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Mädchen, wieviel Haut dürfen wir zeigen?

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Sagt uns gerne, dass wir im falschen Stadtviertel wohnen, aber: von zehn Jungs, die freitagnachmittags an unserem bevorzugten innenstädtischen Flussufer flanieren, tragen in letzter Zeit siebeneinhalb ein Shirt ohne Ärmel. Wir beobachten also diesen Sommer die Renaissance des Tanktops, des Spaghettiträgertops für Jungs, und fragen uns, was das mit euch macht, denen doch derlei Kapriolen immer zuerst ein Spreißel im Auge sind.

Wir, so viel sei gesagt, finden diese Wiedergeburt ganz gut. Mit dem Modell Schiesser-Feinripp, Deckname “Wifebeater”, wie man es klassischerweise von apulischen Pizzabäckern kennt, teilen sich die neuen Tanktops ja nur noch die ganz grobe Funktionsweise beim Anziehen. Die neuen Tanktops sind weiter geschnitten, intransparenter, bunt oder bemustert, korellieren weniger mit Löwensenfflecken als mit dezenten Denim-Rucksäcken und Münchner Seemannstattoos. Das neue Tanktop ist per se für zarte Rückenfiguren geschnitten - gut möglich übrigens, dass wir Cro stilistisch mehr zu verdanken haben als wir bisher ahnten.

Und die Dinger sind auch noch irre bequem: Tanktops bieten eine Dauerventilierung beider Achselhöhlen, angenehme Bewegungsfreiheit beim Winken, sie lassen sich so schnell an- wie ausziehen und haben fürderhin den Vorteil, dass sie unsere Spätsommer-Problemzone, nämlich die Rotweiß-Schranke auf dem Oberarm, langfristig zu einem gleichmäßigen Hellrot verwischen.

Geile Teile also für unsere Begriffe, aber mögt ihr es denn, wenn Kleidung unsere Achseln freilegt? Wenn nicht nur eine Elle Unterarmhaut sichtbar ist, sondern gleich ein ganzer Vorderlauf bis hin zum Schulterblatt? Ist der Trend zum Herrentop aus eurer Warte insgesamt begrüßenswert oder sagt ihr: Lasst den Quatsch den Teenie-Rappern und Streetballspielern und zieht euch was über?

Auf der nächsten Seite liest du die Mädchenantwort von mercedes-lauenstein.
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Meine erste Antwort auf deine Frage lautet: Man soll tragen, was man tragen kann. Wenig würdigt ja einen Menschen so ab, wie Kleidung, die nicht zu ihm passt. Ich denke da an Frauen, die nicht auf hohen Absätzen laufen können und es trotzdem tun, Menschen, die sich trotz fülligeren Unterbaus die Vorliebe für Skinny-Jeans nicht ausreden lassen oder Männer, die glauben, ihr nur rar vorhandenes Haupthaar sei genauso gut für Dreads geeignet wie die Mähne eines Brasilianers.

Lauft ihr also jetzt nur deshalb in so einem luftigen Tanktop rum, weil ihr das wahnsinnig lässig und verlockend findet und denkt, damit seht ihr automatisch aus wie die Coolkids eures Viertels, dann wäre das zumindest mal reflektierenswert. Denn seid ihr darunter im Gegensatz zu diesen Coolkids eher bleich und aufgrund der nicht vorhandenen Vorliebe für sportliche Aktivitäten etwas, sagen wir, dellig, dann wird man euch das sofort ansehen. Es wird unsouverän aussehen und ja, es wird provozieren, dass wir sagen: Lasst den Quatsch den Teenie-Rappern und Streetballspielern und zieht euch was über.

Das von dir geschilderte Tanktop und der dazugehörige Style scheint mir aber von einem Jungstypus bevorzugt zu werden, zu dem es oft schon automatisch deshalb passt, weil er zwar vielleicht kein Teenie-Rapper oder Streetballspieler ist. Dafür aber ein, naja, ich will jetzt nicht die Jugendgruppierungsbezeichnung mit dem Anfangsbuchstaben „H“ in den Mund nehmen, dann kriege ich Prügel, aber man könnte sagen, es handelt sich hierbei eben durchaus, wie du schon andeutest, um einen ganz besonderen Typus Stadtbewohner. Nämlich den gemeinen Inviertel-Bewohner einer Großstadt, der unter Garantie in seinem Kleiderschrank das ein oder andere Paar Vans oder Nike Air Max stehen und mindestens ein Karohemd und eine enge Hose an einem aus alten Metallrohren selbstgebauten Kleiderständer hängen hat.

Jungs, wie übrigens auch Mädchen dieses Typus', kleiden und verhalten sich oft, manchmal bis Mitte, Ende 40, wie Anfang 20-jährige, weil es ihnen, vor allem stylemäßig, wichtig ist, entspannt, cool und gemütlich zu wirken. Man kann daran sicherlich viel Spottenswertes finden oder mit dem Wort „Berufsjugendliche“ um die Ecke kommen, aber Tatsache ist, dass das bei vielen dieser Menschen auch trotz eines eventuell fortgeschrittenen Alters gut und stimmig aussehen kann. Vor allem, weil die meisten solcher Typen es sich leisten können, ihren Style zu behalten. Es sind oft solche, die auch mit 30 noch aussehen wie 15. Und die aufgrund der Eitelkeit, die sie ja nicht zuletzt zu Inviertel-Bewohnern macht, meist automatisch auch darauf achten, dem Schönheitsideal zu entsprechen - das heißt: Nicht zuviele Dellen am Körper zuzulassen.

Eigentlich erinnert mich das Männer-Tanktop an die ebenfalls seit einigen Jahren sehr trendigen, weit ausgeschnittenen Tanktops bei Frauen, bei denen man darunter den BH oder den Bikini sieht und manchmal sogar den Bauchnabel. Das sind meist die gleichen Mädchen, die die abgeschnittenen Jeans-Hotpants tragen, bei denen man vorne die heraushängenden Taschen und hinten den halben Po sieht. Und es sind die Mädchen, die mit den Jungs mit den Tanktops rumhängen.

Sie bilden eine Einheit, diese Streetboys und Streetgirls, wie sie so zusammen durch die Straßen ziehen. Und vorausgesetzt, sie befolgen die Moderegel, die am Anfang dieses Textes bereits zitiert wurde, sehen sie dabei auch ganz gut aus. 

Aber sie transportieren eben auch eine ganz bestimme Botschaft. Es ist die „Ich will für immer jung und cool bleiben“-Botschaft der „H’s“ einer Stadt, hinter der nur leider oft statt echter Jugendlichkeit und Coolness oft und gerade bei fortschreitendem Alter eine etwas beklemmende, sehr bemühte Lässigkeit hevorschimmert. Oder wie eine gute Freundin letztens einen solchen, bereits etwas alternden Streetboy kommentierte: „Ach, die arme Hipsterwurst!“ Ups, jetzt hab ich das Wort ja doch gesagt.

Betreff: WG-Zimmer!!!

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Der Überhebliche 





Das sucht er:

Penthouse, Loft oder einfach Altbau, dann aber auf jeden Fall was mit Stuck und Fischgrätparkett. Wenn dann noch die Lage stimmt und die Dachterrasse  genug Platz für seine 50 besten Freunde bietet, ist er recht zufrieden.  

Das schreibt er:
„Über mich gibt es enorm viel zu erzählen. (...) Meine Welt ist groß: In meiner Freizeit reise ich viel. Ich war praktisch schon überall. (...) Vielleicht habt ihr schon von mir gehört, in München kennt mich eigentlich jeder. DJ bin ich nämlich auch. Letztens hab ich paar Schnäpse mit Matthias Schweighöfer geschüttet, das war krass. (...) Ich hab Dienstag zwischen 17.00 und 17.30 Uhr Zeit für`s Casting!“  

Was er damit wirklich sagt:
Wann darf ich einziehen und wie könnt ihr mich überzeugen?  

So kreuzt er zum Casting auf:

Mit Verspätung. Er hatte nämlich noch ein heißes Date mit dem C-Promi aus der zweiten Staffel von Germany’s Next Topmodel. Name ist ihm leider entfallen.  

Seine Chancen:

Arroganz ist unsympathisch. Aber seine (angeblichen) Connections kommen gut bei WGs an, die von der großen Hollywood-Karriere träumen oder auf Matthias Schweighöfer stehen. [seitenumbruch]   
Der Unterwürfige  





Das sucht er:
Ein beliebiges Zimmer, in dem es wärmer und schöner ist als unter der Brücke. Und zwar bis nächsten Montag.  

Das schreibt er:

„Ich würde das Zimmer sofort nehmen – auch ohne Besichtigung!!! Ich bin bereit, 50 Euro auf die Monatsmiete aufzuschlagen, schließlich ist 600 ja auch so eine schöne gerade Zahl. ;) Übrigens: Ich koche, backe und putze für mein Leben gern. Wenn ihr wollt, kann ich alle Hausarbeiten übernehmen. Ansonsten bin ich anpassungsfähig.“  

Was er damit wirklich sagt:
Ja, ich bin verzweifelt. Bestechung ist meine letzte Chance.  

So kreuzt er zum Casting auf:
Mit einer Flasche Wein und riesiger Pralinenpackung. Außerdem bringt er noch einen selbstgemachten Kuchen mit.  

Seine Chancen:

Punkten kann er nur bei reinen Zweck-WGs und Bewohnern in Geldnot.     [seitenumbruch]
Der Pseudo-Spaßvogel 





Das sucht er:
Endlich was eigenes, obwohl es bei Mami auch nett war. Mit den Mitbewohnern will er Sekt Orange trinken, Monopoly spielen und „Wer wird Millionär“ gucken. Nach 21 Uhr sollte in der WG nicht geduscht oder auf dem Flur geratscht werden.  

Das schreibt er: 
„Hallöle! ;-DD Ich habe euch ein Backrezept für den perfekten Mitbewohner (nämlich mich :-D ) zusammengestellt. Also: Zuerst mischt man 60 kg gute Laune mit 4 Semestern Studium der Kommunikationswissenschaft. Damit der Teig gelingt, fügt man dann eine Prise Sauberkeit sowie eine Messerspitze Humor hinzu. ;-DD“  

Was er damit wirklich sagt:
Ich habe einfach meine Charakterisierung aus der Abi-Zeitung abgeschrieben, weil mir sonst nichts einfiel. Seitdem ist eh nicht viel passiert.  

So kreuzt er im Casting auf:
Im Kopf die Witze, die er vor dem Spiegel geübt hat. Im linken Arm den O-Saft, im rechten den Sekt – unter der Woche natürlich alkoholfreien.  

Seine Chancen:

Landet die Mail im Posteingang von leidenschaftlichen Brettspielern, Jauch-Fans oder Senioren, dann ist ihm die neue Küche für sein Rezept sicher. Ansonsten eher nicht.     [seitenumbruch]
Der Copy-Paster 





Das sucht er:
Hauptsache vier Wände und ein Dach. Der Rest ist ihm latte.  

Das schreibt er:

17.30: „Hi Thomas, ich würde mir gerne das Zimmer in der Schwanthalerstraße ansehen. Klingt super! Ich bin 22 Jahre alt, studiere Maschinenbau und trinke manchmal Bier. Ciao...“
17.32: „Sorry, Brigitte!!! Hab da wohl was veplant. Lass dich nicht verwirren, ich meinte in meiner ersten Mail schon eure WG in der Chiemgaustraße. Wirklich! Also dann, ciao!“  

Was er damit wirklich sagt:
Ich scheiß´ drauf, wie ihr heißt und wer ihr seid. Hauptsache ich finde endlich `ne neue Bude.   

So kreuzt er zum Casting auf:
Selbst wenn ihn doch jemand einlädt: Gar nicht. Er hat sich in der WG geirrt und ist aus Versehen zu Thomas in die Schwanthalerstraße geradelt.  

Seine Chancen:

Nicht vorhanden. Ein und dieselbe Mail wird in über 100 Papierkörbe wandern. [seitenumbruch]   
Der Jammerlappen  





Das sucht er:

Eine Wohlfühloase mit Menschen, die immer für ihn da sind. Nicht, dass er ständig rumheulen würde, aber man sollte sich in harten Zeiten als Wohngemeinschaft schon mal in den Arm nehmen.  

Das schreibt er:
„Mein Vermieter setzt mich in fünf Wochen auf die Straße und die Wohnungslage ist wirklich deprimierend. Langsam kommt die VERZWEIFLUNG. Ich dachte schon, es wäre aussichtslos. Dann habe ich euere WG-Anzeige entdeckt – ihr seid echt meine LETZTE CHANCE! Also bitte, bitte ladet mich zum Casting ein!!!!“  

Was er damit wirklich sagt:
Ich bin ein armes Würstchen und niemand will mich haben. Könnt ihr das mit eurem Gewissen vereinbaren, mich auf die Straße zu setzen?  

So kreuzt er zum Casting auf:
Mit Hängeschultern und verquollenen Augen. Dabei hat er eine große Packung Taschentücher.  

Seine Chancen:
Außer Mutter Theresa und Menschen mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt sehr mies. Niemand will sich von der personifizierten schlechten Laune kostbare Casting-Zeit klauen lassen.   

Wochenvorschau: So wird die KW 30

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Wichtigster Tag der Woche:
Samstag. Da hab ich Klassentreffen mit den meinen Journalistenschulmenschen, und manche davon hab ich seit vier Jahren nicht mehr gesehen. 

Politisch interessiert mich:
Ich würde jetzt gerne schreiben: nichts. Geht aber nicht, weil gerade gefühlt in aller Welt Krieg herrscht und sich sämtliche Konflikte immer weiter zu verschärfen scheinen. Nach der israelischen Bodenoffensive und der Tragödie um die in der Ukraine abgeschossene Boeing von Malaysia Airlines habe ich das Gefühl, dass da diese Woche leider noch ein paar unangenehme Nachrichten folgen werden.  

Kulturelles Highlight:

Schwierig. Bislang ist da nichts am Horizont aufgetaucht, dazu kommt die Tatsache, dass ich Donnerstag bis Samstag gar nicht da bin, sondern über Almwiesen und Alpengipfel spaziere. Kulturell ist da erfahrungsgemäß eher wenig zu holen, es sei denn, auf irgendeiner dieser Almen gibt jemand Alphorn-Darbietungen oder jodelt was.  


Vielleicht gibt's ja auch ein Kuh-Theaterstück...

Soundtrack:

Am Freitag hatten wir Besuch auf unserer Parkbank, von Tex, dem „TV Noir“-Macher und seinem Sängerkollegen Lasse. Den kannte ich vorher noch nicht. Und weil ich die Befürchtung habe, dass in der TV-Noir-Schatzkiste noch viel mehr mir unbekannte gute Künstler schlummern, habe ich mir selbst befohlen, diese Woche ein bisschen in dieser Kiste zu wühlen.  

Wochenlektüre:

Wanderkarten und Hütten-Speisekarten.  

Kinogang?

Unwahrscheinlich. Mich reizt unter den aktuellen Neustarts auf den ersten Blick gar nichts. Fantasykram mit Drachen, eine 3D-Doku über Wacken – ich weiß nicht, ob ich das brauche. Höchstens könnte ich mich dazu aufraffen, eine französische Komödie namens „Monsieur Claude und seine Töchter“ anzuschauen, die in unserem Nachbarland sehr erfolgreich war und laut Kritiken bissig und gelungen das Thema Alltagsrassismus aufgreift.
https://www.youtube.com/watch?v=mcCxeQttIY0  

Geht gut diese Woche:
Mal nicht so viel über Fußball reden.  

Geht gar nicht:
Gar nicht über Fußball reden.

Der ganz normale Wahnsinn

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Ich habe da ein Problem mit meinem morgendlichen Timing. Manchmal bin ich ein bisschen zu früh dran, viel öfter ein paar Minuten zu spät, aber nie genau richtig. Ich bin nicht sicher, ob es meinen Kollegen bereits aufgefallen ist. Sie haben mich zumindest noch nie darauf angesprochen. Zum Glück. Denn dann hätte ich vor ihnen ein Geständnis ablegen müssen müssen: Ich bin besessen.  





Eigentlich müsste ich mich nämlich nur an die eine Aufsteh-Formel halten, die ich selbst errechnet habe: Den Wecker auf 7:30 Uhr stellen. Dann würde ich pünktlich um 8:00 Uhr auf meinem Fahrradsattel und streberisch um 8:30 Uhr in der Redaktion sitzen. Bloß finde ich diese Nummer so ekelhaft: 7:30. Sie ist mir viel zu ungerade, außerdem mag ich weder die 3 noch die 7. Die 0 könnte ich grade noch so ertragen, aber nicht in der Kombination. Warum weiß ich nicht. Fest steht nur, dass ich eine andere Zeit in meine Wecker-App eingeben muss, um mit gutem Gefühl in den nächsten Tag starten zu können. Als Aufwachzeit kommen für mich 7.20 Uhr oder 7.40 Uhr in Frage – meistens tendiere ich zu Letzterem, weil ich Frühaufstehen fast so sehr hasse wie ekelhafte Zahlen.  

