Jugend erzählt.

Entsensationalisieren könnte man das nennen, und das ist nur eine Strategie, um mit dem Skandal zu kokettieren. Sicher haben die 'Feuchtgebiete', die vom 22. August an in Deutschland laufen, den Wettbewerb von Locarno nicht aufgemischt. Sie passen irgendwie gut ins Bild. Am Ende versucht Helen ja nichts anderes, als ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Das kennt man aus dem deutschen Kino, das ist beste Kästner-Tradition.

Die Verführungskünste und -kräfte des Kinos wurden weit aufregender auf anderen Gebieten des Festivals ausgespielt. In der George-Cukor-Retro waren die Filme zu sehen, die der Regisseur Anfang der Dreißiger machte, in den Jahren, als Hollywood ziemlich wenig Hemmungen hatte und eine unerschöpfliche schmutzige Phantasie, das war kurz bevor die Filmbranche dann mit dem Hays-Code eine freiwillige Selbstzensur einführte. Cukors 'Tarnished Lady' beginnt mit dem Gesicht einer Frau, der mit einer schwarzen Binde die Augen verbunden sind. Man steckt ihr eine Zigarette in den Mund, lässt sie paffen. Eine unglaublich lustvolle, obszöne Einstellung. Es handelt sich um eine Werbeaufnahme. Make it stuffy, sagt die Stimme des Produzenten aus dem Off. Mach es stickig, dicht, schwül.

Bedrückende Vergangenheit

0
0
Die Grünen wollen die Rolle pädophiler Aktivisten in den frühen Jahren der Partei aufarbeiten lassen

Berlin - Trotz der bevorstehenden Bundestagswahl hat Grünen-Chefin Claudia Roth die Veröffentlichung erster Forschungsergebnisse zur Rolle pädophiler Aktivisten in den Gründungsjahren ihrer Partei begrüßt. Es gehe bei diesem Thema nicht um Wahlkampf, "sondern um die ernsthafte Aufarbeitung" des Wirkens von Pädophilie-Aktivisten in den 70-er und 80-er Jahren, sagte Roth am Montag der Süddeutschen Zeitung. "Die Aufarbeitung dieser fehlgeleiteten Debatten und gefährlich falschen Beschlüsse und Aktivitäten tut dringend Not und es geht dabei um eine bedrückende Vergangenheit, der wir uns alle stellen müssen", so die Grünen-Vorsitzende.



Parteitag der Grünen im April 2013

Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter und sein Kollege Stephan Klecha hatten am Montag in einem Aufsatz für die Frankfurter Allgemeine erste Zwischenergebnisse ihrer Untersuchungen veröffentlicht. Sie belegen, dass der Einfluss pädophiler Aktivisten auf die politische Ausrichtung der Grünen in den Anfangsjahren größer war, als bislang angenommen. Demnach setzte sich die Partei 1980 in ihrem ersten Grundsatzprogramm dafür ein, sexuelle Beziehungen von Erwachsenen mit Kindern und Schutzbefohlenen weitgehend zu legalisieren. Der entsprechende Abschnitt trug den Titel: "Gegen die Diskriminierung von sexuellen Außenseitern". Die Paragrafen 174 und 176 des Strafgesetzbuches sollten so verändert werden, dass nur noch Androhung oder Anwendung von Gewalt sowie der Missbrauch eine Abhängigkeitsverhältnisses unter Strafe gestellt bliebe.

Grüne Landesverbände in Rheinland-Pfalz, Bremen, Hamburg und Berlin übernahmen diese Forderung. Nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 seien jedoch "Nachsicht und Toleranz gegenüber pädophilen Bestrebungen zurückgegangen", schreiben Walter und Klecha. Erst 1993 allerdings, beim Zusammenschluss der Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90, sei die Beschlusslage formell aufgehoben worden. Roth sagte dazu am Montag, es werde "deutlich, dass der Bruch mit Forderungen von Pädophilen vor über 20 Jahren" stattgefunden habe. Wie viel Leid entstanden oder gebilligt worden sei, könne "bislang noch niemand wissen". Dafür müsse der Abschluss der Arbeiten Walters abgewartet werden. "Diese Untersuchung ist wichtig für uns als Grüne, aber auch für die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt", sagte Roth.

Aus den Zwischenergebnissen geht hervor, dass nicht nur die Grünen die Entkriminalisierung von Pädophilie diskutierten, sondern auch die damalige FDP-Jugendorganisation Deutsche Junge Demokraten. Laut Walter und Klecha setzten damals Aktivisten der "Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie" auf die FDP-Jugend. Der damalige FDP-Generalsekretär und spätere EU-Kommissar Günter Verheugen hielt nach Angaben der Wissenschaftler eine Revision der Paragrafen 174 und 176 für möglich. 

Mit Brause-Ufos gegen den Überwachungsstaat

0
0
Heiliger Gentrifizian, hilf! Das Künstlerduo Various und Gould hat sich moderne Schutzheilige ausgedacht, um uns vor aktuellen Problemen zu schützen. Heute starten sie eine Prozession in Berlin. Im Interview erzählen sie von ihrem Projekt, für das sich schon die ersten Religionslehrer interessieren.

jetzt.de: Ihr ruft auf zu einer “friedlichen und fröhlichen Prozession, um vier moderne Heilige an wichtige Berliner Orte zu tragen”. Was habt ihr euch dabei gedacht?
Various: Wir beziehen uns auf die Tradition der Schutzheiligen, die ja immer für einen ganz bestimmten Bereich zuständig sind. Es entwickeln sich immer wieder neue Problemfelder, und so entsteht bei den Schutzheiligen eine Zuständigkeitslücke. Für die großen Themen unserer Zeit fehlt jemand. So sind die HolyHelpers entstanden, die uns vor aktuellen Problemen wie AIDS, Gentrifizierung und Überwachung schützen sollen.





Und warum macht ihr jetzt eine Prozession?
Gould: Wir haben diese Schutzheiligen schon 2010 entwickelt. Als die Prism-Affäre losging, dachten wir uns: Das ist doch ein Fall für Saint Data. Und dann hatten wir die Idee, die Heiligenfigur an der Baustelle der neuen BND-Zentrale in Berlin anzubringen.
Various: Damit das auch jemand mitkriegt, wollten wir eine Aktion daraus machen. Also entleihen wir wiederum eine christliche Tradition, in diesem Fall die der Prozession. Wir haben zum Beispiel Brause-Ufos als Hostienersatz.

Wie genau soll das ablaufen?
Various: Wir starten an der Open Walls Gallery in Berlin-Wedding und laufen zur Baustelle der neuen BND-Zentrale in Mitte.
Gould: Wir haben dann gemerkt, dass auf unserer Route auch noch ein paar andere interessante Orte liegen: die Zentrale der Pharmasparte von Bayer, die Deutsche Bischofskonferenz und das Tacheles, ein ehemaliges Künsterzentrum, das 2012 geräumt wurde. Darum nehmen wir gleich vier Heilige mit: Santa Data, Santa Pharma, Sankt Abuso und Sankt Gentrifizian.
Various: An jedem Ort installieren wir dann die jeweilige Heiligenfigur. Je nach Situation wird sie etwa an einem Laternenmast oder einem Bauzaun befestigt. Unser Zeremonienmeister Yaneq, selbsterklärtes Oberhaupt der von ihm gegründeten Church of Phonk, wird die Figuren segnen und eine kleine Predigt halten.

Ihr versteht euch selbst als Künstler. Aber ist die Prozession nicht eher eine politische Demonstration?
Various: Wir befinden uns da in einer Grauzone. Die Heiligenfiguren sind Kunstwerke, aber natürlich enthalten sie auch ein politisches Statement. Allerdings sind sie ziemlich vieldeutig, so dass es nicht eine klare Aussage gibt.
Gould: Wenn man mit seiner Kunst aktuelle Themen aufgreift, wird es automatisch politisch. Unsere Aktion ist zwischen Protest und Perfomance angesiedelt.

Was erhofft ihr euch von dem Umzug?
Gould: Die Heiligen sollen Schutz und Hilfe spenden. Auch die Politiker wissen bei Prism und NSA nicht wirklich Bescheid. Wir hatten das Gefühl: Die brauchen Hilfe. Saint Data hält die helfende Hand über unser aller Cloud.

Man könnte euch vorwerfen, den christlichen Glauben zu verunglimpfen. Gab es von der Kirche entsprechende Reaktionen?
Gould: Im Gegenteil, bisher haben wir nur positive Rückmeldungen. Wir sind sogar von einer evangelischen Schule angeschrieben worden, ob sie unsere Heiligen im Unterricht verwenden dürfen.

H wie Heisenberg

0
0
Sonntagabend lief in den USA die erste der acht finalen Folgen "Breaking Bad". Ab heute werden auch deutsche Fans sie nach und nach zu sehen bekommen. Damit ist das Ende einer der erfolgreichsten Serien der vergangenen Jahre eingeleitet. Wir rekapitulieren und freuen uns vor - von A bis Z.

Ausstattung
„Breaking Bad“ unterfüttert die Story um den krebskranken Chemielehrer Walter White, der zum Crystal-Meth-Produzenten wird, mit einer detailverliebten Ausstattung. Klar, jede gute Serie braucht eine, damit die fiktive Welt stimmig ist. "Breaking Bad" birgt aber besonders viele Kleinigkeiten, die es wert sind, die Serie gleich ein zweites Mal anzuschauen, wenn sie bald vorbei ist. So zum Beispiel die lächerlichen Mini-Entenstatuen auf dem Wohnzimmertisch der Whites, Marie Shraders Haushalt und Kleidung, die komplett in Violett gehalten sind, und die vollgestopfte Wohnung des Chemikers Gale Boetticher, die man zwar nicht oft zu sehen bekommt, die aber sehr gut den liebenswerten Nerd abbildet. Wer hat schon ein Infrarot-Thermometer mit Laserpointer, um die Hitze seines Teewassers zu überprüfen?  




Better call Saul!
Der Werbeslogan des windigen Anwalts Saul McGill alias Saul Goodman, der Walter und Jesse zur Seite steht. Saul ist mit seinen geschmacklosen Anzug-Kombinationen, seinen skurrilen Leibwächtern und seinem pappmachéartigen Büro eine der beliebtesten Nebenfiguren und außerdem die Witzemaschine der Serie. Er spielt mit seiner Ähnlichkeit zu Berühmtheiten („If you're committed enough, you can make any story work. I once told a woman I was Kevin Costner, and it worked because I believed it“), fasst das ganze System des organisierten Verbrechens in einem Satz zusammen („Let’s just say: I know a guy who knows a guy who knows another guy“) und bleibt auch am Krankenbett des grün und blau geprügelten → Jesse herrlich pietätlos („You’re now officially the cute one of the group“).   

Cranston, Bryan
Walter White wird gespielt von Bryan Cranston, in Deutschland vorher den meisten nur bekannt als schusseliger Vater aus „Malcolm mittendrin“ (→ Zeugenschutzprogramm). Cranstons schauspielerische Großleistung ist bereits mit drei Emmys ausgezeichnet worden - er hat die Figur Walter White nicht nur gespielt, er hat sie miterschaffen. Der Schnauzbart, den Walter am Anfang der Serie trägt, soll nach Cranstons genauen Vorstellungen entstanden sein: schön ausgedünnt, damit es nach einem so richtig impotenten Bart aussieht. Was besonders selten ist für einen Schauspieler: Cranston brilliert auch noch mit klugen Kommentaren zur Serie. → Geld → unterschätzt werden  

Deutschland
Lange waren Fans von Serien auf illegale Streaming-Seiten angewiesen – in Deutschland waren die Folgen legal erst viel später im Netz zu haben. Für die finale Staffel „Breaking Bad“ gilt das nicht mehr: Immer dienstags wird die aktuelle Folge bei iTunes zu sehen sein, mittwochs auf dem Portal Watchever, der Bezahlsender Sky zeigt sie sogar schon montags. Einen Überblick über alle legalen Anschaumöglichkeiten in Deutschland gibt es hier.  

