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Hilfe, ich höre mich denken!

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Bevor du diese Frage beantwortest, nimm dir Zeit für ein kleines Morgenexperiment: Such dir den Raum in der Wohnung, in dem du am wenigsten Ablenkung hast: die Toilette, die Abstellkammer oder einen Wandschrank zum Beispiel. Stelle deinen Handywecker auf 15 Minuten und lege das Handy VOR die Tür. Dann setz dich, bis der Wecker klingelt, (ohne einzuschlafen!) und tue gar nichts. Kein Herumzupfen am Schlafanzug, kein Zöpfeflechten, einfach nur stillsitzen und denken. Na, wie einfach ist das?





Dass diese Aufgabe zu einer echten Qual werden kann, zeigt eine Studie von Wissenschaftlern der University of Virginia. Die baten ihre Probanden nämlich genau darum: sechs bis 15 Minuten einfach mal nichts tun. Gar nichts. Den meisten fiel diese Aufgabe unfassbar schwer. Das Ergebnis einer Versuchsrunde aber war besonders erschreckend: Den Probanden wurde im Voraus ein Stromschlag verpasst. Viele hätten eingewilligt, fünf Dollar zu zahlen, um nicht noch einmal geschockt zu werden. Danach wurden sie wieder gebeten, eine Viertelstunde lang nichts zu tun, hatten aber die Möglichkeit, sich selbst einen Elektroschock zu geben. Das Resultat: 25 Prozent der Frauen und 67 Prozent der Männer gaben sich in der Zeit mindestens einen elektrischen Schlag. Einfach so. Ein Proband sogar 190 in den 15 Minuten. 

Aber wieso finden wir es so schlimm, uns mit dem Inhalt unseres Hirns zu beschäftigen? Sind unsere Gedanken zu schlechte Gesprächspartner für interessante Monologe oder auch nur einen inneren Small-Talk? Oder nutzt unser fieser Verstand solche Situationen einfach gnadenlos aus, um uns mit allen Problemen und weltphilosophischen Fragen auf einmal zu nerven, die wir sonst durch das Reizüberflutungs-Dauerfeuer sehr gut verdrängen können? Wie würde der Versuch bei dir ausgehen? Bist du in der Lage, dich entspannt deinen Gedanken zu widmen, oder würdest du dir nach drei Minuten schon einen Elektroschocker herbeisehnen? Warum glaubst du, können wir nicht mehr in Ruhe gar nichts tun? Und welche Gedanken befallen dich, wenn du es doch versuchst?

Vignette per Post

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Berlin – Aus der „Ausländermaut“ des Wahlkampfs ist nun zwar die „Infrastrukturabgabe“ geworden.
Daneben hat sich aber wenig an den Plänen von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) für eine Straßennutzungsgebühr vor allem für nicht-deutsche Autofahrer geändert. Finanziell sollen die heimische Fahrzeughalter zwar geschont werden, einige Veränderungen stehen ihnen aber dennoch ins Haus.



Alexnder Dobrindt ist sicher: Seine Maut würde nicht gegen EU-Recht verstoßen.


Wann kommt die Maut?

Von Januar 2016 an soll die neue Infrastrukturabgabe fällig werden. Ob das entsprechende Gesetz noch in diesem Jahr das Parlament passiert, darauf wollte sich Dobrindt am Montag bei der Vorstellung seiner Pläne aber noch nicht festlegen. Zu viel Abstimmungsarbeit liegt noch vor ihm: mit dem Bundesfinanzministerium, mit den Ländern und mit der EU-Kommission. Entsprechend viel kann sich an den Maut-Plänen bis dahin noch ändern.

Wer muss sie bezahlen?

Fast jeder, der sich mit Motorkraft über deutsche Straßen bewegt. Klar ist, dass alle Autofahrer – sowohl einheimische als auch ausländische – die Abgabe bezahlen sollen. Ausnahmen von der Kfz-Steuer, etwa für Schwerbehinderte, sollen auch für die Infrastrukturabgabe gelten.
Wie teuer wird die Vignette?

Im Schnitt soll der Mautsatz den Plänen zufolge bei 88 Euro pro Jahr liegen, allerdings mit großen Schwankungen von Fall zu Fall. Wie viel die Straßennutzung konkret kostet, hängt nämlich von der Ökoklasse, dem Hubraum des Motors und dem Baujahr ab. Realistisch dürfte eine Bandbreite zwischen etwa 20 und 150 Euro jährlich sein.

Egal wie hoch die Infrastrukturabgabe jeweils ist, kein deutscher Autofahrer soll unter dem Strich mehr zahlen als bisher, so das Versprechen. Denn im Gegenzug für die geleistete Maut soll die Kfz-Steuer sinken, und zwar jeweils genau um den Betrag, der für die Vignette fällig wird. Das würde aber auch bedeuten, dass lediglich ausländische Autos, die nicht von einem solchen Ausgleich profitieren, tatsächlich mehr zahlen. Die EU-Kommission betrachtet Dobrindts Pläne daher skeptisch, weil sie eine unerlaubte Benachteiligung von Ausländern befürchtet.