Ich glaube, ich bin irgendwie zwangsgestört bei dieser einen Sache. Oder paranoid. Zum Glück weiß ich, dass es vielen anderen auch so geht. Sie haben es mir erzählt, wirklich. Ich möchte sie nur nicht verpfeifen – insbesondere nicht die Kollegin mit der Todestag-Theorie (einige Tage scheinen ihr aufgrund einer bestimmten Zahlenkombination besonders geeignet für ihr persönliches Todesdatum und an solchen Tagen hat sie besonders viel Angst).

Interessanter sind sowieso die Verschwörungsvorwürfe der Menschen mit Ahnung von Wurzeln, Quersummen und absurden Ideen. Meistens suchen sie sich traurige Ereignisse wie den Einsturz des World Trade Centers oder den Absturz der Maschine MH17 über der Ostukraine für ihre wilden Theorien heraus. Die ist nämlich nach 17 Jahren Flugzeit (angeblich war ihr Absturzdatum, der 17. Juli, auch der Tag an dem sie vor genau 17 Jahren das erste Mal abhob) abgestürzt. Kann, soll, muss das ein Zeichen, ein Beweis für irgendwas sein? Gibt es doch verborgene Regelmäßigkeiten in der Welt, die wir anhand von Zahlen kapieren könnten?    

Eher nicht. Aber um beim Thema zu bleiben: Wie ist das bei dir? Hast du auch eine persönliche Verschwörungstheorie? Oder einen Zahlen-Tick? Wann wirst du zwangsgestört oder paranoid?   

Tagesblog - 21. Juli 2014

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11:49 Uhr: Gibt es die eine Situation, die euch verändert hat? Ohne die ihr heute nicht ihr wärt. Für sechs unserer Autoren gibt es sie und für euch haben sie die Geschichten dazu aufgeschrieben





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11:30 Uhr:
So schrecklich die Lage im Nahost-Konflikt auch ist, es ist manchmal schwer sich bewusst zu machen, dass das gerade jetzt und wirklich passiert. Zumindest geht mir das so. Es könnte zum Teil daran liegen, dass es einfach auch wahnsinnig kompliziert ist. Wahrscheinlich wurde folgende Infografik auch deswegen so oft geteilt. Die macht die Lage mit den Smileys zwar nicht realer, aber vielleicht ein bisschen klarer.

The Middle East Friendship Chart

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11:10 Uhr:
Damit die Motivation von JosephineKilgannon auch bei allen ankommt:

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mymodernmet.com

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09:55 Uhr:
Ein Toast mit unserem Gesicht drauf könnte uns den Morgen zur Zeit vielleicht etwas leichter machen, denn die Nachrichten sind kaum zu ertragen. 

  • Die Zahl der Toten ist im Nahostkonflikt auf mindestens 450 gestiegen. 

  • Die Hamas-Kämpfer behaupteten einen israelischen Soldaten entführt zu haben. Israel dementiert diesen Bericht

  • In der Ukraine behindern Separatisten die Aufklärung des Flugzeugabsturzes. Außerdem wird von pietätlosem Umgang mit den Leichen berichtet und von Zerstörung von Spuren und Hinweisen. Mittlerweile ist ein niederländisches Expertenteam eingetroffen. Putin verspricht, sich für deren Zugang zur Absturzstelle einzusetzen. 

  • Und man befürchtet eine steigende Gefahr rechtsextremer Gewalttaten in München.  


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09:52 Uhr:
Wer mir zur Feier meines neugewonnenen Lebensjahres zufällig etwas schenken will: Ich hätte gerne diesen Selfie-Toaster!

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via petapixel.com

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09:14 Uhr:
Guten Morgen zusammen! Ich starte den Montag immernoch ganz beschwingt vom Wochenende, denn: Ich bin gestern ein Jahr jünger geworden. Ohne Witz. Also in meinem Kopf zumindest. In dem war ich nämlich für Monate davon überzeugt, dass ich 26 bin. Also ganz ohne Zweifel. Das hab ich jedem gesagt, den ich kennengelernt und der mich danach gefragt hat, das hab ich meinem neuen Zahnarzt erzählt und bei der regelmäßigen Rechnungen, wie weit es noch bis zur 30 ist, kam ich immer zu: Oh Gott, im Oktober schon 27 und dann nur noch drei Jahre. Manchmal dachte ich mir schon auch: Puh, die Zeit vergeht ganz schön schnell, aber wenn man 26 ist und arbeitet, ist das wohl so.

Am Wochenende jedenfalls erklärte mir mein Freund, wie auch immer wir darauf gekommen sind, dass ich erst 25 bin – und schenkte mir damit ein Jahr. Ein ganzes Jahr mehr Leben! Wie cool ist das denn, oder? 

Ein ganz anderes Problem mit Zahlen hat unsere Autorin Daniela Gaßmann: Sie hasst die "7" und die "3" und kann deswegen nicht um 7:30 Uhr aufstehen, was dazu führt, dass sie immer entweder zu spät oder zu früh kommt. Im Ticker geht es heute um eure Ticks mit Zahlen und darum, ob ihr auch glaubt, die WM wurde nur gewonnen, weil euer Geburtsdatum mal zehn, hoch 3 geteilt durch die Wurzel von acht 2014 ergibt...


Auf der Flucht vor den Dschihadisten

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Kairo – Die Nachricht dröhnte erbarmungslos aus den Lautsprechern der Moscheen. Wer Christ sei, habe die Wahl. Entweder er trete über zum Islam oder er werde getötet. Der Ankündigung der militanten Fundamentalisten vom „Islamischen Staat“ folgte der offenbar von ihnen damit beabsichtigte Exodus: Hunderte Christenfamilien flohen am Wochenende panisch aus Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak.



Ungefähr 50.000 Christen wurden aus Mossul vertrieben. Hilfe bekommen sie in der Autonomen Region Kurdistan.

Viele der Christen verließen ihre Heimatstadt mit nicht viel mehr als mit dem, was sie am Leib trugen: Medienberichten zufolge wurden zahlreiche von ihnen an den Kontrollpunkten der Militanten am Stadtrand auch noch ausgeraubt. Mit der Vertreibung aus Mossul, einer der Hochburgen der chaldäischen, assyrischen und armenischen Kirchen, droht dem Christentum im Irak nun die Auslöschung.

Der Islamische Staat (IS), der die nord-westirakische Millionenstadt Mossul und weite Teile des Westirak vor einigen Wochen in einem Überraschungsschlag erobert hatte, stellte den Christen ein unmissverständliches Ultimatum: Wer bis Samstagmittag nicht zum Islam übergetreten sei oder die Stadt verlassen habe, dem bleibe nur der Tod „durch das Schwert“. Verschiedene Medienberichte sprachen aber auch von dem Zwangsangebot an die Christen, eine sogenannte Kopfsteuer zu zahlen – mit dieser Abgabe war den Juden und Christen in früheren islamischen Gesellschaften wie dem osmanischen Reich die Ausübung ihrer Religion von den Machthabern gestattet worden. Viele Christen Mossuls misstrauten dem IS-Angebot offenbar: Angeblich waren die Häuser und Geschäfte von Christen bereits mit einem aufgemalten Buchstaben gekennzeichnet worden – der Buchstabe Nsteht dabei für Naseriten. Christen werden im Arabischen oft auch leicht abwertend als „Nazarener“ be-zeichnet. Was genau sich am Wochenende in Mossul abgespielt hat, wird bisher nur in Bruchstücken und aus Berichten der Flüchtlingen klar: Ausländische Journalisten haben keinen Zugang zu den vom Islamischen Staat kontrollierten Gebietens. Auch irakische Medienvertreter können dort nur sehr schwer arbeiten.

Hunderte Christenfamilien verließen Medienberichten zufolge die Stadt am Samstag und flüchteten über die nahe gelegene Grenze zum irakischen Kurdengebiet im Norden des Landes. Ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP berichtete aus Mossul selbst, die Christen hätten sich meist in Taxis und Privatautos abgesetzt. „Einigen Familien wurden ihr gesamtes Geld und ihr Schmuck an den Kontrollpunkten der Militanten abgenommen, als sie die Stadt verließen“, sagte ein Mann namens Abu Dayan der AFP.

Direkt nach der Eroberung und der Vertreibung der irakischen Armee aus der Stadt hatte der Islamische Staat mit der Verfolgung von Schiiten und Feueranbetern begonnen. Auch die ethnisch nicht-arabischen Turkmenen wurden bedroht. In den ersten Tagen ihrer Herrschaft zerstörten IS-Kämpfer zahlreiche schiitische Moscheen und Heiligengräber. Schiiten gelten den radikalen Sunniten als Heiden, die Verehrung von Menschen als Heilige lehnen sie ab.

Den Christen hingegen sicherten die Radikalen zunächst Unversehrtheit zu: „Am Anfang waren sie freundlich, klopften an unsere Türen, garantierten für unsere Sicherheit. Sie gaben uns sogar Mobilnummern, die wir anrufen sollten, wenn wir behelligt würden“, berichtete der Christ Sahir Yahia der Nachrichtenagentur AP. Yahia, der aus Mossul geflohen war, sagte weiter: „Das hat sich dann vor zwei Tagen radikal geändert. Der Islamische Staat hat seine barbarische Natur gezeigt.“

Mit dem Exodus aus Mossul und den von IS beherrschten Gebieten mit seiner religiös gemischten Bevölkerung droht dem Christentum im Irak nun wohl das endgültige Aus: Vor dem US-Einmarsch in das arabische Land im Jahr 2003 gab es noch zwischen einer und eineinhalb Millionen Christen im Irak. Die meisten von ihnen gehörten den alten nahöstlichen Kirchen an oder sind Katholiken. Mit der US-Invasion und dem Ende der Saddam-Diktatur sehen sich die Christen aber durch militante sunnitische Fundamentalisten existenziell bedroht. Die Militanten entführten über Jahre hinweg Bischöfe und Priester, verübten Anschläge auf Kirchen, erpressten Schutzgeld. Dies hatte zu ersten großen Fluchtwellen geführt: Mehr als die Hälfte der irakischen Christen sollen bereits außer Landes sein, möglicherweise leben inzwischen sogar nur noch 300000 im Irak.

Durch die Machtübernahme des Islamischen Staats wird ihre Lage noch dramatischer: Die sunnitischen IS-Islamisten haben ein „Kalifat“ in dem von ihnen kontrollierten Teilen des Irak und Syriens ausgerufen. Ihr Führer Abu Bakr al-Bagdadi ernannte sich zum Kalifen und „Führer der Gläubigen“. Alleinige Rechtsgrundlage im Kalifat soll die islamische Scharia sein. Häuser von Schiiten und Christen werden angeblich schon beschlagnahmt und an sunnitische Familien gegeben. Maan Abu, ein Christ, hatte sich bei den IS-Vertretern vor seiner Flucht nach der Bedeutung ihres Erlasses und der Möglichkeit der Zahlung einer Kopfsteuer erkundigt: „Ich ging zu einem religiösen Gericht, um nachzufragen, ob die Ankündigung ernst gemeint sei. Man hat mir gesagt, ich solle mein Haus verlassen und meinen Besitz wie mein Geld, mein Auto und meine Habe zurücklassen.“

Die Entwicklung im Irak besorgt auch die katholische Kirche: Papst Franziskus sagte in Rom, er bete für die Christen in Irak, „die verfolgt und verjagt werden“. Shlemon Warduni, Weihbischof des chaldäisch-katholischen Patriarchats in Bagdad, sagte, die IS-Verwaltung habe die öffentlichen Einrichtungen in Mossul angewiesen, kein Gas und keine Lebensmittel mehr an Christen, Schiiten oder Kurden zu liefern. Der chaldäische Bischofssitz in der Stadt sei von den Militanten besetzt worden, über dem Palast wehe die schwarze Fahne der Islamisten. Während Warduni bestätigte, dass der IS den Christen in Mossul Schutzgeld in Form der Kopfsteuer abpresse, wollte der päpstliche Nuntius in Bagdad dies weder bestätigen noch dementieren.

Schwierige Suche nach dem ehrlichen Makler

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Tel Aviv – Ban Ki Moon geht auf Reisen. Der freundliche UN-Generalsekretär ist am Sonntag zu einer Friedensmission in den Nahen Osten aufgebrochen, die ihn nach Doha, Kuwait, Kairo, Jerusalem, Ramallah und Amann führen wird. Die unmittelbare Kampfzone rund um den Gazastreifen bleibt ihm dabei erspart, doch auf gefahrvolle Konfrontationen muss er sich trotzdem einstellen. Denn jenseits des militärischen Schlachtfelds werden in diesen Tagen auch noch heftige diplomatische Gefechte geführt. Voll entbrannt ist ein Kampf darum, wer in diesem Krieg den Frieden vermitteln soll.



Palästinenser feiern am Montag die angebliche Entführung eines isrealischen Soldaten durch die Hamas.

Auf der einen Seite steht Ägypten, der klassische Makler zwischen Israel und den Palästinensern. Auf der andern Seite haben sich Katar und die Türkei positioniert, jeweils mit guten Verbindungen zur Hamas. Beide Vermittlungsparteien haben ausgeprägte eigene Interessen, und einfacher wird das Geschäft gewiss nicht dadurch, dass im Hintergrund auch noch Iran lauert, das bei Bedarf über den im Gazastreifen erheblich erstarkten Islamischen Dschihad ein paar Hürden auf dem Weg zur Waffenruhe aufbauen könnte.

Israel setzt ausschließlich auf die Ägypter, dies sei „die einzige Option“, erklärte der einflussreiche Chefstratege des Verteidigungsministeriums, Amos Gilad, in einem TV-Interview. Schließlich hatte schon im Gaza-Krieg 2008/09 der damalige Präsident Hosni Mubarak den Waffenstillstand vermittelt; im November 2012 war es der Muslimbruder Mohammed Mursi – und nun wäre als Dritter der neue Präsident Abdel Fattah al-Sisi an der Reihe. Das Problem ist allerdings, dass die Hamas als Anhängsel der Muslimbrüder in Kairo mittlerweile als feindliche Organisation gilt. Und das spiegelte sich wohl auch in dem vorige Woche gestarteten ersten Anlauf zur Waffenruhe allzu deutlich wider.

Von Beginn an war dieses Vorhaben eng mit der israelischen Seite abgestimmt, inklusive eines direkten Telefonats von Präsident Sisi mit Israels Premier Benjamin Netanjahu. Als Folge hatte Israel auch kein Problem, dem ägyptischen Vorschlag zum internationalen Wohlgefallen sofort zuzustimmen. Die Hamas dagegen lehnte umgehend ab, unter anderem mit dem Hinweis darauf, sie habe davon nur durch die Medien erfahren. Dies stimmt sicher nicht, schließlich ist die Organisation in Kairo mit dem Vize-Chef ihres Exilbüros, Mussa Abu Marzuk, vertreten. Der wahre Grund ist, dass die Hamas befürchtet, auf diesem Weg keine ihrer Forderungen durchzubringen. Denn vorgesehen war im Kairoer Plan, dass erst einmal die Waffen schweigen und dann alles Weitere besprochen werden solle.

In dieser durchaus misslichen Lage eilten die Katarer zur Hilfe, die ohnehin stets darauf lauern, ihre nahöstliche Rolle aufzuwerten. Katar beherbergt auch den Exil-Chef der Hamas, Khaled Maschal, seitdem der seinen Sitz in Damaskus wegen des Bürgerkriegs räumen musste. Und Maschal gilt überdies als Männerfreund des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan, der allzu gern mitmischt in den nahöstlichen Händeln.

Die Achse der Hamas-Freunde also will darauf dringen, dass Kernforderungen der Islamisten in einem Waffenstillstands-Abkommen gewahrt werden. Über arabische Medien wurde bereits ein Vorschlag lanciert. Ganz oben steht dabei ein Ende der Doppelblockade des Gazastreifens durch eine Öffnung der Grenzübergänge nach Israel und Ägypten. Überdies sollen all jene Gefangenen freigelassen werden, die Israel in den vergangenen Wochen im Westjordanland festgenommen hat.

Die Fronten zwischen den Vermittlern aber sind fast genauso verhärtet wie zwischen den Kampfparteien. Israelische Medien berichten, dass die Regierung in Jerusalem gemeinsam mit Ägypten die USA aufgefordert hat, die klare Botschaft nach Katar und in die Türkei zu senden, dass keine solche Nebenvermittlung erwünscht sei. Überdies katapultiert sich der türkische Premier zunehmend selbst aus der möglichen Vermittlerrolle durch immer wütendere Angriffe gegen Israel. „Jene, die Hitler Tag und Nacht verurteilen, haben Hitler in Sachen Barbarei übertroffen“, sagte er am Wochenende. Zuvor schon hatte er Israel einen „Völkermord“ im Gazastreifen vorgeworfen. Anschließend kam es in mehreren türkischen Städten zu anti-israelischen Demonstrationen, die so heftig gerieten, dass das Jerusalemer Außenministerium die Familien seiner Diplomaten ausflog und eine Reisewarnung erließ.

