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Empathie-Bärchen vs. Schland-Hyänen

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Stehen hinter derselben Mannschaft, hassen sich aber trotzdem:
Empathie-Bärchen und Schland-Hyänen. 

Die Situation: 


Als Deutschland das vierte Tor innerhalb von sechs Minuten schießt, haben viele Brasilianer im Stadion längst das Weinen angefangen. Die Fußball-Laien vor den deutschen Fernsehern und Leinwänden finden den Spielverlauf echt krass, weil er das ja auch ist. Anders als richtige Kenner sehen sie die Meisterschaft nicht allein als einen sportlichen Wettkampf mit Teilnehmern, Regeln, Verlierern und Gewinnern. Nein, Fußball ist für sie etwas Persönliches. Einige hat schon das 3:0 emotional mit der Kraft eines Müller-Schusses getroffen und: tiefes, ehrliches Mitgefühl für die andere Mannschaft ausgelöst. Das sind die Empathie-Bärchen. Am liebsten würden sie die Brasilianer einmal ganz fest knuddeln und ihnen mit der Tatze über die verschwitzen Köpfe streichen. „Oooch, die Armen. Wir sind doch nur zu Gast“, brummeln sie immer wieder. Dabei gucken sie ganz traurig aus ihren großen Knopfaugen, schließlich sollen sich alle lieb haben. Bei den Schland-Hyänen ist das ganz anders: Für de Aasfresser sind die Brasilianer eine leichte Beute. Wenn bereits alles vorbei ist, machen sie sich besonders genüsslich mit ihrem artentypisch schrillen Lachen über die Mannschaft her. Bis zum nächsten Spiel werden sie Witze reißen, das Video vom zerschmetternden Bierkrug posten und unter dem Hashtag #DingeDieBrasilianerNichtSagen Sprüche sammeln. Zum Beispiel: „Knapper Sieg gestern.“

Dort treffen sie aufeinander


Beim Public-Viewing, am nächsten Tag im Büro oder in den Kommentaren von sozialen Netzwerken teilen sich Empathie-Bärchen und Schland-Hyänen kurzzeitig den Lebensraum. Zum Beispiel bei einem 7:1 für Deutschland im Halbfinale gegen Brasilien. Aber auch bei anderen erfolgreichen Spielen der Welt- und Europameisterschaften kriechen beide Arten aus ihren Höhlen und Bauten.  

Darum hassen sie sich


Empathie-Bärchen und Schland-Hyänen sind natürliche Feinde, weil sie sich gegenseitig den Sieg versauen. Klar, beide freuen sich über die geniale Torbilanz der deutschen Mannschaft, aber eben auf artentypische Weise. Die Empathie-Bärchen finden schon gut, dass es die Nationalelf ins Finale geschafft hat und die Jungs um den süßen Hummels darüber so glücklich sind. Größer als die Freude ist aber das Mitleid für „die Anderen“. Schließlich gehört es zur Eigenheit der harmoniesuchenden Art, sich gut in Menschen, Mannschaften und Fans hineinversetzen zu können. Das hämische Lachen der Schland-Hyänen finden sie so schlimm, dass ihr Blick noch knopfiger und das Mitgefühl immer größer werden. Bis die Begeisterung über den eigenen Sieg irgendwann gänzlich in traurige Empathie umschlägt. Eben dieses Harmoniebedürfnis ist den Schland-Hyänen beim Aasfressen im Weg. „Sollen diese blöden Empathie-Bärchen gefälligst woanders rumheulen, während wir uns über die Beute freuen“, denken sie.  

Das ist die besondere Schönheit des Konflikts: 


An sich ist der Konflikt sehr tragisch, das Schöne daran ist jedoch der Anlass: 7:1 für die deutsche Nationalmannschaft. Finale oho.  

Das können wir von ihnen lernen


Nach dem Finale werden sich die Empathie-Bärchen wieder in ihre Höhle verkriechen und die Schland-Hyänen zurück zu ihrem Bau finden, dort wo sie hingehören. Mindestens zwei Jahre wird das nächste Aufeinandertreffen der beiden Arten dann auf sich warten lassen. Wenn Deutschland dann wieder hoch gewinnt, werden die Empathie-Bärchen erneut die Tatzen ausstrecken und die Schland-Hyänen hämisch lachen. Der Konflikt lehrt uns, dass die Arten niemals miteinander klarkommen werden.


Ein makelloses Geschäft

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Mareike und ihre Kollegin könnten noch in dieser Minute 55.200 Euro Provision kassieren. Drei Unterschriften würden reichen. Aber dummerweise hat der Mann die Wohnung nachgemessen, die er heute kaufen will – und in einem Zimmer fehlt ein Quadratmeter.

Mareike sitzt im Vorzimmer eines Notars in München-Bogenhausen, neben sich eine Papiertüte mit einer Champagnerflasche, an die ein Zollstock gebunden ist, und zwei Blumensträuße. Vor dem Fenster knallt die Junisonne in eine der besten Wohnlagen Deutschlands. Bis zu 12.000 Euro kostet ein Quadratmeter hier, mehr ist es fast nirgends in Deutschland. Ein Quadratmeter hin oder her – das macht hier einen Unterschied im Wert eines Kleinwagens. Mareike blickt nervös zu ihrer Kollegin. Die redet ruhig auf den Käufer ein, ein Augenarzt Mitte 50.

Mareike trägt ihr Haar leicht gewellt, dazu dezentes Make-up, dezentes Seidentop und fliederfarbene Hose. Alle Vertragsparteien stehen vor ihr: der Verkäufer der Wohnung, der Käufer, der Notar. Der Kaufpreis der Wohnung (Altbau, 112 Quadratmeter) steht in der Plastikmappe auf Mareikes Schoß: 920.000 Euro. Sechs Prozent Provision, das sind 55.200 Euro. Ein Teil davon geht an die Maklerfirma, ein Teil an Mareike und ihre Kollegin. Aber jetzt steht alles auf der Kippe wegen eines Quadratmeters.



Diese Wohnung hat Mareike für etwa 1,4 Millionen Euro verkauft. Samt Gussbräter, Sofa und Bettwäsche für 11.000 Euro.

Mareike Schröder ist 25, und wenn sie auf Partys gefragt wird, was sie beruflich macht, sagt sie: "Kaufberaterin". Nur wenn es jemand genauer wissen will, sagt sie "Maklerin". Beides bezeichnet ihren Job, aber mit dem Begriff Maklerin verbinden die Leute Negatives, ähnlich wie mit "Gebrauchtwagenhändler" oder "Gerichtsvollzieher". Auf der Liste der angesehensten Berufe landet der Makler seit Jahren auf einem der letzten Plätze, meist noch hinter dem Politiker und dem Journalisten. In der Umfrage eines Wirtschaftsmagazins klagten kürzlich 98 Prozent der Makler, ihre Mitmenschen begegneten ihnen "mit Vorurteilen". Die Bild meldet in dieser Woche mal wieder: "Zwei von drei Maklern zocken ab!" Und in München schüttelt man über Gerüchte, manche von Mareikes Kollegen kassierten für einen Besichtigungstermin hundert Euro vorweg, nur noch müde den Kopf. Es passt ja ins Bild.

Wie ist das: einen Job zu machen, den die meisten Leute am liebsten abschaffen würden? Mareike kneift die Lippen zusammen. "Ich versteh’ den Unmut schon", sagt sie. "Die Arbeit vor und nach dem Türaufschließen sieht man ja kaum." Die Wohnung des Augenarztes hat sie in zwei Monaten 48 Menschen aufgeschlossen.

Mareike leitet den "Verkauf Wohnimmobilien" bei Engel & Völkers in München. Die Firma ist die größte und bekannteste Franchise-Kette im deutschen Immobilienmarkt, es gibt mehr als 500 Filialen weltweit, zwischen Sylt, Kitzbühel und Beverly Hills. Franchise bedeutet: Das Münchner Büro nutzt Namen, Logo und Kundenkartei und zahlt dafür einen Teil des Umsatzes an die Zentrale in Hamburg. Die Firma will im Maklergeschäft ungefähr das sein, was Jaguar im Autogeschäft ist: eine Marke, die für Luxus steht. Nicht die prollige Sorte, aber auch nicht die ganz dezente. Wohnungen, die Mareikes Büro gerade anbietet, heißen nicht Wohnungen, sondern "Rarität mit direktem Privatzugang zum Eisbach". Oder "Luxuriöser Maisonette-Traum".

Jeder darf als Makler arbeiten. Solange er nicht vorbestraft ist



Mareike und ihre Kollegin treten durch die Bürotür, drei Blocks vom Notariat entfernt, es ist Mittag. Der Augenarzt hat sich beruhigen lassen: Der Grundriss war von 1986, kleinere Messfehler sind da normal und fünf Prozent Abweichung ohnehin vertragsgemäß. Die Wohnung ist verkauft. Das Mädchen am Empfang gibt Mareike ein High-Five. Bis auf einen Mann arbeiten nur Frauen in ihrer Abteilung. "Wohnen ist einfach etwas Emotionales", erklärt sie, "Frauen können das besser verkaufen." Dann schießt eine Kollegin ein Foto von ihr. Jeder Verkauf wird auf Facebook gepostet.

Das Maklergeschäft lief lange nicht so gut wie jetzt. Wer sein Geld heute auf der Bank lagert, bekommt kaum noch Zinsen. Deshalb holen gerade sehr viele Menschen ihr Geld von der Bank und stecken es in Immobilien. Dass sich deren Wert steigert, ist so gut wie sicher, vor allem in Städten wie München. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Quadratmeterpreis mehr als verdoppelt, "und gemessen an Städten wie Paris oder London ist nach oben hin noch einiges an Luft", sagt Mareike.

Sie ist in Göttingen aufgewachsen, die Schwester ihres Stiefvaters ist Maklerin. Eine tolle Frau, denkt Mareike als Mädchen: elegant, selbstbewusst, verdient ihr eigenes Geld. Mareike macht ein Praktikum und verwirft die Idee, nach dem Abi Grundschullehrerin zu werden. Sie findet eine Stelle als Auszubildende bei Engel & Völkers. Sie startet in Starnberg, geht nach Gräfelfing, schließlich nach Bogenhausen, ins älteste Büro in München; als Azubi soll sie verschiedene Märkte kennenlernen. Nebenher macht sie ihr Diplom als Immobilienökonomin. Eigentlich wäre das nicht nötig: Es gibt für ihren Job keine Zugangshürden, jeder darf als Makler arbeiten, solange er nicht vorbestraft ist. Aber Mareike will es anders machen als die "schwarzen Schafe", die schuld am schlimmen Ruf der Branche sind. Sie will so professionell sein wie möglich.

Der miese Ruf komme vor allem von den "schlechten Erfahrungen", die fast jeder irgendwann mit einem Makler macht, sagt Jürgen Michael Schick. Er ist Sprecher des Immobilienverbands Deutschland, er vertritt die Interessen von Maklern. "Wenn Sie 20 Leuten eine Wohnung zeigen", sagt er, "müssen Sie danach 19 von denen absagen. So werden Sie nie der Beliebteste in der Klasse."

Auf dem Stadtplan teilen sie München auf - sie nennen es "filetieren"


Und auf den Beruf dürften härtere Zeiten zukommen. Der SPD-Justizminister Heiko Maas hat im März ein Gesetz entworfen, das das "Bestellerprinzip" einführen soll. Danach muss derjenige den Makler bezahlen, der ihn beauftragt hat – und viele Eigentümer würden sich wohl das Geld sparen und selbst Mieter suchen. Hochrechnungen gehen davon aus, dass die Maklerbranche bis zu 350 Millionen Euro Umsatz pro Jahr verlieren würde. Mareike macht sich noch keine Sorgen, sie hofft, dass der Entwurf kein Gesetz wird.

In ihrem Besprechungsraum hängt ein Stadtplan an der Wand, über den sich ein Netz aus roten Linien ästelt. München, zerlegt in Einzelteile wie ein argentinisches Rind. Mareike und ihre Kollegen nennen es tatsächlich "filetieren", was sie mit der Stadt auf dem Plan machen. Jeder Makler hat ein Stück bekommen. Mareike das Lehel, es war gerade frei. Es ist eines der besseren Filetstücke: viele Altbauten, ruhige Straßen, Fußentfernung zum Englischen Garten.



Viele ihrer Freunde studieren und wohnen in WGs. Mareike hat mehr Geld als sie, verbringt dafür aber jedes zweite Wochenende im Büro.

Alle paar Tage, wenn sie eine Wohnung besichtigt hat oder früher aus dem Büro kommt, geht Mareike in ihrem Gebiet "farmen", noch so ein Ausdruck. Sie läuft dann durch das Viertel und stoppt in Möbelboutiquen, Küchenhäusern oder Werkstätten von Maßschuhmachern. Sie bringt Osterkarten oder Flyer vorbei, verteilt Ausgaben ihres Firmenmagazins. Es heißt "Grund Genug", auf dem aktuellen Cover sitzt ein silberhaariger Millionär auf einer Dachterrasse in Manhattan. Und sie spricht mit den Inhabern der Läden. Es gibt einen Spruch unter Maklern: "Keine Kontakte, keine Kontrakte." Kann ja sein, dass der Schuhmacher einen Kunden hat, der gerade eine Wohnung sucht oder verkaufen will. Dann ist Mareike da.
 
Sie profitiert vom aktuellen Boom, also davon, dass Häuser teurer werden. Auf der Webseite ihres Büros gibt es dazu ein aufschlussreiches Video. Darin sitzt Konstantin Wettig, Mareikes Chef, in weißer Hose beim jährlichen Firmen-Poloturnier auf Mallorca und schwärmt für München. Das Besondere an seinem Maklerbüro sei das Netzwerk an internationalen Käufern, "die bereit sind Preise zu zahlen, die" – er zögert einen kurzen Moment – "der klassische Münchner, momentan zumindest, nicht bezahlen würde." Arabische oder russische Millionäre, die den Pariser oder New Yorker Markt gewohnt sind, lächeln über Münchner Quadratmeterpreise.