Ehrmantraut, Mike
Mike hält dem Drogenboss Gustavo Fring sowie dem Rechtsanwalt → Saul Goodman den Rücken frei, indem er ihre Probleme, egal ob materieller oder menschlicher Natur, beseitigt. Er zeichnet sich durch Pragmatismus aus und durch professionelle Genervtheit darüber, dass er mit kleinen Nummern wie → Jesse Pinkman zusammenarbeiten muss. Ansonsten ist er in seiner Schweigsamkeit das Gegenstück zu Walter, der sich immer wieder um Kopf und Kragen redet. Andererseits: Wenn man beide nebeneinander von hinten sieht, ist eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu leugnen.

Fans
„Die Serie hat eine riesige Fan-Gemeinde, die sich die Pausen zwischen den Folgen oder Staffeln mit Spekulationen, dem Zusammenschneiden lustiger Compilations (→ Yo, Bitch) oder dem Herstellen oder Erstehen von Fanartikeln vertreibt. Es gibt zum Beispiel Süßigkeiten, die wie „Blue Sky“ aussehen, das reine, blaue Crystal Meth, das Walter und Jesse in ihrem Labor kochen (→ Methylamin), Stoffbeutel mit dem Slogan →„You better call Saul“ und diverse Textilien mit dem Konterfei → Heisenbergs. Das Lego-Meth-Labor war leider nur eine lustige Idee, die nie in die Tat umgesetzt wurde.  

Geld

Spielt auch bei „Breaking Bad“ eine Hauptrolle. Walter gerät durch seine Krebserkrankung in finanzielle Schwierigkeiten (→ Krebs), er kann sich selbst mit einem Zweitjob das Mittelschichtsleben nicht mehr leisten. „Breaking Bad“ gebe der Rezession den Schurken, den sie verdient, schrieb der TV-Kritiker Alan Sepinwall. Wie „Breaking Bad“ und Geld zusammenhängen, erklärte Bryan Cranston im Interview mit der FAZ einmal so: „Die meisten halten Walts Situation für hypothetisch. Das ist sie aber nur bis zu dem Punkt, wo der nötige Anstoß daraus Realität macht. Wenn ich Sie beim Abendessen frage, was Sie für eine Million Dollar tun würden, kämen sehr theoretische Antworten dabei heraus, aber kaum ultimative. Wenn ich das Geld aber vor Ihnen auf den Tisch lege, kriegt das Spiel sofort eine neue Wendung.“ Danach bot er dem Journalisten 25.000 Dollar, wenn der sich von ihm schlagen lässt.  




Heisenberg
Der deutsche Nobelpreisträger Werner Heisenberg war einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts und Mitbegründer der Quantenmechanik. Dank „Breaking Bad“ steht Heisenberg jetzt nicht nur mit Niels Bohr und Erwin Schrödinger in einer Reihe, sondern auch mit Scarface und Tony Soprano: Walter White, der irgendwann selbst einmal vom Nobelpreis träumte, hat sich das Gangster-Pseudonym Heisenberg gegeben. Bei seinen Gegenspielern löst er damit Verwirrung und Furcht gleichermaßen aus – genauso wie der alberne Pork-Pie-Hut, den er als Heisenberg gern bei Unterwelt-Treffen trägt.    

„I am the one who knocks“
Wenn man „Breaking Bad“ auf eine Zeile herunterbrechen müsste, viele würden wohl diesen Satz von Walter White nehmen. Das "Time Magazine" und die "Huffington Post" kürten die sechs Wörter damals zur „Best Tv Line 2011“. Der Satz stammt aus einem kurzem Monolog, den Walter in der Folge „Cornered“ hält. 15 Sekunden, in der die großen Themen der Serie verdichtet werden: Männlichkeit, → Stolz, → unterschätzt werden 

Jesse Pinkman
Walters Partner und Assistent ist der heimliche Star der Serie. So heimlich, dass er ursprünglich schon Ende der ersten Staffel sterben sollte, bevor sein Erfinder → Vince Gilligan das große Potenzial sowohl der Figur als auch des Schauspielers Aaron Paul erkannte. Jesse ist Walters erste Verbindung ins Drogengeschäft, da er selbst konsumiert und dealt. Die → Fans lieben ihn vor allem für seinen Harte-Schale-weicher-Kern-Charakter: Auf der einen Seite gibt er den fluchenden Gangster (→ Yo, Bitch), auf der anderen Seite bricht es ihm das Herz, wenn Unschuldige oder Kinder in die Drogengeschäfte hineingeraten. 

Krebs
Walters Krebsdiagnose ist die Urkatastrophe der Serie: Als Vater und Ehemann mit Lungenkrebs im Endstadium will er seine Familie finanziell absichern. Das Gehalt, das er an der Schule als Chemielehrer und in einem Nebenjob in einer Autowaschanlage verdient, reicht da lange nicht aus (→ Geld), und so steigt er als begabter Chemiker eben ins Crystal-Meth-Geschäft ein. Als er seiner Familie die Diagnose nicht länger verheimlichen kann, braucht er das Geld dann für etwas anderes: Die Behandlung beim besten Onkologen des Landes, auf der seine Lieben nämlich bestehen und die Walters Krankenversicherung nicht bezahlt. In den USA erlaubt jede Versicherung nämlich nur den Besuch bei bestimmten Ärzten. Darum kann man wohl behaupten, dass „Breaking Bad“ ohne das amerikanische Gesundheitssystem so nie entstanden wäre.    

Leaves of Grass

Titel eines Gedichtbandes von Walt Whitman, den Walters Assistent Gale Boetticher ihm mitsamt Widmung schenkt und der in der letzten Folge der ersten Hälfte der Finalstaffel (benannt nach Gedicht 271: „Gliding Over All“) eine wichtige Rolle spielt. Neben den Initialen W.W. gibt es noch eine Menge anderer Bezüge zwischen „Breaking Bad“ und dem Leben und Werk des Dichters Walt Whitman, mit denen sich ein Essay der Poetry Foundation befasst.




Methylamin
Die Hauptzutat der Droge Crystal Meth. Viele Erzählfäden von „Breaking Bad“ drehen sich darum, wie Walter und → Jesse versuchen, an Methylamin zu kommen. In der Folge „Dead Freight“überfallen sie dafür sogar in Wild-West-Manier einen Güterzug. Aus dem Rohstoff wird dann → Heisenbergs berühmtes „Blue Sky“ gekocht, blaugefärbtes Crystal Meth. Ob es in der Realität auch blaues Meth gibt, wollte mal jemand von → Vince Gilligan wissen –„Jetzt schon.“ Wie genau aus Methylamin Crystal Meth gemacht wird, kann man in der Serie aber nicht lernen: Obwohl die Autoren das Meth-Labor in „Breaking Bad“ so realistisch wie möglich haben wollten, zeigen sie bewusst bestimmte Schritte bei der Herstellung nicht oder in der falscher Reihenfolge.  

Narcocorridos
Mexikanische Drogen-Balladen, in denen das Schicksal der Kartell-Gangster besungen wird. Auch → Heisenberg hat seinen Narcocorrido: Mit dem Song „Negro Y Azul“beginnt die gleichnamige Episode. Pepe Garza, Kenner des Genres, schrieb den von → Vince Gilligan vorgegebenen Text um, weil er wusste: Bei einem Narcocorrido gewinnt am Ende das Kartell, nicht der Gringo Heisenberg. „Ese compa ya esta muerto / Nomas no le han avisado“ endet das Lied –„Aber dieser Typ ist eh schon tot, er weiß es nur noch nicht.“ Ob der Narcocorrido Recht hat, wissen wir spätestens in acht Folgen.

Ozymandias
Selbst die Trailer von „Breaking Bad“ sind Kunstwerke: Für die letzten acht Folgen hat man einen Clip gebastelt, der es bei den Fans kribbeln lässt, ohne dass ein einziges Detail der Handlung verraten werden müsste: Gezeigt werden nur Aufnahmen von Albuquerque (→ Q) und dem Umland. Dazu liest Bryan → Cranston das Gedicht „Ozymandias“ des britischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. Thema des Werks: die Vergänglichkeit aller Mächtigen und ihrer Imperien. Kein gutes Omen für Walter also.  

Pontiac Aztek
Walters Auto, ein sogenannter Crossover-SUV, und laut verschiedenster Quellen (unter anderem Spiegel Online) eines der hässlichsten, wenn nicht sogar das hässlichste Auto aller Zeiten. Damit auch ein Beispiel für die großartige → Ausstattung der Serie.  

Q
Albuquerque, New Mexico, ist nicht nur die einzige amerikanische Großstadt, in deren Name der Buchstabe Q gleich zweimal vorkommt – Albuquerque ist auch Drehort und noch ein heimlicher Star von „Breaking Bad“. Sterile Vorstadt-Siedlungen, eine naturgewaltige Wüstenlandschaft im Umland und immer hat man das Gefühl, einer sehr trockenen Hitze beim Flimmern zuzusehen: Albuquerque hat alles, was das Drama um Walter White braucht. Dabei hatte → Vince Gilligan Albuquerque eigentlich wegen der dortigen Steuervergünstigungen als Drehort gewählt.  

Rizin
1978 fiel ein bulgarischer Dissident in London auf offener Straße einem Attentat zum Opfer: Mit einer präparierten Regenschirmspitze injizierte man ihm das tödliche Pflanzengift Rizin, drei Tage später starb er an den Folgen. Rizin wird aus den Samenschalen des Wunderbaums gewonnen und spielt in „Breaking Bad“ eine entscheidende Rolle – vielleicht auch in der finalen Staffel, spekulieren Fans.  



Stolz
Die Geschichte sei eine Tragödie, schrieb das New York Magazineüber „Breaking Bad“, und Tragödien enden damit, dass der Held von seiner größten Schwäche zerstört wird – die von Walter sei Stolz. Eine im klassischen Sinne tragische Figur ist Walter aber nur, weil zu seinem Stolz auch Pech kommt – eine fatale Kombination. Was Walter will: Anerkennung und das Wissen, dass er seine Familie versorgen kann. Stattdessen trampeln alle nur auf ihm herum. Aber was passiert mit einem stolzen Mann wie Walter in einer Welt, in der ihm die wirtschaftliche Perspektive (→ Geld) fehlt? Er gerät auf die schiefe Bahn. Oder, wie es im Südstaaten-Dialekt heißt: He is breaking bad.  

Teddy
Vier Folgen der zweiten Staffel beginnen mit verstörenden Einstellungen, in denen man vor allem einen pinkfarbenen Teddybären durchs Wasser treiben sieht. Das Rätsel dieser Bilder wird erst in der letzten Episode der Staffel gelüftet. Die Erfinder haben aber einen Hinweis eingebaut: Wenn man die Episodentitel der Folgen, die mit diesen Einstellungen beginnen, zusammenfügt, erhält man eine Umschreibung dessen, was passiert ist.