Die Kunst der Diplomatie dürfte nun darin bestehen, Erdoğan in die Schranken zu weisen und die Ägypter und Katarer zusammenzubringen. Deshalb wählte der UN-Generalsekretär wohl Doha als erste Station seiner Friedensreise. Dort nannte Ban die israelische Militäroffensive am Sonntagabend eine „scheußliche Tat“. Die Gewalt müsse aufhören. Ban wird anschließend nach Kairo fliegen. Auch Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas ist nach Katar gereist, um dort mit Hamas-Chef Maschal zu sprechen.

US-Präsident Barack Obama billigte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am Sonntag erneut das Recht auf Selbstverteidigung im Konflikt mit der Hamas zu. Doch zugleich äußerte er bei einem Telefonat „ernste Besorgnis“ über die wachsende Zahl von Opfern. Wie es weiter hieß, informierte Obama Netanjahu darüber, dass US-Außenminister John Kerry bald nach Kairo reisen werde, um eine Feuerpause zu erreichen. Nach israelischen Berichten wird Kerry bereits am Montag in der Region erwartet. Vieles hängt in der Luft im Nahen Osten – aber immerhin sind auch viele in der Luft, um zu verhandeln.

Nichts essen, nichts trinken, nichts lernen

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„Endlich Ferien“, freut sich der Lehrer, er bezieht sich mit dem Jubelruf ganz konkret auf die vergangenen Wochen: den Ramadan, mitsamt fastenden muslimischen Schülern. „Endlich keine sich vor Bauchschmerzen krümmenden Zwölfjährigen mehr, kein Schlangestehen vor der Sanitätsliege, weil islamische Schüler fasten und in schöner Regelmäßigkeit zusammenklappen“, heißt es in dem Beitrag, den der Mann in einem Online-Forum für Lehrer verfasst. In seiner Klasse habe Fasten nahezu „Wettbewerbscharakter“. Natürlich könne man auf die Schüler Rücksicht nehmen, schreibt er. „Allerdings dauert der Ramadan 30 Tage. Wie macht man das, Rücksicht nehmen? Sollen die Schüler keine Klassenarbeiten schreiben? Soll man sie vom Sport befreien? Soll man für die Zeit eine Krankenstation einrichten?“



Erst nach Sonnenuntergang? Ein Schulkind isst in Berlin einen Gemüseeintopf

So recht wissen es die Kollegen in dem Forum auch nicht, ebenso wie in anderen digitalen Marktplätzen dieser Art, auf denen sich Lehrer manchmal auskotzen, viel häufiger aber Tipps austauschen. Da gibt es gnadenlose Lehrer: „Keine Klassenarbeiten, das käme bei mir nie infrage“. Da gibt es Schulen, an denen Zugeständnisse etabliert sind, und schwächelnde Fastende heimgeschickt werden; und es gibt Schulen, an denen jedes Jahr Konflikte ausbrechen. Über Schwächeanfälle und versäumte Prüfungen, abgesagte Klassenfahrten und Sportunterricht, der ohne Trinken heikel ist; oder den Schwimmunterricht, die Gefahr des Wasserverschluckens droht dort ja. Sogar an Grundschulen gebe es zuweilen fastende Sechs- bis Zehnjährige .

In diesem Jahr ist die Lage ein wenig entspannter: Der Fastenmonat, der nun noch eine Woche dauert, berechnet sich nach dem Mondkalender. Aktuell sind Schüler in vielen Bundesländern schon in den Ferien, etwa in Bayern oder Niedersachsen herrscht durch den Notenschluss eine Leerlaufphase. Aber manchmal kann Ramadan später, vor den Herbstferien liegen, während der ersten intensiven Prüfungsphase.
Doch warum fasten Jugendliche überhaupt? Ist das nicht erst mit Eintreten der Geschlechtsreife vorgesehen, ferner nicht für Arbeitende, wozu auch Schüler zählen? „Den Islam gibt es nicht, es gibt keine einheitliche Linie“, sagt Sanem Kleff. Die türkischstämmige Lehrerin ist Bundeskoordination des Projekts „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Sie kennt Schilderungen von Kollegen, da geht es um Schüler, die von Tag zu Tag unkonzentrierter und blasser werden. Und sie kennt die Bedeutung der muslimischen Festzeit.

Einerseits macht sie „islamistische Strömungen“ für das durchaus übliche Fasten von Jugendlichen verantwortlich, auch die Muslimverbände hätten unterschiedliche Auslegungen. Für Heranwachsende sei das erste Fasten zudem oft ein „Initiationsritus im Kreis der Großen“. Andererseits sei es verständlich, wenn Kinder mitmachen wollten. Sie sehen die Geselligkeit, die deliziösen Speisen, die es oft beim abendlichen Fastenbrechen gibt. Das wird auch in einem Lehrer-Forum erwähnt: „Zum Fasten kommt hinzu, dass nach Sonnenuntergang ausgiebig gespeist wird, mit Besuch und Trubel im Haus. Die Schüler sind am nächsten Tag total müde.“ Kleff meint, Schulen sollten bei den Eltern intervenieren, wenn bereits Kinder fasten. Bei älteren Schülern hält sie „freundliche Rücksichtnahme“ für selbstverständlich. Aber man dürfe dabei „nicht um jeden Preis den schulische Kalender verändern“.

Was heißt das konkret? Eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung unter allen 16 Schulministerien zeigt: Die Frage ist unterschiedlich bedeutend, was an den Anteilen von Schülern mit Zuwandererwurzeln liegt. Von 2,1 Prozent in Brandenburg (dort inklusive der Jugendlichen aus der Ex-Sowjetunion) bis zu etwa 20 Prozent nur Türkisch- und Arabischstämmige in Bremen. Überall geregelt sind muslimische Feiertage, Opferfest und Zuckerfest, hier bekommen Schüler frei – meist auf Antrag.

Beim Fasten empfehlen die Ministerien ihren Schulen Einfühlungsvermögen, solange dies den Schulbetrieb nicht stört: Lehrer sollten „mit Fingerspitzengefühl agieren“, das sei „sinnvoller als zentrale Regelungen“, heißt es aus dem Ministerium in München. „Es ist wichtig, vor Ort eine auf den Einzelfall bezogene Lösung zu entwickeln“, meint die Behörde in Düsseldorf. In Kiel heißt es, die Fachaufsicht sei noch nie eingeschaltet worden, „man kann also begründet davon ausgehen, dass vor Ort jeweils gute Lösungen gefunden werden“.

Nur in Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz gibt es Leitfäden für Lehrer, in Bremen wird ein solcher gerade erarbeitet. Grundsätzlich dürfe „das Fasten nicht als Entschuldigung für Regel- und Pflichtverletzungen herhalten“, schreiben die Autoren des Berliner Ratgebers. Zudem sollten Minderjährige generell „vom Fasten abgehalten werden“. „Dürfte“, „sollte“ – wie Lehrer das konkret umsetzen, bleibt offen.
„Es kann nicht sein, dass diese Fragen einzelnen Lehrern als ihr persönliches Problem zugeschoben werden“, sagt Sanem Kleff. Nötig sei eine gemeinsame Haltung an jeder Schule, „nichts ist schlimmer, als wenn Herr Maier dies macht und Frau Müller im Klassenzimmer nebenan jenes“.

Die Leitlinien seien „ein richtiger Schritt“, aber man darf „nicht nur zehn Seiten kopieren und die Sache dann als erledigt sehen“. So müsse das Thema im Lehramtsstudium vorkommen und in Fortbildungen. Kleff wünscht sich auch eine gesellschaftliche Debatte: „Das ist kein Nischenthema. Eine Gesellschaft ist nicht statisch, Ansprüche und Grenzen von Vielfalt sind immer wieder neu zu verhandeln.“ Information, Debatten, Empfehlungen – damit seien sinnvolle Lösungen an den Schulen möglich.

Es gibt „keine Order von oben“, sagt eine Lehrerin in einer Hauptschule in einer bayerischen Großstadt. Jeder Lehrer entscheide da eigenständig. Und wenn ein Schüler die Hausaufgaben nicht macht wegen des Fastens? „Wenn er mir glaubhaft versichert, dass das der Grund ist, könnte ich mich vielleicht darauf einlassen“, sagt sie. Andererseits: „Ganz viele Schüler bei uns machen Hausaufgaben sowieso nicht, egal ob Ramadan oder nicht.“


Der neue Bildersturm

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Wenn es nicht nur ein Propagandatrick ihrer Gegner ist, um die Gotteskrieger unmöglich zu machen, wenn es also stimmt, dann ist es unter allen verrückten Ideen die wahnsinnigste: Die Kalifatsgründer des „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak möchten die Kaaba vernichten.



Könnte das Ziel radikaler Islamisten werden: Die Kaaba

Diejenigen, die an der Kaaba beten, natürlich auch, aber vor allem eben: die Kaaba, heiligstes Heiligtum für jeden Muslim, Lebens- und Pilgerziel für Millionen von Menschen jedes Jahr. Haus Gottes.
Von außen: ein Kubus aus Granit und Marmor, verhängt mit einem schwarzen Tuch, eine goldene Tür, der heilige schwarze Stein an einer Ecke des Heiligtums. Von innen: Lampen. Säulen. Plaketten mit den Namen der Herrscher, die das Bauwerk renovieren ließen. Ansonsten erhabene Leere. Gemessen an den verschnörkelten Heiligtümern anderer Religionen ist die Kaaba ein Werk höchster Abstraktion.

Den Radikalen ist das immer noch zu viel Schnickschnack. „Die Menschen gehen nach Mekka, um Steine zu berühren, nicht wegen Gott“, so zitiert eine türkische Zeitung den Dschihadi Abu Turab al-Muqadassi. Und deshalb werde man demnächst in Saudi-Arabien einfallen und das Heiligtum schleifen.

Es scheint – noch – die Einzelmeinung eines von Blut und Sieg berauschten Kämpfers zu sein. Der Twitter-Account mit dem ersten wüsten Aufruf soll inzwischen gelöscht sein. Andererseits gab es immer wieder mal Anschläge auf die Kaaba, den bekanntesten im Jahr 1979 durch Hunderte schiitischer Extremisten. Keiner löste in der muslimischen Gemeinschaft anderes aus als Entsetzen. Und ebendies – die Verbreitung von größtmöglichem Schrecken – ist eine der wichtigsten Taktiken der Dschihadisten.

Die Kaaba wäre das letzte, heiligste Ziel, nachdem sie bereits eine Spur der Zerstörung durch Syrien und den Irak gezogen haben, und ihre theologische Brachialexegese war dafür nicht der einzige Grund. In Syrien, wo sie eine Art Labor-Kalifat einrichteten, finanzierten sie sich durch Erpressungen, Öl-Verkäufe – und Raubkunst. Plünderungen archäologischer Stätten, Raubgrabungen, aber wohl auch der Verkauf von Museumsstücken – eingespeist in einen immer hungrigeren, immer gewissenloseren schwarzen Markt – sollen ihnen Millionen gebracht haben.

Aber natürlich treibt die Radikalen auch ideologischer Furor – gegen die Häretiker, die Heiden, kurz: alle anderen. In Mosul besetzten sie die chaldäische Kirche, rissen die Kreuze und eine Heiligenstatue herunter und hissten ihre schwarze Flagge. Verglichen mit der Aggression gegen die eigenen islamischen Heiligtümer wirkt dies fast milde. Eine der ersten Anordnungen der Dschihadisten nach der Eroberung Mosuls war die Zerstörung der „heidnischen Tempel“, sprich: der schiitischen Heiligtümer.

Wie viele Schreine und Moscheen die Dschihadisten im Irak in Schutt und Asche gelegt haben, ist kaum zu bestimmen. Wichtigstes Indiz ist, verdächtig genug, eine Fotoserie, mit der sie ihre Abrissoperation dokumentieren wollen. Danach zerstörten sie zehn Schreine oder Moscheen, mit Baggern und Sprengstoff, rissen Mauern ein, Minarette, goldene Kuppeln. Der schiitische Saad-bin-Agil-Schrein und der sunnitische Ahmed-Al-Rifai-Schrein in Tel Afar gehören offenbar dazu, auch das als Heiligtum verehrte „Grabmal der Tochter“ in Mosul, in dem eigentlich der arabische Historiker Ibn al-Athir al-Dschasari begraben sein soll. Bis Samara wollen sie, wo die goldene Kuppel der schiitischen Moschee nach einem Anschlag 2006 noch immer restauriert wird, bis Nadschaf und Kerbala, den heiligsten Stätten der Schiiten. Aber ebenso verhasst wie jene sind ihnen die Sufis mit ihrem Mystizismus, ihrer Heiligenverehrung, ihrer entrückten Toleranz.

Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt, ist die Hauptstadt der Provinz Niniveh und war einst Hauptstadt des assyrischen Imperiums. Im Jahrtausend vor Christus herrschten die Assyrer über ein Gebiet, das bis nach Ägypten reichte, und hinterließen wunderbare Statuen und Reliefs sowie den Ruf großer Grausamkeit. Später war Mosul ein Zentrum des Kampfes gegen die Kreuzritter, eine Metropole der Poesie, der Wissenschaft und der Literatur, wie Eleanor Robson, Vorsitzende des Rates des britischen Instituts für Irak-Studien, betont. 100 Kilometer südlich von Mosul liegen die Reste der antiken Stadt Hatra, einst eine arabische Festung, heute Unesco-Welterbe.

Christen und Juden lebten in den Ebenen Ninivehs. Die Provinz, wie der ganze Irak, wie die gesamte Region war über Jahrtausende kaum irgendwo ein ganz homogenes Siedlungsgebiet einer einzelnen Konfession oder ethnischen Gruppe. In der aktuellen Kritik am Sykes-Picot-Vertrag, mit dem Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg den Nahen Osten aufteilten, geht das oft ein bisschen unter. Während Europa im nationalistischen Furor den Kontinent in Schutt und Asche legte, erwachte das arabische Nationalgefühl erst. Nicht nur die koloniale, sondern eigentlich jede Grenzziehung hätte im Schmelztiegel der Völker, Konfessionen und Stämme Enklaven, Minderheiten, also späteres Konfliktpotenzial geschaffen.

Deshalb sind die Radikalsten der Radikalen gerade keine Sachwalter eines vermeintlich verschütteten, verwässerten Reinheitsgedankens, sondern die Totengräber eines religiösen und kulturellen Nebeneinanders, das es trotz aller Widrigkeiten bis heute millionenfach gibt. Umso größer ist die Aggression der Dschihadisten gegen Abweichler in den eigenen Reihen, umso notwendiger in ihren Augen die Zerstörung islamischer Heiligtümer.

Es ist ein fundamentaler innerislamischer Deutungskonflikt, der mit Bomben und Bulldozern ausgetragen wird. Anders als oft beschrieben, verlaufen die verlustreichsten Fronten nicht zwischen Sunniten und Schiiten, sondern zwischen Extremisten und Moderaten. Und in den vergangenen Jahren hat sich dieser Konflikt in vielen Ländern der Region zugespitzt.

Tripolis liegt auf dieselbe rätselhafte Weise am Meer wie Algier, wie Beirut: Schwer zu sagen, ob die Stadt ins Wasser hineingespült oder aus den Fluten emporgetragen wird. Am Ufer der libyschen Hauptstadt liegen der Grüne Platz, der heute Platz der Märtyrer heißt, der Fischmarkt, die Altstadt. Und eine frische Brache. Vor zwei Jahren noch stand hier die kleine Kuppel eines Sufi-Schreins für Suleiman al-Fituri, einen Heiligen aus dem 12. Jahrhundert – und davor ein paar Pickups mit Maschinengewehren.

Libyens Sufi sind keine stillen Tänzer, ihre Tradition umfasst auch den kämpferischen Senussi-Orden um den großen Omar Muchtar, der den italienischen Besatzern das Leben schwer machte und hingerichtet wurde. Die Gebeine des Heiligen Suleiman lagen unter einem grünen Tuch und der ganze Schrein im Schatten des teuren Hotels auf der anderen Straßenseite. Damals, 2012, hatten die Salafisten, befreit von der Verfolgung durch die Schergen Muammar al-Gaddafis, Sufi-Moscheen angegriffen, hatten Geschäftsleute bedroht, die Alkohol verkauften. In Bengasi hatten sie den Sidi-Ubaid Friedhof umgepflügt und Leichen verschleppt. In Sliten waren sie über das Grabmal eines Gelehrten aus dem 15. Jahrhundert hergefallen. Lasst sie nur kommen, drohten die Nachfahren Suleiman al-Fituris in Tripolis. Wir werden uns wehren. Aber ihre Kraft reichte nur für ein paar Monate. Heute ist der Schrein fort.

In Tunesien griffen die Steinzeit-Islamisten seit dem Sturz des Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali 40 Sufi-Schreine an, brandschatzten, rissen Mauern ein. Auch in Ägypten fielen radikale Sunniten mit Brecheisen und Vorschlaghämmern oder mit Sprengstoff über Heiligtümer her. Immerhin, aus dem Irak bestätigen sich nicht alle schlimmen Meldungen. Das Grab, in dem der biblische Jonas in Mosul begraben sein soll, ist wohl doch nicht zerstört. Ein vermeintliches Beweisvideo der Radikalen stammt aus Syrien. Statuen arabischer Dichter in Mosul wurden offenbar abmontiert, aber bislang nicht zerstört. Skulpturen geflügelter assyrischer Stiere blieben dort, wo sie früher waren. Dafür haben die Extremisten Manuskripte aus der Bibliothek verschleppt, vor allem zu religiösen Themen, ebenso wie die Inventar-Listen, berichtet die Online-Zeitschrift Niqash.