Das Mädchen hat die Wohnung möbliert gekauft. Inklusive Bettwäsche für 11.000 Euro


Am Nachmittag sitzt Mareike an einem Marmortisch in einer riesigen Wohnung und hakt mit einem Bleistift eine Liste ab. "Der Gussbräter? Ist da. Der Mendini-Sessel?" – "Welcher Sessel?", unterbricht das Mädchen auf der anderen Seite des Tischs. Sie ist 20 und Tochter eines Großunternehmers, blonde Extensions, Puppen-Make-up, Studentin im dritten Semester. Mareike hat ihr die Wohnung vor einer Woche für 1,43 Millionen Euro verkauft. Heute ist Schlüsselübergabe. "Na, der Sessel im Schlafzimmer", sagt Mareike ruhig und lächelt ihr dezentes Lächeln. Der Sessel von Alessandro Mendini ist ein Design-Klassiker, ein Exemplar davon steht in der Pinakothek der Moderne, aber das sagt sie nicht. "Ach, der bunte!", ruft das Mädchen. Sie hat die Wohnung möbliert gekauft, samt Sessel, Küchenausstattung, zwei Schmucksäulen auf der Terrasse für je 4000 und Seidenbettwäsche für 11.000 Euro. Vor der Tür lädt ihr Freund zwei Rollkoffer aus dem Porsche Panamera.

Der Vorbesitzer, ein Galerist, hatte Mareike beauftragt, einen Käufer zu finden. Sie hat die Wohnung besichtigt und mit ähnlichen Objekten in ihrer Kartei verglichen. Sie hat die Möblierung "eingepreist", eine Powerpoint-Präsentation gebaut und dem Verkäufer den Preis und ihre Marketingstrategie vorgestellt. Sie hat sich Grundriss und Energieausweis besorgt, das Grundbuch und die Protokolle der Eigentümergemeinschaft geprüft, Fotos von der Wohnung machen lassen und ein Exposé geschrieben. Ein bis zwei Wochen Arbeit. Dann schloss eine Kollegin von Mareike der ersten Interessentin die Türe auf. Die sagte sofort: "Nehm ich." Drei Prozent Provision vom Verkäufer, drei Prozent von der Käuferin, 85.800 Euro Umsatz für Mareikes Büro. Ein Glücksfall, wie er selten vorkomme, sagt sie.

Manchmal, wenn sie mit Freunden über Geld spricht, sagen die ihr: Beschwer dich nicht, du verdienst doch genug. "Viele bedenken nicht, was wir von der Provision noch alles zahlen müssen: Steuern, Miete, Auto!" Sie selbst wohnt alleine an der Münchner Freiheit, zahlt 900 Euro kalt und musste dafür selbst einem Makler zwei Kaltmieten abdrücken. Viele ihrer Freunde studierten und wohnten auf weniger Raum, sagt sie, aber sie selbst wollte eben früh arbeiten und Geld verdienen. Dafür verbringt sie jetzt jedes zweite Wochenende im Büro. "Es ist halt eine Entscheidung", sagt sie.

Später am Tag ist es noch immer drückend heiß, Mareike sitzt im schwarzen Dienstcabrio und lässt das Dach zu. Offen fahren ist ihr "zu proletig". Mit Menschen wie der 20-Jährigen, die für 11.000 Euro Bettwäsche ablösen, weil sie keine Lust haben, selbst einzukaufen, hat sie regelmäßig zu tun. "Das sind nun mal Kunden mit anderen Lebenskonzepten." Sie sei eine Dienstleisterin. Mareike fährt eine Weile still im geschlossenen Cabrio, dann sagt sie: "Jeder Mensch hat ja einen anderen Hintergrund, so wie ich ja auch."

Sie ist in einem Einfamilienhaus groß geworden, das ihr Vater gebaut hat. Auf dem Grundstück ihres Großvaters.

Was verzeihst du deinen Eltern nie?

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Der Motor ging an und seine Eltern fuhren tatsächlich ohne ihn los. Der Junge stand dann am vergangen Sonntag mit seinen elf Jahren alleine auf irgendeinem Parkplatz an der B31 zwischen Titisee-Neustadt und Freiburg, wo seine Familie eigentlich gemeinsam den Gottesdienst besuchen wollte. Die Polizei sammelte ihn auf und benachrichtigte den Vater. Trotzdem ließen die Eltern ihren Sohn weitere sieben Stunden warten – angeblich nur, weil er keinen Bock auf Kirche hatte.  



Auch Winzigkeiten können einem dramatisch erscheinen, wenn man sie mit Kinderaugen betrachtet.

Diese Geschichte ist ein großer Aufreger – und wird deswegen nicht nur von den Medien erzählt, sondern auch vom Jugendamt sowie der Freiburger Staatsanwaltschaft untersucht. Es scheint, als wären diese Menschen unverantwortliche Eltern.  

Ich hatte dagegen richtig Glück mit Mama und Papa. Doch obwohl ich ihnen sehr dankbar für alles bin, werde ich diese eine Sache aus dem Mallorca-Urlaub 1996 nicht vergessen: Die beiden haben mir damals verboten, die Flamenco-Show in unserem Hotel anzusehen. Klar, es war schon spät und ich hab ziemlich rumgebockt an dem Abend, weil ich das Buffet doof fand. Außerdem war ich hundemüde. Trotzdem habe ich mich so darauf gefreut, dass die roten Rüschenkleider beim Herumwirbeln durch die Luft fliegen würden. Ich werde meinen lieben Eltern also niemals ganz verzeihen, dass sie mich zu früh in meinen Schlafanzug gesteckt und mir den Klang der mallorquinischen Kastagnetten vorenthalten haben.  

Wer das jetzt albern findet, der sollte wissen: Die Kollegen aus der jetzt-Redaktion schleppen trotz netter Kindheiten ähnliche Tragikmomente mit sich herum. Vergessen wurde fast jeder von ihnen mal, ich übrigens auch. Den kleinen H. haben die Eltern eines Tages sogar vor einem Pub abgestellt, wo er zwei Stunden warten musste. Er war damals sechs und scheinbar nicht so wichtig wie das Bier. Die Kollegin L. ist noch etwas enttäuscht, weil ihre Eltern den bösen Onkel nicht aufgehalten haben. Sie ließen ihn einfach die geliebte Schaukel im Garten ölen und klauten ihr damit das kindheitsprägende Knarzen.  

Wie ist das bei dir? Was verzeihst du deinen Eltern nie? Wo haben sie dich schon mal vergessen oder eiskalt stehen lassen? Was hätten sie dir nicht verbieten sollen? Oder gibt es irgendwelche Winzigkeiten, die dir früher dramatisch erschienen, aus heutiger Sicht aber zum Lachen sind?

Ein Bruder, dem die Worte fehlen

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Uwe Böhnhardt war der Kleine, das Nesthäkchen der Familie Böhnhardt mit ihren drei Jungs. Erst kam Jan, dann Peter, dann als Nachzügler Uwe. Ein Wunschkind, hat seine Mutter gesagt. Und gleichzeitig dasjenige Kind, das seiner Familie am meisten Sorgen bereitet hat. Denn Uwe wurde als Jugendlicher zum überzeugten Neonazi, er ging in den Untergrund und hat – so die Anklage – wohl zehn Morde begangen, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Gemeinsam mit seinem Freund Uwe Mundlos und seiner Freundin Beate Zschäpe gründeten sie die Terrororganisation NSU. So steht es in der Anklage des Generalbundesanwalts.

Eiskalt soll dieser Uwe Böhnhardt gewesen sein, vernarrt in Waffen, aggressiv. Ihren Opfern schossen die NSU-Täter aus nächster Nähe ins Gesicht. Doch seiner Familie hat sich diese Seite von Uwe Böhnhardt nicht gezeigt. Da galt er zwar als Problemkind, aber doch als hilfsbereit und liebevoll. Die Familienbande hielten. Als er schon lange im Untergrund war, fragte er noch nach Fotos seiner kleinen Nichte. Die Tochter seines Bruders liebte er sehr. Das hat seine Mutter vor Gericht erzählt. Wäre alles ganz normal gelaufen, Beate Zschäpe wäre wohl die Schwägerin von Jan Böhnhardt geworden. Es lief nicht normal. Nun sitzt sie hier im Gericht und betrachtet ihren Fast-Schwager.

Jan Böhnhardt, 44, erscheint in weißem T-Shirt und weißen kurzen Hosen vor Gericht, ein großer, kräftiger Mann, Kraftfahrer. Einer, dem im Gegensatz zu seiner eloquenten Mutter, einer Lehrerin, die Worte fehlen, wenn er etwas genauer erklären soll. Und der, glaubt man ihm, einfach nichts wissen wollte von dem, was sein Bruder trieb. Dabei war der häufig bei ihm, so häufig, dass es der Frau von Jan Böhnhardt zu viel wurde. Der Kontakt zum kleinen Bruder wurde intensiver, als der mittlere Bruder gestorben war. Peter hieß der und starb als 17-Jähriger bei einem Unfall. An ihm hatte Uwe sehr gehangen. Er war tief erschüttert, als Peter starb.

Uwe kam dann bei Problemen mit den Eltern oder in der Schule immer zum ältesten Bruder. Und mit dem kleinen Bruder kam auch dessen Freundin Beate Zschäpe auf das Sofa von Jan.

Der Richter fragt: „Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Bruder und Beate Zschäpe?“ – „Gut“, sagt Jan Böhnhardt. „Wie ein Paar halt so mit sich umspringt. Er hat sie nicht geschlagen, sie ihn auch nicht. Ganz normal, wie ein Pärchen halt.“ Jan Böhnhardt hat eine eher schlichte Ausdrucksweise. Auf jeden Fall seien sein Bruder, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos immer zusammen gewesen, immer zu dritt. Sie hätten sich gut verstanden und nie gestritten.

Richter: „Welche Ansichten hatte Ihr Bruder?“ – „Rechte Ansichten“, sagt der Zeuge. „Welche waren das?“, fragt der Richter nach. – „Rechts halt“, sagt der Zeuge. „Sagen Sie uns ein paar Beispiele“, insistiert der Richter. Jan Böhnhardt sagt: „Rechtsradikal so ein bisschen. Er wollte halt irgendwo dazugehören. Auf mich hat er nicht unbedingt immer so einen bösen Eindruck gemacht. Wie weit er in der rechten Szene drin gesteckt hat, wusste ich nicht.“ Er hätte ihn da lieber rausgeholt. Was er dafür getan hat, um denn kleinen Bruder rauszuholen, erfährt man nicht. Dafür aber, wie der Alltag von Uwe Böhnhardt damals aussah. Er hatte die Lehre als Maurer abgebrochen, war aus dem Internat geflogen. Danach schlief er lang und ging mit Beate Zschäpe in die Stadt, rumlaufen, rumlungern, sagt der Bruder als Zeuge. „Eigentlich hat er ja nicht viel gemacht. Er ist im Bett rumgelungert und hat mit der Nichte gespielt“, sagt der Bruder.

Jan Böhnhardt erzählt, er habe gedacht, sein Bruder Uwe und dessen Freundin Beate seien „normale Mitläufer“ gewesen bei den Rechtsradikalen. „Das war damals Kult oder fast Kult.“ Man erfährt nicht wirklich mehr. Vor dem Bruder hatten schon der Vater und die Mutter vor Gericht ausgesagt, die Mutter sogar zwei Tage lang.

„Welches Verhältnis hatte Ihr Bruder zu Waffen?“, fragt der Richter. „Ein gutes“, sagt der Zeuge. „Hatte Ihr Bruder Waffen?“ – „Der hatte schon ein paar Waffen, aber die wurden meistens gleich wieder von der Polizei eingezogen.“ Ein Luftgewehr, eine Armbrust, vielleicht auch ein Messer oder eine Pistole. Der Bruder haben sich über die Waffen gefreut.

Richter: „War Gewalt ein Thema?“ – „Mir war nicht aufgefallen, dass er jemanden verhauen hat oder gewaltbereit war“ , sagt Jan Böhnhardt. Aber er habe gesagt, dass ihm vieles nicht gefällt in Deutschland. „Was?“, fragt der Richter. „Mit Ausländern und anderen Sachen“, antwortet der Zeuge. „Aber dass er jemanden verletzt hat, ist mir nicht bekannt.“

Jan Böhnhardt will nicht sehr nachgefragt haben, als ihm seine Eltern erzählten, dass sie sich mit Uwe und seinen Freunden im Untergrund getroffen haben. Er habe auch nichts dagegen gehabt, dass sie dem Bruder ein Foto seiner Tochter mitbrachten. Und seine Mutter habe ihm 2002 gesagt, er müsse sich damit abfinden, dass er Uwe nicht mehr sehe.

Jan Böhnhardt war der letzte aus den Familien ihrer Freunde, dem sich Beate Zschäpe im Gerichtssaal gegenübersah. Zu einem Treffen mit ihrer eigenen Familie wird es nicht kommen. Eigentlich sollte am Donnerstag Zschäpes Großmutter vor Gericht aussagen. Die alte Dame hat aber ein Attest vorgelegt, wonach sie nicht reisefähig ist. Und das Gericht verzichtet auf eine neue Ladung – denn als Großmutter der Angeklagten hat sie das Recht, die Aussage zu verweigern. Das wird die Oma vermutlich genauso tun wie schon die Mutter von Beate Zschäpe. Eine Reise von Jena nach München nur wegen eines kurzen Neins will ihr der Senat ersparen.

Rebellion gegen das Milliardenhirn

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Eine Mondmission sollte es werden, eine nie da gewesene Möglichkeit für die Menschheit. Das Projekt sollte sich der „größten Herausforderung für die Wissenschaft im 21.Jahrhundert“ stellen, und am Ende womöglich gar Alzheimer heilen. Mit solchen Schwärmereien wetteiferten Hirnforscher im Jahr 2012 um einen von der EU ausgeschriebenen Fördertopf von einer Milliarde Euro. Mit Erfolg: Das Human Brain Project (HBP) wurde einer der beiden Gewinner im Rennen um die sogenannte „Flaggschiff“-Initiative der Europäischen Union.