Unterschätzt werden
Dass man ihn immer unterschätzt, ist Walters Whites großer Vorteil. Wer hätte dem schwächlichen Chemie-Lehrer schon zugetraut, ein Drogen-Imperium aufzubauen? Nur der schlaue Bryan Cranston himself hat die Logik dahinter natürlich durchblickt: „Ob man eine Kneipenschlägerei gewinnt, hängt ja weniger von Muskeln ab als von Willensstärke und Verzweiflung. Darum würde ich bei so was eher auf den Kleinsten wetten, sonst hätte er sich doch gar nicht drauf eingelassen.“ 

Vince Gilligan

Wie auch immer die Serie ausgehen wird: Der Erfinder und Showrunner von „Breaking Bad“ hat schon jetzt seinen Platz im Olymp der Fernsehautoren sicher. Seinen Karriere-Durchbruch hatte Gilligan als Autor bei „Akte X“. Jetzt hat er eine der besten Fernsehserien aller Zeiten geschrieben – was macht man dann bloß als nächstes? Eine Westernserie würde ihn interessieren, hat er in Interviews angedeutet. Und eine eigene Serie für Saul Goodman (→ Better call Saul) soll auch in Arbeit sein.  





Wohnmobil
Walters braune Hose und ein altes Wohnmobil – damit begann vor mehr als fünf Jahren die allererste Folge „Breaking Bad“. Bei dem mittlerweile ikonischenWohnmobil, in dem Walter und → Jesse ihr Meth gekocht haben, handelt es sich um das Modell „Bounder“ des amerikanischen Herstellers Fleetwood, Baujahr 1986. Modell und Baujahr der braunen Hose sind leider nicht bekannt.  

Xenon

Chemisches Element mit der Ordnungszahl 54. Das Symbol Xe aus dem Periodensystem der Elemente sieht man in den Opening Credits sehr prominent, bevor die Symbole Br und Ba für Brom und Barium den Titelschriftzug bilden. In den Namen aller Beteiligten, die in den Credits zu sehen sind, werden außerdem stets die Buchstaben hervorgehoben, die weitere Elementsymbole ergeben. Man sieht also: Chemie ist eines der Grundmotive in "Breaking Bad". Immerhin gäbe es ohne sie kein Crystal Meth. → Fans haben sich die Mühe gemacht, ein eigenes Breaking-Bad-Periodensystem zu erstellen, das mit Begriffen aus der Serie gefüllt ist. 

Yo, Bitch!

→ Jesse Pinkman ist unter anderem dafür berühmt, dass er sehr, sehr oft „Bitch“ (oder Varianten wie „Yo, Bitch“ und „Biatch“) sagt. Auf YouTube kann man sich unterhaltsame Compilations all seiner Flüche anschauen. Jesse-Darsteller Aaron Paul hat Conan O’Brien mal erzählt, dass Fans der Serie nur zu gerne von ihm „Bitch“ genannt werden wollen. Und für einer Autogrammstunde bei Urban Outfitters wurde der Hastag #Callmebitch ins Leben gerufen, unter dem man ebenfalls darum bitten konnte, von Paul beschimpft zu werden. Hat er dann auch gemacht.   

Zeugenschutzprogramm

Unter den vielen Theorien, wie es am 29. September, in der letzten Folge „Breaking Bad“ ausgehen wird für Walter und die anderen, ist eine im Netz trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit besonders beliebt: Walter White kommt in ein Zeugenschutzprogramm, neue Identität, neue Familie, neuer Name – und dann stellt sich heraus, dass „Breaking Bad“ nur ein Prequel zu „Malcolm mittendrin“ war.

Überstunden: Chance oder Ausbeutung?

0
0
Weil der Bahn Mitarbeiter fehlen, will FDP-Generalsekretär Patrick Döring Fahrdienstleiter aus dem Urlaub zurückbeordern. "Die Bahn lebt auch vom Teamgeist der Eisenbahner", sagt er. Würdest du dir das als Angestellter bieten lassen? Kennst du ähnliche Forderungen? Der Überstunden-Ticker.

Die Bahn kommt – und zwar mal wieder in Bedrängnis. Diesmal fehlen: Mitarbeiter. Im Stellwerk in Mainz sind von den 15 sonst dort arbeitenden Fahrdienstleitern fünf krank. Und drei im Urlaub. Und bei letzteren wird es nun spannend. Denn FDP-Generalsekretär Patrick Döring, der auch Mitglied des Bahn-Aufsichtsrates ist, hat jüngst gefordert, man möge die Urlauber zurück an den Arbeitsplatz beordern– "auf Kostenerstattung der Bahn". Immerhin. "Die Bahn lebt auch vom Teamgeist der Eisenbahner", sagte Döring. Und nun stehe nicht weniger als der Ruf des Unternehmens auf dem Spiel.





Die Bahngewerkschaft EVG hat die Idee als „unsozial und völlig inakzeptabel“ zurückgewiesen. Der Arbeitgeber wisse seit langem von den Personalengpässen. „Jetzt den Kollegen den schwarzen Peter zuschieben, die ihren Erholungsurlaub dringend brauchen, ist einfach nur schäbig“, sagte der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner. Verantwortungsvolle Personalpolitik sähe anders aus, kritisierte er auch.  

Die Überstunde als Norm


Das mag nun ein Extremfall sein. Aber von der Idee her kennt wohl jeder das Problem: Was tun, wenn der Job (oder gar der Chef explizit) Überstunden fordert? Wer hat nicht wenigstens hie und da schon mal „noch schnell was zu Hause“ erledigt, weil es „halt nicht anders ging“? Früher kommen. Später gehen. Mittagspause ausfallen lassen. Alles ja unbezahlte Arbeitszeit. Gerne verklärt zur Norm – oder gar zur Chance: Da kann ich mich mal richtig beweisen. Von nix kommt nix. Ich arbeite gern länger, ich will’s schließlich zu etwas bringen. Dieser Kram. Mist ist das!  

Oder doch nicht? Wie siehst du das? Müssen die Mitarbeiter in solchen Situationen „loyal“ gegenüber ihrem Arbeitnehmer sein? Zeigt wirklich „Teamgeist“, wer länger arbeitet – oder gar seinen Urlaub abbricht oder verschiebt? Sind Überstunden für dich eine Chance oder Ausbeutung? Und hast du selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht? Werden dir regelmäßig Zusatzdienste abverlangt? Hast du Angst um deinen Job, wenn du mal „nein“ sagen würdest? Oder hast du vielleicht sogar Tipps, wie man sich wehrt, ohne Angst haben zu müssen, damit die Karriere zu beschädigen?

"Pofalla beendet den Unterricht, nicht die Glocke!"

0
0
Der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla hat am Montag die Ausspäh-Affäre als "vom Tisch" bezeichnet. Seitdem lässt ihn die Netzgemeinde so einiges beenden: den Veggie-Day, den Nahost-Konflikt und sogar: das Internet.

Als Politiker muss man ziemlich vorsichtig sein. Jeder Satz, ja, jedes Wort, das man sagt, kann fatale Folgen nach sich ziehen. Klar, das war früher auch schon so, heute erreicht das Ganze aber eine nie gekannte Rasanz. Zwei Beispiele: Beim FDP-Parteitag im März in Berlin sagte Philipp Rösler in seiner Rede: "Deutschland ist das coolste Land der Welt." Es dauerte keinen Tag, schon bewiesen die Twitter-User unter dem Hashtag #ImCoolstenLandDerWelt das Gegenteil. Als Angela Merkel während Obamas Berlin-Besuch im Juni sagte "Das Internet ist für uns alle Neuland", folgten die Witze und Empörungen nur Minuten später unter dem Hashtag #Neuland.  

Nun geht es Ronald Pofalla so. Der Kanzleramtsminister äußerte sich am Montag im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) des Bundestags zu den Vorwürfen der flächendeckenden Ausspähung Deutscher durch US-amerikanische und britische Geheimdienste. Für die Bundesregierung seien diese Vorwürfe entkräftet und "vom Tisch", sagte er. "Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung."  
"Vom Tisch", einfach so? Nach der Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ja der Begriff "Ausmerkeln" benannt, das Aussitzen einer problematischen Situation. Auch keine Lösung. Aber die Ausspäh-Affäre einfach als "vom Tisch" erklären? Da macht es sich der Politiker doch zu leicht. Und die Netzgemeinde, die ja oft etwas empfindlich reagiert und sich an Kleinigkeiten aufhängt, regt sich dieses Mal zu Recht auf.  

Zunächst konnte man Pofallas Ansprache am Montag unter dem Hashtag #pofalla verfolgen. Die Reaktionen auf sein "vom Tisch" waren wütend bis ausfallend, die Mem-Fähigkeit schnell erkannt. "#Pofalla erklärt die #NSA Affäre für beendet. Rofl", schrieb @Tillide, und @p1ddly: "Hiermit erkläre ich die Amtszeit von #Pofalla für beendet." Wenige Minuten später startete der Twitter-User @kindermann_r den Hashtag #pofallabeendetdinge mit diesen beiden Tweets:





Seitdem beendet der Kanzleramtsminister so einiges (dass er gar nicht wörtlich von "beenden" sprach, stört dabei niemanden). Die Olympischen Spiele, den Internet Explorer, die Mückenplage, die Beziehung. "Hiermit erkläre ich den Vormittag für beendet. Mahlzeit", schrieb @TurnieGC. In den Tweets geht es um Banales wie das Wetter oder die Arbeitswoche, die Pofalla doch beenden könnte, aber auch um Aktuelles und Kritisches wie "den Justizskandal #Mollath", Kinderarmut oder den Nahost-Konflikt.  







Der Hashtag funktioniert, ähnlich wie #ImCoolstenLandDerWelt oder auch #Aufschrei, als Sammelstelle für den Unmut der User über das, was in der Politik oder der Gesellschaft diskutiert wird, geplant ist oder passiert. Das ist wichtig und im Fall von #pofallabeendetdinge oft sehr unterhaltsam. Es geht um die Diskussion über die Privatsphäre im Internet und den Veggie-Day, genauso wie um die Diätenerhöhung im Bundestag, die Verspätungen bei der Bahn und die Bahn-Angestellten, die vielleicht aus dem Urlaub zurückgeholt werden.







Die Twitter-User lassen Pofalla auch viel Unsinn beenden. Die Star-Wars-Saga zum Beispiel, die Ausdehnung des Universums, die "Unendliche Geschichte" oder gleich die Unendlichkeit selbst. Der User @knarf_e schlägt vor: "Neu im App Store Pofalla Task Manager". Typischer Hashtag-Humor sind auch Serien- und Filmwitze, Anspielungen auf Jack Bauer aus "24" und "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" sowie den Film "Die Schlussmacher" fehlen auch bei Pofalla nicht. Insgesamt erinnert das Ganze sehr an die beliebten Chuck-Norris-Witze. Viele Tweets drehen sich sogar um Chuck Norris und Ronald Pofalla. 










 

Ebenfalls über den Hashtag, auch auf Facebook, verbreitet sich der Tumblr "Pofalla beendet Dinge" (übrigens nicht sein erster), der den Kanzleramtsminister seit Montagabend Dinge als beendet, tot oder obsolet erklären lässt. Den Veggie-Day ebenso wie die Bundesliga ("Bayern ist und bleibt Meister") und die Schnapp-Schildkröte Lotti.





In Wort und Bild funktioniert es noch besser, die Botschaft rüberzubringen, für die auch der Hashtag #pofallabeendetdinge steht: So einfach geht das nicht, Politiker! Oder, wie es @fsckflow getwittert hat:
"… und jetzt ist alles wieder gut, es war nichts und wir haben uns alle wieder lieb… ".