Empörte Iraker verhinderten zumindest vorübergehend die Zerstörung des Schreins von Scheich Fathi im Stadtteil Muschahada: Sie bewarfen die Pol-Pot-Islamisten mit Steinen. Wenn die Fanatiker scheitern – dann am Widerstand der anderen Gläubigen.

Freiheit braucht Charakter

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In einem Staat, der an gewachsenen Traditionen so arm ist wie die Bundesrepublik, ist das Nachwachsen der Generationen in den Familien des 20. Juli 1944 ein von Jahr zu Jahr schöner werdender Eindruck. Hitler, der Todesfanatiker, hat nicht gesiegt, in einem ganz elementaren Sinn: Inzwischen tummeln sich in den Reihen der Ehrengäste der Gedenkfeiern im Berliner Bendlerblock wieder viele Kinder unter zehn Jahren. Stauffenberg, Trott, Jessen und so viele andere Namen gibt es noch; sie stehen als bloße Namen für sich, während die demokratisch gewählten Politiker sich an diesem Tag durchs Reden bewähren müssen.



Worte zum Freiheitsverständnis der Deutschen: Bundespräsident Joachim Gauck spricht im Bendlerblock

Es ist keine leichte Übung, am 20. Juli an dem Ort, in dem in der Nacht zum 21. Juli 1944 die Hauptverschwörer standrechtlich erschossen wurden, immer wieder die richtigen Worte zu finden. Denn es gibt kaum einen Teil im breiten Spektrum des Widerstands gegen Hitler, an den heutige Parteien oder Politiker programmatisch anschließen könnten. Dass die Verschwörer des 20.Juli ideologisch keine Vorläufer der Bundesrepublik waren, hat ihnen die zeithistorische Forschung fast über Gebühr nachgewiesen.

Der Kommunismus ist ohnehin kompromittiert, trotzdem wird zu Recht an die todesmutigen Kommunisten erinnert, die gegen Hitler kämpften. Der Adels- und Offizierswiderstand, für den der Name Stauffenberg steht, ist zwar nicht ganz ohne Tradition gerade in der preußischen Geschichte: Als Eigensinn des „Landes“ gegen eine nicht unmoralische, aber unzulängliche Regierung des „Königtums“ hat er in Kleists „Prinz von Homburg“ und Fontanes „Vor dem Sturm“ große Bilder gefunden, auch wenn hier kein Einsatz des eigenen Lebens verlangt war.

Und doch: Einer der ersten Sätze, die Bundespräsident Gauck jetzt zum 70. Jahrestag aus Stauffenbergs Regierungserklärung zitierte, hat einen fremden Klang: „Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt.“ Meinungsfreiheit, das ist Presse, das sind Demonstrationen, wie sie heute Gott sei Dank zum demokratischen Alltag gehören. Freiheit des Geistes ist, wenn es ernst wird, auch eine Charakterfrage. Gauck, der protestantische Pastor, legte einen starken Akzent auf diesen persönlichen Anteil, ohne den weder die Einsamkeit noch die fortdauernde Bedeutung der Taten und Opfer des 20. Juli zu erklären sind. „Und doch kennt jeder einzelne von uns“, sagte Gauck, „jene innere Frage, auf die es eine leichte und gleichzeitig wahrhaftige Antwort schwer geben kann: Wie würde ich mich verhalten, wenn ich wüsste, dass der Preis meines Handelns Gefängnis, Folter und gar das Ende des eigenen Lebens sein kann?“

Der unter entspannten rechtsstaatlichen Umständen natürliche Selbstzweifel, der daraus folgt, aber sei, so Gauck, „etwas enorm Gefährliches: Da man sich nicht vorstellen kann, das letzte Opfer zu bringen, verzichtet man darauf zu erkennen, welches Maß an Opposition oder Widerstand dem einzelnen Individuum möglich ist. Aber aus der Erkenntnis, dass man sich nicht geschaffen fühlt, sein Leben für das Fortleben von Werten zu opfern, darf man niemals folgern, dass man nichts tun kann.“

Das ist in der Tat immer wieder der springende Punkt. „Widerstand“ ist längst gängige Münze, „Gewissen“ klingt schon komplizierter, aber am Ende zeigen die historischen Beispiele, dass es am Ernstesten wird mit dem Widerstand, wenn er aus dem eigenem Gewissen gegen das eigene Milieu mit seiner konventionellen Sittlichkeit oder auch nur gegen schlichten Korpsgeist geleistet werden muss. Das wusste der gewissenlose Hitler besser als heutige postkonventionelle Moralisten, und darum legte er das Beamten- und Offizierskorps des Deutschen Reichs an eine feste immaterielle Kette durch den persönlichen Treueid auf seine Person.

Es hat in der Gegenwart von Uniformierten immer noch etwas Ungewöhnliches, den Helden, derer man gedenkt, wie Kanzleramtsminister Altmaier im Grußwort nachzurühmen, sie hätten „den Eid für ein besseres Deutschland gebrochen“. Und Gauck, den ein törichter „Widerstand“ vor allem im Internet als „Kriegshetzer“ verunglimpft, weil er die internationale Präsenz der Bundeswehr für unabweisbar hält, nutzte die Gelegenheit, an diesem militärischen Ort zu sagen, er sei stolz auf eine Bundeswehr, „die sich nicht auf obrigkeitsstaatliche Traditionen beruft, sondern auf Widerstand gegen das Unrecht“.

„Rechtsstaat muss immer Rechtsstaat, Demokratie muss immer Demokratie, Menschenwürde muss immer Menschenwürde bleiben“ – jener präsidiale Satz klingt nach Edward Snowden, dem Helden gegen sein eigenes Milieu, unphrasenhaft. „Einigkeit“ ist das erste Wort der Nationalhymne, die im Bendlerblock am Ende gesungen wird, aber die beiden anderen sind deutlich wichtiger.

Die Lektion meines Lebens

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1. Niemals nachtreten



Es war eine Leistungskursklausur, während der ich beim Spicken erwischt wurde, und man könnte ja meinen, dass das damit dann auch gut ist. Weil: Das System bescheißen, erwischt werden und seinen Abi-Schnitt damit verschlechtern – für mich klingt das, als sei das kosmische Gleichgewicht wiederhergestellt. Für meinen damaligen Wirtschafts- und Rechtslehrer nicht.

Er hatte mir meinen Spickzettel mit viel Tamtam abgenommen. Er hatte, als er ein paar Tage später die korrigierten Klausuren austeilte, auch auf meine Arbeit noch mal geblickt, und zwar ungefähr so, wie man ein Kaninchen vor sich hält, das gerade auf den Teppich gepinkelt hat. Er sagte: „Sieht ja bis zum Abbruch eigentlich alles ganz gut aus.“ Und jetzt, noch mal ein paar Tage später, stand er vor dem Kurs – dunkelgraues Sakko, igeliger Haarschnitt, rahmenlose Brille, die Mundwinkel zu einem Lächeln gestemmt, das Kraft kostet – und versuchte, seinen Vortrag spontan klingen zu lassen. Er sprach von Chancengleichheit und Chancen, die man sich mit Betrug und Unterschleif verbaue, „schon hier, in der Schule“, Pause, langsamer Seitenblick zu mir, „erst recht aber im echten Leben“. Er meine das jetzt, sagte er auch, „ganz allgemein“ und also „überhaupt nicht auf Sie“ (also mich) bezogen. Er benutzte Wendungen wie „charakterlich schwach“, „unfair den anderen gegenüber“. Sogar von „Wettbewerbsverzerrung“ sprach er, offenbar eine Art Gaucho-Tanz für Volkswirtschafter.
 
Damals war das nur eine wirkmächtige Demütigung, weil ich nicht einschätzen konnte, was nun mein Anteil an all dem war – wie viel davon ich also verdiente. Erst viele Jahre später ging mir auf, was der Lehrer getan hatte. Als ich mich in seine Lage versetzte. Als ich versuchte, mich durch ihn zu sehen: Da hockt also dieser unfertige Haufen Mensch. Er hat jüngst einen formvollendeten Seemannshecht ins Fettnäpfchen hingelegt, hat seinen Eltern und den Eltern seiner Freundin, die in derselben Jahrgangsstufe ist, erklärt, warum er die letzte Stunde der Klausur im Pausenhof verbracht hat. Die Klassenkameraden haben ihm teils freundschaftlich, teils gönnerhaft auf die Schulter geklopft – diejenigen, die ihn nicht mochten, sehr viel fester als man müsste. Und ich, der Lehrer, der ich ihm schon eine Null aufs Blatt gemalt habe, führe ihn auch noch vor. Sehe, wie er daran scheitert, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen. Sehe, wie die anderen sich immer wieder zu ihm umdrehen. Manche grinsend. Vielleicht sehe ich sogar, dass es in seinem Augenwinkel etwas glitzert. Und ich mache weiter: „Charakterlich schwach“, sage ich. „Echtes Leben“, sage ich, das kennt er ja nicht. Die kleine Wurst.
 
Und da merkte ich, also die Wurst, dass ich doch eine Lektion gelernt hatte von diesem Lehrer: Tritt niemals nach! Schon gar nicht, wenn du in der stärkeren Position bist. Aber auch nicht von unten. Auf unserer Abifeier stand ich nämlich das letzte Mal neben ihm – Grillbüfett, Rostbratwurst, Maiskolben, Senf. „Ich wollte Ihnen noch etwas sagen“, fing ich an. „Wenn ich Sie nicht gehabt hätte, wäre ich vermutlich gerne in die Schule gegangen.“ Manche Lektionen brauchen leider länger.

jakob-biazza






2. Neugier macht unglücklich



Vielleicht bin ich der neugierigste Mensch der Erde. Ich liebe es, wenn Menschen mir ihr Innerstes anvertrauen, und ich frage auch immer beharrlich nach, wenn ich irgendwo ein Geheimnis vermute. Trotzdem werde ich eines nie wieder tun: Die Geheimnisse anderer mit Gewalt aufspüren, indem ich in ihren Sachen wühle. Das hat sich dank einiger Fundstücke auf dem Werkzeugschrank meines Vaters für immer erledigt.

Vermutlich war ich damals elf Jahre alt, vielleicht auch schon älter. Mit dem Verdrängen und der Scham verschwimmen die Jahreszahlen. Auf jeden Fall war ich auf einer ganz naiven Mission: Ich suchte mein Geburtstagsgeschenk. Zumindest redete ich mir das ein, als ich an einem langweiligen Nachmittag sämtliche Schubladen und Schränke meiner Eltern öffnete. Das Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun, das sich gleichzeitig wie eine Schatzsuche anfühlte, kickte mich. Ich konnte nicht aufhören, obwohl ich längst Päckchen gefunden hatte. Also schleppte ich auch noch einen Stuhl in den Hobbykeller, um dort auf den Werkzeugschrank gucken zu können. Dort lag eine schwarze Tüte. Aufgeregt angelte ich sie vom Schrank, öffnete sie noch auf dem Stuhl und – presste sie angewidert sofort wieder zu. Aus der Tüte starrten mich Brüste an. Sie waren groß und auf die Hülle einer VHS-Kassette gedruckt. Neben den Brüsten und um die Brüste herum sah ich seltsame Körperteile. Ich hatte die Pornovideos meines Vaters gefunden.

Schnell packte ich das Bündel an seinen Ursprungsplatz, genau so, wie ich es vorgefunden hatte. Tränenüberströmt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer. Die Sachlage war aus Sicht einer Elfjährigen eindeutig: Mein Vater war pervers. Ob meine Mutter davon wusste? Musste ich sie vor ihm warnen? Andererseits hatte ich Angst, mit der schockierenden Wahrheit die ganze Familie zu zerstören. Nachdem ich viele Tränen in meine Plüschrobbe gerieben hatte, entschied ich mich zum Wohle Aller zu schweigen. Das Verhältnis zu meinem Vater war natürlich trotzdem nachhaltig belastet. Ich ging ihm aus dem Weg und traute mich auch nicht, mit Freundinnen zu sprechen – nicht, dass sie denken würden, alle in meiner Familie, einschließlich mir, seien Schweine. Meine Eltern hatten sich von Papi und Mami zu lüsternen Ungeheuern verwandelt.
 
Einige Jahre später, mit dem ersten festen Freund, wurde mir dann bewusst, dass viele Männer Pornos gucken. Dass mein Vater ganz normal war und meine Reaktion albern. Die Lektion blieb trotzdem hängen: Ich habe nie wieder in anderer Leute Sachen gewühlt, ganz egal wie groß die Neugierde war. Das Risiko, tatsächlich etwas zu finden, das das eigene Weltbild nachhaltig zerdeppert, ist zu groß. Sogar, wenn ich in einer Beziehung vermute, hintergangen zu werden, stöbere ich nicht im Handy oder PC meines Partners. Damit fahre ich gut. Denn jedes Mal, wenn ein mir wichtiger Mensch vor mir Geheimnisse hatte, kam er irgendwann von selber auf mich zu, um darüber zu reden. Für alles andere gilt das Gleiche wie für die Brüste auf den Videos meines Vaters: Es geht mich nichts an.

merle-kolber






3. Unpünktlichkeit ist Arroganz



Um 20.23 Uhr kam ich am Eingang des Parks an. 23 Minuten zu spät, für meine Verhältnisse also ziemlich pünktlich. Keine Spur von Kathi, Linda und Susi, mit denen ich zum Joggen verabredet war. Waren sie schon losgelaufen? Unmöglich. Ich hatte noch keine Wo-Bleibst-Du-SMS bekommen, und außerdem war es mein Leben lang so: Ich kam zu spät, meine Freunde warteten.

Vielleicht sind meine russischen Eltern daran schuld. Für sie waren die pünktlichen Deutschen „Terminatoren“ – also übermenschliche Cyborgs, die Termin-Verpasser auslöschten. Meine Geschichtslehrerin, die mich für Unpünktlichkeit fast jeden Tag nachsitzen ließ – ein Terminator. Genauso der Schulhausmeister, der mir keinen Kaffee verkaufte, wenn ich mal wieder so spät zur ersten Stunde kam, dass ich sie lieber in der Cafeteria verbrachte.
 
Ich verpasste meinen Flug zum Austausch in die USA, mein erstes Date und um ein Haar meine mündliche Abitur-Prüfung. Und trotzdem: Pünktlichkeit blieb in meinen Augen die unattraktivste aller Tugenden. Ein Talent der Menschen, die sonst nichts Besseres zu tun hatten als auf die Uhr zu schauen. Ich hingegen hatte sehr viel zu tun: Auch wenn ich schon eine halbe Stunde zu spät war, gab es immer noch Zeit, einen vorbeigehenden Hund zu streichen. Inzwischen glaube ich auch: Ich kam immer zu spät, weil ich keine Lust hatte, auf andere zu warten.

„Schon auf dem Weg“, sagte Kathi, als ich sie anrief. Oh, wie gut ich diesen Satz kannte. Erst gestern hatte ich ihr „bin schon auf dem Weg“ geschrieben, bevor ich in die Dusche stieg. Ich rutschte auf der Parkbank hin und her. Ich hatte nichts dabei außer einem Handy ohne Internetfunktion. „Wird ein bisschen später“ hieß es um 21 Uhr. Natürlich konnte ich einfach nach Hause gehen. Aber wer schon so lange ausharrt, will erst Recht ein Ergebnis dafür haben. Wahrscheinlich ließ genau das alle anderen auf mich warten. Ich zählte Kopfsteine vor der Bank. Um 21.30 Uhr kam eine SMS: „Sorry, kam was dazwischen, sind gleich bei dir.“ Eine Rentnerin, die ihren Cockerspaniel im Park Gassi führte, fragte, ob alles in Ordnung sei. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was für einen armseligen Eindruck Wartende machten.

Als die drei kurz nach zehn da waren, zischte ich: „Ihr habt zwei Stunden meines Lebens verschwendet!“ Daraufhin rechneten meine Freundinnen mir vor, wie lange ich sie allein in dieser Woche hatte warten lassen: Susi 34 Minuten, Kathi 20 Minuten (und dann noch mal 30). Linda stand vorgestern eine Dreiviertelstunde meinetwegen vor dem Kino. „Wir haben dir so viel Zeit gestohlen, wie du uns“, sagte sie. Still liefen wir zwei Runden durch den inzwischen dunklen Park.
 
Ich kann leider nicht sagen, dass ich danach nie wieder zu spät kam. Aber ich habe zumindest verstanden, was der Hausmeister meinte, wenn er sagte: Zu spät kommen heißt, seine eigene Zeit für wertvoller zu halten als die der anderen. Seit ich kapiert habe, wie arrogant meine Unpünktlichkeit war, versuche ich mich zu bessern. Ich bin noch nicht ganz am Ziel. Aber ich bin schon auf dem Weg, versprochen.

wlada-kolosowa

Auf der nächsten Seite: Frieden mit dem Finanzamt und die Katze Humboldt.