Die Mondmission finanziert sich aus einem EU-Fördertopf von einer Milliarde Euro.

Innerhalb von zehn Jahren wollen Forscher unter der Führung des charismatischen, in Lausanne forschenden Südafrikaners Henry Markram zunächst ein komplettes Mäuse- und dann sogar ein Menschenhirn im Supercomputer simulieren. 112 Institute aus 24 Ländern sind beteiligt. Das weckte anfangs Misstrauen in Teilen der Fachwelt, und nun regt sich handfester Protest: Mehr als 450 europäische Neurowissenschaftler haben einen offenen Brief an die EU-Kommission unterschrieben. Stündlich kommen derzeit weitere Unterzeichner hinzu. „Das Projekt läuft in die völlig falsche Richtung“, sagt Protest–Initiator Zachary Mainen, Leiter des Champalimaud Neuroscience Programme in Lissabon. Das HBP sei in Wahrheit keine Grundlagenforschung, klagt er. Stattdessen gehe es um Technologieentwicklung. Sollte die EU nicht umschwenken, wollen die Forscher das Großvorhaben boykottieren.

Die Rebellion könnte das Flaggschiff tatsächlich auf Grund laufen lassen. Einige der namhaftesten Neuroforscher Europas zählen zu ihren Unterstützern. Anlass für den Aufstand ist eine im Juni angekündigte Neustrukturierung des Großvorhabens. Kognitive Neuroforschung, also die Frage, wie verschiedene Hirnregionen bei unterschiedlichen Tätigkeiten zusammenarbeiten, soll in Zukunft nicht mehr zum Kern des Projekts gehören. Wer sich im Rahmen des HBP für derartige Grundsatzfragen der Hirnforschung interessiert, muss Teile des Forschungsbudgets aus anderen Quellen einwerben.

Für Kognitionsforscher ist diese Neustrukturierung, die offenbar von der Europäischen Kommission gefordert wurde, ein Schlag ins Gesicht. 18 Labore, die ursprünglich das HBP unterstützt haben, sind betroffen. Sie fliegen in der nächsten Projektphase aus dem Focus – und müssen um ihre Etats bangen. Einige der Laborleiter haben ihre Posten im Brain Project hingeschmissen und den offenen Brief an die Europäische Kommission aufgesetzt. Unterschrieben haben zudem viele Forscher, die nicht im HBP mitwirken.

Die Flaggschiff-Ausschreibung der EU war von Anfang an umstritten. „Das lief nach dem Motto: Gebt uns eure verrücktesten Ideen – und wir geben euch eine Milliarde Euro“, sagt ein deutscher Spitzenforscher, der den Protestbrief unterschrieben hat. Das Human Brain Project mit der Idee, eine Art digitale Kopie des Denkorgans zu bauen, stand von Anfang an in der Kritik. Renommierte Neurowissenschaftler bezweifeln, dass es mit dem heutigen Kenntnisstand gelingen kann.

Das Bernstein-Netzwerk etwa, das die computerbasierte Neurowissenschaft in Deutschland anführt, ist nach anfänglichen Verhandlungen mit dem HBP auf Abstand gegangen. „In unserem Netzwerk sind viele Physiker, die sehr viel Erfahrung mit Modellierungen haben“, sagt Stefan Rotter von der Universität Freiburg. Diese seien zu dem Urteil gekommen, das Vorhaben sei zum Scheitern verurteilt. „Es ist der falsche Zeitpunkt für so ein Projekt“, sagt Rotter. Andere Kritiker fühlen sich schlicht betrogen: „Wir merken nun, dass es beim Human Brain Project um Technologieentwicklung geht, und nicht darum, das Gehirn zu verstehen“, sagt ein Unterzeichner des Briefs.

Auch Zachary Mainen, Initiator des Protests, sagt: „Indem sie die kognitive Neuroforschung rausgeworfen haben, setzen sie ein Signal.“ Stattdessen sollte man sich lieber an der amerikanischen Milliardeninitiative „Brain“ orientieren. Diese wurde von Präsident Obama als Reaktion auf das europäische Flaggschiff gestartet, soll sich aber zunächst damit befassen, mehr Daten über das Gehirn zu sammeln, statt es digital nachzubauen.

Es sei zu früh, Schlussfolgerungen über Gelingen oder Scheitern des Projekts zu ziehen, entgegnet hingegen die Europäische Kommission. Auch bei Funktionären des Human Brain Projects stößt die Kritik auf Unverständnis. Viele Unterzeichner des Protestbriefs würden das Projekt gar nicht im Detail kennen, sagt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich, Bereichsleiterin im HBP. „Letztlich ist das HBP ein Technologieprojekt“, sagt sie. „Und das war von Anfang an klar.“

Tatsächlich kommt das Geld für die Flaggschiff-Projekte aus dem EU-Fördertopf für Informations- und Kommunikations-Technologie. Die EU hat als Ziel die Entwicklung mehrerer neuartiger Technologien vorgegeben. Die meisten haben nur indirekt etwas mit der Simulation des Gehirns zu tun: Eine neuartige Supercomputer-Architektur soll entwickelt werden, neue Computeralgorithmen, ein innovatives Datenbanksystem für Patientenakten, an die Funktionsweise des Gehirns angelehnte Mikrochips sowie Steuerelemente für Roboter.

„Man kann das Human Brain Project mit dem Bau eines neuartigen Mikroskops vergleichen“, sagt Andreas Herz, Leiter der Computational Neuroscience an der LMU München. Herz gehört nicht zum HBP, hat aber auch den Protestbrief nicht unterzeichnet. „Der Bau des Instruments ist das Ziel, nicht die Untersuchung des Gehirns“, sagt er. Um in der Analogie zu bleiben: Solange das Mikroskop zusammengesetzt wird, schaut man zwar immer mal hindurch, um zu prüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist – aber wirklich Neues wird man womöglich nicht beobachten.

Kein Wunder, dass viele Neuroforscher nun frustriert sind. Ihnen – und der Öffentlichkeit – wurde und wird oft suggeriert, es handele sich beim Human Brain Project um das größte neurowissenschaftliche Vorhaben aller Zeiten, ein Apollo-Projekt der Hirnforschung. Dass das mehr PR als Projektbeschreibung ist, dämmert vielen erst jetzt. Das kann man blauäugig finden. Zumal viele Neuroforscher trotz Zweifeln mit dem HBP sympathisiert haben – in der Erwartung, dass dort üppige Forschungsgelder abzuholen wären. Das wiederum dürfte durchaus Strategie der HBP-Leitung gewesen sein. Schließlich braucht das Projekt die Laborforscher, um Simulationen mit echten Daten abzugleichen. „Wir müssen jetzt mit offener Hand auf die Neuroforscher zugehen“, sagt Katrin Amunts.

Vielleicht ist es aber noch zu früh, Kognitionsforschung und Human Brain Project um jeden Preis verknüpfen zu wollen. Die klassische Hirnforschung kann sich nun nur über sogenannte Partnerprojekte in das HBP einklinken – mit Forschungsmitteln aus den einzelnen EU-Mitgliedsländern. Diese stünden sonst für unabhängige Hirnforschung bereit, sagt Andreas Herz. „Wissenschaftler sollten in keine Zwangsehe gezogen werden“, sagt er. Kooperationen würden sich automatisch ergeben, sollten sich die Instrumente des Großprojekts bewähren. Das hält Herz, obwohl er die Rebellion seiner Kollegen nachvollziehen kann, durchaus für möglich. Er sagt: „Das Human Brain Project könnte die Fragmentierung in den Neurowissenschaften überwinden, wird aber mit vollkommen überzogenen Versprechungen vermarktet. “Robert Gast

Hirnschmelze

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Warum Menschen mit blauen Augen das Denken etwas schwerfällt? Ganz einfach: Der Mensch entwickelte sich einst in Afrika, und da ist es oft ziemlich heiß. Dunkle Haut und braune Augen zählten also zu den Standardattributen der ersten Menschen, Melanin schützt den Körper nämlich vor der negativen Wirkung intensiver Sonneneinstrahlung. Blauäugige wiederum haben dieses Pigment irgendwann eingebüßt. Deswegen sind ihre Augen schließlich hell, und deswegen dringt das Sonnenlicht ungehindert in ihr Gehirn ein, wo es Neuronen zerstört. Und voilà, deshalb sind Blauäugige nicht die hellsten Kerzen am Baum. Ihr Hirn ist etwas verschmurgelt.



Melanin schützt Menschen mit dunkler Haut und dunklen Haaren. Blauäugigen fehlt dieses Pigment, deswegen sind sie eher mittel intelligent. Diesen Blödsinn verzapft Jürgen Schlicher im Experiment.

Natürlich ist das unfassbarer Blödsinn. Aber trotzdem gelingt es Jürgen Schilcher, braunäugige Teilnehmer seines Workshops von der Geschichte zu überzeugen. Das klingt unfassbar, wer glaubt bitte so einen Mist? Aber Moment, wie sieht es denn mit der Plausibilität von Vorurteilen aus, die sich an anderen zufälligen Merkmalen eines Menschen festmachen? Der Hautfarbe etwa, der sexuellen Orientierung, dem Geschlecht? Die Begründungen, die dafür durch die Gegend schwirren, sind oft ebenso aberwitzig wie die Geschichte von der Hirnschmelze – und doch schlüpfen diese Geschichten den Menschen ins Denken. Unter anderem das zu verstehen, darum geht es in dem Workshop, den Jürgen Schilcher leitet und Moderator Amiaz Habtu begleitet. Das Experiment ist unter dem TV-Titel Der Rassist in uns zu sehen.

Dinge zu verstehen, ist jedoch nur eine Sache. Die andere ist es, dass sich etwas auch richtig oder falsch anfühlt. Knapp 40 Menschen haben die Produzenten durch dieses experimentartige Setting gequält – im Wortsinne, angenehm wirkt das alles nicht. Jürgen Schilcher teilt die Teilnehmer in zwei Gruppen auf: die Braun- und die Blauäugigen. Den einen gegenüber verhält er sich zuvorkommend, er lobt sie, baut sie auf und hämmert ihnen ein, warum sie besser sind als die anderen. Besser als die Blauäugigen, zu denen der schwarz gekleidete Schilcher schmerzhaft überzeugend fies und herablassend ist. Die Blauäugigen werden erst separiert, tragen als Zeichen ihrer Minderwertigkeit einen blauen Kragen und werden schließlich systematisch gedemütigt. Der Workshop basiert auf einem etablierten Anti-Rassismus-Training, das die US-Grundschullehrerin Jane Elliott 1968 entwickelte – und löst beim Zuschauer arge Beklemmungen aus.

Man fühlt sich als Beobachter in einen Psychokult versetzt. Man erinnert sich an das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment, bei dem eine Gefängnis-Simulation grausam aus dem Ruder lief und staunt, wie sehr Opfer und Täter ihre Rollen annehmen. Das Begreifen setzt ein: So funktioniert Diskriminierung, so wirkt Rassismus. Als Zuschauer dieser beeindruckenden Folter zieht man sich jedoch automatisch auf die Haltung zurück, dass man anders handeln würde. Dass man genauso Opfer oder Täter geworden wäre, ahnt man zwar – das aber wirklich mit allen Konsequenzen begreifen, dazu müsste man sich selbst diesem erhellenden Psychoterror aussetzen.

Der Rassist in uns, ZDF neo, 22.15 Uhr.

Aufräumarbeiten

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Hamburg – Genau ein Jahr liegt die Pleite der Praktiker AG zurück, nun folgt das juristische Nachspiel. Nach SZ-Informationen ermitteln die Staatsanwaltschaften in Saarbrücken und in Hamburg – beides sind ehemalige Firmensitze – offiziell gegen insgesamt fünf einstige Vorstandsmitglieder der Baumarktkette, darunter zwei ehemalige Chefs. „Im Fokus steht der Verdacht der Insolvenzverschleppung“, sagt Staatsanwalt Thomas Reinhardt, Sprecher der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Die Fahnder untersuchen zudem, ob kurz vor der Pleite noch ein Beratervertrag zum Nachteil des Unternehmens und der Gläubiger abgeschlossen worden sei.



Vor einem Jahr schockte die Pleite der Baumarktkette Praktiker und der Tochtergesellschaft Max Bahr 15 000 Beschäftigte und die gesamte Branche.

Im Zentrum der Ermittlungen stehen die früheren Praktiker-Chefs Thomas Fox und Armin Burger. Letzterer widerspricht allen Vorwürfen aufs schärfste, Thomas Fox war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Kommt der Fall vor Gericht, könnte es unangenehm werden: Insolvenzverschleppung kann mit bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafen geahndet werden.

Zuletzt hatten die Chefs bei Deutschlands einst drittgrößter Baumarktkette so häufig gewechselt, dass es schwierig ist, Schuldige zu benennen. Es „könne noch keine Aussage darüber getroffen werden, welcher der Beschuldigten überhaupt für eine unterlassene Insolvenzantragsstellung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte“, sagt Staatsanwalt Reinhardt. Dafür sei entscheidend, wann genau Praktiker zahlungsunfähig war. Über diese heikle Frage soll ein Gutachten Auskunft geben, Ergebnisse erwartet die Staatsanwaltschaft Saarbrücken frühestens im Herbst.