Hauptsache Heimat

0
0
Interview: Der Ethnologe Thomas Hauschild über die Gründe für die Krimiflut im deutschen Fernsehen

Ob Polizeiruf, Tatort, Criminal Minds, Mord mit Aussicht, CSI Miami, Law & Order oder Soko Wismar - Krimis dominieren in Deutschland das Abendprogramm, egal wo die Fälle spielen, in Miami oder in der Eifel. Für den Ethnologen Thomas Hauschild ist diese Krimiflut im Fernsehen eine Reaktion der Gesellschaft auf eine unübersichtliche Welt. Mehr noch, es zeige sich darin eine Abwehrhaltung der Menschen gegen eine globalisierte Postmoderne. Die SZ hat mit dem Wissenschaftler von der Universität Halle gesprochen.



Egal ob in Münster oder Miami gemordert wird. Die Deutschen stehen auf Krimis.

SZ: Herr Hauschild, wenn die vielen Fernsehkrimis eine Reaktion der Menschen auf die Globalisierung sind, warum boomen dann nicht Heimatfilme oder Kochsendungen zur regionalen Küche oder Lokalsport? Warum Krimis?

Thomas Hauschild: Kochsendungen und Heimatschnulzen boomen ja auch. Aber ein Krimi hat den Vorteil, dass man als Zuschauer einer Sache auf den Grund gehen kann. Am Ende ist alles geklärt, alle Fragen sind beantwortet, man weiß, was passiert ist und wer was getan hat. Man hat einen befriedigenden Überblick. Das ist der Gegenentwurf zur unübersichtlichen, sich ständig ändernden, beliebigen Facebook- und Twitter-Gesellschaft, wo dauernd Informationen und Nachrichten aus den entlegensten Teilen der Welt auf uns einströmen, die man nicht einordnen kann und die einen verunsichern.

Der Heimatfilm bietet auch klare Botschaften und Ergebnisse.

Aber es fehlt ihm natürlich die Spannung, die ein Krimi bietet. Krimis suggerieren uns außerdem einen Fall lang vertiefte Sachkenntnis. Wir können all unser Wissen und Halbwissen mitmobilisieren, um zu klären, was da los ist.

Es gab auch früher schon viele Krimis deutscher Provenienz - Derrick, Der Alte, Der Kommissar und andere. Heute allerdings kommen eher englische und amerikanische im deutschen Fernsehen dazu. Wo bleibt denn da das lokale Moment?

Wo genau das Verbrechen spielt, ist letztlich egal. Hauptsache, es ist lokal, es geht um einen Fall, ein Ambiente, eine Lösung. Geschichten um Gewalthandlungen, die sowohl zum Ereifern einladen als auch aufklären, sind uralt und weit verbreitet und finden in zahllosen regionalen Varianten ihren Niederschlag. Der deutsche Klassiker ist hier der Tatort mit seinem starken Lokalkolorit, aber es gibt auch lokal-parodistische Ansätze wie bei Mord mit Aussicht. Manche wachsen über ihre lokalen Kulturen hinaus, das sieht man an der gestiegenen Popularität der skandinavischen Krimis oder eben der amerikanischen und britischen. Das Lokale der einen wird zum Globalen von allen anderen. So geschehen etwa bei The Wire und The Sopranos. Die spielen auf engstem lokalen Raum, werden aber global geguckt. Es gibt, was die Handlung angeht, keinen globalen Krimi, keinen, der überall spielt.

Und was ist mit James Bond?

Das ist ein Versuch, einen globalen Krimi zu schaffen, einen Krimi, der zu der postmodernen Globalisierungseuphorie perfekt gepasst hat. Trotzdem braucht er Tatorte und ein Zentrum des Bösen. Und dann schauen Sie sich den letzten James Bond an, Skyfall, da findet die Entscheidungsschlacht in Bonds Elternhaus statt, in Schottland. Bezeichnend, dass die jüngste Folge diese große Kurve zurück genommen hat - Bond ist "vom Himmel gefallen", und nun geht die Sache am Boden weiter, auf engem Raum.

Funktioniert das Prinzip nur mit Serien? Braucht es die immer selben Orte und Ermittler, um diese Art von Identität und Verlässlichkeit zu erzeugen?

Die Serie verstärkt auf jeden Fall das lokale und reservierte Moment. Sich zurückziehen auf einen Ort, wo man sich auskennt, wo man weiß, was Sache ist.

Schauen die Deutschen nicht einfach deshalb so viele Krimis, weil eben immer mehr gezeigt werden? Liegt es also eher am Angebot als an der Nachfrage?

Das glaube ich nicht. Die Leute, die solche Serien entwickeln oder einkaufen, beobachten die Nachfrage scharf. Das Angebot wird ständig entlang der Nachfrage verändert. Vor allem, wenn kulturelle Produkte teuer sind, passt man sie an die Bedürfnisse der Konsumenten an.


Jenseits des Bauchnabels

0
0
Die eigenwillige Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger begeistert bei ihrem Hamburger Konzert

Vier eigenwillige, doch kaum eigenbrötlerische Platten, zunehmend enthusiastisch rezensiert und rezipiert. Dazu amüsante, sperrige TV-Auftritte, die die gefällige Quatschbuden-Routine klarköpfig aufbrachen. Nicht zuletzt ein Konzertpublikum, das auch jenseits ihrer Heimat immer noch wächst, was ihr letztens sogar mal eben eine sechstägige Club-Minitour durch Berlin ermöglichte: Sophie Hunger, zurzeit der spannendste Singer-Songwriter-Export der Schweiz und zudem als wohl einzige ihrer Zunft gleich viersprachig unterwegs, ist an einem interessanten Punkt in ihrer Karriere angekommen.



Sophie Hunger gilt zurzeit als der spannendeste Singer-Songwriter-Export der Schweiz.

Es ist auch dieser Punkt, an dem sich Erwartungen zu schieben drohen zwischen sie und ihre Songs, zwischen ihre Songs und ein Publikum, das aber, bitteschön, jetzt etwas ganz Bestimmtes auf der Bühne sehen und hören möchte. Im schlimmsten Fall entsteht daraus eine Nummer, die einfach immer wieder abgezogen wird, Joe-Cocker-mäßig; im besten Fall eine Konzertpraxis wie bei Bruce Springsteen, der selbst Stadionshows am Fließband noch unerwartete Pointen entlocken kann. Beide Optionen stehen ihr noch offen, der 30-jährigen Diplomatentochter aus Bern, als sie am Montagabend die Hamburger Kampnagel-Bühne betritt, im schlichten dunklen Kleid. Sich grußlos ans Klavier setzt, in rotes Licht getaucht, und mit "Rererevolution" gleich ein bisschen straßenkämpferisches Unbehagen in die Halle hineinstrahlt.

Später wird noch mehr, auch wuchtiger formuliertes Leiden an der eigenen Generation folgen, die in "1983" weder Dichter noch Lieder hat. Hungers grundsympathische Weigerung, nur um des Dazugehörens willen irgendwo dazuzugehören und der Interpretation ihrer Songs damit bequem auf die Sprünge zu helfen (man merkt, sie ist Dylan-Jüngerin), kontrastiert aber gerade auf der Bühne mit ihrer Fähigkeit, jenseits überkommener Live-Rituale Momente von großer Innigkeit und Verbundenheit herzustellen.

Wenn sie die Band im Halbkreis um sich versammelt, um auf Schwyzerdütsch "Z"Lied vor Freiheitsstatue" anzustimmen. Wenn sie ihre Lieder aus dem Wartesaal der Liebe berichten lässt, wo als ultimative romantische Geste ein "Walzer für Niemand" getanzt wird. Wo auch der gute, alte Zweifel wohnt. "How much do we share, how much do I really care?", fragt Hunger sich und uns in "Can You See Me?". Sie mag in verständlicher Abgrenzung zum Bauchnabel-Songschreibertum darauf beharren, dass ihre Songs weit über dem bloß Autobiografischen stehen, dass das Universelle kaum im Persönlichen zu finden sei. Und lässt es doch immer wieder anrührend aufblitzen, auch wenn sie das Schlagwort-Staccato "Das Neue" mit einem zarten Finale bricht.

"Ihr seid schön!", hatte sie dem bunten Kampnagel-Publikum nach dem dritten Lied zur Begrüßung bescheinigt. Um dann erst wieder zu reden, als sie ihre Band ausführlich vorstellt: Pianist Alexis Anérilles, der später zum Flügelhorn greift, dazu ein melodisch interessierter Drummer, ein Bassist, der auch mal Klarinette oder ein Rock-Gitarrensolo kann, eine Cellistin, ein Posaunist. Erst die großartige Band macht all die Stilhaken des Abends möglich, und auch, dass Hunger, deren ganze Unruhe allein in ihrer rechten Hand zu wohnen scheint, immer wieder ein- und abtauchen kann in den mal dichten, mal weit aufgefächerten Ensembleklang. Nur um sich dann strahlend wieder daraus zu erheben, mit dieser Stimme, die sich eher über ihr klares Timbre als über gewagte Technik definiert.

Mit den Ovationen in der zweiten Zugabe scheint Sophie Hunger erst nichts anzufangen zu wissen. Um dann damit zu kokettieren, wie toll es sein werde, daheim in der kleinen Stadt Bern mit der Publikumsgunst in der großen City angeben zu können. Um schließlich von den roten Hamburger Leihfahrrädern zu erzählen, die leider ihren Code gewechselt hatten und sich deshalb quasi selbst zurückgeben mussten. Komische Geschichten, vielleicht erwartet man die irgendwann von ihr?

Dann wendet sie sich noch einmal ihrem Klavier zu, die Band begleitet "Train People" mit Gesang von der Empore. "Time is passing", singt Hunger die letzte Zeile, schaut dann hinaus ins Publikum, hinein in eine kurze, irritierende Stille, kurz scheint die Zeit zu gefrieren. Was ein wundervolles Ende gewesen wäre für das Konzert einer Künstlerin, die immer wieder die Frage umtreibt, was bleiben kann, darf, soll, muss, wenn sich alles verändert. Wenn Freiheit sich plötzlich wie das neue Gefängnis anfühlt.

Aber das Kampnagel-Publikum gibt sich damit nicht zufrieden und lässt gern noch ein bisschen Donnerwetter über sich ergehen. Erwartungen? Sophie Hunger sollte sie ruhig noch ein bisschen warten lassen.

Hitlergruß ohne Dämon

0
0
An diesem Mittwoch wird in Kassel das Urteil über Jonathan Meese erwartet. Kann man über Kunstfreiheit diskutieren, während der NSU-Prozess läuft?

In den Lokalnachrichten der Münchner Abendzeitung vom 10. August 2012 findet sich als dritte Meldung nach "Ausraster hinterm Steuer" und "Dämlicher Handy-Dieb" unter dem Titel "Rabiater Neonazi" folgende Nachricht aus Sendling: "Mit nacktem Oberkörper hat ein Neonazi in der Pfeuferstraße am frühen Sonntagmorgen ein Paar belästigt. Er zeigte den Hitlergruß und rief ,Heil Hitler". Als das Paar ihn trotzdem ignorierte, kam er auf den Studenten (28) zu, schlug ihn nieder. Dann flüchtete der Täter."

Weil er Anfang Juni 2012 während einer Interviewveranstaltung am Rand der Documenta den Hitlergruß ausführte und zudem die Demokratie beschimpfte, steht der Künstler Jonathan Meese derzeit vor Gericht. Für diesen Mittwoch ist die Fortsetzung der Verhandlung im Amtsgericht Kassel anberaumt. Wieder werden sich Meese und seine Anwälte auf die im Grundgesetz garantierte Kunstfreiheit berufen, wieder wird Meese sagen: "Man muss strikt trennen zwischen der Bühnenperson Jonathan Meese und dem mickrigen Privatmenschen Jonathan Meese."



Was darf Kunst? Jonathan Meese bei einer Performance im Mannheimer Nationaltheater.