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4. Frieden mit dem Finanzamt



Ein Winter, früher Montagmorgen. Ich habe bei meinem Freund übernachtet und muss gleich zur Arbeit: Kellnern, 9-Uhr-Schicht, draußen schneit es leicht, eh schon schlechte Laune. Als ich mit ihm im Flur stehe und meine Schuhe anziehe, klingelt es. Ich öffne, weil ich am nächsten zur Türklinke stehe. „Guten Tag, mein Name ist Maier, ich bin Gerichtsvollzieher, ist der Herr Müller da?“ Herr Müller ist mein damaliger Freund, der natürlich in echt anders heißt. Er ist ein paar Jahre älter als ich, hat sich selbständig gemacht und – wie der graue Herr in der Tür gerade mir und ihm erklärt – seine Umsatzsteuervoranmeldung nicht geleistet und Mahnungen diesbezüglich ignoriert. Ich bin zu diesem Zeitpunkt Studentin, von etwas namens „Umsatzsteuervoranmeldung“ habe ich noch nie gehört. In meinem Kosmos gibt es Arbeitnehmer und Arbeitgeber und Mehrwertsteuer, wenn ich etwas im Supermarkt kaufe. Überhaupt ist mir die Selbständigkeit meines Freundes bumswurscht, er arbeitet halt was.

Was ich aber verstehe: Scheinbar hat er auf Mahnungen vom Finanzamt nicht reagiert und der Gerichtsvollzieher erklärt recht unverblümt, dass er jetzt zum Pfänden da ist. Geschäftig holt er eine Folie mit Aufklebern hervor: Der berühmte Kuckuck – der allerdings gar kein Kuckuck ist, sondern ein runder Sticker mit einem Adler. Den will er auf Wertvolles kleben, um die Steuerschuld einzutreiben. Was das genau sein könnte, ist mir schleierhaft, mein Freund besitzt nichts Luxuriöses in seinem kleinen Apartment. Die Situation ist höchst unangenehm, wir stehen zu dritt im Flur rum, mir ist heiß. Ich bin sicher rotfleckig, wie immer, wenn ich schlimm aufgeregt bin. Dabei betrifft es mich eigentlich gar nicht, ich habe ja nichts verbrochen. Ich fühle mich trotzdem schuldig.

Mein Freund lotst den Gerichtsvollzieher zur Tür raus und geht mit ihm zum nächsten Geldautomaten. Später erzählt er mir salopp, dass er da etwas verbummelt und den Gerichtsvollzieher fast vollständig ausgezahlt habe. In bar. Er könne gar nicht verstehen, warum die gleich so einen Aufstand machten – ginge doch nur um einen Pillepalle-Betrag. Irgendwie nehme ich ihm das nicht ab. Und jenes Intermezzo im Flur lässt mich lange nicht los. Der Gerichtsvollzieher machte mir Angst, noch heute erschaudere ich ein bisschen.
 
Ich schämte mich für meinen Freund, ich war selbst beschämt. Schulden hatte ich noch nie, bis heute, mit Geldsachen bin ich hyperkorrekt. Allerdings habe ich seit diesem Vorfall einen riesigen Respekt vor dem Finanzamt. Alles, was die wollen, mache ich sofort. Jeden Brief öffne ich mit zittrigen Händen. Ich habe mir direkt bei meiner ersten Steuererklärung eine Steuerberaterin gesucht. Zu groß war die Sorge, ich könnte einen Fehler machen und Beef mit dem Finanzamt bekommen. Heute bin ich ebenfalls selbständig, es ist ein ständiger Zettelkrieg. Aber bevor ich irgendeine andere Rechnung begleiche, bezahle ich zuerst das Finanzamt. Immer. Mein Steuerordner ist so ordentlich, dass sogar meine Steuerberaterin applaudiert. Was ich damals gelernt habe: Never fuck with the Finanzamt.

michele-loetzner





5. Erwachsen werden ist Arbeit


Nicht mal in die Augen schauen konnte er mir bei unserem Gespräch über den Gartenzaun, mein Nachbar. Der Mann im allerbesten Rentenalter war gekommen, um sich zu beschweren. Über die anderen Nachbarn, die immer im Gemeinschaftsgarten so viel saßen und lachten. Und ich sollte mich jetzt bitteschön gemeinsam mit ihm über diesen Umstand aufregen. Was ich beim besten Willen nicht fertig brachte. Das fünfminütige Gespräch war unglaublich anstrengend. Jeder einzelne Satz schrappte immer gerade so an offener Fremden- und Frauenfeindlichkeit vorbei und seine Versuche, witzig zu sein, waren allesamt auf dem verschwitzt pubertären Niveau eines 13-jährigen Pennälers.
 
Ein paar Monate ist sie her, diese Begegnung, und sie war von außen betrachtet wenig spektakulär, ein kurzer unangenehmer Plausch mit einem Nachbarn, den man weder gut kennt noch mögen muss. Und trotzdem war es genau diese kleine Begegnung, die mir die Augen öffnete für die ziemlich banale, aber für mich doch einigermaßen bahnbrechende Erkenntnis: Die „Erwachsenen“, also all die Menschen in und um die Generation meiner Eltern, haben ihr Leben gar nicht so im Griff, wie ich es immer gedacht hatte.
 
Ich war in meinem Kinderglauben immer davon ausgegangen, dass man ab einem bestimmte Alter, spätestens aber, wenn Kinder ins Spiel kommen, aufhört, Quatsch zu machen. Dass man sich nicht mehr von seinen Unsicherheiten behindern lässt. Dass man dann endlich existenzielle Lebensfertigkeiten drauf hat, automatisch kochen, aufräumen, Vorbild sein kann. Dass man im Umgang mit Ämtern und anderen staatlichen Autoritäten selbstbewusst bleiben, Widrigkeiten weglächeln, mit fremden Menschen am Gartenzaun vernünftige Gespräche führen kann und jedenfalls nie mehr das Bedürfnis hat, sich unter einer Bettdecke zu verkriechen und zu warten, bis der Sturm vorbei ist.
 
Nach der Begegnung mit dem Rentner sah ich auf einmal überall, wie falsch ich mit dieser Annahme gelegen hatte: Die Mutter meiner Schulfreundin war gar nicht nur ein bisschen speziell in ihrer Art, wie ich immer gedacht hatte, sondern bei Licht betrachtet eine knochenharte Egoistin, die ihre eigenen Bedürfnisse immer wichtiger nahm als die der anderen, einschließlich die ihrer Kinder. Die neue Bekannte war gar nicht erst gerade umgezogen, bei der sah es immer so vermüllt aus und ich würde auch nie mehr als ein Glas Leitungswasser von ihr bekommen, weil ihr alles andere zu viel Arbeit machte. Und ja, es gab Menschen, die auch als Rentner nicht in der Lage waren, mit anderen Menschen ein einfaches Gespräch zu führen.
Und mit dieser banalen Erkenntnis sank auch die Hoffnung für mich selbst. Schließlich hatte ich bis dahin immer gehofft, dass ich all diese Dinge, mit denen ich mich so herumquälte, eines Tages automatisch lernen würde: den Umgang mit Geld, Menschen, Behörden, ein gesundes Selbstbewusstsein, Fleisch anbraten. Erwachsen werden war von nun an also doch kein Automatismus, sondern bedeutete weiter viel Arbeit. Und die Möglichkeit, daran zu scheitern, war absolut real. 

christina-waechter




6. Leben sticht Party


Ich habe Disco geliebt. Aber an einem Januarabend war alles vorbei. Nach einem viel zu langem Neujahrsmorgen aus Kaviar, Kokain und Amy Winehouse – „They tried to make me go to rehab / I said no, no, no“. Rückblickend war dieses Ende ein wundervoller Moment. Denke ich zurück an meine Disco-Phase, stellen sich mir die Haare auf, der Puls steigt. Die Zeiten, die ich einmal unheimlich liebte: Bei mancher Erinnerung möchte ich den Blick abwenden. Doch gewisse Augenblicke sind für immer in die Hirnrinde gebrannt. Gute wie schlechte. Das Leben ist Reibung und Leid. Sonst ist es kein Leben, sagt Dr. Hipp, mein Psychoanalytiker.

Da saß ich nun an diesem Januarabend und sah fern. Einsam. Hübsch mit einer drogeninduzierten Depression. Erst kam eine Sendung über Island, bei deren Farben ich weinen musste. Etwas später ein Film über die Dukha, ein mongolisches Volk von Rentier-Hirten. Diese Schamanin, fast 100 Jahre alt, saß in ihrem Tipi – draußen die klirrend kalte Polarnacht. Ihre Wangen leuchteten rot, vom Wetter gegerbt. Sie rührte in einem Topf und erzählte von den vielen Männern, die sie überlebt hatte. Sie lachte, so ein freudiges, unbefangenes, fürchterlich glückliches Lachen. Danach ritt die Schamanin auf einem mächtigen Rentier durch die Polarnacht, fern jeglicher Stadt. Ich wurde noch trauriger.

Ich raffte mich auf zu meinem Analytiker Dr. Hipp. Erzählte ihm von den Farben von Island. Er horchte auf, zog eine Farbkarte aus dem Regal, ich musste darauf zeigen. Wir sprachen lange über Erdfarben. Und Wünsche. Er fragte: „Wollen Sie von der Discokugel erschlagen werden oder ein Haus im Grünen?“ Mir wurde schlagartig klar: Ich muss raus aus diesem Leben. Rave wird mich umbringen. Ich muss mich neu erfinden: spießig, zurückgezogen auf dem Land, völlig anders als bisher.

Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Klar, jetzt scheint alles viel langweiliger. Ich nenne die Nachbarin liebevoll Christel Meth, weil sie so konsequent fröhlich und emsig Mutter eines Rudels Kinder ist. Ich lerne vom Gärtner, wie man Pferdejauche als Dünger für Tomaten mischt. Und ich versuche besser zu werden im Unkrautjäten. Es gibt nichts Schöneres, als an einem lauen Sonntagnachmittag die Katzen Tsunami, Schneewittchen und Humboldt im Garten laut beim Namen zu rufen. An diese Besonderheiten hat sich meine Nachbarschaft schon gewöhnt. Mein Aufputschmittel ist der wöchentliche Edeka-Prospekt am Samstagnachmittag (Zanderfilet! Im Angebot!). Kommt der Zeitungsjunge nicht, tigere ich spätestens um 16 Uhr ums Haus und mache mir Sorgen, ob ihm was passiert ist. Um 20.30 Uhr gehe ich ins Bett, und zwar gerne.

Neulich habe ich eine Kleinanzeige für ein Seegrundstück in Nova Scotia entdeckt. Da könnte ich zu meinen Inuit-Freunden an den Strand laufen und ihnen dabei zuschauen, wie sie einen Pottwal explodieren lassen. Dann hätte ich das, was mich glücklich macht. Ruhe und Natur. 

Rose Jakobs schreibt auf jetzt.de unter dem Usernamen rose.

Kosmoshörer (Folge 24)

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Ich bin in der Redaktion, vermutlich auf der Welt, die inkompetenteste Person für die Rubrik „Kosmoshörer“ und fürs Schreiben über Musik allgemein. Für frzzzl mache ich eine Ausnahme. Aber ich will keine Klagen in den Kommentaren lesen, dass hier dieses Mal keine super geheimen Band-Tipps und mehr Insidermäßiges auftauchen und stattdessen so was wie Nostalgie. Ich habe euch gewarnt!

Montag:


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Heute schreiben wir in der jetzt-Redaktion nicht 2014, sondern 1990. Mit Videos, Fotos, GIFs und auch akustisch erinnern wir an das Jahr, in dem Deutschland das letzte Mal Fußball-Weltmeister wurde. In mir sagt ja keine Pore, keine Zelle so was wie: „Früher war alles besser“. Aber popkulturell waren die Neunziger schon der Wahnsinn. Mein Favorit vom Montag, ganz ohne Zweifel:

http://vimeo.com/71281510

Der gute Jakob schickt mir noch diesen Link:

http://www.youtube.com/watch?v=QYHxGBH6o4M

Dieser Song war die Inspiration für „U Can't Touch This“ von MC Hammer. Wusste ich nicht. Ich höre den Rest des Tages abwechselnd diese beiden Songs und muss am Schreibtisch dazu rumzappeln.  


Dienstag:

Erst heute realisiere ich, dass ich Kosmoshören darf. Die gute Charlotte schickt mir den Link zum Soundtrack von „The Fault In Our Stars“ („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“). Der macht mich schon so traurig, dass ich mich wohl nicht traue, mir den Film anzusehen...

http://www.youtube.com/watch?v=pHggCvrzrDs&list=PLE06g_4uEsTx-9XeUSercwz3U0CyChy7A  


Mittwoch:
Ich habe Tagesdienst und darf mich, wenn auch leider nur virtuell, sehr viel mit Seifenblasen beschäftigen. Abends gehe ich zu einem Vortrag mit Diskussion über Edward Snowden und die NSA. Zum Musikhören komme ich den ganzen Tag nicht, lese aber in der U-Bahn nach Hause in einem Magazin von Angus & Julia Stone, einem australischen Geschwisterduo, das so etwas wie Folk-Blues macht. Davon klingt jedes Wort (Australisch! Geschwisterduo! Folk! Blues!) so gut, dass ich vor dem Schlafengehen noch schnell danach google. Gute Idee!

http://www.youtube.com/watch?v=eefVgc_qhxg


Donnerstag:

Morgens Freibad, danach Home Office. Ich fühle mich ja immer etwas einsam, so allein in der Wohnung. Erneut rettet mich Charlotte, dieses Mal mit:

http://vimeo.com/75302493

Das Musikvideo erschien vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi und kritisiert die Verfolgung Homosexueller in Russland. Finde ich sehr gut. Und auch ohne Hintergrund ist der Song klasse. Und weil es gestern keine Musik gab, heute noch ein zweites Lied, auch von Hozier:

http://www.youtube.com/watch?v=VMx-Pua_HPc#t=26  


Freitag:
Wieder Freibad, wieder Home Office. Danach fahre ich nach Hause, also ganz nach Hause, nach Niederbayern. Im Auto läuft das Album von Lorde:

Lorde – Pure Heroine

Das kann ich immer hören, vor allem im Auto und vor allem, weil mich da niemand beim Mitsingen hört.  


Samstag:

Ich würde mich nie – NIE! – über die Hitze beschweren. Ich will sie auskosten. Mehr ist heute auch nicht drin. Mir geht es wie unserem Hund Heika: Ich bin kurz vor dem Hitzschlag, aber glücklich:



Super Hund

Darum: Badesee! Zum schönsten überhaupt, weil leise und mitten im Wald.



Super See, super (und unbekannter) Mann

Mit dabei: mein Italienischbuch aus der Uni. Es geht bald nach Rom und ich will meine Italienisch-Skills vorher noch ein bisschen auffrischen. Als ich die Vokabel „pomeriggio“ lese, muss ich an dieses Lied denken. Deshalb mit Lyrics, beim Mitsingen lernt man ja auch:

http://www.youtube.com/watch?v=48_d2OiCVUU   

Nach einer Einladung zum Salat-auf-der-Terrasse-Essen und ziemlich schnell getrunkenem Weißwein läuft auf dem Nachhauseweg im Autoradio (ich bin Beifahrerin!) „I Should Be So Lucky“. Ich bin zu beschwipst um mich zu beschweren.  


Sonntag:
Tag vier, den ich zumindest teilweise im Wasser verbringe und mich erst vom Badesee vertreiben lasse, als das Donnern immer lauter wird. Auf dem Rückweg werde ich zurück in meine Teenager-Zeit gebeamt:

http://www.youtube.com/watch?v=FC3y9llDXuM

Wieder zu Hause muss ich den Song gleich noch mal hören. Das tröstet ein wenig über die 17 Mückenstiche hinweg, die ich an meinem Körper zähle. Ich werde dieses Lied bestimmt bis Mitte der kommenden Woche noch singen und summen, ihr wisst schon, die Stelle, wo er mit hoher Stimme singt:

I've got two tickets to Iron Maiden Baby
Come with me Friday, don't say maybe
I'm just a teenage dirtbag baby like you"
Ooohoo Hoo Hooooooo

Aber das ist okay.


Auf der nächsten Seite findest du den ausgefüllten Musikfragebogen von kathrin-hollmer.


[seitenumbruch]

Gute Musik – was ist das für dich? 
Oh, da muss man was Philosophisches schreiben, gell? Sie darf mich nicht wütend machen (siehe Frage 5). Nein, sie muss was mit mir machen. Die Melodie muss mich mitreißen, aufwecken, runterbringen, die Texte trösten, nachdenklich oder glücklich machen. Wenn sie irgendwas davon schafft, muss es wohl gute Musik sein.

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale?
 