Am 10. Juli 2013 hatte die Praktiker AG einen Insolvenzantrag für das Inlandsgeschäft gestellt. Der börsennotierte Konzern war restlos überschuldet. Kurz darauf riss die Pleite auch die profitable Tochterfirma Max Bahr in den Abgrund. Betroffen waren gut 310 Baumärkte der auf Discount ausgerichteten Praktiker AG und der Marke Max Bahr mit ihrem höherwertigen Sortiment. Betroffen waren auch 14500 Mitarbeiter in den Filialen und in den Zentralen in Hamburg und im saarländischen Kirkel. Das Aus hatte sich lange angebahnt: Praktiker hatte mit einer jahrelangen Rabattstrategie (Slogan: „20 Prozent auf alles“), Missmanagement und exorbitanten Beraterkosten hohe Verluste eingefahren und war trotz Finanzspritzen von Investoren nicht mehr zu sanieren.

Vorher hatten sich etliche Manager an der Rettung versucht. Als Erster musste Vorstandschef Wolfgang Werner im Juli 2011 aufgeben, weil die Billigstrategie nicht aufging. Danach leitete der Sanierungsexperte Fox einige Monate das Unternehmen, dann wurde er rausgeworfen. Als Interimschef rückte Aufsichtsratschef Kay Hafner nach. Auch er wurde geschasst und durch Ex-Aldi-Manager Burger ersetzt. Unter ihm ging die Firma endgültig pleite.

Profitiert haben vor allem Rivalen wie Toom, Obi, Hagebau, Bauhaus, Globus und Hornbach. Sie haben sich die attraktivsten Märkte gegriffen. Knapp 200 der 310 Pleite-Märkte wurden neu vermietet. „Marktbereinigung“ heißt das im Managersprech und was so nüchtern klingen soll, hat viele Tausend Verlierer: die Menschen, die einst in den Märkten gearbeitet und nun keinen Job mehr haben. Auch die Gläubiger haben viel Geld verloren. Noch ist unklar, wie viel. Die Summe der Forderungen werde sich auf einen dreistelligen Millionenbetrag belaufen, sagt Insolvenzverwalter Christopher Seagon.

Der Verkauf der Märkte ist unterschiedlich gut gelaufen: Für das Hamburger Traditionshaus Max Bahr hatte es anfangs nach einer Paketlösung ausgesehen. Zwei Rivalen buhlten um die Firma: Einzelhändler Globus und ein Konsortium aus der Baumarktkette Hellwig und Ex-Max-Bahr-Chef Dirk Möhrle wollten Max Bahr als Ganzes kaufen. Doch das scheiterte jeweils am Widerstand der am Deal beteiligten Royal Bank of Scotland. Stattdessen wurde Max Bahr mit den mehr als 3600 Arbeitsplätzen zerpflückt: Fast alle der knapp einstigen 80 Max-Bahr-Märkte sind verkauft, die Hälfte ging an Baumarktbetreiber. Daneben haben auch Möbelhäuser zugelangt. So wurden gut 2800 Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen, es reichte aber nicht für alle: 800 bis 1000 einstige Max-Bahr-Mitarbeiter seien leer ausgegangen, sagt Ulrich Kruse, Gesamtbetriebsratschef von Max Bahr. „Wir haben aber noch Glück gehabt, dass so viele Märkte in der Baumarktbranche untergekommen sind.“

Weniger gut sieht es für die 230 Filialen von Praktiker aus. Bislang seien 120 Läden verkauft worden, sagt Seagon. Bis zur Sommerpause sollen es 150 Märkte sein. Für Mitarbeiter ist die Lage schlechter. Offiziell sind laut Insolvenzverwalter nur 900 Beschäftigte zu neuen Eigentümern gewechselt – erschreckend wenige: Praktiker beschäftigte früher, ohne Max Bahr, mehr als 10000 Menschen in Deutschland.

Optimistischer schätzt Verdi die Situation ein. Die Gewerkschaft hatte sich für eine Transfergesellschaft starkgemacht. Vollzeitmitarbeiter konnten für maximal sechs Monate dorthin wechseln, um sich bei der Jobsuche und finanziell helfen zu lassen. Von den 14500 einstigen Arbeitnehmern der Gruppe hätten 7800 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte das Angebot angenommen, sagt Marco Steegmann, Gewerkschaftssekretär für Handel bei Verdi. Von ihnen seien 60 Prozent vermittelt worden, das entspricht mehr als 4600 Angestellten. Es gebe aber auch viele, die keine neue Stelle bekommen hätten, betont Steegmann. „Das ist für die Betroffenen immer bitter.“ Das größte Pech aber hatten die Minijobber – sie machten gut ein Drittel der gesamten Belegschaft aus. Sie verloren ihren Job und durften nicht in die Transfergesellschaft.

Tagesblog - 10. Juli 2014

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17:40 Uhr:
Achtung, eine Antenne-Bayern-Anmoderation: Na, schon im Feierabend oder zumindest im Endspurt dahin? Dann hab ich genau das Richtige für Sie: Die neue Folge unseres einmaligen Schreib-Experiments - der jetzt.de-Kettengeschichte. Falls Sie jetzt erst einschalten: Seit 12 Wochen schreiben jetzt-User gemeinsam an einer Geschichte, im Wochentakt darf jemand anders weiterschreiben.





Die aktuelle Folge jedenfalls - hochspannend! Und sie mischt die Karten mal wieder ganz neu, am Schluss wartet ein wahrer Gamechanger.

Viel Spaß damit, und kommen Sie sicher in den Feierabend, liebe Zuhörer.

Vergelts Gott,

Ihr Tagesblog.   

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16:00 Uhr:


Fragen, die man sich nur in wenigen Berufen stellt:


  • "Errigiert" oder "eregiert" oder "erigiert"?

  • Wie komme ich unverklemmt auf das Thema Vaginalverjüngung zu sprechen?

  • Darf ich das Wort "Arschlochfarbe" schreiben?


Alltag eines jetzt.de-Tagesbloggers! Warum? Weil Friederike uns soeben eine Topsexliste zusammengestellt hat - nagelneu und dirty as fuck,äh, always!

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15:30 Uhr:
Nur mal am Rande: Was haltet ihr von diesen Spiegelselfies? Ganz schön fresh oder mega-eitel?

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14:40 Uhr:
Habt ihr den Shitstorm um die junge Cheerleaderin mitbekommen, die neulich Fotos von selbstgeschossenen Nashörnern und Leoparden gepostet hat? Mit Morddrohungen undsoweiter? Gut.

Nun mal angenommen, ihr habt eine Großtante, die das mit dem Internet noch nicht so ganz versteht. Und angenommen, sie fragt euch demnächst, wie das denn so funktioniert mit diesen "sozialen Medien".

Dann zeigt ihr doch einfach dieses Bild zur Erklärung. Sie wird ein kleines Stückchen mehr von dieser Welt verstehen. 
[plugin imagelink link="https://pbs.twimg.com/media/BsLpcjaCUAIbxlK.jpg:large" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/BsLpcjaCUAIbxlK.jpg:large"]
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13:50 Uhr:
Es ist ja Donnerstag, und der geneigte jetzt.de-Heavy-User weiß es längst: Donnerstags häcken wir hier regelmäßig das Leben. Von vorn bis hinten! Diesmal ist der Lifehack der Woche ein bisschen mono-gegendert, für Jungs also eher unbrauchbar, aber trotzdem: ein gar wunderbar einfacher Trick, um Röcke auf dem Fahrrad in den Griff zu bekommen! Jetzt hier abchecken und reinhacken ins Leben!

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13:00 Uhr:

Die jetzt.de-Homestory des Tages

Ich war mit den Kollegen aus der IT essen, und zwar in der sog. Druckerkantine. Mit den IT-Kollegen deshalb, weil die waschechte Badasses sind und sich (im Gegensatz zu uns Redakteurs-Schluffis) regelmäßig da rübertrauen. Die "Druckerkantine" liegt nämlich auf der anderen Seite der Straße in der Druckerei. Und sie ist der krasseste Abenteuer-Brainfuck, den man sich als SZ-Redakteur so geben kann.





Man muss durch den Keller rein. Über eine Stahltreppe. Durch ein mannshohes Eisen-Drehkreuz, Modell Folsom Prison. Dann im Aufzug nach oben, neben Gabelstaplern und Europaletten. Es riecht nach Aceton und alten Sicherheitsschuhen. Hinter einer Glaswand donnert die Aida-große Druckermaschine vor sich hin. Zu essen gibt es Zeug, das man in der gesunden Eizideizi-Redaktionskantine nicht mal zu sehen bekommt: Pommes! Buttertriefendes Schnitzel!! Ketchup!!! Spezi in Paulanerflaschen!!!! (!!!) 

Es ist, nebenbei gesagt, auch die letzte Kantine Mitteleuropas, in der man noch beim Essen rauchen darf. Aber den letzten Stich verpasst einem das hier - der BIERAUTOMAT:






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11:45 Uhr:
Bevor es hier zu Tisch geht, sei euch noch ein famoser Text von der heutigen München-Seite empfohlen: Christina hat beobachtet, dass sich am Alpenrand immer mehr Hass auf die Münchner Stadtmenschen sammelt. Die tauchen zum Beispiel am Tegernsee nämlich vorzugsweise in Hunderterpacks und verkleidet in Angermüller-Trachten auf, um sich dort auf den Waldfesten volllaufen zu lassen.

Klick hier, um zu lesen, warum man am Tegernsee jetzt fordert, die Insassen von Autos mit Münchner Kennzeichen zu zählen und ggf. abzuweisen. 

Und damit bin ich was essen, Mahlzeit!   

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11:00 Uhr:
Leute, wenn ihr bloß einen Blick in die Redaktionsstube werfen könntet! Seit einer Stunde schauen die Girls hier so, als hätten sie 7:1 gegen Eva Mendes verloren.

Ungefähr so:
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Warum?

Weil Ryan Gosling Vater wird!
Und sein Kind steckt derzeit im Bauch von Eva Mendes, heute morgen bestätigt.

Die Buben schauen seither so:
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9:45 Uhr:
Ein kurzer Ausflug in den Nachrichtenkanal! Heute reden die meisten Menschen auf den Straßen über folgendes:

  • Das gähnend langweilige Halbfinalspiel zwischen Argentinien und den Niederlanden.

  • Wolfgang Schäubles Wutrede, in der er den USA "Dummheit" vorwirft. (Zur Erinnerung: Gestern deckten SZ, NDR und WDR auf, dass ein amerikanischer Geheimdienst einen Spion im deutschen Verteidigungsministerium angeworben hat)

  • Den neuen Nahost-Krieg - die israelische Luftwaffe bombardiert weiter den Gazastreifen.


Und die Rot-und-Blaulicht-Geschichte des Morgens: In Kalifornien ist eine 26-jährige Prostituierte verhaftet worden, weil sie einem Google-Manager eine tödliche Dosis Heroin gespritzt haben soll.

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9:05 Uhr:
Guten Morgen, liebes jetzt.de, na, gut geschlafen? Wenn du vom Zähneputzen zurückkommst, plapper dich doch schon mal warm im Ticker: Darin reden wir von Dingen, die wir als Kinder unseren Eltern nie-nie-nie verzeihen wollten.

Bei mir war das, ganz klar: Die Tatsache, dass sie mir mit eiserner Hand verboten, ein Schwänzchen in den Nacken wachsen zu lassen.

Ungefähr so eins:

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Die Schweine.

Hinter der Eisenplatte

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Einen Wecker hat man nicht gebraucht an diesem Morgen in Tel Aviv, in der Früh schon heulen die Sirenen. Ein lang gezogener, Unheil verkündender Ton, der den Krieg gleich zum ersten Gedanken des Tages macht. Vom Schlaf ist die Stadt direkt in den Schock gewankt, und Sara Ruhalter ist ins Kinderzimmer gegangen und hat ihren beiden achtjährigen Zwillingssöhnen Danny und Uri erklärt, dass im ganzen Land gerade mal wieder so eine Übung gemacht und getestet wird, ob die Alarmeinrichtungen noch funktionieren. „Panik hilft mir auch nicht“, sagt sie, „und die Kinder sind sowieso noch nicht alt genug, um zu verstehen, was hier passiert.“



Militanten feuern am Mittwoch Raketen auf Tel Aviv.

Tel Aviv liegt nicht nur am Strand, sondern geografisch auch mitten im nahöstlichen Konfliktchaos. Doch die meist jungen Bewohner pflegen mit einigem Stolz die mentale Abgrenzung vom Rest des Landes. Israels Kriege waren immer schon nicht unbedingt die Kriege der Tel Aviver – bis zum November 2012 zumindest, als der Hamas der Überraschungscoup gelang, ihre zuvor meist in der Negev-Wüste versenkten Raketen bis in die 60 Kilometer entfernte Metropole zu feuern. Mit der Sicherheit und auch mit einigen Selbstgewissheiten war es damals vorbei. Doch nicht unbedingt mit dem Trotz, mit dem hier allen Unbilden des Lebens begegnet wird.

„Ich gehe mit den Kindern raus, ich setzte mich ins Café, ich versuche normal weiterzumachen“, sagt Sara Ruhalter. Für sie ist das auch eine Art des Protests gegen „die Verrückten“, die sie auf beiden Seiten sieht. „Ich hasse es, was die Hamas tut, und ich hasse es, was wir Israelis tun“, sagt sie, „aber ich will nicht, dass meine Kinder mit Hass im Herzen leben.“

Im Land ist das gewiss keine Mehrheitsmeinung, zumal in diesen Tagen der Angst und der Wut und der von der Politik geschürten Aufwallung. Doch so tickt das linke Tel Aviv. Gewiss, auch hier ist die Unsicherheit spürbar. Am Abend sind die Straßen sehr viel ruhiger als sonst, und wenn es keine Fußballübertragungen gäbe, dann wären wohl auch die Kneipen leerer. Doch wer eine Karte ergattert hat, der geht zur „Fledermaus“-Aufführung der Philharmoniker ins Bronfman-Auditorium oder zum Israel Chamber Orchestra ins Museum, wo Orffs „Carmina Burana“ gespielt wird. Ein Krieg ist schlimm, eine Kapitulation im Alltag wäre schlimmer.