Und auf eine etwaige Nachfrage der Richterin, ob denn eine Diskussion im Vorfeld der Documenta dasselbe sei wie eine Theaterbühne, werden die Anwälte argumentieren, dass bei einem Künstler wie Jonathan Meese das Interview zum Werk gehöre und eigentlich gar kein Interview sei, sondern eine Performance, ob innerhalb einer Ausstellung oder im Saal einer Kunstakademie. Und die Kunstfigur Jonathan Meese könne man schon an ihrer Sonnenbrille und dem schwarzen Outfit erkennen. Und vielleicht wird Meese wieder sagen, was er dem Gericht schon im Juli gesagt hat: "Ich würde doch nicht in einem Restaurant einen Hitlergruß zeigen, ich bin doch nicht bescheuert."

Kurz, es wird alles darauf herauslaufen, dass der Künstler Meese mit dem anonymen Neonazi aus der Pfeuferstraße in Sendling nichts zu tun hat und nicht verwechselt werden will. Erstens, weil er ja niemanden tätlich angegriffen hat, und zweitens, weil bei ihm ganz unzulässig ist, was die Redaktion der Abendzeitung ganz selbstverständlich praktizierte: von der Geste auf die Gesinnung zu schließen. Nur so konnte sie den flüchtigen Anonymus im Titel der Meldung "Neonazi" nennen.

Wie erreicht nun aber der Künstler Jonathan Meese die Abkoppelung der Geste von der Gesinnung? Nach altem Brauch der modernen Kunst durch die Souveränitätserklärung ihrerseits. So will es ihre Theologie, die sich die mittelalterliche Lehre von den zwei Körpern des Königs in die Lehre der zwei Körper des Künstlers überführt. Dem mickrig-hinfälligen Privatmenschen Meese steht die unbelangbare Kunstfigur Meese gegenüber.

Diese Operation setzt das Lieblingsspiel der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts voraus, die Ausdehnung des Kunstbegriffs, bis ihm alles, was es überhaupt gibt in der Welt, zum "Material" geworden ist. Als Erbschaft des zwanzigsten Jahrhunderts schleppt der öffentliche Kunstdiskurs, wenn es um Figuren wie Meese geht, vor allem diese Frage mit sich herum: Ist das Kunst oder nicht? Es ist die Frage, durch deren positive Beantwortung man bei Gericht durchkommt. Denn das Gericht muss von der Frage nach der Qualität der Kunst vollkommen absehen. Nur so kann es entscheiden. Der Kunstkritik aber tut es nicht gut, wenn sie sich auf die Frage "Kunst oder nicht" fixiert. Hoffen wir, dass das Kasseler Gericht Jonathan Meese freispricht. Denn dann wird er frei für eine Kritik, die ihn nicht schon deshalb mit Samthandschuhen anfasst, weil sie fürchtet, durch ein negatives ästhetisches Urteil ein negatives juristisches Urteil herauszufordern.

Einer solchen Kritik fällt als Erstes auf, dass Meese mogelt, wenn er behauptet, in seiner Performance sei die Geste des Hitlergrußes von Ideologie und Gesinnung abgekoppelt. So mächtig ist die von ihm beschworene "Diktatur der Kunst" denn doch nicht. Sie kann den Mehrwert der "Provokation" nur einstreichen, weil sie - wenn auch gefahrlos - mit einer Geste spielt, die wegen ihres ideologischen Gehaltes unter einer Strafandrohung steht und nicht als Entspannungsübung oder reine "Muskelbewegung", als die sie der Künstler offiziell verstanden wissen will. Es gibt in Deutschland, vielleicht als Relikt der Genieperiode und der Kunstreligion, eine starke Bereitschaft, vor der Selbstdeutung von Künstlern auf die Knie zu gehen. Das ist aber eine sehr unmoderne Haltung.

Der Meese-Sammler und Jurist Harald Falckenberg hat in Interviews mit der Welt am Sonntag und dem Bayerischen Rundfunk so gesprochen, wie der das gerne hört - das Rundfunkinterview hat Meese denn auch auf seine Website gestellt: "Meese ist Außenseiter, er braucht und will keine Fangemeinde. Sein zentrales Anliegen ist die Auseinandersetzung mit den Kontroll- und Machtmechanismen. Er setzt sich zur Wehr und will kein nützliches, den Normen und Funktionen unterworfenes Mitglied der Gesellschaft sein."

Wie bitte? Der Exportschlager der deutschen Gegenwartskunst, der Mann, der demnächst in Bayreuth den "Parsifal" inszeniert und landauf landab in die Theater eingeladen wird, ein Schmerzensmann und Außenseiter, der keine Fangemeinde braucht? Man muss nur ein paar Minuten der Aufzeichnung des Documenta-Interviews anschauen, um zu ahnen: Dieser Mann ist eine Rampensau, der vor Publikum aufblüht und es genießt, ihm einen lässig ausgeführten Hitlergruß als Pointe vorzusetzen.

Wenn man die Privatperson Meese fragt, warum der Performer das macht, hat er eine politisch vollkommen korrekte Antwort: "Der Hitlergruß ist ein Symbol, das neutralisiert werden muss, man entdämonisiert ein Zeichen für die Zukunft." Nun hat die Entdämonisierung der Figur Hitler und des Hitlergrußes nicht erst mit Meese begonnen. Wie sehr sich die Geste "ich zitiere den Hitlergruß" in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Performance, mit der Anselm Kiefer 1969 Skandal machte, als er in seiner Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Karlsruhe in verschiedenen Ländern Europas den Hitlergruß ausführte und in Fotos dokumentierte. Kiefer, Jahrgang 1945, integrierte Teile der Uniform seines Vaters, der als Wehrmachtsoffizier in den Ländern gewesen war, in denen der Sohn seine Aktion ausführte.

Die ödipale Spannung, die in Kiefers Aktion einging, machte sie zu einem Vorläufer der "Väterbücher", die wie Bernward Vespers "Reise" oder Christoph Meckels "Suchbild" aus der Nachkriegszeit in den Nationalsozialismus zurückblickten. Das waren dunkle, bohrende Exorzismen. In Meeses Selbstkostümierung als Propagandist der "Diktatur der Kunst" im Nazi-Outfit ist von einer solchen Spannung nichts zu spüren, und wenn er sich die "Entdämonisierung" Hitlers auf die Fahnen schreibt, ist er aktuell mitten im Mainstream.

Da gibt es wunderbare Anknüpfungen an Chaplins Hitler-Satire wie die Abschlussarbeit des Filmstudenten Florian Wittmann von der Bremer Hochschule für Künste, der in mühevoller Kleinarbeit

einer Hitler-Rede auf dem Reichsparteitag den Text von Gerhard Polts "Leasingvertrag" lippensynchron unterlegte. Es gibt den Comedy-Hitler von Walter Moers und die schlichte literarische Sitcom in Gestalt des Romans "Er ist wieder da" von Timur Vermes, der seit fast einem Jahr auf den Bestsellerlisten steht.

Wenn man Meeses Website und seine Performances mit dieser satirischen Tradition vergleicht, fällt sogleich auf, dass dieser verbal wie gestisch eher grobmotorische Künstler mit Humor und Sprachwitz wenig am Hut hat, auch wenn sein frommer Sammler Falckenberg ihn allen Ernstes in eine Reihe mit Chaplin und Werner Finck stellt, der mit seinem Sketch "Aufgehobene Rechte" im Nationalsozialismus ein beträchtliches Risiko einging.

Die Trash-Show, die Meese unter dem Titel "Diktatur der Kunst" abzieht, ungefährlich. Kein Gericht muss dagegen einschreiten. Aber warum ist sie so harmlos - und so peinlich? Aus zwei Gründen. Der erste Grund erklärt die Peinlichkeit. Er liegt darin, dass Meese in der Rhetorik wie in der Gestik seiner "Diktatur der Kunst" vollkommen brav, affirmativ und pathetisch das verblichenste, zukunftsloseste und im 20. Jahrhundert am gründlichsten ruinierte Element der klassischen Avantgarde zitiert: das Umsichwerfen mit Manifesten, in denen die Kunst die Macht ergreift.

Darum hat bei Meese nicht der durch den satirischen Reißwolf gedrehte Hitler seinen Auftritt. Vielmehr holt er stampfend, pathetisch, dröhnend den kitschigen Hitler aufs Parkett: den Künstler, der vom Volk verführt wurde, von der Bühne in die Politik hinabzusteigen, das schauspielerische Genie, das es leider versäumte, 1936 abzutreten. An diesen kitschigen Hitler ist Meeses Hitlergruß angeklebt, und das führt zum zweiten Grund der Harmlosigkeit dieses Künstlers. Der darin besteht, dass Meeses Kunst zwar aktuell ist, aber nicht gegenwärtig. Sie ist das Beispiel einer Kunst, die vollkommen im Retrodesign aufgeht. Sein Hitlergruß ist ein Readymade, von dem er glaubt, er könne die damit herbeizitierten Bedeutungen und Zeichenketten souverän kontrollieren. Dieses Readymade ist aber kein Brillobox und kein Urinal, es ist kein Objekt, sondern ein performativer Akt, und dieser Akt hat eine Geschichte und eine Gegenwart.

In eben jenem Frühjahr 2012, in dem Meese auch bei der Documenta den Hitlergruß aufführte, wurde in Deutschland offenbar, was es mit der 2011 aufgeflogenen NSU-Zelle auf sich hatte. Schon klar: Meese hat mit Zschäpe nichts zu tun, Meese ist ungefährlich. Aber eben auch unfähig zu registrieren, dass sein Readymade nicht nur in der Kunstwelt eine Rolle spielt und nicht nur in der bösen deutschen Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.

Niemand kann die Kontexte, in denen er agiert, abwählen. Auch nicht jemand, der eine Diktatur der Kunst ausruft. Meese kann nicht verhindern, dass seinen im Feuilleton abgebildeten Hitlergruß-Posen im Politikteil die Zwischenbilanz im NSU-Prozess gegenübersteht. Ich habe damit nichts zu tun, wird er sagen. Eben das ist das Problem. Es sagt etwas über die Meese-Kunst aus, dass der Meese-Prozess und der um ihn herum geführte Kunstdiskurs in vollkommener Beziehungslosigkeit zum Zschäpe-Prozess stattfindet, beide aber Teil der deutschen Gegenwart im Jahre 2013 sind: die NSU-Angeklagte Beate Zschäpe, die durch ihren Verzicht auf symbolische Gesten und durch die Maske der Teilnahmslosigkeit auffällt, und Meese, der gestenreich seine Diktatur der Kunst ins NS-Retrodesign kleidet.

Meese freisprechen? Unbedingt! Nicht zuletzt in Reaktion auf den Umgang der Nationalsozialisten mit der modernen Kunst garantiert das Grundgesetz die Kunstfreiheit so großzügig. Sie schützt aber natürlich auch die ewiggestrige Kunst.

Der Kontrollfreak

0
0
Seit ein paar Tagen ist Jeff Bezos einer der wichtigsten Verleger Amerikas. Der Amazon-Gründer und Milliardär mischt sich gerne ein. Er gilt als große Hoffnung der Zeitungsbranche. Aber ist er das zu Recht?

Es ist eines seiner absurdesten Investments, aber vielleicht das vielsagendste. In einem Berg im staubtrockenen Nirgendwo von West-Texas baut Jeff Bezos eine Uhr. Sie sieht aus wie eine riesige Großvater-Uhr, meterhohe Zahnräder greifen ineinander, irgendwie aus der Zeit gefallen. Dabei ist sie genau das nicht. Die Uhr soll 10000 Jahre lang die Zeit messen, das erfordert ganz viel moderne Technik. Die Uhr soll den Menschen daran erinnern, wie klein er ist und wie kurz ein Leben in den Zeitläuften. Sie ist die Manifestation der Langfristigkeit.