Ich höre in der Tat sehr selten Musik, zumindest im Vergleich zu den Kollegen um mich herum. Wenn dann meistens im Radio und/oder auf dem Computer (zum Beispiel Puls), auch auf YouTube, selten mit Spotify. Mobil, also auf dem Smartphone oder Tablet gar nicht, auch mein iPod liegt schon sehr lange unberührt in irgendeiner Schublade.

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen?
 
Unterwegs nur im Auto, da eigentlich immer, im Zug, in der U-Bahn oder sonst wie unterwegs praktisch nie. In der Arbeit höre ich nur Musik, wenn es mir im Büro zu laut ist. Und das auch immer seltener, weil sich meine Kopfhörer auflösen und ich immer mit pinkfarbenen Flusen im und am Ohr herumlaufe (und immer nicht daran denke, meine eigenen mitzubringen):



Keine super Kopfhörer

Zu Hause am Schreibtisch ist es mir manchmal zu leise, da höre ich aber fast nie Musik, sondern lasse eher im Hintergrund Serien laufen. Klingt furchtbar, funktioniert aber ganz gut.

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst? 
Seit meinem ersten Mal "Lorde" habe ich beschlossen, dass ich alles von ihr hören will. Bis jetzt habe ich das nicht bereut, ihr erstes Album ist sehr toll. Woodkid finde ich gut, und Of Monsters And Men, Bon Iver und Band Of Horses. Und bestimmt noch mehr, das mir jetzt aber nicht einfällt.

Welche Musik magst du gar nicht und warum? 
Schlager. In jeder Form. Wenn jemand nur „Atemlos“ sagt, hat er sämtliche, falls vorhandene, Sympathiepunkte verloren. (Ich erinnere gern an diesen Bildervergleich.) Und Volksmusik-Blasmusik-Ähnliches kann ich auch nur schwer ertragen, das liegt auch an der Lautstärke, in der das für gewöhnlich aufgeführt wird. Sonst bin ich aber sehr tolerant.

Was war deine erste eigene Platte – und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
 
Meine erste CD war eine Single, ja so was hat man damals gekauft, und zwar „Barbie Girl“ von Aqua. Sehr schlimm. 1997 war das. Mein erstes Album war zwar unwesentlich besser, aber besser: „Hooray for Boobies“ von der Bloodhound Gang. 1999 war das. Ich wünschte mir das Album unglücklicherweise von meinem Papa zu Weihnachten. Ich schämte mich an diesem Weihnachten sehr. Der Grund ist das Cover. Und ich war halt zwölf.
Seitdem gings irgendwie in Richtung Indie, manchmal Pop und immer wieder in die Neunziger. Abgesehen von den Neunzigern in Deutschland.

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt?
 
Sehr selten und schon lange nicht mehr. Ich fühle mich unter vielen Menschen sehr unwohl. Sehr gern denke ich aber an das beste Geburtstagsgeschenk, das ich zum 18. und überhaupt bekam: Karten für Robbie Williams in München. Der war 2006 drei Tage hintereinander hier. Das war schon sehr toll.

Wie entdeckst du neue Musik und was ist deine neueste Entdeckung?
 
Oft im Büro, da sitzen fast ausschließlich Musik-Checker, vor allem Jakob Biazza und Jan Stremmel. Ansonsten oft, wenn ich darüber lese, oder sie in Serien höre, wie in der ziemlich unterschätzten Serie „Chuck“. Zum Beispiel das hier:

http://www.youtube.com/watch?v=A2DluY5xnPo

oder das hier:

http://www.youtube.com/watch?v=e2J-0EtsCpo

oder das hier:

http://www.youtube.com/watch?v=J8fVX41-Njg

Und auf der Straße: http://www.youtube.com/watch?v=3JMQcpEFQbk

Verrate uns einen guten Song zum...  

Aufwachen:

Da darf es nicht zu wild sein. Ich bin morgens grundsätzlich grantig. Das hilft ein bisschen:

http://www.youtube.com/watch?v=dUghkqG8UGY

Tanzen:
Ich kann doch nicht tanzen!

Traurig sein: 
http://www.youtube.com/watch?v=bqywY8Wgvk8    

Nur ein sehr besonderer Mensch weiß, warum.

Und das hier:

http://www.youtube.com/watch?v=3uSdQxKaBfU

Sport treiben:
http://www.youtube.com/watch?v=6MAQxOBiD6A

Als nächsten Kosmoshörer wünsche ich mir:

Digital_Data, jbo007 oder octopussy, weil die immer so nett im Tagesblog kommentieren. frzzzl war ja schon.

Alle Kosmoshörer findet ihr wie immer gesammelt hier:

Kosmoshörer

Möchtest du auch Kosmoshörer werden und deine Musik-Gewohnheiten dokumentieren? Dann schreib eine jetzt-Botschaft an teresa-fries oder eine Mail an teresa.fries@sueddeutsche.de

Über Nacht... im Künstlercamp

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Vorsichtig tapsen wir um kurz nach 22 Uhr über die Schwelle von Tor Nummer 5. Es ist eine der wenigen Industriehallen, in denen jetzt noch Licht brennt. Ein Beamer wirft Wörter an die Wand und auf die gelbe Jacke einer Frau. Mit einem Bleistift malt sie die Umrisse von Buchstaben in die poröse Mauer. Später wird sie uns erzählen, dass sie Safak heißt. Safak ist Künstlerin und wohnt hier. „Wollt ihr mitmachen?“ fragt sie und drückt uns zwei Stifte in die Hand.



Nachts hat man die Muße und Ruhe, Romane an die Wand zu malen.

Zwei Stunden zuvor sind wir angekommen im Künstlercamp der Ostrale in Dresden. Juliane, eine Leserin, hat uns hierher geschickt. Das Gelände ist eine Mischung aus Industriegebiet, heranwachsendem Urwald, Baustelle, Campingplatz und Museum. Die Ostrale ist eine alternative Messe für moderne Kunst. 200 Künstler aus 34 Ländern stellen von Juli bis Ende September auf dem ehemaligen Schlachthofgelände ihre Werke aus. Die meisten sind jung und haben sich noch nicht in der Kunstszene etabliert. Einige von ihnen leben hier. Heute Nacht schauen wir ihnen dabei zu. Wir kriegen Handtücher und Bettwäsche mit Blumen und Sternen drauf und ein Zelt.

Wir sind hier, weil wir ab sofort jede Woche an einem außergewöhnlichen Ort übernachten, den unsere Leser, also ihr bestimmt. Wir sind neugierig auf die Nacht und auf die Menschen, mit denen wir sie verbringen. Weil wir glauben, dass wir nachts die Menschen treffen, denen wir tagsüber nicht begegnen würden. Weil die Nacht ihre eigene Geschichten hat und weil der Schlaf einer der intimsten Momente des Menschen ist. Eine Künstlerkommune auf einem Industriegelände? Schlafen die hier nachts überhaupt? Was ist das Besondere an diesem Ort, was passiert dort nachts?

Das Camp, das lernen wir schnell, ist wie ein Abenteuerspielplatz, auf dem dich jeder zum Mitspielen einlädt. Safak drückt uns den Bleistift in die Hand, der nächste, den wir treffen, ein italienischer Künstler, einen Teller mit Grillfleisch und Paprika mit extra viel Knoblauch. An der Feuerstelle schnappen wir auch das aktuelle Camp-Gerücht auf: Angeblich hat dem Camp-Hund die Video-Installation von ein paar Dresdner Kunststudenten so gut gefallen, dass er das Kunstwerk mithilfe eines Kackhaufens zu seinem Revier erklärt hat.

Während die meisten Bewohner draußen zusammen sitzen und wirken wie eine große internationale Familie, arbeitet Safak weiter an ihrer Installation. Sie verbindet in ihrem Kunstwerk Zitate aus zwei Büchern („Schlachthof 5“ und „Siddhartha“) miteinander. Sie könnte die Texte auch einfach auf Klebefolie ausdrucken, statt die ganze Nacht hier mit einem Bleistift an der Wand zu stehen. Aber sie malt lieber selbst. Weil es länger dauert und sie das gut findet. Weil es sich dann anfühlt, wie ein richtiger Arbeitsprozess. Auch dass sie arbeitet, während die anderen zusammen sitzen, macht ihr nichts aus. „Die Nacht ist wunderschön. Da bin ich alleine und habe meine Ruhe.“ Safak hat immer ein Notizbuch bei sich, es gibt darin zwei Kategorien: Tag und Nacht. Darin notiert sie, was passiert – im Leben und im Schlaf.

Melanie von der „Mission O 14“ (einem Ausstellungsprojekt zum Thema Kunst und Raumfahrt) schläft mit ihrem Kollegen in einem bunten Wohnwagen, in der Nähe des Grills. Sie mag das Kommunenartige an der „Ostrale", auch wenn so ein enges Zusammenleben und Arbeiten natürlich auch mal anstrengend ist. “Man muss viel Energie reinstecken, aber man bekommt auch viel Energie wieder raus.“

Auch die anderen Schlafstätten sind nicht weit entfernt vom Grill: Drei Zelte, ein paar Ateliers und natürlich die winzigen roten Holzhütten, direkt am Lagerfeuerplatz. Diese Schlafplätze sind begehrt, Safak hat Glück gehabt, dass sie eine der 4-Quadratmeter-Hütten gekriegt hat, obwohl da wirklich nur das Allernötigste zum Leben reinpasst: Ein Bett, ein Nachttisch, ein Koffer, aus dem sie einen Monat lang lebt. Ein bisschen wie in Hesses Siddharta, findet sie.



Vier Quadratmeter Hütte müssen reichen.

Der Schlaf wird für uns im Camp zur Nebensache. Zu viel los hier. Auf dem Weg ins Zelt  machen wir noch einen Umweg über einen der großen Ausstellungsräume. Als wir an Bildern mit Hängebrüsten und einem Gemälde von Charles und Camilla vorbeilaufen, fühlen wir uns ein bisschen wie bei „Nachts im Museum“. Dann werden wir verscheucht, der letzte fleißiger Handwerker will jetzt, um kurz nach Mitternacht, auch mal ins Bett.

Diese Nacht liegen wir in unserem Zelt mitten in der Einflugschneise von Flugzeugen und Mücken. Den Sonnenaufgang verpennen wir natürlich, aber der Baulärm sorgt dafür, dass wir nicht zu lange schlafen. Tagsüber hämmert, bohrt und sägt es hier auf dem Gelände. Jetzt werden die groben, die lauten Arbeiten für die Ausstellungseröffnung gemacht, die Nacht hingegen, das wird jetzt klar, ist die Zeit für das Feinsinnige. Nachts, wenn die Handwerker weg sind, können die Künstler machen, was sie wollen. In Ruhe feiern oder ohne Druck Buchstaben kritzeln.

Der einzige richtige Raum zum Duschen ist chronisch überfüllt, wir können uns aber reinmogeln. Auf dem Rückweg treffen wir Safak. In der Hand hält sie eine Tüte Knäckebrot und einen Kaffee. Ihr Frühstück. Sie erzählt uns, dass sie noch bis 4 Uhr nachts Buchstaben auf die Wand gezeichnet hat.

Wo und was sollen die Crowdspondent-Reporterinnen in den nächsten Wochen recherchieren? An welchen ungewöhnlichen Orten könnten und sollten sie dabei übernachten? Schickt sie schlafen! Hier in den Kommentaren oder per jetzt-Botschaft, oder per Facebook, Twitter oder crowdspondent.de

Mit Karte, bitte

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Es gibt da eine Szene, die man in sehr vielen Filmen sieht. Sie zeigt: einen schicken Menschen an der Kasse von Barneys, Tiffanys oder beim Kauf des ersten eigenen Autos, meist ein Range Rover. Mit stolzem Lächeln zückt er eine schwarze American Express, die im Filmlicht noch mehr funkelt als seine gebleichten Zähne. Wir ahnungslosen Deutschen wissen durch diese Szene, dass metallene Kreditkarten eine größere Bedeutung haben müssen. Wenn jemand seine Black Card zückt, dann bezahlt er damit nicht einfach nur – sondern präsentiert seinen Lifestyle. Oder so.    



Mit Kreditkarten kann man hierzulande niemanden beeindrucken. Nicht einmal, wenn sie golden sind.

Am besten bezahlt man als Amerikaner also ausschließlich mit diesem schwarzen Metall. Sogar die zwei Bier und den Cocktail in der Kneipe um die Ecke. Weil sich die meisten allerdings keine American Express leisten können, verkauft ein Start-up einen Abklatsch für nicht ganz so reiche Leute aus New York, die halt auch angeben wollen. Die Karte namens „Magnises“ sieht ähnlich aus und ist für Menschen mit kleinem Konto und großem Ego. Für 250 Dollar im Jahr will sie den Besitzern - so wie die „echte“ American Express - Vergünstigungen und Zutritt zu schicken Discos und Restaurants bieten. Viel mehr als einen Abend im Club des Unternehmens bringt die Karte jedoch bisher nicht. 

Außerhalb von Amerika können vermutlich die Wenigsten das Gehabe um Farbe und Material einer Kreditkarte verstehen. Wir kramen sie eigentlich nur fürs Onlineshopping aus dem Geldbeutel. Bezahlt jemand ein Helles oder die Restaurant-Rechnung mit seiner Kreditkarte, dann stempelt man ihn direkt als prollig ab.  

Ich muss in mich hinein kichern, wenn ich mir vorstelle, wie ich mein hässliches Plastik-Teil dem Lifestyle wegen zücke. Aber ich erinnere mich: Damals als frischgebackene Besitzerin einer Visa-Karte gab ich viel Geld aus, weil mich die Leichtigkeit des Online-Shoppings begeisterte. Mich faszinierte, dass man nur eine Nummer und ein Verfallsdatum eintippen muss, damit man einen Pappkarton voller schöner Dinge vor die Wohnungstür im vierten Stock gestellt bekommt.  

Wie ist das mit dir und deiner Kreditkarte? Habt ihr schon mal etwas Spannendes zusammen erlebt? Den Lifestyle so wie die Amerikaner mit dem Abklatsch der American Express gefühlt? Oder lässt du sie meistens im Kärtchenfach des Geldbeutels versauern? 

Bafög-Höchstsatz soll auf 735 Euro steigen

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Die große Koalition will das Bafög deutlich erhöhen und ausweiten. Nach Jahren ohne Anpassung der Fördersätze sollen Schüler und Studenten vom Wintersemester 2016/17 an sieben Prozent mehr Geld erhalten, zudem soll der Wohnzuschlag auf 250 Euro im Monat steigen. Studierende, die nicht mehr bei den Eltern wohnen, können demnach mit fast zehn Prozent mehr Geld rechnen, die maximale Förderung steigt von derzeit 670 Euro im Monat auf 735. Diese Pläne stellten am Montag Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und die Vize-Fraktionschefs Michael Kretschmer (CDU) und Hubertus Heil (SPD) vor. Wanka sprach von „spürbaren Verbesserungen“, das Bafög werde an „die Lebens- und Ausbildungswirklichkeit“ der Studenten angepasst.



Dürfen sich künftig über mehr Geld freuen: Für Studenten wird der Bafög-Satz angehoben

Damit bezog sich Wanka vor allem auf den Kreis der Bafög-Berechtigten, der größer werden soll, sowie einige Sonderregelungen. So sollen die Freibeträge für die Förderung – also, was die Eltern höchstens verdienen dürfen – ebenfalls um sieben Prozent wachsen. Damit dürften künftig mindestens 110000 zusätzliche Schüler und Studenten von der Hilfe profitieren. Derzeit erhalten etwa 630000 Lernende die Förderung. Je Kind soll es 130 Euro im Monat geben, bisher unterscheiden die Behörden zwischen dem ersten Kind (113 Euro) und weiteren Kindern (80 Euro). In der Zeit zwischen Bachelor-Prüfung und Master-Studium soll länger Geld fließen, um Studenten in der Übergangszeit Engpässe zu ersparen. Solche Förderlücken waren seit Jahren kritisiert worden.

Zuletzt hatten Bund und Länder das Bafög 2008 um zehn Prozent und 2010 um zwei Prozent erhöht und den Kreis der Berechtigten erweitert. Dann fror die schwarz-gelbe Koalition die Sätze ein, spätere Anläufe scheiterten auch am Widerstand von Bundesländern, die sich nicht in der Lage sahen, mehr Geld für Bafög auszugeben. Bislang tragen die Länder 35 Prozent der Kosten, allerdings haben Union und SPD im Mai vereinbart, dass der Bund die Kosten voll übernehmen soll. Dies verknüpft Wanka jedoch mit einer Reform des Grundgesetzes, die dem Bund wieder eine Förderung von Hochschulen und einzelnen Uni-Instituten erlauben soll; die geplante Bafög-Erhöhung hängt also auch davon ab, ob sich Bund und Länder auf diese Grundgesetzreform verständigen.