Wie lange allerdings der Schein der Normalität aufrechtzuerhalten ist, weiß keiner zu sagen. In Jerusalem haben sie schon die Zuschauer eines Rockkonzerts in Sicherheit bringen müssen nach dem Einschlag einer Rakete in der Stadt. Sogar über Zichron Yakov hoch im Norden ist ein Geschoss explodiert, und die Hamas kann einen Raketen-Rekord vermelden mit einer Flugweite von 125 Kilometern.

Die neue Reichweite gehört zu den „Überraschungen“, die ein Sprecher der Islamisten zu Kriegsbeginn in Gaza angekündigt hatte – ebenso wie der Einsatz von fünf Froschmännern, die in der Nacht zum Mittwoch am Zikim-Strand ein paar Kilometer nördlich des Gazastreifens an Land gegangen waren. Ihr Ziel war offenbar ein Anschlag auf den nahegelegenen Kibbuz oder den dortigen Armeestützpunkt. Nach heftigen Feuergefechten wurden die Angreifer getötet. Die bange Frage aber ist: Was kommt als nächstes?

Im Süden Israels ist ohnehin schon längst kein normales Leben mehr möglich. Die Ferienprogramme für die Kinder wurden ausgesetzt, alle größeren Versammlungen sind abgesagt und die Bewohner müssen darauf achten, sich immer in der Nähe eines Schutzbunkers aufzuhalten. Exakt 15 Sekunden bleiben den Menschen in der grenznahen Stadt Sderot, um sich nach dem Sirenenalarm in Sicherheit zu bringen. Im Radio wird dazu aufgefordert, in ruhigeren Regionen ein Zimmer frei zu räumen für die bedrängten Landsleute aus dem Süden. Eine Welle des Wir-Gefühls schwappt durchs Land, die unbedingte Solidarität gehört zu den israelischen Grundtugenden, aus der die Nation stets Kraft schöpft in Zeiten der Bedrohung.

Chaim Katz hat das schon oft erlebt in seinem 77 Jahre langen Leben. Doch auch heute noch sitzt er an solchen Tagen die meiste Zeit in seinem Tel Aviver Wohnzimmer und verfolgt die Live-Schaltungen der Nachrichten. Oder er schaut auf eine Landkarte und sieht, dass es „fast überall im Land Raketen regnet“.
Beim Sirenenalarm geht er in den kleinen Schutzraum seiner Wohnung. Das Fenster ist hier von einer Eisenplatte verschlossen, jede Tel Aviver Neubauwohnung verfügt über ein solches Bunkerzimmer. „Hier ist man sicher – in gewisser Weise“, sagt er. Wenn die Sirenen verklungen und ein dumpfer Schlag den Einschlag der Rakete signalisiert oder ihren Abschuss durch das Abwehrsystem, dann geht er raus auf den Balkon, um zu schauen, ob etwas passiert ist. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas erlebe“, sagt er, „aber du gewöhnst dich nie daran.“

Wie soll man sich auch daran gewöhnen, dass unzählige Menschen davon bedroht sind, dass ihnen plötzlich der Himmel auf den Kopf fällt. Am zweiten Tag des Krieges ruft Nor Abu Khater aus dem Gazastreifen an. Die SZ hat früher einmal über sie berichtet, nun will sie sagen, dass sie noch am Leben ist, „aber wer weiß, wie lange noch“. Mit drei kleinen Kindern hat sie sich zu ihren Eltern nach Khan Junis geflüchtet im südlichen Gazastreifen. „Wir machen die ganze Nacht kein Auge zu“, sagt sie, „die Kinder rennen herum und schreien.“ Gerade erst sei eine Rakete direkt in der Nachbarschaft eingeschlagen. Sie weiß, dass die Israelis über präzise Waffen verfügen, sie weiß, dass gezielt nur die Häuser von Hamas-Leuten ins Visier genommen werden. „Aber manchmal“, sagt sie, „geht es auch daneben.“

Ein Bruder, dem die Worte fehlen

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Uwe Böhnhardt war der Kleine, das Nesthäkchen der Familie Böhnhardt mit ihren drei Jungs. Erst kam Jan, dann Peter, dann als Nachzügler Uwe. Ein Wunschkind, hat seine Mutter gesagt. Und gleichzeitig dasjenige Kind, das seiner Familie am meisten Sorgen bereitet hat. Denn Uwe wurde als Jugendlicher zum überzeugten Neonazi, er ging in den Untergrund und hat – so die Anklage – wohl zehn Morde begangen, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Gemeinsam mit seinem Freund Uwe Mundlos und seiner Freundin Beate Zschäpe gründeten sie die Terrororganisation NSU. So steht es in der Anklage des Generalbundesanwalts.



Im Prozess gegen Beate Zschäpe sagt auch der Bruder des verstorbenen Uwe Böhnhardts aus.

Eiskalt soll dieser Uwe Böhnhardt gewesen sein, vernarrt in Waffen, aggressiv. Ihren Opfern schossen die NSU-Täter aus nächster Nähe ins Gesicht. Doch seiner Familie hat sich diese Seite von Uwe Böhnhardt nicht gezeigt. Da galt er zwar als Problemkind, aber doch als hilfsbereit und liebevoll. Die Familienbande hielten. Als er schon lange im Untergrund war, fragte er noch nach Fotos seiner kleinen Nichte. Die Tochter seines Bruders liebte er sehr. Das hat seine Mutter vor Gericht erzählt. Wäre alles ganz normal gelaufen, Beate Zschäpe wäre wohl die Schwägerin von Jan Böhnhardt geworden. Es lief nicht normal. Nun sitzt sie hier im Gericht und betrachtet ihren Fast-Schwager.

Jan Böhnhardt, 44, erscheint in weißem T-Shirt und weißen kurzen Hosen vor Gericht, ein großer, kräftiger Mann, Kraftfahrer. Einer, dem im Gegensatz zu seiner eloquenten Mutter, einer Lehrerin, die Worte fehlen, wenn er etwas genauer erklären soll. Und der, glaubt man ihm, einfach nichts wissen wollte von dem, was sein Bruder trieb. Dabei war der häufig bei ihm, so häufig, dass es der Frau von Jan Böhnhardt zu viel wurde. Der Kontakt zum kleinen Bruder wurde intensiver, als der mittlere Bruder gestorben war. Peter hieß der und starb als 17-Jähriger bei einem Unfall. An ihm hatte Uwe sehr gehangen. Er war tief erschüttert, als Peter starb.

Uwe kam dann bei Problemen mit den Eltern oder in der Schule immer zum ältesten Bruder. Und mit dem kleinen Bruder kam auch dessen Freundin Beate Zschäpe auf das Sofa von Jan.

Der Richter fragt: „Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Bruder und Beate Zschäpe?“ – „Gut“, sagt Jan Böhnhardt. „Wie ein Paar halt so mit sich umspringt. Er hat sie nicht geschlagen, sie ihn auch nicht. Ganz normal, wie ein Pärchen halt.“ Jan Böhnhardt hat eine eher schlichte Ausdrucksweise. Auf jeden Fall seien sein Bruder, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos immer zusammen gewesen, immer zu dritt. Sie hätten sich gut verstanden und nie gestritten.

Richter: „Welche Ansichten hatte Ihr Bruder?“ – „Rechte Ansichten“, sagt der Zeuge. „Welche waren das?“, fragt der Richter nach. – „Rechts halt“, sagt der Zeuge. „Sagen Sie uns ein paar Beispiele“, insistiert der Richter. Jan Böhnhardt sagt: „Rechtsradikal so ein bisschen. Er wollte halt irgendwo dazugehören. Auf mich hat er nicht unbedingt immer so einen bösen Eindruck gemacht. Wie weit er in der rechten Szene drin gesteckt hat, wusste ich nicht.“ Er hätte ihn da lieber rausgeholt. Was er dafür getan hat, um denn kleinen Bruder rauszuholen, erfährt man nicht. Dafür aber, wie der Alltag von Uwe Böhnhardt damals aussah. Er hatte die Lehre als Maurer abgebrochen, war aus dem Internat geflogen. Danach schlief er lang und ging mit Beate Zschäpe in die Stadt, rumlaufen, rumlungern, sagt der Bruder als Zeuge. „Eigentlich hat er ja nicht viel gemacht. Er ist im Bett rumgelungert und hat mit der Nichte gespielt“, sagt der Bruder.

Jan Böhnhardt erzählt, er habe gedacht, sein Bruder Uwe und dessen Freundin Beate seien „normale Mitläufer“ gewesen bei den Rechtsradikalen. „Das war damals Kult oder fast Kult.“ Man erfährt nicht wirklich mehr. Vor dem Bruder hatten schon der Vater und die Mutter vor Gericht ausgesagt, die Mutter sogar zwei Tage lang.

„Welches Verhältnis hatte Ihr Bruder zu Waffen?“, fragt der Richter. „Ein gutes“, sagt der Zeuge. „Hatte Ihr Bruder Waffen?“ – „Der hatte schon ein paar Waffen, aber die wurden meistens gleich wieder von der Polizei eingezogen.“ Ein Luftgewehr, eine Armbrust, vielleicht auch ein Messer oder eine Pistole. Der Bruder haben sich über die Waffen gefreut.

Richter: „War Gewalt ein Thema?“ – „Mir war nicht aufgefallen, dass er jemanden verhauen hat oder gewaltbereit war“ , sagt Jan Böhnhardt. Aber er habe gesagt, dass ihm vieles nicht gefällt in Deutschland. „Was?“, fragt der Richter. „Mit Ausländern und anderen Sachen“, antwortet der Zeuge. „Aber dass er jemanden verletzt hat, ist mir nicht bekannt.“

Jan Böhnhardt will nicht sehr nachgefragt haben, als ihm seine Eltern erzählten, dass sie sich mit Uwe und seinen Freunden im Untergrund getroffen haben. Er habe auch nichts dagegen gehabt, dass sie dem Bruder ein Foto seiner Tochter mitbrachten. Und seine Mutter habe ihm 2002 gesagt, er müsse sich damit abfinden, dass er Uwe nicht mehr sehe.

Jan Böhnhardt war der letzte aus den Familien ihrer Freunde, dem sich Beate Zschäpe im Gerichtssaal gegenübersah. Zu einem Treffen mit ihrer eigenen Familie wird es nicht kommen. Eigentlich sollte am Donnerstag Zschäpes Großmutter vor Gericht aussagen. Die alte Dame hat aber ein Attest vorgelegt, wonach sie nicht reisefähig ist. Und das Gericht verzichtet auf eine neue Ladung – denn als Großmutter der Angeklagten hat sie das Recht, die Aussage zu verweigern. Das wird die Oma vermutlich genauso tun wie schon die Mutter von Beate Zschäpe. Eine Reise von Jena nach München nur wegen eines kurzen Neins will ihr der Senat ersparen.

Koan Münchner

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Der Tegernseer Maurice Iarusso, 28, von der Privatinitiative „Tegernblut“ ruft auf seiner Website zum Protest auf. Gegen Münchner. Sie sind, so Iarusso, schuld daran, dass die Waldfeste, die von Juni bis August rund um den Tegernsee stattfinden, nicht mehr das sind, was sie einst waren: „Die Waldfeste verkommen zu einer niveaulosen Sauf- und Protz-Party für Isarpreißn-Dumpfbacken aus der Landeshauptstadt.“

Das ist ein Schlag für das Selbstbewusstsein der Münchner, die sich doch eigentlich immer für Gottes Geschenk ans bayerische Voralpenland gehalten hatten. Doch dass diese Sichtweise nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruht, war schon zu ahnen, bevor sich der Widerstand regte.
 
Aus diesem Grund hat Iarusso für Anfang August eine Demonstration mit dem Titel „Minga,Goa Home“ angekündigt. Seine Forderungen: Keine Platzreservierung mehr, Beschränkung der Münchner Besucher durch Fahrzeugkontrolle, Anheben der Parkgebühren für Münchner Autos auf 250 Euro pro Stunde. Und wer nicht fehlerfrei „Brezn“, „Maß“ und „Hendl“ bestellen kann, soll mit sofortiger Wirkung des Festgeländes verwiesen werden.



Die Massen der Partymünchner sind bei den Einheimischen nicht immer willkommen.

 
Ganz ernst gemeint ist der Katalog an Forderungen selbstverständlich nicht, doch Iarusso, der schon öfter mit Satireaktionen PR in eigener Sache machen wollte, spiegelt mit seinem Aufruf die Gemütslage wieder, die im Tegernseer Tal schon länger brodelt: Die Münchner, so glauben dort nicht wenige, sorgen dafür, dass aus den einst gemütlichen und traditionellen Festen eine Art Dauerparty für vergnügungssüchtige Faschingstrachtler aus der Hauptstadt wurde.
 
Iarusso reagierte mit seinem Demo-Aufruf auf eine Flut von Zeitungsberichten, in denen die Probleme der vergangenen Waldfeste geschildert wurden: Der Besucherandrang sei von Jahr zu Jahr gewachsen und mittlerweile so groß, dass auf einigen Festen die Menschen fast erdrückt wurden. Besonders die zahllosen Betrunkenen, die sich in gefährliche Situationen begaben, machten der Polizei Probleme. Den Einheimischen geht es vor allem auf die Nerven, dass Partyveranstalter aus München die Waldfeste in der Werbung für ihre Busreisen als „hippe Partys“ anpreisen, auf denen die Besucher „das bayerische Brauchtum mit feschen Dirndln und strammen Wadeln“ kennenlernen können.
 
Und so Unrecht haben all die Kritiker nicht. Es sind nicht nur die Partybusse, die von Münchner Bars gechartert werden und mit DJ, Bar und Disco bestückt ins Voralpenland düsen, wo sie angesoffene Feierbiester ausspucken. Es sind auch nicht nur die Event-Alkoholiker, die jede Veranstaltung – also auch die Waldfeste – dafür nutzen, sich so vollzusaufen, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, einigermaßen sicher nach Hause zu finden, sondern auf unbeleuchteten Landstraßen herumtorkeln und auf der Suche nach Mitfahrgelegenheiten auch Polizei- und Krankenwagen anhalten. Es ist vor allem die Masse, die Unwohlsein verursacht. Und zu der gehören eben genauso all die Freizeitoptimierer und Instagram-Wochenendler, die das Umland oft eher als fotogene Kulisse für die Inszenierung ihrer Freizeit benutzen.