Jeff Bezos, Gründer von Amazon und neuerdings Besitzer der Washington Post

Jeff Bezos lebt in einer schnellen Welt, der Welt des World Wide Web, von Unternehmensgründungen und Unternehmenskäufen, Quartalszahlen, Millionendeals und durcharbeiteten Nächten. Dass es in ihm auch diese Sehnsucht nach Langfristigkeit gibt, macht seit einer Woche einer ganzen Branche Hoffnung: der Zeitungsbranche. Denn Bezos, der Multimilliardär, Technikfreak, Gründer und Chef von Amazon, hat die Washington Post gekauft.

250 Millionen Dollar hat er dafür bezahlt, das ist weniger als ein Prozent seines Vermögens. Die Washington Post ist die erste Zeitung, die Washingtons Entscheider morgens aufschlagen, ihre Journalisten haben einst die Watergate-Affäre aufgedeckt. Nichts beschäftigt Journalisten derzeit mehr als eine Frage: Wer ist dieser Jeff Bezos? Und was will er mit einer Zeitung?

In seinem Leben deutete wenig darauf hin, dass er einmal zu einem der wichtigsten Verleger Amerikas werden würde. Seine Mutter ist 17 Jahre alt, als er 1964 auf die Welt kommt in Albuquerque am Rio Grande. Seinen leiblichen Vater lernt er nie kennen. Als Bezos vier ist, heiratet seine Mutter einen Einwanderer aus Kuba, der ihren Sohn adoptiert. Bezos erzählt gern von seiner Kindheit, er ist ein bisschen stolz, dass sich ein Charakterzug schon so früh zeigt, der ihn zum erfolgreichen Geschäftsmann machte - und vielleicht auch zu einem guten Verleger: seine Neugier.

Als Dreijähriger soll er mit einem Schraubenzieher sein eigenes Bettchen auseinandergebaut haben. Als Achtjähriger war sein Hobby, das gesamte Haus mit Mini-Sprengsätzen zu präparieren. 'Meine Eltern hatten Angst, dass ihnen plötzlich 30 Pfund Nägel auf den Kopf fallen, wenn sie eine Tür öffnen', sagt er. Mit 14 will er Astronaut werden, die Garage ist voll mit seinen Erfindungen, da liegt zum Beispiel ein Schirm, der sich in einen Solarkocher verwandeln soll. In der Schule ist er besser als alle anderen, an der Eliteuni in Princeton auch. Er studiert Physik, später Elektrotechnik und Informatik. Es ist faszinierend, sagt er, dass Computer immer exakt das machen, was man ihnen sagt.

Man muss ein Produkt nicht lieben, um es zu revolutionieren. Kurz nach der Uni, Anfang der 90er-Jahre, programmiert Bezos die Computer an der Wall Street, und die Computer machen die Investments. Er arbeitet für einen Hedgefonds und verdient viel Geld. Doch da ist etwas, das spannender ist: das Internet. Die Nutzerzahlen im Web wachsen damals um 2300 Prozent pro Jahr, erzählt Bezos. 'Da habe ich mich gefragt, welcher Businessplan vor dem Hintergrund von diesem Wachstum Sinn macht.' Er geht systematisch vor, nicht nach Vorliebe. Er ist Geschäftsmann, nicht Nostalgiker. Er sammelt Ideen, am Ende hat er eine Liste mit 20 verschiedenen Produkten, die sich im Internet gut verkaufen lassen würden. Ganz oben: Bücher. Millionen Bücher kann kein Mensch so gut sortieren wie ein Computer, denkt er. Und im Internet ist mehr Platz als in jedem Buchladen. So wird Bezos Buchhändler.

Bezos liest Bücher. Aber wenn man ihn nach Literatur fragt, kommt kein Hemingway, kein Joyce, Steinbeck oder Orwell. Zu Qualitätsliteratur, sagt er, zwinge ihn ab und zu seine Frau, selbst mittelerfolgreiche Romanautorin. Ansonsten liest er Wirtschaftssachbücher und viel, viel Science-Fiction. Fragen nach Büchern beantwortet er aus der Sicht des Geschäftsmanns: 'Das gedruckte Buch hat schon seit 500 Jahren einen Lauf', sagt er einmal in einem Interview. 'Es ist die wahrscheinlich erfolgreichste Technologie der Geschichte. Aber keine Technologie, selbst wenn sie so elegant ist wie das Buch, wird es ewig geben.'

Seine Eltern geben ihm 1994 fast ihre gesamten Altersersparnisse, 300000 Dollar, als Startkapital. Am Anfang hat er die Bücher nachts selbst in Kisten gepackt mit zehn Mitarbeitern in seiner Garage in

Seattle. 'Wenn ich eine Entscheidung treffen muss, überlege ich mir immer, wie ich darüber denken werde, wenn ich 80 bin', sagt er. Das helfe ihm, den kurzfristigen Kleinkram zu vergessen, das große Bild zu sehen. Mit einem Scheitern von Amazon hätte er leben können, das gehöre nun mal dazu, wenn man etwas Neues wagt. 'Ich wusste, das Einzige, was ich je bereuen würde, wäre, es nicht versucht zu haben.'

Da sind sie, die Bezos-Eigenschaften: Neugier, langfristiges Denken, Experimentierfreude. Das endlose und dynamische Probierfeld des Internets fasziniert ihn. 'Wir sind immer noch am ersten Tag im Leben des Internets', glaubt er auch heute. Die Gebäude am Amazon-Stammsitz in

Seattle heißen darum auch 'Day One North' und 'Day One South'.

Wenn der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter von kreativer Zerstörung schrieb, meinte er Unternehmen wie Amazon mit Unternehmern wie Bezos. Zerstörung ist nötig für den Fortschritt, Innovation ist der Wachstumsmotor. Das Auto verdrängt die Pferdekutsche, die CD die Kassette, und das Internet zerstört die traditionellen Geschäftsmodelle ganzer Branchen. Jetzt hofft die Zeitungswelt, dass Bezos, der Internetmogul, seine Finanzkraft und seinen Unternehmergeist nutzt, um ein neues Geschäftsmodell für den Journalismus zu erfinden - aus der Zerstörung soll kreative Zerstörung werden.

Erst hat Amazon den Buchhandel verändert. Es folgten CDs, Möbel, Kleidung, Videos, Cloud Computing. Bezos hat das E-Book und den Leseapparat Kindle erfunden; wie man gedruckte Medien in der digitalen Welt verkauft, weiß er schon. Inzwischen gibt es kaum etwas, das es bei Amazon nicht gibt. 61 Milliarden Dollar setzte er 2012 um - mehr als alle amerikanischen Zeitungen zusammen. Bei der Washington Post will er sich aber nicht stark einmischen. 'Ich habe ja schon einen Job, den ich liebe', sagt er und meint Amazon. So recht glauben will ihm das keiner.

Bezos mischt sich in alles ein, sagen seine Mitarbeiter. 'Neben ihm sehen normale Kontrollfreaks aus wie bekiffte Hippies', schreibt der bekannte Blogger Steve Yegge, der Amazon gut kennt. Bezos liest und beantwortet viele Beschwerde-E-Mails von Kunden selbst. Manche leitet er an seine Manager weiter, mit vielen Fragezeichen versehen, sofortige Aufklärung erbeten. Er bezeichnet sich selbst als stur. Bezos ist klein, schmal und sportlich, die Haare sind nur noch Stoppeln an der Seite, das asymmetrische Gesicht wird von seinen braunen Augen bestimmt, sie sind schnell und wach, das eine größer als das andere. 'In Bewerbungsgesprächen sage ich den Leuten: Es gibt drei Arten zu arbeiten: lang, hart oder schlau. Bei Amazon.com kannst du dir nicht einfach zwei davon aussuchen', schreibt er 1997 in einem Brief an die Aktionäre.

Wer schlecht vorbereitet in ein Gespräch mit ihm komme, dürfe keine Gnade verlangen, schreibt die Washington Post über ihren Neu-Verleger. Inkompetenz ärgert ihn. Wobei sich seine Gnadenlosigkeit nicht in Wutausbrüchen zeigt, sondern in Missachtung. Wenn ihn etwas nervt, zieht er sein Smartphone aus der Hosentasche und fängt an, E-Mails zu tippen, manchmal mitten in einem Vortrag. In Extremfällen steht er auf und geht - wortlos. Wenn Mitarbeiter ihm Ideen präsentieren, sollen sie sechsseitige Aufsätze schreiben, bloß keine Stichpunkte. 'Ganze Sätze sind schwerer zu schreiben', sagt er. 'Es ist schlicht unmöglich, ein sechsseitiges, gut strukturiertes Memo zu schreiben, ohne dabei klar zu denken.' Er liebt es eben doch, das geschriebene Wort.

Bezos ist mehr als der knallharte und geniale Geschäftsmann, er kann sehr charmant sein, seine Energie steckt an. In seinem langfristigen Denken steckt auch ein grundsätzlicher Optimismus. Junge Gründer verehren seine Kreativität. 'Wenn man hundert Start-up-Unternehmer fragen würde, welchen Konzernchef sie am meisten bewundern, würden 95 seinen Namen nennen', sagt der Wagniskapital-Investor Bill Gurley. 'Wenn Jeff mal unglücklich ist, muss man einfach fünf Minuten warten', sagt seine Frau MacKenzie, mit der er vier Kinder hat. Bezos" Lachen ist legendär. Es bricht unvermittelt hervor, mitten im Satz, viel tiefer und lauter als seine Stimme, wenn er spricht. Bei Amazon kann man es über zwei Stockwerke hinweg hören.

Mit Investments hat er mehr Geduld als mit seinen Mitarbeitern. Wenn er an die Zukunft einer Idee glaubt, macht es ihm nichts, wenn sie nicht sofort Profit bringt. 'Wir machen kühne Investitionen, keine schüchternen, wenn wir eine hinreichende Wahrscheinlichkeit sehen, dass sie uns Vorteile bei der Marktführerschaft bringen', schreibt er in seinem Investorenbrief von 1997. 'Manche dieser Investitionen werden sich lohnen, andere nicht, und wir werden in jedem Fall etwas daraus lernen.'

Bezos kultiviert diese Langfristigkeit, er erwähnt sie in jedem Interview. Das Gehalt bei Amazon ist im Vergleich zu anderen Tech-Firmen eher niedrig, selbst Topmanager fliegen Economy. Aber die Aktienpakete sind groß, nach und nach erst dürfen die Leute sie in Geld umwandeln; so sollen sie angehalten werden, am langfristigen Erfolg des Unternehmens zu arbeiten. Aber irgendwann will er auch Geld verdienen: 'Wir glauben an langfristige Ergebnisse, aber die langfristigen Ergebnisse müssen auch irgendwann kommen.'

Wie viel Geduld wird er mit der Washington Post haben, diesem verlustträchtigen Blatt, das von seiner Tradition lebt? Bezos glaubt an guten Journalismus, aber nicht an gedruckte Zeitungen, sagt er. Seine Tage beginnt er mit New York Times, Wall Street Journal und der Washington Post - er liest sie online oder auf dem Kindle. 'Die Printmedienbranche macht schon länger eine sehr schwierige Übergangsphase durch, die noch nicht abgeschlossen ist. Ich persönlich habe den Übergang schon abgeschlossen und lese Zeitungen nur noch digital', sagt er. 'Über eines bin ich mir sicher: In zwanzig Jahren wird es keine gedruckten Zeitungen mehr geben.'