Für die SPD machte Fraktionsvize Heil deutlich, dass sie hinter den Bafög-Plänen steht. Auch das Deutsche Studentenwerk, das regelmäßig die soziale Lage der Studenten untersucht, begrüßte die Pläne. Die Erhöhung des Wohnzuschlags reiche aber nicht aus, eine „unzureichende Förderung im sozialen Wohnungs- und Wohnheimbau“ auszugleichen. Die Bildungsgewerkschaft GEW teilte mit: „Es gibt keinen Grund, mit der Erhöhung bis 2016 zu warten.“ Ähnliche Kritik kam von der Opposition. Der grüne Hochschulexperte im Bundestag, Kai Gehring, sagte, es sei weder generationen- noch bildungsgerecht, dass milliardenschwere Rentenpakete eilig geschnürt wurden und die Studierenden weitere fünf Semester warten müssten.


Tagesblog - 22. Juli 2014

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12:39 Uhr: Blattkritik war super und der Blattkritiker (seines Zeichens der Sohn von MsAufziehvogels ehemaliger Leichtathletiktrainerin, s. Kommentare) hat sehr gute Dinge gesagt.

Übrigens, gute Nachrichten für die Studenten unter euch: Das Bafög soll erhöht werden! Allerdings erst zum Wintersemester 2016, also studiert noch ein bisschen. Oder halt Nebenjob, ihr wisst ja.

Und ich bin jetzt kurz davor, mein Magenknurren aufzuzeichnen und hier hochzuladen, damit alle hören wie krass es ist! Bis gleich, nach dem Essen!

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11:59 Uhr:
Nebenjobs, gutes Thema! Ich war zum Beispiel mal im Callcenter, habe mal Fließbänder zusammengebaut, war mal Statistin in einer Spionage-Stadtführung (inklusive geheimer Tütenübergabe in der U-Bahn) und mal Programmprotokolleur bei Phoenix (dem Fernsehsender). Und ihr so?

Für alle, die noch auf der Suche nach einem luktrativen Nebenjob sind, hat Erik Brandt-Hoege im "Lexikon des guten Lebens" die wichtigsten Tipps zusammengefasst.




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10:51 Uhr:
Die jetzt.de-Konferenz ist nun auch vorbei und ich habe leider kaum Zeit, weil gleich nämlich der super sueddeutsche.de-Kollege Gökalp Babayigit zur Blattkritik kommt und uns kritisiert und hoffentlich auch ein bisschen lobt. Nicht, dass wir nachher alle so gucken wie das Gesicht, das jemand an unser hochprofessionelles Whiteboard gemalt hat:


Heul!
Ich werde berichten.

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09:50 Uhr:
Was heute wichtig ist (eine subjektive Tagesblog-Auswahl):

- Russische Seperatisten haben einer malaysischen Delegation den Flugschreiber von Flug MH17 übergeben. Man hofft, durch die Auswertung mehr über das Unglück herausfinden zu können.

- Die israelische Botschaft und deutsche Politiker reagieren auf die antisemitische Hetze in deutschen Städten.

- Der Start von Netflix in Deutschland rückt näher.

- Texas schickt Nationalgardisten an die amerikanisch-mexikanische Grenze, über die in den vergangenen Monaten 60.000 unbegleitete Kinder aus Mittelamerika geflohen sind.

- Beate Zschäpe muss ihre Anwälte, denen sie vergangene Woche das Vertrauen entzogen hatte, behalten.

- Und dann noch, für zwischendurch: Endlich eine Erklärung, warum viele Serien mit Staffel 3 ihren Höhepunkt überschreiten (“Everyone’s favorite seasons of shows are seasons two and three, because you’ve had a year to get to know them, and then you’re still in the honeymoon period where you go, ‘This is great!’”).

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09:17 Uhr:
Guten Morgen liebes jetzt.de! Die sueddeutsche.de-Konferenz hat lange gedauert heute. Kein Wunder, wenn so viel los ist in der Welt und man diskutieren muss, wie man damit umgeht. Aber gleich geht es hier endlich los, versprochen.

Bis dahin zum Zeitvertreib ein Foto, das ich euch aus meinem Ostseeurlaub und dem dortigen Streichelzoo mitgebracht habe:


Gnihi!
Bis gleich!

Lieferanten des Terrors

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Der internationale Flughafen Imam Khomeini ist Irans Tor zur Welt. Etwa 30 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Teheran gelegen, starten und landen hier – allen Sanktionen und aller internationalen Isolation zum Trotz – etliche ausländische Maschinen, zudem Fracht- und Passagierjets der staatlichen Iran Air, der privaten Mahan Air und anderer einheimischer Fluggesellschaften. Allerdings haben nach Informationen westlicher Geheimdienste die Revolutionsgarden den zivilen Flughafen inzwischen auch zu einem Drehkreuz für Waffenlieferungen ausgebaut – an das Regime von Baschar al-Assad in Syrien, die schiitische Hisbollah-Miliz in Libanon und weitere militante Gruppen im Nahen Osten und der arabischen Welt.



Bekommen die Kämpfer im Syrien-Konflikt ihre Waffen über den den Flughafen in Theran?

Seit einigen Monaten sollen die Quds-Brigaden, Eliteeinheit der Islamischen Republik für Operationen im Ausland, demnach für diese Zwecke einen ganzen Hangar im Frachtbereich im Osten des Flughafengeländes übernommen haben. Wer von der Stadt aus mit dem Taxi zum Khomeini-Airport kommt, kann einen Blick erhaschen auf die Rückseite der unscheinbaren, weiß gestrichenen Leichtbauhallen mit ihren roten Dächern. Ein quaderförmiger Hangar, bis vor etwa zwei Jahren noch von Iran Air betrieben, soll nun den Garden als Logistikzentrum und Waffenlager dienen, wie ein westlicher Diplomat der Süddeutschen Zeitung sagte, der Zugang zu den Geheimdienstinformationen hat.

Kurzstrecken-Raketen des Typs Fateh-110 mit mehr als 200 Kilometern Reichweite sollen dort gelagert worden sein, ebenso Fajr-5-Artillerie-Raketen, wie sie schon die Hisbollah wie auch die Gruppe Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen und möglicherweise auch die Hamas eingesetzt haben. Auch Antischiffsraketen des Typs C-802 Noor, Flug- und Panzerabwehrgeschosse, Mörsergranaten sowie Kleinwaffen und Munition sollen hier umgeschlagen worden sein. Verladen wird dieses Arsenal moderner Waffen für den Krieg in Syrien, für militante Gruppen in Libanon und in Gaza nicht nur auf Militärtransporter, sondern auch an Bord von zivilen Fracht- und sogar Passagiermaschinen. Die USA haben deswegen sowohl die staatliche Iran Air als auch die größte private Fluggesellschaft des Landes, Mahan Air, schon im Jahr 2011 mit Sanktionen belegt.

Aufgeflogen war das geheime Logistik-Zentrum durch einen Vorfall Mitte Mai dieses Jahres: Offenbar beim Hantieren mit Mörsergranaten kam es zu einer Explosion, zwei Revolutionsgardisten sollen Verletzungen davongetragen haben, einer von ihnen schwere. Die Explosion richtete keine großen Schäden an dem Gebäude an, möglicherweise war nur eine Zündladung hochgegangen. Aber sie verstärkte zweifelsohne noch das Interesse der Geheimdienste – sie mussten ohnehin davon ausgehen, dass der Imam-Khomeini-Airport für den Waffenschmuggel genutzt wurde, der gegen UN-Sanktionen verstößt, aber auch gegen die Konvention und Richtlinien der Internationalen Organisation für zivile Luftfahrt (ICAO), zu deren Signatarstaaten Iran zählt.

US-Behörden haben davon berichtet, dass Revolutionsgardisten Crew-Mitglieder und Personal von Iran Air und anderen iranischen Fluggesellschaften davon abgehalten haben sollen, die Ladung von Flugzeugen eingehend zu inspizieren – damit Sprengstoffe, Waffen und andere gefährliche Rüstungsgüter ungestört an Bord ziviler Maschinen transportiert werden konnten. Mehrmals schon sind iranische Flugzeuge in Einklang mit UN-Resolutionen von Drittstaaten zur Landung gezwungen worden – regelmäßig kamen bei den Durchsuchungen verbotene Rüstungsgüter, Waffen und Munition zum Vorschein.

Durch die Nutzung des Hangars wollen die Quds-Brigaden offenbar das Risiko verringern, dass Lieferungen nach Damaskus, Beirut oder in die sudanesische Hauptstadt Khartum entdeckt und unterbunden werden – in einem Fall hat die israelische Luftwaffe dem Vernehmen nach im Mai 2013 eine Lieferung von Fateh-110-Raketen noch auf dem Gelände des Flughafens von Damaskus durch einen Luftangriff unschädlich gemacht. Auch dort sollen die Quds-Brigaden inzwischen einen eigenen Bereich zugewiesen bekommen haben, über den die Lieferungen abgewickelt werden. Im Sudan haben die Israelis mindestens einen Konvoi bombardiert, der angeblich Waffen auf dem Landweg über Ägypten in den Gazastreifen bringen sollte, als in Kairo noch der islamistische Präsident Mohammed Mursi herrschte und die Muslimbruderschaft ihren Ableger in Gaza, die Hamas, nach Kräften unterstützte.

Das in den USA für Sanktionsverstöße zuständige Finanzministerium teilte auf Anfrage lediglich mit, man beobachte die Situation. Konkrete Angaben, ob die Geheimdiensterkenntnisse zu neuen Maßnahmen führen werden, könne man nicht machen. Für die Vorwürfe interessieren dürfte sich auch das Experten-Komitee des UN-Sicherheitsrates, das über die Einhaltung der Resolutionen wacht, die Iran Waffenexporte verbieten und Verstöße in regelmäßigen Berichten dokumentiert.

Die Presseabteilung der iranischen Botschaft in Berlin bestritt auf eine Anfrage der SZ hin in einer schriftlichen Stellungnahme alle Vorwürfe. Die „Behauptung, die Islamische Republik Iran habe vom Flughafen Imam Khomeini aus Waffen an Syrien geliefert, ist völlig haltlos und basiert ausschließlich auf unwahren Vermutungen“, teilte die Botschaft mit. Eine solche Lieferung sei „unmöglich“, da zwischen Iran und Syrien entweder der Irak oder die Türkei überflogen werden müssten und deren Luftraum von amerikanischem Radar erfasst werde.

Allerdings hatten die USA mehrmals auf höchster Ebene bei der Regierung in Bagdad interveniert, weil diese nach Auffassung Washingtons iranische Maschinen mit Waffen an Bord trotz eindeutiger Hinweise durch ihren Luftraum nach Syrien passieren ließ. Mindestens in einem Fall weigerte sich ein iranisches Flugzeug der Anweisung irakischer Behörden zur Landung Folge zu leisten – offenbar, um eine Inspektion der Ladung mit Ziel Syrien zu vermeiden.

Zudem, so heißt es in dem Schreiben der Botschaft weiter, verstoße eine solche Lieferung „gegen internationale Gesetze und Gepflogenheiten“. Angesicht der „Fortschritte bei den Atomgesprächen“ in Wien und „der Niederlage der Terrorgruppen in Syrien“ – Irans Bezeichnung für die gegen Assad kämpfenden bewaffneten Rebellengruppen – hätten „einige Länder und Gruppen, die etwas gegen diese Gespräche haben“ oder über die Niederlage der Rebellen verärgert seien, „vorfabrizierte Szenarien ausgedacht“.

Offenbarte Unmenschlichkeit

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Nach dem Entsetzen über den Abschuss von Flug MH17, über 298 Tote und nicht zuletzt über die Zustände an der Absturzstelle und den Umgang mit den Leichen, versucht die internationale Diplomatie nun, ihre Sprache wiederzufinden. Das gilt vor allem für die Außenminister der Europäischen Union, die am Dienstag zu einer planmäßigen Sitzung zusammenkommen und es mit einer Situation im Ukraine-Konflikt zu tun haben, die selbst schlimmste Vorahnungen übertrifft.



Ein eisiges Verhältnis: Die Beziehungen der EU zu Russland sind nach dem Abschuss von Flug MH17 angespannt

Dabei hatte man sich beim Thema Ukraine eigentlich auf so etwas wie Routine eingestellt. Bei ihrem Gipfel hatten die Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Woche ja den Weg bereitet für eine Verschärfung der Sanktionen. Die Außenminister hätten sich also eigentlich nur damit beschäftigen müssen, wie die neuen Möglichkeiten umzusetzen sind. Nun aber sind Antworten auf die neue Lage gefragt: Wie nun mit Moskau reden? Wie darauf reagieren, dass die Separatisten vor Ort die Ermittlungen behindern? Darauf, dass sie offenbar eigene Spuren und womöglich auch die russischer Helfer zu verwischen trachten? Am Montag zeichnete sich ab, dass auch jene mit Einreiseverboten und Kontensperrungen belegt werden könnten, die verantwortlich zu machen sind für das skandalöse Gebaren an der Absturzstelle.

Dafür dürften sich vor allem die Niederlande einsetzen, die 193 Todesopfer zu beklagen haben. Außenminister Frans Timmermans reiste – nach einem Besuch in der Ukraine – nach New York, um sich beim UN-Sicherheitsrat für eine deutliche Resolution einzusetzen. Am Montag beriet der Sicherheitsrat über einen von Australien vorgelegten Entwurf. Darin wurde der Abschuss nicht nur aufs Schärfste verurteilt, sondern auch „ernste Sorge“ darüber ausgedrückt, „dass bewaffnete Gruppen in der Ukraine den sofortigen sicheren und ungehinderten Zugang zur Unglücksstelle und seiner Umgebung erschwert haben“. Verlangt wurde, dass an der Unglücksstelle jedwede Zerstörung oder Manipulation von Beweismaterial unterlassen wird. An der Unglücksstelle und in ihrer Umgebung müssten sofort die Waffen schweigen und eine „vollständige, gründliche und unabhängige internationale Untersuchung im Einklang mit den Richtlinien des internationalen Flugverkehrs“ ermöglicht werden.

Für die Linie der EU ist nun nicht unerheblich sein, wie Russland sich im UN-Sicherheitsrat verhalten hat: Am Montagabend stimmte Russland mit den anderen 15 Mitgliedern für eine Resolution, die eine unabhängige Untersuchung des mutmaßlichen Abschusses fordert. Das Papier verurteilt den mutmaßlichen Abschuss des Flugzeugs und spricht den Angehörigen der Opfer Beileid aus. Es verlangt nach einer „umfassenden, tiefgreifenden und unabhängigen Untersuchung“ des Absturzes und fordert für die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO eine „zentrale Rolle“. Zudem verlangt es den ungehinderten Zugang für die Experten zur Unglücksstelle.

Die Opfer und die vor den Augen der Weltöffentlichkeit offenbarte Unmenschlichkeit der Separatisten an der Unglücksstelle könnte nun in Brüssel die Balance in der Sanktionsdebatte verändern. Bisher hatten Länder wie Deutschland, aber eben auch die Niederlande, zwischen Sanktionsskeptikern aus dem Süden und Hardlinern aus dem Osten vermittelt. Äußerungen von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier lassen erkennen, wie unerträglich er die russische Haltung mittlerweile findet. „Die Täter und ihre Hintermänner dürfen nicht davonkommen“, hatte er gesagt – wohl wissend, dass diese Hintermänner auch in Russland sitzen könnten.

Die Stimmung ist gekippt, der britische Premierministers David Cameron sagt: „Wenn Präsident Putin seine Haltung zur Ukraine nicht ändert, dann müssen Europa und der Westen ihre Haltung zu Russland grundsätzlich überdenken.“ Nach Gesprächen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande hieß es, die EU müsse „ihren Ansatz gegenüber Russland überdenken“ und die Außenminister müssten bei ihrem Treffen am Dienstag bereit sein, „ weitere Sanktionen zu beschließen“.
Stufe drei also, wie echte Wirtschaftssanktionen genannt werden?

Erst einmal dürften sich die Außenminister an das halten, was die Staats- und Regierungschefs zuletzt beschlossen hatten – nämlich über die Einreiseverbote und Kontensperrungen für etwa 70 Personen in Richtung hinauszugehen und auch Regierungsstellen und Unternehmen zu treffen, „die materiell oder finanziell Maßnahmen unterstützen, die die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit und die Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen“.

Man könne darüber streiten, ob das „noch das Ende von Stufe zwei oder Anfang von Stufe drei“ sei, hatte Merkel gesagt. Auch nach dem Abschuss von MH17 aber gilt: Wer auf der Sanktionsliste landet, muss Verantwortung tragen, andernfalls könnte er vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg klagen. Allerdings gibt es Grund zur Annahme, dass der Souveränität der Ukraine schadet, wer international eindringlich geforderte Untersuchungen behindert.

Wo, bitte, geht es zum Masterplan?

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Viele unserer im Zentrum herausgeputzten Städte haben irgendwo in einer Flussschlaufe oder hinter einem Pappelvorhang Altersfalten. Dort staut sich Industrieschrott, Szenenkunst, Alternativwirtschaft. Die Frage lautet deswegen nun vielerorts: Soll das Areal bereinigt, durchorganisiert und gefördert werden, oder soll es im kreativen Chaos allein weiterwuseln? Die Stadtentwicklungsmodelle gehen da auseinander.



Die Notre Dame Kirche: Nur eine von vielen Sehnswürdigkeiten in Bordeaux.