Naherholung wird hier so ernsthaft betrieben wie anderswo die Suche nach dem besten Club



München gilt als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Deutschland. Und diese Lebensqualität speist sich zu großen Teilen aus dem wunderschönen Umland. In einer knappen Stunde sind wir in den Bergen, liegen am See oder stehen auf der Piste. Besucher aus anderen Großstädten sind regelmäßig schockiert von der streberhaften Münchner Wochenend-Mentalität. Davon, dass es auch bei jungen Menschen nicht reicht, den Samstag nur zu nutzen, um den zum Kater auszukurieren, Leergut wegzubringen und den Abend zu planen. Sondern dass junge Münchner im besten Partyalter tatsächlich und ganz ohne einen Hauch von ironischer Distanz morgens um sieben Uhr in die BOB steigen, um später einen Berg zu erklimmen – ganz freiwillig, inklusive Wanderkarte, Gipfelbucheintrag und zünftiger Hütteneinkehr. Naherholung wird bei uns so ernsthaft betrieben wie anderswo die Suche nach dem besten Club. Sogar Münchner Clubbesitzer sind bekannt dafür, an jedem Wochenende die kurvigsten Straßen im Voralpenland mit ihren Rennrädern heimzusuchen.

Die Rache des Umlandes bestand bisher darin, es dem Münchner Wochenendtouris so schwierig wie möglich zu machen, sich richtig zu verhalten. Er musste viele Fallen umgehen, um bei den Einheimischen als „einer von ihnen“ zu gelten. Wer schon einmal eine Hüttenwanderung gemacht hat, kennt das unangenehme Gefühl der Unsicherheit, wenn man sich nicht als Hornochse, Städterer oder gar Preiß outen will, aber nicht genau weiß, in welcher Hanglage und Richtung die Worte „obi“, „auffi“ und „ummi“ angebracht sind. Und wer es schafft, sich verbal einigermaßen unfallfrei zu verständigen, hat noch lange nicht all die Hüttenregeln verinnerlicht, die aus unerfindlichen Gründen nicht verbal, sondern nur per Osmose oder jahrzehntelanger Mitgliedschaft in der Alpenvereinssektion Oberland vermittelt werden.

Doch subtile Maßnahmenkataloge wie diese funktionieren nur so lange, wie die Menschen bemüht sind, sich anzupassen. Wer in der Mehrheit ist und sich dessen bewusst ist, hat nur noch verhältnismäßig wenig Ansporn, sich anzupassen.

Wenn man es sich genau überlegt, ist es wirklich kein Wunder, dass dieser nicht enden wollende Strom der Naherholungsfanatiker der Landbevölkerung auf die Nerven geht. Wir verstopfen ihre Infrastruktur und verschwinden am Abend wieder zurück in die Stadt. Zurück lassen wir unseren Müll – und unser Geld. Wenigstens das! Denn sonst hätten sie uns vermutlich schon längst rausgeschmissen aus ihren Hütten, Liften und Strandbädern.

Mittwoch vergangener Woche hat Iarusso, der hauptberuflich als Makler arbeitet, seine Demonstration wieder abgesagt. Es habe eine Versöhnung mit München über einer Maß Bier im Augustiner stattgefunden – inszeniert von der Bild-Zeitung. Die Organisatoren der größten Waldfeste haben unterdessen private Security-Kräfte engagiert, um sich auf den Feier-Ansturm vorzubereiten. Und die Polizei von Bad Wiessee hat beim Präsidium in Rosenheim Unterstützung angefordert.

Wie das Internet... Röcke radltauglich macht

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Das Problem:
Es ist Sommer, es ist heiß, du trägst ein Sommerkleid oder einen Rock - und du möchtest mit dem Rad fahren. Also musst du dich entweder schnell nochmal umziehen und in eine Hose schlüpfen oder du riskierst, dass der Fahrtwind dir den Rock lüpft. Das Geflatter nervt nicht nur, sondern plötzlich kennt auch die ganze Straße deine Oberschenkel - und vielleicht sogar noch mehr.






Die Lösung:
Radln mit Rock geht dank dieses Lifehacks ganz easy. Alles was du brauchst, sind eine Münze (oder Murmel) und ein Gummiband. Nun bringst du die Münze von hinten zwischen deinen Beinen hindurch nach vorne und nimmst dabei beide Lagen Rock-Stoff mit. Vorne angekommen ziehst du den Gummi über die Münze, um sie zu fixieren. So baust du innerhalb weniger Sekunden ein Gewicht in deinen Rock ein, das ihn schön brav unten hält - egal wie stark der Fahrtwind ist.


http://vimeo.com/98808131

Wie das Internet... Sektflaschen öffnet

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Das Problem:
Die Angst vor dem tödlichen Korkenschuss kennt bei manchen keine Grenzen. “Mach Du mal!”, heißt es dann und die Sektflasche wird verschämt weitergereicht. Denn beim Öffnen fliegt im Ernstfall der Korken um die Ohren der Gäste und der wertvolle Inhalt der Flasche verselbstständigt sich und läuft schäumend über Hände, Kleidung und Teppich.

BILD


Die Lösung:
Um die Flasche lässig zu öffnen und keinen Tropfen des guten Sekts zu verschwenden, muss man eigentlich nur ein paar Kleinigkeiten beachten. Die Flasche sollte gut gekühlt und nicht durchgeschüttelt sein. Ist diese Bedingung erfüllt, kann es losgehen. Zuerst entfernst du - falls vorhanden - die Metallfolie, die den Korken umhüllt. Danach drehst du den Drahtaufsatz, der dem Korken Halt gibt, auf und ziehst ihn ab. Und jetzt kommt der Trick: Bringe die Flasche ein wenig in Schräglage (das verhindert das Überschäumen), halte den Korken gut fest und drehe ruhig nach und nach die Flasche - nicht umgekehrt!
Und schon hast du den Korken fest in der Hand und der Sekt landet dort, wo er hingehört - in den Gläsern.

Topsexliste: Tinder-Snowden und Pussy 3.0

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Auch Whistleblower haben Bedürfnisse...
... deshalb hat ein sehr lustiger Mensch als Edward Snowden einen Tinder-Account angelegt. Die besten Gespräche die lonely_ed_ ("Good with computers. Optimist. Love to travel") dort führt, werden auf Instagram dokumentiert. Kann man den ganzen Nachmittag mit verbringen.










Pussy 3.0
Wie konnten wir in der Topsexliste nur diesen Film verpassen, der bereits im Februar auf der Berlinale Premiere feierte?? Nunja, es sei hiermit nachgeholt: In "Vulva 3.0 - Zwischen Tabu und Tuning" gehen zwei Dokumentarfilmerinnen der Frage nach, wie das weibliche Geschlechtsteil gesellschaftlich wahrgenommen wird.
http://www.youtube.com/watch?v=nffYIytkKxw
Was nach "jetzt gucken wir mal kollektiv mit einem Spiegel unser Untenrum an" klingt, ist allerdings hochspannend. Da gibt es zum Beispiel diesen Typen, der den ganzen Tag nichts anderes tun, als Pussys zu retuschieren und das ganz fabelhaft unverstellt für die Kamera kommentiert ("Häufig hat man das ja bei Personen die so... äh... zwei, drei Tage älter sind und... dass das so weit ausgebeult ist. Das würde ich dann mal ein bisschen hochschieben"). Dieser Film muss ins Kino!


via critic.de

Anus 3.0
Das Poloch ist ebenfalls ein gesellschaftlich unterrepräsentiertes Körperteil, finden zumindest die Macher des Glastonbury-Festivals. Deshalb gab es dort dieses Jahr Farbe und Blümchen, die einen inspirieren sollten, aus der eigenen Rosette ein Kunstwerk zu machen. Ebenfalls verkauft wurden bunte Silikonnippel, Schamhaar-Attrappen und eine "Great wall of vagina" gab es dort auch. Schön!
[plugin imagelink link="http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2014/7/9/1404904300630/66be34cf-fc81-4b97-ad75-dca0b6c539cd-460x276.jpeg" imagesrc="http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2014/7/9/1404904300630/66be34cf-fc81-4b97-ad75-dca0b6c539cd-460x276.jpeg"] via the guardian

Interessante Beweisführung
In den USA wurde ein 17-Jähriger wegen des Besitzes von Kinderporografie angezeigt, weil er Nacktbilder seiner 15-jährigen Freundin besaß. Auch die Beweisführung der Polizei ist ein ziemlicher Knüller: Um nachzuweisen, dass der Junge seiner Freundin auch unsittliche Bilder seines Genitals geschickt hat, soll der erigierte Penis des Jungen fotografiert werden, notfalls mithilfe von Medikamenten (vor Polizisten masturbiert es sich wohl doch eher schlecht). Wenn der Junge sich schuldig bekennt, könne auf dieses Prozedere verzichtet werden. Der Fall soll am 15. Juli vor Gericht verhandelt werden.

Die Uni ist marode, die Studenten zum Glück nicht
"Arm aber sexy" wurde bisher ja immer über Berlin gesagt. Nun schließt sich die Uni Greifswald dieser Devise an: Weil der Uni das Geld für eine Sanierung fehlt, wollen Studenten vor den maroden Unigebäuden nackt für einen Kalender posieren. Wer jetzt den Playboy in Greifswald erwartet, wird allerdings enttäuscht: Die AStA kündigte bereits einen "feministischen Erotikkalender" an, bei dem jeder willkommen ist. "Die Partei" unterstützt die Aktion übrigens auch.

Wenn der Prinz zum Schläger wird
Vergangene Woche haben wir auch hier die "Vater-knutscht-Tochter"-Disneybilder vom Künstler Saint Hoax gezeigt, der damit auf sexuelle Übergriffe innerhalb von Familien aufmerksam machen will. Diese Woche hat Saint Hoax noch einen draufgesetzt, es geht um häusliche Gewalt und der Claim lautet: "Wann hat er aufgehört, dich wie eine Prinzessin zu behandeln?"
[plugin imagelink link="http://www.sainthoax.com/uploads/2/5/4/2/25423795/7931601_orig.jpg" imagesrc="http://www.sainthoax.com/uploads/2/5/4/2/25423795/7931601_orig.jpg"] via Saint Hoax

Schluss mit "Hey girl..."
Ryan Goslings Freundin Eva Mendes ist angeblich im siebten Monat schwanger und seine zahlreichen Fans kollabieren auf Twitter, ähnlich wie die Mädels, die damals nach der "Take-that"-Auflösung ins Krankenhaus mussten. Wir tun hingegen das, was man immer bei Liebeskummer tut: Sich an die guten alten Zeiten erinnern. Und danach die Bilder verbrennen.
[plugin imagelink link="http://www.tumblr.com/photo/1280/fuckyeahryangosling/2126642759/1/tumblr_ld179j08Jb1qztfos" imagesrc="http://www.tumblr.com/photo/1280/fuckyeahryangosling/2126642759/1/tumblr_ld179j08Jb1qztfos"]
via fuckyeahryangosling

http://www.youtube.com/watch?v=IeA75Q-zH2Y

Okay, das mit dem Bilder verbrennen war gelogen...
[plugin imagelink link="http://38.media.tumblr.com/b0b55f4def1776af83390768a9c86fc2/tumblr_mkanjyuujn1r5ldfdo1_500.gif" imagesrc="http://38.media.tumblr.com/b0b55f4def1776af83390768a9c86fc2/tumblr_mkanjyuujn1r5ldfdo1_500.gif"]

Die jetzt.de-Kettengeschichte, Teil 12

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Was bisher geschah: Anna bekommt an ihrem öden Arbeitsplatz, der Tankstelle, seltsamen Besuch und haut anschließend mitten in der Nachtschicht einfach ab. Ihr Ziel: Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Turnier, bei dem ihr Schwarm Gerwin Gewinner antritt. Doch dort wird Anna gefangengenommen - Gerwin und eine Fee namens Tinkerbell, die sich später als die alte Tankstellenstammkundin Liesel Maier entpuppt, sperren sie auf einem Dachboden voller berühmter Kunstwerke ein. Was haben sie vor? Annas letzte Hoffnung: ihr Chef Paul, der den Dachboden unbemerkt erreicht und sich ein Bild von der Lage gemacht hat. Neben Anna interessieren ihn dabei die Kunstwerke besonders, weil er eine Zweitidentität als Kunstdieb und illegaler Händler lebt. Mutig tritt er schließlich aus dem Schatten und zeigt sich Gerwin und Liesel.

Alle vorigen Teile der Kettengeschichte kannst du hier nachlesen. Und hier kommt Teil 12 von jetzt-Userin StGabi.




„Lange nicht gesehen, Paul. Du hast länger gebraucht, als ich dachte. Wohl etwas aus der Form, mh?“ Gerwin zieht einen der alten Stühle heran und fordert Paul unwirsch auf, sich hinzusetzen. Er selbst setzt sich rücklings, breitbeinig und selbstsicher auf einen zweiten Stuhl. „Wie in einem schlechten Agententhriller“, denkt Paul. Noch immer hat dieser Typ dieses völlig überzeichnete Selbstbewusstsein und überschätzt sich ständig selbst. Ihm fehlt es einfach an der nötigen Logik und Strategie für solide Aktionen dieser Art. Liesel baut sich neben Gerwin auf. Trotz, oder vielleicht gerade wegen ihres Alters besitzt sie diese kriminelle, listige Würde, voller Stolz und Berechnung.  Paul traut dieser pensionierten Scheinkriminellen wesentlich mehr zu, nicht zuletzt wegen ihres Grips. Sie würde schon eher in seiner Liga spielen.