Aber 20 Jahre sind kurzfristig für ihn. Seine Uhr tickt dann noch 9980 Jahre.

Vertretungsstunde bei Frau Merkel

0
0
Die Kanzlerin besucht eine Schule und erzählt vom Mauerbau

Vertretungsstunde, das ist ja eigentlich der Moment für gepflegte Gemeinheiten. Da lassen Schüler die eingewechselte Lehrkraft auflaufen. Insofern war es ein Bruch mit einer gewachsenen Tradition, als die Bundeskanzlerin am Dienstagmorgen von den Kindern und Jugendlichen des Berliner Heinrich-Schliemann-Gymnasiums mit Blumen empfangen wurde. Sie war gekommen, um eine Vertretungsstunde im Fach Geschichte zu halten, auf Einladung des Spiesser, einer anzeigenfinanzierten Gratiszeitschrift für Jugendliche, deren Auflage seit längerem die Bravo überrundet hat. Die Kanzlerin übernahm die vierte Stunde, den Grundkurs Q3 bei Herrn Dittmann; das ist eine überschaubare Gruppe von Oberstufenschülern, unter ihnen sind erste Wahlberechtigte. Thema war der Bau der Berliner Mauer, der am 13.August 1961 begann. Anstatt einen Kranz niederzulegen, beging Merkel den Jahrestag so im Gespräch mit Jugendlichen, die es ihr auf der Höhe des Bundestagswahlkampfs mit lautem Begrüßungsjubel auf dem Pausenhof dankten. Ein angenehmer Termin.



Angela Merkel als Vertretungsleherin in der Berliner Schliemannschule

Gerade jungen Menschen müsse verdeutlicht werden, wie die DDR-Führung die Freiheitsrechte ihrer Bürger mit Füßen getreten habe, hatte Merkels Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) zuvor gesagt. Während Neumann gemeinsam mit Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) an der Mauer-Gedenkstätte in der Hauptstadt Kränze zum Gedenken an die Mauertoten niederlegte, teilte die Kanzlerin am Heinrich-Schliemann-Gymnasium Arbeitsblätter aus.

Von der Unterrichtsstunde, die hinter verschlossener Tür stattfand, war hinterher nur zu erfahren: Merkel sei streng gewesen, zumindest am Anfang der Stunde. Die Schüler sollten auf einer Karte von Berlin einzeichnen, wo ihrer Ansicht nach der Mauer verlaufen sei. Erst danach sei die Frage an der Tafel aufgelöst worden. So ganz treffsicher waren die Schüler dabei wohl nicht.

Trotzdem kam man gut ins Gespräch. "Überraschend gut" fand eine Schülerin den Auftritt Merkels - gerade weil es offenbar nicht nur um die Mauer, sondern auch um Merkel selbst ging. Als die Mauer 1989 fiel, war die heutige Kanzlerin mit einer Freundin in der Sauna; die Geschichte hat sie schon öfter erzählt. Als die Mauer hochgezogen wurde, war sie erst sieben Jahre alt. In ihrer Familie sei damals aber viel gesprochen wurden, sagte Merkel am Dienstag. An das Erschrecken ihrer Eltern könne sie sich gut erinnern.

Schwarz = verdächtig

0
0
Eine US-Bundesrichterin zwingt die New Yorker Polizei dazu, ihre zweifelhaften Fahndungsmethoden zu überarbeiten

Kürzlich hat US-Präsident Barack Obama davon erzählt, wie man als Schwarzer in Amerika nur deswegen verdächtigt wird, weil man schwarz ist. Betrete man ein größeres Geschäft, folge einem der Kaufhausdetektiv - in der Erwartung, dass man etwas einstecke. Überquere man eine Straße, verriegelten Autofahrer, die an der Ampel warten, ihre Türen. Betrete man einen Aufzug, klammerten sich ältere Damen an ihren Handtaschen fest. All das, sagte Obama, habe er selbst erlebt, jedenfalls in der Zeit, bevor er in den Senat gewählt wurde.



Festnahme bei einem Protest in Brooklyn, New York

Die dunkelhäutigen Bewohner New Yorks können aus ihrem Alltag unzählige weitere Beispiele beitragen. Oft werden sie von der Polizei auf der Straße angehalten und überprüft, weil sie sich angeblich verdächtig verhalten. In aller Regel aber weckt den Verdacht allein die Tatsache, dass der Betroffene ein Schwarzer ist oder ein Latino. Aus diesem Grund hat nun eine amerikanische Bundesrichterin die sogenannte stop and frisk-Taktik des New York Police Department für verfassungswidrig erklärt. Die Taktik, wörtlich übersetzt: "anhalten und abtasten", besteht darin, Bürger ohne konkreten Anlass anzusprechen, festzuhalten und zu durchsuchen. Die Richterin hat zunächst nicht angeordnet, die Taktik auszusetzen, aber sie verlangt Kontrolle und Nachbesserungen.

In ihrer 195-seitigen Entscheidung schreibt Richterin Shira Scheindlin, die Polizei lasse sich, wenn auch indirekt, von der Hautfarbe möglicher Verdachtspersonen leiten. Sie habe die Zahl dieser Kontrollen besonders in jenen Vierteln erhöht, in denen viele Schwarze und Latinos lebten. Dies habe dazu geführt, dass die Polizei routinemäßig dunkelhäutige Personen anhalte, "die sie nicht kontrollieren würde, wenn sie weiß wären".

Natürlich bekennt sich die Polizei nicht offen dazu, dass sie die Personen aufgrund ihrer Hautfarbe für verdächtig hält. Sie beruft sich darauf, dass sich jemand seltsam benommen habe, also zappelig wirke, plötzlich in eine andere Richtung gehe, sich in die Taschen fasse, über die Schulter schaue. Aber diese Kriterien seien kaum objektiv, bemängelte die Richterin. Ebenso wenig der Verdacht, dass jemand eine Schusswaffe trage, was in New York in der Regel illegal ist. Polizisten weisen dann darauf hin, sie hätten in der Hosentasche eines Mannes eine verdächtige Beule gesehen. Bei der Kontrolle aber stellt sich dann oft heraus, dass in der Tasche bloß ein Geldbeutel oder ein Mobiltelefon steckte. Lalit Clarkson, einer der Kläger, sagte, die Polizei kriminalisiere eine ganze Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Hautfarbe nur dafür, dass diese "zur Arbeit gehen, einkaufen gehen, in einen Zug steigen".

Die Richterin urteilte nun, dass die Polizei eine kleinere Menge objektiv nachvollziehbarer Verdachtsmomente benötige, um einen Schwarzen anzuhalten als einen Weißen. Das belegen auch die Zahlen. Während Schwarze und Latinos nur etwa die Hälfte der Bewohner New Yorks stellen, gehören sie zu mehr als 80 Prozent zu jenen, die von der Polizei überprüft werden. Die Kontrollen, die oft mit dem bloßen Abtasten nach Schusswaffen beginnen, enden dem Urteil zufolge oft mit dem Durchsuchen von Hosentaschen nach Drogen, obwohl dafür die Rechtsgrundlage fehle. Richterin Scheindlin warf New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg und seinem Polizeichef Raymond Kelly vor, diese Diskriminierung ignoriert zu haben.

Bloomberg wiederum kritisierte das Urteil scharf und kündigte Berufung an. Die Richterin sei befangen und verstehe nichts von Polizeiarbeit, erklärte er. Es werde keine schnelle Änderung der Taktik geben, und er hoffe, sie so lange wir möglich beizubehalten. "Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass viele Menschen sterben", sagte er. Aus Bloombergs Sicht hat stop and frisk dazu beigetragen, dass die Zahl der Morde und schwerer Verbrechen in New York während seiner Amtszeit auf historisch niedrige Werte zurückgegangen sei. Die Polizei erklärt, die Taktik habe Tausenden jungen Schwarzen und Latinos das Leben gerettet, weil sie etliche bewaffnete Auseinandersetzungen in Problemvierteln verhindert habe.

Und draußen nur die Ämter

0
0
Seit einem Jahr haben Janette und Ben keine eigene Wohnung. Sie sind 19 und 23 Jahre alt und können oft nicht schlafen aus Angst, endgültig auf der Straße zu landen.

Janette versucht, freundlich zu bleiben. "Vielen Dank", sagt sie zum Mann hinter dem Schalter und lächelt. Schon als sie sich umdreht, sieht die junge Frau aus, als wüsste sie nicht, ob sie heulen oder hysterisch lachen soll. Janette ist an diesem Montagmorgen ins Amt für Wohnen und Migration in die Franziskanerstraße gekommen, um sich "mittellos" zu melden. So heißt es amtlich, wenn man um Geld bittet. Wie so oft, wenn es in Janettes Leben amtlich zugeht, klappt nichts: Mittellos kann sich die 19-Jährige nur mit einem Personalausweis melden. Den hat sie keine Stunde zuvor beim Kreisverwaltungsreferat an der Poccistraße nicht bekommen, weil sie nur neun statt der nötigen zehn Euro für einen vorläufigen Ausweis auftreiben konnte. Mit Geld wird es deshalb heute nichts, hat ihr der Mann hinter dem Schalter im Wohnungsamt gerade gesagt. "Ohne Ausweis kein Geld, ohne Geld kein Ausweis", fasst Ben, 23 Jahre und Janettes Freund, das lapidar zusammen. Der junge Mann mit den rotblonden Haaren und dem Band-Shirt steht neben ihr. "Komm erst mal raus", sagt er und legt den Arm um sie. Er setzt sich auf eine Mauer in die Sonne und zündet sich eine Zigarette an. Nur nicht ausflippen. Situationen wie diese hat Ben seit zwölf Monaten einmal am Tag. Mindestens.




Janette und Ben in ihrem Zuhause - der sieben Quadratmeter Rumpelkammer von Bens Oma

Nach Haidhausen kommen viele Münchner zum Vergnügen. Sie biegen vom Rosenheimer Platz ab Richtung Weißenburger Platz, gehen frühstücken, bummeln durch die vielen Boutiquen oder trinken abends ein Bier. Für Janette und Ben ist Haidhausen der Teil der Stadt, in den sie fahren, wenn sie Geld brauchen, ihren Sachbearbeiter am Telefon nicht erwischt haben oder einen Antrag nicht alleine ausfüllen können. Viele Stunden haben die beiden schon in dem großen Betongebäude mit der Glasfront verbracht, im Warteraum mit den Holzstühlen, mit Aushängen an den Wänden, auf denen Sätze stehen wie "Der Aufenthalt in den Räumen des Dienstgebäudes ist ansonsten nur für den Zeitraum gestattet, der zur Erledigung der Angelegenheit notwendig ist." Die Stadt ist für sie längst nicht mehr der Ort, an dem sie Spaß haben und leben, sondern ein Netz aus Ämtern und Behörden.

Die Stadt ist für sie ein Netz aus Ämtern Behörden


Seit August 2012 haben Janette und Ben keine Wohnung. Zur Zeit übernachten sie in einem Sechzigerjahre-Bau zehn Fußminuten von der U-Bahn-Haltestelle Laimer Platz. Unten ist eine Senioreneinrichtung untergebracht, im dritten Stock teilen sich die beiden 50 Quadratmeter mit Bens Oma Albertine. Janette mit ihren schwarz-grünen Haaren und Ben mit Tattoos und Silberringen passen nicht in diese Wohnung: Deren Wände zieren Blumendrucke, ein Porzellan-Leopard thront auf dem Fernseher und eine Schrankwand, die so alt ist wie Janette und Ben zusammen, füllt den halben Raum. Links geht es ins Schlafzimmer der Oma. Auf der anderen Seite liegt eine schmale Tür, ein kleiner Durchgang zwischen Couch und Schrankwand. Sie führt in ein sieben Quadratmeter großes Kabuff.