Frankreich, dessen Regionalmetropolen im Zeichen der Dezentralisierung seit dreißig Jahren nun langsam doch aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, bietet ein paar aufschlussreiche Beispiele. Bordeaux etwa, das mit seiner gesamten Innenstadt seit 2007 Weltkulturerbe ist und damit neben Sankt Petersburg das ausgedehnteste Objekt auf der Unesco-Liste darstellt. Seit gut zehn Jahren fiebert die Metropole an der Garonne danach, den Stadtraum um das Bijou der Weinhändlerpaläste herum mit einem vielfältigen Entwicklungsprogramm würdig zu erneuern. Die Stadt Lyon liefert ein anderes Beispiel, auch sie ist in der Altstadt rechtsufrig der Saône ein Unesco-Weltkulturerbe, ging aber deutlich früher ins Rennen der urbanen Erneuerung und ist mit ihrem 1969 gegründeten Agglomerationsverbund Grand Lyon heute in Entwicklungsgebieten wie Lyon-Confluence schon weit voran.

„Wir stehen heute auf halber Strecke des Programms“, sagt Benoît Bardet, Leiter des Maison de la Confluence, in dem die 2003 angelaufene Umgestaltung des 150 Hektar umfassenden ehemaligen Hafenviertels von Lyon am Zusammenfluss zwischen Rhone und Saône dokumentiert wird. Das Programm auf dem Dockareal mit Bauten von international so renommierten Architekten wie Christian de Portzamparc oder Massimiliano Fuksas ist weitgehend abgeschlossen. Auch das vom japanischen Architekten Kengo Kuma im Auftrag von Toshiba und dem französischen Baukonzern Bouygues dort entworfene Pilotprojekt aus Büros und Wohnungen, das mehr Energie produzieren als verbrauchen soll, ist im Rohbau fertig.

Gleichwohl hat sich das Gesamtkonzept seit den Anfängen verändert. Das vor elf Jahren auf dem Gebiet begonnene Wechselspiel aus Solitären und kompakten Quartieren einheitlicher Bauhöhe wird von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron in ihrem Masterplan für die zweite Bauphase im südöstlichen Teil der Halbinsel nicht mehr aufgegriffen. Die restaurierten niedrigen Bauten des ehemaligen Großmarkts werden dort auch neben zwei Hochhäusern stehen. Am Südzipfel der Halbinsel Confluence plustert bereits das Musée des Confluences seine Blechschuppen auf. Das Museum von Coop Himmelb(l)au soll Ende dieses Jahres eingeweiht werden. Am Nordrand der Halbinsel längs des alten Hauptbahnhofs Lyon-Perrache, der das Gebiet von der Innenstadt abschneidet, baut der ortsansässige Architekt Thierry Roche zwei Gefängnisse aus dem 19. Jahrhundert zu einem Komplex aus Universität, Studenten- und Alterswohnheimen um. Interessant ist daran, wie die beiden unterschiedlichen Gefängnisstrukturen miteinander verbunden werden. Strebte der ältere Gefängnisteil mit seiner klosterartigen Anlage utopisch nach Bekehrung der Häftlinge, setzte der andere mit seinem strahlenförmig panoptischen Flügelbau ausschließlich auf Überwachung. Der Architekt lockert den Überwachungstrakt mit großen Glasfassaden auf und durchbricht die Klausen im anderen Teil mit Durchgängen und Stegen.

Die größte Schwierigkeit des neuen Stadtviertels für einmal 16000 Einwohner und 25000 Arbeitsplätze, das sich gern mit Großprojekten wie der Hamburger Hafencity vergleicht, ist indessen die Autobahn am Ostufer. Auf ihr donnern täglich hunderttausend Fahrzeuge vorbei. Ziel ist es nun, durch eine Westumfahrung der Stadt – ein Projekt von zwei Milliarden Euro – diese Achse in einen Boulevard zu verwandeln und so das Areal endgültig in die Innenstadt zurückzuholen.

Doch die Confluence-Halbinsel ist nur eines der vier Entwicklungsgebiete von Grand Lyon. Ein anderes ist das Viertel um den TGV-Durchgangsbahnhof Lyon-Part-Dieu. Diese auf eine durchgehende Betonfläche gestelzte Überbauung aus den 60er- und 70er-Jahren mit Verkehrsschneisen, Riesenparkplätzen und einem Großeinkaufszentrum steht beispielhaft für ein Stadtmodell, das hoffnungslos überholt scheint. Trotzdem haben sich die Pariser Architekten François Decoster, Djamel Klouche und Caroline Poulin für eine Konservierung der Bausubstanz entschieden. Das in monotonem Grau-Braun verwitterte Nebeneinander von Büroklötzen und Freiflächen soll durchgrünt und mit Konzepten wie „fußgängerfreundliche Böden“ oder „aktive Bausockel“ attraktiv gemacht werden. 650000 Quadratmeter neue Bürofläche sollen zu dem schon bestehenden Angebot von einer Million hinzukommen.

Braucht Lyon so viel Büroraum? Der Sprecher der Mission Lyon Part-Dieu beteuert, das Angebot der Metropole, die sich in einer Liga mit Barcelona, Mailand oder Frankfurt am Main sieht, sei weitgehend ausgelastet. Jedenfalls will das Part-Dieu-Viertel mit einem Bouquet von Hochhäusern der Stadt eine neue Skyline verpassen, legt zugleich aber Wert drauf, dank der Mischnutzung mit 2000 neuen Wohnungen und einem ansehnlichen Kulturangebot nicht einfach ein Abklatsch des Pariser Geschäftssatelliten La Défense zu werden. Zwei Millionen Einwohner umfasst der Ballungsraum Lyon, und der aus 58 Gemeinden bestehende Verbund Grand Lyon ist politisch wie wirtschaftlich und kulturell aktiv. Auch der in Frankreich gerade angekündigten großen Verwaltungsreform, die den nach der Französischen Revolution entstandenen Départements bis 2020 den Garaus machen will, ist Grand Lyon schon voraus. Bereits im kommenden Jahr wird Grand Lyon alle Kompetenzen des Départements Rhône übernehmen und den Stadtumbau selber steuern.

So weit ist man in Bordeaux nicht. Der Erneuerungsschub begann dort vor knapp zwanzig Jahren unter dem Bürgermeister Alain Juppé und beschleunigt sich seither zum Wettlauf der Projekte. Es galt zunächst, das geschlossene Stadtbild aus dem 18. Jahrhundert an der Garonne zum Fluss hin zu öffnen. Die rußgeschwärzte Stadtfassade wurde gereinigt und präsentiert sich heute längs des Quai in ihrer ganzen Pracht. Das ehemalige Hafen- und Industrieviertel auf dem gegenüberliegenden Flussufer, bis vor Kurzem noch ein Niemandsland, soll dem klassischen Stadtbild würdig Antwort geben. Mit dem Masterplan wurde das holländische Büro MVRDV von Winy Maas beauftragt. Ein paar neue Gebäude von unterschiedlicher Qualität stehen schon. Erschließung durch zeitgenössische Bauten und Pflege der alten folge in Bordeaux derselben Logik, betont die Stadtkulturdirektorin Brigitte Proucelle. So hat die Stadt ein Gremium geschaffen, das jedes Neubauprojekt in Hinsicht auf das Unesco-Erbe prüft. Die vor einem Jahr eingeweihte 70 Meter hohe Hebebrücke „Jacques Chaban-Delmas“ zwei Kilometer flussabwärts wurde in ihrem Design denn auch mehrmals retouchiert, bevor es zum Bau kam. Diese ständige Abgleichung zwischen Alt und Neu erspart der Stadt Konfliktsituationen wie jene, in die Dresden sich unlängst mit seiner neuen Waldschlösschenbrücke hineinmanövrierte.

Dass Bordeaux’ Ansatz weder Abstriche bei der architektonischen Qualität noch bei der urbanen Nutzbarkeit bedeutet, zeigt ein Gang durch die Stadt. Das am Nordrand der Stadt entstehende neue Fußballstadion vom Büro Herzog & de Meuron ist mit seinem rechtwinkligen Grundriss und seinen 644 weißen Stahlpfeilern eine kühne Übertragung der Ovalformen von Peking und München ins klassizistische Raster. Etwas weniger überzeugend mag der Erweiterungsbau des Stadtarchivs aussehen, den das holländische Architektenpaar Robbrecht und Daem in eine seitlich aufgeschlitzte ehemalige Lagerhalle des Industrieufers La Bastide einbaut. Interessant ist hingegen, was weiter nördlich passiert. Unmittelbar anschließend an die Massensiedlung Les Aubiers aus den frühen 70er-Jahren entsteht dort das neue Öko-Viertel „Ginko“ mit einem kleinteiligen und stilistisch vielfältigen Wohnbauprogramm. Im Unterschied zu Lyon und Paris hat Bordeaux seine Großsiedlungen vom Reißbrett nicht in die entlegene Vorstadt gebaut. Das Ensemble „Le Grand Parc“ liegt sogar sehr zentral und mutiert, vom Büro Lacaton & Vassal renoviert, gerade munter zum Vorzeigeobjekt ohne besondere soziale Probleme. Harte Kontraste und scharfe Bruchkanten liegen der Bürgerstadt Bordeaux nicht, die mit ihrer Lebensqualität seit einigen Jahren von überall her junge Leute aus den Kreativbereichen anzieht. Zwischen Pflastersteinambiente und smartem Betondesign macht sich ein neuer Lebensstil breit, der auch das Zeremoniell um die großen Châteaus in den „Wine Bars“ vorteilhaft mit leichteren Tropfen auflockert.

Am sympathischsten ist Bordeaux aber dort, wo es in seinem Entwicklungsprogramm Freiräume für Parallelinitiativen lässt. Im populären Wohnquartier um die spätgotische Kirche Saint-Michel, ein Wahrzeichen der Stadt, läuft seit drei Jahren ein umfassendes Stadtsanierungsprogramm. Statt die zunächst argwöhnische Bevölkerung bloß mit der üblichen Bürgerbefragung zu beruhigen, lässt die Regierung dort die Kunstaktivisten von der Gruppe Chahuts frei gewähren, die mit Happenings, improvisierten Textlesungen und Fotoinstallationen zusammen mit der Bevölkerung die Bauarbeiten kritisch begleitet. Chahuts verstehe sich jedoch nicht einfach als Missionar der kulturellen Bürgerbeteiligung, warnt die Gründerin Caroline Melon: Eher als verordnete Kulturdemokratie bräuchten die Stadtbürger heute Ansporn zur Selbstermächtigung.

Das genau passiert auf dem anderen Ufer der Garonne. Auf der Brache einer ehemaligen Militärkaserne ist dort die Vereinigung Darwin am Werk. Sie betreibt unter dem wohlwollenden Blick der Stadtregierung das, was sie „transgression positive“ nennt. Ausgehend von einer rechtmäßig erworbenen Grundstückparzelle breitet sie sich am Rand der Legalität mit einem ökologisch orientierten, aber wirtschaftlich knallharten Unternehmermodell auf dem Gebiet aus und hat schon 100 Kleinunternehmen in ihr Co-Working-Konzept eingebunden. Darwin habe erkannt, dass nicht die Größten und nicht die Intelligentesten, sondern die Anpassungsfähigsten sich im Existenzkampf durchsetzen, erklärt der Entwicklungsleiter Sylvain Barfety von „Darwin-Exosystème“. Für sein Surfen in der Halblegalität ist das Projekt im vergangenen Jahr mit dem vom französischen Architektenverband vergebenen Preis „Projets citoyens“ ausgezeichnet worden.

Lyon und Bordeaux zeigen also: Stadtumbau, einst großräumig am Reißbrett betrieben, läuft heute auf dem Terrain den Masterplänen davon, noch bevor deren Tinte ganz trocken ist. Wie feste Raster sich in flexible Muster auflösen können, das ist derzeit am Beispiel der Denkmalstadt Bordeaux besser als anderswo zu sehen – und auch zu lernen.

Unter Freunden

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Vor Jahrhunderten war die Versicherung eine einfache Sache. Mit den Feuergilden entstanden kleine Kollektive, bei denen jedes Mitglied Geld oder Sachleistungen einbrachte. Kam es zu einem Brand, wurde dem betroffenen Mitglied damit geholfen. Heute tummeln sich Versicherer mit versicherungsmathematischen Modellen auf dem Markt, von denen einem ganz schwindelig wird.



Schäden werden aus dem Töpfen der Freunde gezahlt, wenn sie nicht allzu groß sind.

Tim Kunde will das ändern. Er ist Geschäftsführer der Alecto GmbH, die seit vier Jahren mit der Marke Friendsurance als Versicherungsmakler aktiv ist. Die Grundidee: Kunden bilden mit ihren Freunden Gruppen, die Teile ihrer Prämie in einen Topf einzahlen. Daraus werden Selbstbehalte bei Schäden bezahlt. Gibt es keine Schäden, erhalten sie Geld zurück.

Die Idee des Berliner Start-ups hat gerade zwei neue Investoren überzeugt: die Beteiligungsfirmen Vantage Fund und Horizons Ventures. Horizons gehört dem Investor Li Ka-Shing aus Hongkong. Er gilt als einer der reichsten Menschen Asiens und hat bereits in eine Reihe von Internetunternehmen investiert, darunter Facebook, Spotify und Skype.

Auch wenn die Idee von Friendsurance auf den ersten Blick leicht verständlich klingt, steckt dahinter ein komplexes System. Dabei nutzt der Makler Policen mit einer hohen Selbstbeteiligung, die entsprechend billig sind. Dafür muss der Kunde bei einem Schaden eben einen großen Teil selbst tragen. Das Besondere: Im Schadensfall zahlt nicht der Versicherte allein den Selbstbehalt, sondern eine ganze Gruppe. Beispiel: Ein Kunde schließt über Friendsurance eine Versicherung mit einer Prämie von 100 Euro ab. 60 Euro fließen an den Hauptversicherer für die Police mit hohem Selbstbehalt, 40 Euro an Friendsurance. Der Makler leitet einen Teil der 40 Euro an einen Spezialversicherer weiter.

Die Versicherten können sich in Gruppen bis zu 13 Personen zusammenfinden. Friendsurance unterstützt die Suche nach Gruppenmitgliedern. Jeder Interessent schließt zuerst den Versicherungsvertrag ab. Dann kann er über die Community auf der Internetseite des Maklers seine Gruppe bilden. Entweder lädt man Freunde ein, die noch keine Kunden bei Friendsurance sind. Schließen sie ebenfalls eine Versicherung über das Unternehmen ab, dürfen sie mit in die Gruppe. Oder Friendsurance erkennt automatisch, dass eine Gruppe noch nicht voll ist. Dann erhält man Vorschläge von Kunden, die ebenfalls noch Lücken in ihrer Gruppe haben. Der Versicherte bekommt ihre Namen und Fotos angezeigt. Dann kann sich jeder Kunde entscheiden, ob er sie in seine Gruppe einladen will. Die 40 Euro jedes Mitglieds fließen in einen Gruppentopf.

Bei einem Schaden zahlt ganz normal der Hauptversicherer – aber der einzelne Kunde hat ja einen besonders günstigen Vertrag mit einem sehr hohen Selbstbehalt abgeschlossen. Dieser Selbstbehalt wird mit dem Geld aus dem Topf gedeckt. Meldet niemand einen Schaden, bekommen alle einen Teil des Geldes zurück. So weit alles wie bei einer Feuergilde. Es kann allerdings auch zu Schäden kommen, bei denen der Selbstbehalt so hoch ist, dass er nicht mit dem Geld aus dem Topf beglichen werden kann. Dann springt der Spezialversicherer ein.

Bereits vor zehn Jahren hatte Gründer Tim Kunde mit Sebastian Herfurth die Idee für das Unternehmen. „Viele Kunden brauchen ihre Versicherung kaum, müssen aber für Verwaltung, Schäden und Betrug Dritter zahlen“, sagt Kunde. Mit Friendsurance soll das anders sein.

Verbraucherschützer raten dennoch zur Vorsicht. „Versicherungen müssen bedarfsgerecht sein“, sagt ein Sprecher des Bundes der Versicherten. „Wenn man sich zu sehr darauf konzentriert, durch das Freunde-System Geld zu sparen, kann man am Ende mit einem falschen Vertrag heraus kommen.“ Besser sei es, sich einen guten Vertrag zu suchen, der den Bedarf trifft.

Lena Kamprolf, Redakteurin bei Finanztest, weist auf das eingeschränkte Angebot hin. „Die Tarife sind nicht unbedingt die günstigsten“, hat Kamprolf festgestellt. Friendsurance habe nur mit einer kleinen Anzahl von Versicherern Kooperationen – bei anderen könnten die Policen günstiger sein.

Trotzdem: Die Netzwerkidee zieht gerade bei jungen Kunden. Sie bilden die Mehrheit bei Friendsurance. Nur bei den Versicherern habe es Überzeugungsarbeit gebraucht, sagt Tim Kunde. Aber auch sie haben mittlerweile verstanden, dass soziale Netzwerke nicht nur bleiben werden, sondern auch profitabel sein können.
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