Anna ist wie erstarrt. Noch vor einer Sekunde sah sie den Klavierhocker auf sich zukommen. Die Ereignisse rasen an ihr vorbei bis sie realisiert, dass Paul da ist. Er hat sie doch tatsächlich vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Wirkung der Droge scheint langsam nachzulassen und Anna beginnt vorsichtig, sich umzusehen. Mittlerweile scheint es zu dämmern. Es sind mehr als drei Stunden seit der verrückten Traktorfahr vergangen. Ganz unauffällig wendet sie den Kopf, immer in Erwartung, dass diese verrückte Frau sie noch einmal angreift. Da blitzt etwas Rotes in ihrer Nähe auf. Ihr rotes Polo und die Jean sind achtlos über eine Skulptur geworfen. Eine sehr farbenfrohe Skulptur, von bizarrer, rundlicher Form. Das wird doch nicht, das ist doch nicht wirklich...ein Murakami?! Wenigstens hat Gerwin keinen einseitigen Kunstgeschmack, denkt Anna und konzentriert sich wieder auf ihre Klamotten. Irgendwann wird sie wohl aus diesem verrückten Kleid schlüpfen können. Anna bewegt sich vorsichtig auf allen Vieren Richtung Kunstwerke.

Anna hält vorsichtig das Kleid, um kein Geräusch zu verursachen. Auf allen Vieren lehnt sie sich so weit wie möglich nach vor, greift nach ihrer Jean und ihrem Polo und zieht sie zu sich heran. Unsicher zur Seite blickend bewegt sie sich wieder rückwärts und hofft inständig, dass keiner sie bemerkt. Wieder an ihrem Platz knüllt sie die Kleider zusammen und befestigt sie am Mieder ihres Kleides. Wie komme ich hier bloß wieder raus? Und was für eine Scheiße ist das mit Paul? denkt sie verzweifelt. Die einzige Tür zum Dachboden ist durch Gerwin blockiert. Ihre Blicke streifen das zerbrochene Fenster an der Ostseite des Dachbodens, die alten abgenützten Möbel und kehren wieder zu den gestohlenen Kunstwerken zurück. Da scheint ein Türrahmen zu sein, beinahe zur Gänze durch die Bilder verdeckt. Hatten nicht alte Villen und Gutshäuser früher oftmals Hintertreppen und verwinkelte Aufgänge durch Anbauten? Es sich bezahlt wohl bezahlt gemacht, denkt Anna, dass sie neulich bei einer Nachschicht im Architekturmagazin geblättert hat. Wenn sie großes Glück hat, ist diese Tür nicht abgeschlossen. Paul würde es wohl schaffen, sie aufzubrechen. Sie muss also versuchen, Paul auf die Tür aufmerksam zu machen, ohne dass die anderen es bemerken.

Paul blickt seinem Gegner fest in die Augen. „Weißt Du, Paul“, sagt Gerwin, „es hat einige Zeit gedauert, bis wir dich gefunden haben. Die Sache mit dem Picasso ist keineswegs vergessen, da hast du dich getäuscht. Aber, wir sind nicht nachtragend. Wir möchten lediglich auf deine Fähigkeiten zurückgreifen. Und damit du motiviert bleibst, wird deine kleine, süße Anna noch ein bisschen bei uns bleiben, nicht wahr, Anna?“ Anna kauert in ihrer Ecke und verhält sich starr und ängstlich. Niemand soll bemerken, dass sie bereits ihre eigenen Pläne verfolgt. Sie kann nicht fassen, was sie hört. Paul und eine Sache mit einem Picasso? Das würde bedeuten, dass dieses kleinkrämerische Gehabe als Tankstellenbesitzer nur Fassade war. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Er hatte sie getäuscht. Wie konnte sie nur so dumm sein und glauben, dass sie mehr ist als eine Angestellte?

Anna ist richtig wütend.

Du willst wissen, wie es weitergeht? Teil 13 der Kettengeschichte erscheint am Donnerstag, den 17. Juli.

Googelst du beim Lesen?

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In meinem letzten Urlaub habe ich „Das größere Wunder“ von Thomas Glavinic gelesen. Einen großen Teil des Buches nimmt die Schilderung einer Mount-Everest-Besteigung ein, das hat mich sehr fasziniert. Während ich das las, befand ich mich in einem kleinen Ort in den Bergen und dann auf einer noch kleineren Insel und hatte das Buch in Rekordzeit durch. Vor allem, weil es in dem kleinen Ort und auf der kleinen Insel kein Internet gab. Denn ansonsten habe ich eine Angewohnheit, die meine Lektüre verzögert, aber, wie ich finde, auch bereichert: Ich googele beim Lesen.  

Hätte es also Internet gegeben, hätte ich sehr viel länger gebraucht, weil ich unbedingt Bilder zum Buch hätte sehen wollen: das Basislager, den Khumbu-Eisbruch, die Leichengasse, Lager 4 auf dem Südsattel, den Gipfel, von dem aus man die Erdkrümmung sieht.  



Reichen dir die Beschreibungen im Buch - oder musst du es genauer wissen?


Es gibt Menschen, die das sicher sehr schlimm finden. „Hast du denn keine Vorstellungskraft?“, fragen sie vielleicht, „Reicht es dir nicht, was im Buch beschrieben wird?“ Theoretisch schon. Aber ich weiß ja eben auch, dass es den Mount Everest wirklich gibt und dass es Bilder davon gibt, und ich will wissen, ob es die Leichengasse auch wirklich gibt, und ich will noch mehr Geschichten zu all diesen verrückten Orten lesen und zu den verrückten Menschen, die dahingehen. Ich will den Buch-Kosmos, der schon so toll ist, erweitern, wachsen lassen, ich will, dass er nie aufhört.  

Und ich will etwas lernen. Früher, als ich das Internet noch nicht die ganze Zeit in Form eines Smartphones bei mir hatte, nutzte ich einen Zettel als Lesezeichen, auf den ich Namen (besonders ergiebig: die Lektüre von „Deutsches Theater“ von Benjamin von Stuckrad-Barre) und Begriffe aus dem Buch notierte, die ich nicht kannte, um sie später nachzuschlagen (ja, im Lexikon!) oder zu googeln. Heute mache ich das sofort, mit dem Telefon. Und zwar nicht nur beim Bücherlesen, sondern auch, wenn ich Zeitung lese. Wenn in einem Artikel die Geschichte eines Menschen nur am Rande erwähnt wird, weil man davon ausgeht, dass der Leser sie schon kennt oder sie nichts zur Sache tut, wenn der Name einer Militäroperation fällt, die vor vielen Jahren stattgefunden hat, wenn erwähnt wird, XY sei immer so bunt angezogen – sofort öffne ich die Google-App und suche los. Und dann wird die Geschichte, die ich grade lese, die Welt, in der ich gerade bin, wieder ein Stückchen größer.  

Und du? Liest du auch mit geöffneter Suchmaschine? Willst du auch immer alles sofort nachschauen? Oder findest du, dass es Verrat am Text ist, wenn man das Lesen dauernd unterbricht, um noch was anderes zu lesen oder anzuschauen?

Tagesblog - 11. Juli 2014

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8:01 Uhr: Guuuuuuuuuuuuten Morgen, Freaks und Geeks. Bevor ich in die Arbeit fahre, serviere ich ofenfrisch einen Ticker, der sich mit der wichtigen Frage beschäftigt: googlest du, wenn du liest? Bis gleich! Brr, Ekelwetter....

Russlands neue Aids-Krise

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Es ist keine Heilung. Dieser Satz besiegelte das Schicksal von 800 Heroinsüchtigen auf der Krim. Viktor Iwanow, Chef der russischen Drogenkontrollbehörde, strich den Abhängigen auf der Halbinsel mit diesen Worten die Behandlung mit dem Ersatzmittel Methadon. Es war eine von Iwanows ersten Amtshandlungen, nachdem Russland die Kontrolle auf der Krim übernommen hatte.



Eine Heroinspritze und ein Becher mit dem Ersatzmittel Methadon - dieses strich der Chef der russischen Drogenbehörde den Abhängigen auf der Krim.

Sogar die Entdeckerin des HI-Virus, die französische Virologin und Nobelpreisträgerin Françoise Barré-Sinoussi, versuchte bei der russischen Regierung zu intervenieren. Alles zwecklos, seit Mai bekommen die Patienten kein Methadon mehr. Die meisten verfielen sofort wieder der Sucht nach Opiaten. Mehr als 20 Abhängige seien inzwischen gestorben, berichtet Andrej Klepikow von der Organisation HIV/Aids Alliance Ukraine. Aktivisten sprechen von einer humanitären Tragödie.

Auf der Krim prallen nicht nur die Territorialinteressen zweier Staaten aufeinander, sondern auch zwei Politikstile im Umgang mit Drogen. Die Ukraine macht seit Jahren gute Erfahrungen mit Substitutionsprogrammen für Abhängige. Russland lehnt diese als schädlich ab. Allein die Androhung drakonischer Strafen soll die Russen vom Handel und Konsum illegaler Substanzen abhalten. Therapien für Süchtige oder Ausgabestellen für saubere Spritzen gibt es kaum.

Die Folgen sind in Russland bereits sichtbar: Experten warnen vor einer neuen Aids-Epidemie, die von dem Riesenreich ausgehen könnte. Vor zehn Jahren waren in Russland 170000 Menschen mit HIV infiziert. Heute sind es 1,2 Millionen. Die Vereinten Nationen führen jede zweite Ansteckung auf verseuchtes Spritzbesteck zurück. Viele der rund zwei Millionen Opiumsüchtigen tragen auch die Infektionskrankheit Hepatitis Cin sich, die zu schweren Leberschäden führt.

Mit „schadensreduzierenden Maßnahmen“ wie dem Verteilen sauberer Spritzen hätte die Epidemie verhindert werden können, ist Michel Kazatchkine überzeugt, Sondergesandter der Vereinten Nationen für HIV und Aids in Osteuropa. Auf diese Weise gelinge es der Ukraine, Neuinfektionen mit HIV in Schach zu halten. In Russland greife HIV hingegen auch auf andere Bevölkerungsgruppen über.

Im Kern lehnt Moskau Behandlungen mit Methadon mit dem Argument ab, die Substitution sei keine effiziente Therapie gegen Drogenmissbrauch und gefährde die Öffentlichkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Substitution, das Verteilen sauberer Spritzen und antiretrovirale Therapien könnten die Ansteckungen mit HIV um mehr als die Hälfte senken, schrieben Forscher 2010 im medizinischen Fachjournal The Lancet. Millionen Leben seien auf diese Weise seit 30 Jahren gerettet worden.

„Obwohl es funktioniert, wird Methadon immer noch kontrovers diskutiert“, sagt Roy Robertson von der Universität Edinburgh. Das mache ihn „einfach wahnsinnig“. Robertson hat in einer Studie die Heroin-Epidemie und den Ausbruch von HIV in den 1980er-Jahren in Schottland nachgezeichnet; erst Hilfsprogramme für Süchtige hätten das Problem eingedämmt. Das zeigt auch das Beispiel Australien. Ärzte verteilen dort seit 1986 sterile Nadeln an Fixer, es gibt 3000 Ausgabestellen. In den USA sind es nur 200. Infolge dieser Politik, loben Autoren in der aktuellen Ausgabe von Science, habe Australien heute eine der niedrigsten HIV-Ansteckungsraten unter Drogenabhängigen. Das hilft auch den Steuerzahlern. Zwischen 2000 und 2009 investierte Canberra 200 Millionen US-Dollar in die Prävention – dem Gesundheitssystem habe dies den sechsfachen Betrag gespart, so das Gesundheitsministerium.

In Russland hingegen werden Süchtige oft eingesperrt. Das soll abschrecken, bewirke aber das Gegenteil, berichten Forscher im Journal of the International Aids Society. Die Wissenschaftler beobachteten 582 HIV-Infizierte in Sankt Petersburg. Diejenigen, die über willkürliche Verhaftungen klagten, neigten verstärkt dazu, untereinander Spritzen auszutauschen und so die Verbreitung des Virus zu befördern.

Auf der Krim rechtfertigte Russland das Vorgehen mit einem weiteren Argument: Das Methadon zirkuliere auf dem Schwarzmarkt und finanziere Kriminelle, sagte Iwanow der Nachrichtenagentur Itar-Tass. „Die Opioid-Substitution untergräbt das Drogengeschäft“, widerspricht der ukrainische Aids-Aktivist Andrej Klepikow. Wer behandelt wird, an dem verdienen die Drogenkartelle nichts, so seine Rechnung.
Mit der Ausweitung des Konflikts in der Ukraine dürfte weder das Drogen- noch das Aids-Problem kleiner werden. „Viele Menschen in der Südostukraine haben Schwierigkeiten, an Medikamente, saubere Spritzen und Methadon zu gelangen“, sagt Michel Kazatchkine von der UN. „Uns erreichen Nachrichten, dass viele Hilfsangebote gerade zerbrechen.“

Ungebrochen ist hingegen der Nachschubweg der Drogenhändler. Die Anbauflächen für Schlafmohn sind mit 300000 Hektar größer als je zuvor. In der Wirtschaftskrise eine gefährliche Mischung, auch in der EU. In Griechenland kostete die Sparpolitik viele Sozialarbeiter den Job, die Hilfe für Süchtige wurde zurückgefahren. Das mache unsicheren Drogenkonsum wahrscheinlicher, begünstige Infektionen wie HIV und Hepatitis C, schreibt die UN im aktuellen Weltdrogenbericht. Auch in Rumänien steigen die Neuinfektionen unter Drogenabhängigen. „Es geht sehr schnell, eine Epidemie mit der falschen Politik auszulösen“, warnt Kazatchkine. „Und es dauert sehr lange, sie zu bekämpfen.“

Die Sechs-Sekunden-Superstars

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München – Brittany Furlan verdient mehrere Tausend Euro – in Sekundenschnelle. Es reicht, wenn sie ein Kurzvideo filmt und es auf die Onlineplattform Vine hochlädt. Es sind kurze Storys mit einer Pointe. Und manchmal ist es Werbung – selbst gedreht und äußerst lukrativ. Das Modell funktioniert so gut, dass es für die 100 erfolgreichsten Nutzer von Vine inzwischen ein eigenes Wort gibt: „vine-famous“. Sie sind berühmt auf Vine, verdienen bis zu sechsstellige Summen pro Jahr – doch außerhalb der Plattform kennt sie fast niemand.