Der Raum liegt unter einer Dachschräge. Am hinteren Ende ist die Wand nur 30 Zentimeter hoch, ein kleines Fenster lässt Tageslicht herein. Im Eck stehen Putzmittel in einem Drahtkorb, auf der Kleiderstange daneben hängen die Wintermäntel der Oma in verschiedenen Brauntönen. Nur die Matratze auf dem Boden und der Fernseher davor zeugen davon, dass das hier mehr ist als eine Rumpelkammer. Es ist ein Zuhause.

Noch vor zwei Jahren haben Janette und Ben nicht damit gerechnet, je unter solchen Umständen zu leben. Damals haben sie sich ineinander verliebt, Ben zog in Janettes Wohnung in Markt Schwaben. Sie machte ihre Friseurlehre, er arbeitete in einem Restaurant. Was danach passiert ist, fasst Janette mit "ziemlich scheiße gelaufen" zusammen. Weil sie eine Angststörung hat, bekam sie immer öfter Panikattacken und brach ihre Lehre ab. Die Unterstützung, mit der der Staat den geringen Ausbildungslohn aufstockte, fiel weg. Gleichzeitig zog sich der Antrag auf Arbeitslosengeld. Und Ben schmiss seine Ausbildung. Kein guter Zeitpunkt, klar. Aber Ben wurde gemobbt. Und genau an diesem Punkt hielt er das nicht mehr aus. Bald konnten die beiden nur die halbe Miete zahlen. "Wir haben im Supermarkt gejobbt, weil wir unter allen Umständen die Wohnung halten wollten", erinnert sich Janette. Als der Lohn zu spät kam, mussten sie die Wohnung aufgeben. Für kurze Zeit zogen sie zu einer Freundin, doch deren Ein-Zimmer-Apartment war zu eng für drei Erwachsene. Im August fragte Ben seine Oma, ob sie ihn und Janette für einige Wochen aufnehmen würde – in der Zeit würden sie eine Wohnung finden, war er überzeugt. Das war vor einem Jahr. Janette und Ben sind zwei der mehr als 3400 Wohnungslosen, die bei der Stadt gemeldet sind.
 
Längst haben die beiden eine traurige Routine: Bis zu 30 Makler und Vermieter ruft Janette jeden Tag an, in München und Augsburg. Jeden Tag sitzt sie am kleinen Esstisch im Wohnzimmer, liest die Wochenblätter, Internetportale und Tageszeitungen. Jedes neue Inserat bedeutet Hoffnung. Ben kümmert sich in der Zeit um Papierkram. Vier Aktenordner füllen ihre Anträge, Belege und Bescheinigungen mittlerweile. Das Haus verlassen sie vor allem, um Ämter zu besuchen. "Was sollen wir denn sonst draußen?", fragt Janette.
 
Ein neuer Tag, ein neuer Versuch auf den Ämtern. Ben und Janette sind früh aufgestanden, waren vor dem Kreisverwaltungsreferat in der Ruppertstraße unter den Ersten. Trotzdem ist es wieder zu spät, als sie es am Vormittag in die Franziskanerstraße schaffen: Der Infoschalter am Eingang hat noch offen, aber für persönliche Gespräche werden keine Nummern mehr vergeben, der Saal ist voller Menschen mit den gleichen Problemen. Die Öffnungszeiten sind kurz. Mehr als ein Amt am Tag schaffen sie selten. "Es ist deprimierend: Morgens steht man auf in der Hoffnung, dass sich etwas tut. Und jetzt, kurz vor Mittag, sind wir hier und es passiert nichts", sagt Ben. Drei Stunden werden sie jetzt warten, es hieß, ab 14 Uhr sei die Sachbearbeiterin nochmals zu erreichen. In ein Café zu gehen oder zum Italiener, wie sie es sich während der Ausbildung einmal im Monat geleistet haben, kommt finanziell nicht in Frage. "Wir versuchen, nicht mehr darüber nachzudenken, was wir gern mal wieder unternehmen würden", sagt Janette.

Ohne Wohnung keine Arbeit ohne Arbeit keine Wohnung


Dass gerade Ben und Janette in dieser Situation sind, könnte man Zufall nennen, auch Pech. Oder Schicksal. Beide haben mehrere Jahre im Heim verbracht, Bens Mutter war drogensüchtig und im Gefängnis. Er hat schon bei der Großmutter gelebt. Und auf der Straße geschlafen. Janettes Mutter war Alkoholikerin, in der neuen Familie ihres Vaters fühlte sich die 19-Jährige nicht willkommen. Bei solchen Biografien zieht ein Problem besonders schnell das nächste nach sich. Das fängt schon damit an, dass in Notsituationen oft nicht klar ist, ob für sie die Jugendhilfe zuständig ist oder sie schon unter die Sozialgesetzgebung für Erwachsene fallen. Hilfe kommt erst, wenn das geklärt ist – und das kann dauern. Greift wie bei Janette und Ben die Sozialgesetzgebung, bleibt oft nur das Recht auf Hartz IV. Auf dem Mietmarkt, wo junge Menschen ohnehin nicht die beliebtesten Kunden sind, haben sie kaum eine Chance. Die Marktlogik lautet: Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung.

In dem Dilemma stecken auch Janette und Ben. Weil sie auf einen Therapieplatz in einer Tagesklinik wartet. Und weil er eine Festanstellung möchte. Mit einem der vielen Kellner-Jobs ist ihm nicht geholfen, denn der würde auf sein Hartz-IV-Geld angerechnet. Außerdem möchte er Sozialabgaben zahlen und "richtig arbeiten, nicht ein bisschen hier und da". Den Kreislauf, in dem er und Janette sich befinden, verstehen die wenigsten Vermieter.
 
Stattdessen gehe bei ihnen die Schublade Hartz IV auf, vermutet Ben. "Die bedenken nicht, dass man nicht die Wahl hat, in diese Situation zu kommen. Man sitzt ja nicht den ganzen Tag da und freut sich, fürs Nichtstun bezahlt zu werden." Auch der Schein, auf dem steht, dass die Bundesagentur für Arbeit für sie Provision, Kaution und Miete bezahlen würde, überzeugt Wohnungsbesitzer nicht. "Es ist nicht weniger sicher als wenn jemand arbeiten geht. Aber das geht nicht in deren Köpfe", sagt Janette.
 
In ihrer Verzweiflung haben die beiden verschiedene Taktiken probiert. Am Anfang haben sie verschwiegen, dass sie Sozialleistungen bekommen. Die Makler sollten sie erst kennenlernen. Mittlerweile klärt Janette die Situation sofort. Sie hat keine Lust, sich Hoffnung zu machen und doch Absagen zu erhalten. Seitdem wird sie selten zurückgerufen. "Ich sage auf dem Anrufbeantworter schon immer, dass ich so oft anrufe, bis ich jemanden erreiche oder zurückgerufen werde. Zur Not jeden Tag."
 
Nach Tagen wie heute, die sie auf Ämter-Plastikstühlen verbracht haben, fällt Janette und Ben die Rückkehr zur Wohnung besonders schwer. Einerseits sind sie dankbar. Die sieben Quadratmeter sind die einzige Alternative zur Notunterkunft. "Das wäre das, was wir noch bräuchten, um uns völlig allein zu fühlen", sagt Janette. Für sie wäre der Kampf um Normalität damit verloren. "Hier halten wir wenigstens die Stellung." Die Oma hat selbst wenig Geld, kocht ihnen aber oft etwas. Die beiden holen dafür Getränke oder putzen die Fenster. Andererseits ist die WG mit 50 Jahren Altersunterschied nicht einfach. Die Oma schaut gern fern im Wohnzimmer – Janette und Ben bleiben dann nur ihre sieben Quadratmeter. "Man kann nicht sagen: Lass mich in Ruhe, ich geh ins Schlafzimmer. ,Meine Ruhe’ gibt es nicht", sagt Janette. Wenn sie telefonieren und Ben lesen will, gibt es Ärger. Janette wird dann wütend. Auf Ben, auf die Situation. Er versucht, ruhig zu bleiben. "Natürlich könnte ich auch durchgehend heulen, aber einer muss sich zusammenreißen."

"Ich würde mich einweisen lassen."


Immer klappt das nicht. Denn zu den Wohnungssorgen kommen Geldprobleme. Je 364 Euro Grundsicherung bekommen sie im Monat. Das sind 11,93 Euro am Tag für Essen und Kleidung, Telefon und Fahrkarten. An Vergnügungen wie Konzerte ist nicht zu denken, auch, weil sie 5000 Euro Schulden haben: Als sie kein Geld mehr hatten, sind sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt worden. Auch aus ihrem Telefonvertrag in ihrer alten Wohnung ist Janette nicht herausgekommen. Statt auszugehen sitzen sie abends deshalb mit der Oma auf dem Sofa, sie ratschen, schauen gemeinsam fern – "eigentlich etwas Schönes", sagt Ben, wenn die Oma dann nicht auch darüber reden würde, dass sie sich Sorgen macht, wie es mit den beiden weitergeht. Und wenn sie nicht alt und ruhebedürftig wäre. "Der Oma ist die Familie die letzten 40 Jahre auf der Nase herumgetanzt, jetzt wäre sie dran und sollte ihre Ruhe haben, wenn ihr danach ist."
 
Oft fällt es Janette nach solchen Abenden schwer, auf der Matratze im Nebenraum einzuschlafen. Sie versucht, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn es der Oma schlecht ginge und sie die Wohnung verlassen müssten. "Ich würde mich einweisen lassen", sagt sie. "Da hätte ich wenigstens ein Bett."
 
Eine Alternative wäre ein Kind – nur dann hätten sie zu zweit das Recht auf eine der 2000 Sozialwohnungen, die die Stadt pro Jahr vergibt und auf die sich mehr als 20 000 Menschen bewerben. "Uns wurde gesagt: ,Entweder ihr heiratet oder werdet Eltern.’ Mit 19!" Janette schüttelt den Kopf. Und Ben fügt an: "Was wäre das für ein Umfeld, in das wir ein Kind setzen?"

Einziger Luxus: lesen


An den meisten Tagen versuchen sie deshalb, aus dem Alltag das Beste zu machen. Alle drei Tage fährt Ben mit der Fahrkarte der Oma in die Bibliothek am Gasteig. "Lesen ist mein Luxus", sagt er. Weil es ihm zu unruhig ist in der Wohnung, fährt er S-Bahn und liest. "Einfach nur herumfahren, das ist schon ein Vergnügen." Janette hat entdeckt, dass in der Bibliothek auch ein Klavier steht, wo sie mit Kopfhörern spielen kann. "Ein bis zwei Stunden gehen da schnell rum."
 
Vor Kurzem haben sie ein Regal geschenkt bekommen. Endlich liegen ihre DVDs, Pullover und Bücher nicht mehr im Koffer am Boden. Und Ben hat einen neuen Sachbearbeiter, der ihm Mut gemacht hat, eine Prüfung zum Restaurantfachmann abzulegen. Janette hat Aussichten auf einen 400-Euro-Job. Auch ihren Traum, eines Tages doch noch ihre Ausbildung nachzuholen und Maskenbildnerin zu werden, gibt sie nicht auf, vorerst.
 
Bis es soweit ist, freut sie sich über kleine Schritte. Zum Beispiel, als sie am Tag nach dem Besuch beim Amt für Wohnen und Migration doch noch Bargeld ausgehändigt bekommt. "Die Beamtin war total nett und hat eine Ausnahme gemacht." Das reicht für die Woche.
Viewing all 6207 articles
Browse latest View live




Latest Images