Möchte von dem Ruhm der bekannteren Vine-Nutzer profitieren: Justin Biber.

Vine ist ein soziales Netzwerk, auf den Markt gekommen ist es Anfang 2013 in Form einer App. In Deutschland ist es bislang kaum bekannt, in den USA hat es 40Millionen Nutzer. Die Videos dürfen maximal sechs Sekunden lang sein. Jeder Nutzer legt ein Profil an, das man abonnieren kann, um auch die neuesten Videos zu sehen. Wem das Video gefällt, der kann es liken oder teilen, ganz wie auf Facebook.

Zu Beginn wusste niemand so recht, für wen so ein Netzwerk überhaupt gedacht sein sollte. Was könnte in sechs Sekunden jemals Aufregendes passieren? Eineinhalb Jahre später sagt Furlan im Gespräch, dass Vine ihr gesamtes Leben umgekrempelt habe: „Manchmal muss ich mich kneifen, um zu glauben, dass das alles real ist.“ Für die breite Masse bleibt sie unbekannt, innerhalb von Vine ist sie ein Superstar. Von den 40 Millionen Nutzern des Portals folgt ihr jeder Siebte.

Jedes soziale Netzwerk hat typischerweise einen spezifischen Schwerpunkt, der für die Nutzer besonders im Vordergrund steht. Facebook ist die Pinnwand für Freunde und Familie, Twitter ist für Nachrichten, auf Instagram geht es um schöne Fotos. Vine hingegen ist ein riesiger Talente-Pool. Dort versammeln sich Sänger, Nachwuchsregisseure und vor allem auch Comedians. Berühmte Vine-Nutzer werden in die größten Talkshows des Landes eingeladen, treten in Serien auf, und ihre Songs schaffen es in die iTunes-Charts. Die Standard-Superstars wie Pharrell Williams oder 50 Cent tauchen in den Vine-Videos auf. Justin Bieber hat sich ein eigenes Konto angelegt, aktuell hat es 1,6 Millionen Abonnenten. Das ist zwar viel, aber reicht noch lange nicht für die Top Ten. Also kooperiert er mit den bekanntesten Nutzern in der Hoffnung, auch auf Vine berühmt zu werden.

Furlan ist 27 Jahre alt und lebt seit zehn Jahren in Los Angeles, um eine Karriere als Comedian zu starten. Wirklich geklappt hat das nicht, sagt sie, auch wenn es hin und wieder Auftritte gegeben hat. „Ich musste viel über Ebay verkaufen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Dank Vine kann ich nun sehr komfortabel leben und mir eine Wohnung leisten, die über eine Heizung verfügt.“ Wie viel Geld sie für die Werbespots bekommt, sagt Furlan nicht. Ihre Einnahmen pro Sechs-Sekunden-Video liegen aber hoch. „Es gibt Menschen auf Vine, die für einen einzelnen Beitrag fünfstellige Summen im mittleren Bereich bekommen“, sagt Rob Fishman. Fishman hat die Firma Niche gegründet. Diese vermittelt zwischen großen Firmen und den Stars auf sozialen Netzwerken. Er kennt also die Preise.

Furlan, schmales Gesicht, schwarze Haare, leicht irrer Blick, kam aus Langeweile zu Vine. Sie habe gedacht, Kurzvideos zu drehen, könne ja ganz lustig sein. Furlan redet gerne in Pointen, und auf die Frage, ob sie jetzt auf der Straße erkannt werde, antwortet sie: „Ja, sehr oft. Es ist surreal. Ich sage dann immer: Warte mal, du hast also wirklich erkannt, dass ich nicht Penelope Cruz bin, oder?“

Furlan hat mehrere Mini-Serien entwickelt, die sie in Sechs-Sekunden-Episoden erzählt. In einer davon stellt sie sich bewusst vor einen Menschen, posiert für ein Selfie – nur um sich dann zu beschweren, dass die Person gefälligst aus ihrem Bild verschwinden solle. Der Großteil ihrer Videos sind aber keine Serien, sondern Comedy-Sketche. Inmitten solcher Beiträge kommen dann die Werbevideos, von denen die Vine-Berühmtheiten leben. Die Gesellschaft verändere sich durch soziale Netzwerke wie Vine und Instagram, sagt Rob Fishman, der Mann von der Analyse-Firma Niche. „In den vergangenen 100 Jahren haben sich Menschen für große Medienhäuser und deren Inhalte interessiert. Heutzutage folgen Menschen lieber gleich anderen Menschen.“ Das Finale der populären US-Serie „Walking Dead“ haben 15Millionen Menschen angeschaut, sagt Fishman. Das seien Zahlen, die von einzelnen Nutzern auf Vine täglich erreicht werden. „Für die Menschen ist Vine viel näher und unmittelbarer. Gerade junge Leute verlangen nach mehr Authentizität“, so Fishman. „Brittany Furlan zum Beispiel wirkt in ihren Videos wie eine Person, die man wirklich kennen könnte.“

Für Unternehmen wie Coca Cola, Samsung, die Football-Liga NFL und den Handelskonzern Target ergeben sich daraus neue Möglichkeiten. Sie nutzen Vine und versuchen, in eigenen Videos ihre Marke zu verbreiten – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Kaufen sie sich die Stars des Netzwerks ein, verbreiten sich die Botschaften entsprechend schneller. Denn Vine unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von Art-Werbung, die es derzeit auf dem Markt gibt: Die Künstler denken sich die Spots in Eigenregie aus. Das lassen sich die Unternehmen etwas kosten.

Wie viel Geld es gibt, hängt von Kampagne und Bekanntheit der Person ab, sagt Robby Ayala. Er ist auch einer der 100 Vine-Berühmtheiten und arbeitet mittlerweile selbst für die Analyse-Firma Niche. Nach seinem Erfolg auf Vine hat er sein Jurastudium abgebrochen. „Ich selbst würde nie einen der besser bezahlten Deals abschließen“, sagt er. „Je mehr Geld die Firmen zahlen, desto mehr wollen sie über die Inhalte bestimmen.“ Ayala könnte derzeit mit seinen zweieinhalb Millionen Abonnenten nach eigener Aussage bis zu 10000 US-Dollar für ein Werbevideo verdienen – er tut es aber nicht.

Vine wird damit zunehmend zu einem ernsthaften Konkurrenten für den größten Anbieter von Videos im Netz: Youtube. Die prominenten Künstler auf Youtube verdienen ebenfalls sechsstellig, seit Jahren schon. Doch seit geraumer Zeit häufen sich die Klagen: Einerseits fallen die Preise für Werbeeinblendungen, zum anderen wird es teurer, Inhalte zu produzieren. Denn die Videos auf Youtube sind oft mit einer Top-Kamera gedreht. Gute Licht- und Tonqualität kostet ebenfalls, dazu kommt oft noch ein aufwendiger Schnitt. Die Produktion eines Videos kann gut und gerne eine Woche dauern. Vine hat diese Probleme nicht. Die Videos werden mit dem Smartphone gedreht, also viel schneller und billiger. Werbeeinblendungen, die vor dem eigentlichen Inhalt kommen, gibt es bei sechs Sekunden auch nicht.

Ayala glaubt, dass Vine noch einen weiteren Vorteil habe. Dadurch, dass es den Nutzern oft freigestellt werde, wie sie Produkte präsentieren, komme am Ende keine aalglatte Botschaft heraus, sondern eine skurrile Werbung, die zu den sonstigen Inhalten der Person passt. „Die Leute wissen, dass das Werbung ist. Aber sie finden es eben auch witzig.“ Eines der Werbevideos von Ayala gefiel 142000 Leuten, 80000 haben es geteilt.

In den Kommentaren der Videos tauchen regelmäßig auch Beschwerden auf. „Schon wieder ein Künstler, der nur Werbung macht“, so lautet der Unterton. Furlan sagt, gemessen an den Angeboten sei es ohne Probleme möglich, in kurzer Zeit eine Million Dollar zu verdienen. Aber den Erfolg, den sie sich in kurzer Zeit aufgebaut hat, würde sie in diesem Fall verspielen, das sagt sie auch. Denn die Nutzer von Vine wollen schließlich ihre lustigen Videos sehen und keine Dauerwerbesendung. Also beschränkt sie sich. In den vergangenen zwei Monaten hat sie nur zwei Werbevideos gedreht.

Büffeln für die Bundesrepublik

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Es ist das vorläufige Ende einer von Beginn an umstrittenen Praxis. Deutschland darf die Einreise der Ehepartner von in Deutschland lebenden Türken nicht mehr von bestandenen Sprachtests abhängig machen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat die seit 2007 verbindlichen Deutschtests für rechtswidrig erklärt. Nach einem am Donnerstag verkündeten Urteil verstößt die Vorschrift gegen das türkische Assoziierungsabkommen aus dem Jahr 1970.



Junge Türkinnen und Türken müssen derzeit noch für Sprachtests büffeln. Das könnte sich für Verheiratete bald ändern. 

Aus Sicht des EuGH errichtet der Sprachtest eine Schranke gegen dieses Privileg, das die Niederlassungsfreiheit türkischer Arbeitnehmer innerhalb der EU gewährleistet. Und zwar deshalb, weil es die davon betroffenen Türken vor eine schwierige Abwägung stellen kann: Entweder entscheiden sie sich für den Job in Deutschland – oder für die Familie in der Türkei. Dies, so folgert der EuGH lebensnah, könne sich „negativ“ auf eine Arbeitsaufnahme in der EU auswirken – also auf das, was das Assoziierungsabkommen garantieren sollte.

Die Familienzusammenführung sei ein „unerlässliches Mittel“, um türkischen Arbeitnehmern in Deutschland ein Familienleben zu ermöglichen, argumentiert das oberste EU-Gericht. Sie trage „sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration“ bei.

Seit 2007 müssen Ausländer aus Nicht-EU-Ländern, die zum Ehepartner nach Deutschland ziehen, den Nachweis erbringen, dass sie sich „zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen“ können. Damit wollte der Gesetzgeber vor allem Zwangsverheiratungen entgegenwirken. Geklagt hat eine 1970 geborene Mutter von vier inzwischen erwachsenen Kindern – eine Analphabetin, deren Deutschkenntnisse nicht für ein Visum reichten. Zu dieser Einschätzung war im Januar 2012 die deutsche Botschaft in Ankara gekommen, obwohl die Frau den Test mit „ausreichend“ gerade noch bestanden hatte. Aus Sicht der Botschaft gelang ihr dies aber nur dank dreier auswendig gelernter Sätze und einiger zufällig richtig angekreuzter Antworten im Fragebogen. Man verweigerte ihr das Visum, sie konnte nicht zu ihrem seit 1998 in Deutschland lebenden Mann ziehen.

Mit dem Urteil dürften nun freilich nur Sprachtests vor der Einreise verboten sein. Der EuGH gesteht Deutschland ausdrücklich zu, dass die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration „zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können“, die Abweichungen von den Garantien des Assoziierungsabkommens möglich machen könnten. Das EU-Gericht rügt allerdings, dass der Gesetzgeber über das Ziel hinausschieße, weil die fehlenden Sprachkenntnisse „automatisch“ und ohne Rücksicht auf die „besonderen Umstände des Einzelfalls“ zur Verweigerung der Einreise führten.

In seinem Schlussantrag Anfang Mai hatte EU-Generalanwalt Paolo Mengozzi – der die Tests ebenfalls für unverhältnismäßig hält – bereits auf mögliche Alternativen hingewiesen: „Zum Beispiel die Verpflichtung zur Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen nach der Einreise.“ Dies könnte die Menschen veranlassen, „aus ihrem familiären Umfeld herauszutreten, wodurch ihr Kontakt mit der deutschen Gesellschaft erleichtert würde“. Sprachschulen könnten „günstige Voraussetzungen für ein spontanes Hilfeersuchen“ der Opfer von Zwangsehen schaffen, die dadurch womöglich leichter Kontakt zu den Behörden herstellen.

Auch Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen, plädiert für Sprachkurse im Inland: „Deutsch lernt man in Deutschland am schnellsten. Der Familiennachzug schafft ein Gefühl von Willkommenskultur und des Angekommen-Seins.“

Die Berliner Anwältin Seran Ates dagegen hält Sprachkurse nach der Einreise für wenig tauglich, um Zwangsverheiratungen wirksam entgegenzuwirken. Oft würden die Frauen bald nach der Heirat schwanger und hätten dann kaum noch Zeit für Unterricht. Zudem seien die Männer meist nicht bereit, ihre Frauen dabei zu unterstützen. „Sie holen sich ja mit Absicht eine Frau aus der Heimat, die nicht so selbstbewusst auftritt wie Frauen hier, die etwa als Analphabetin abhängig ist vom Mann. Es geht auch darum, einen Heiratsmarkt zu zerstören, der Frauenrechte missachtet“, sagte sie auf sueddeutsche.de.

Das Bundesinnenministerium jedenfalls möchte grundsätzlich an der Idee eines Nachweises von Sprachkenntnissen festhalten: „Dies halte ich auch nach wie vor für richtig“, sagte der parlamentarische Staatssekretär Günter Krings (CDU). Das Urteil mache „Einschränkungen, deren Auswirkungen wir jetzt sorgfältig prüfen werden“. Überdies betreffe der Richterspruch nur Türken, nicht aber Ausländer aus anderen Ländern außerhalb der Europäischen Union. Für sie bleibe es bei der Pflicht zum Sprachtest.
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