Diese haben bei der Einreise die Wahl. Geplant sind zeitlich befristete Vignetten für zehn Tage oder zwei Monate, die an Tankstellen für 10 beziehungsweise 20 Euro verkauft werden sollen. Wer regelmäßig auf deutschen Straßen unterwegs ist, kann sich – genauso wie deutsche Autofahrer – eine preislich genau auf sein Fahrzeug angepasste Vignette im Internet ausstellen lassen oder für etwa 100 Euro eine Pauschal-Jahresvignette ebenfalls an der Tankstelle lösen.

Welche Straßen werden mautpflichtig?

Alle, egal ob klein oder groß, ob in der Verantwortung des Bundes, eines Landes oder einer Kommune. Damit müsste jedes Auto zwangsläufig eine Vignette haben. Die Halter sollen sie den Plänen zufolge mit der Anmeldung ihres Wagens und anschließend jährlich per Post erhalten. Damit würde das Ausweichen auf Nebenstrecken zum Sparen der Maut nichts bringen. Zugleich fordern deshalb aber auch Länder und Gemeinden einen Anteil an den Einnahmen. Dazu zeigte sich Dobrindt gesprächsbereit – wohl auch, weil er den Bundesrat noch brauchen könnte.

Was passiert mit der Kfz-Steuer?

Sie bleibt erhalten, soll aber reformiert werden, um die Belastung durch die Infrastrukturabgabe für deutsche Fahrzeughalter auszugleichen. So ist eine abgesenkte Steuer mit Hubraum-Freigrenzen geplant. Die Berechnung der Abgabe würde dann erst oberhalb einer bestimmten Hubraumgröße beginnen. Zudem soll sich die Höhe wie bisher auch an der Umweltfreundlichkeit des einzelnen Fahrzeugs orientieren. Saubere Autos zahlen weniger.

Wie viel kostet das alles?

Schon vor der Vorstellung war viel vom „Bürokratiemonster“ Maut die Rede gewesen. Dobrindt verspricht dagegen, dass die Kosten für den gesamten Mautbetrieb – also die Ermittlung der Vignettenkosten, das Herstellen und Versenden der Aufkleber, die Kontrolle und die Verwaltung – bei etwa acht Prozent der Einnahmen liegen würden. Diese sollen sich allein bei den deutschen Fahrzeughaltern auf 3,8 Milliarden Euro jährlich summieren, schätzt das Verkehrsministerium. Dieser Betrag würde aber zugleich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) an Kfz-Steuereinnahmen verloren gehen. Hinzu kämen etwa 860 Millionen Euro pro Jahr von den ausländischen Autofahrern, das wären echte Mehreinnahmen. Abzüglich der Gesamtkosten könnten 600 Millionen davon in den Straßenbau fließen.

Freundschafts-Dienste

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Wenn einer ein bisschen für die Russen rumspionieren möchte und seine Dienste beispielsweise dem russischen Generalkonsulat in München per Mail anbietet, kann er sich ziemlich sicher sein: Die deutsche Spionageabwehr liest mit. So flog der angebliche BND-Agent auf, der den Russen Ende Mai Unterlagen angeboten hatte. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte mitgelesen und schlug Alarm.
Wenn einer aber lieber ein bisschen für die US-Dienste in Deutschland rumspionieren möchte und sich bei einem US-Generalkonsulat meldet, riskiert er wenig: Die deutschen Dienste lesen nicht mit.



Neben der Flagge des Landes hängt eine Überwachungskamera an der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika.

Strafrechtlich macht es keinen Unterschied, für welchen ausländischen Geheimdienst jemand spioniert – es ist in jedem Fall eine Straftat. Aber, bislang zumindest, müssen amerikanische Spione in Deutschland nicht viel fürchten. Es gab bislang kein einziges Strafverfahren gegen amerikanische Agenten in Deutschland.
Das soll sich ändern. Angeblich. In Hintergrundrunden spricht der zuständige Bundesinnenminister Thomas de Maizière immer wieder über den „360-Grad-Blick“, den die Deutschen haben müssten. Das meint: Die Spionageabwehr soll sich künftig auch um die Aktivitäten der Dienste befreundeter Staaten in Deutschland kümmern. Die Zusammenarbeit mit Briten oder Amerikanern hält de Maizière für unverzichtbar, die Kontrolle aber auch. In der Praxis sah das bisher ganz anders aus; und es wird sich zeigen, ob wirklich alle Dienste gleich behandelt werden, die in Deutschland spionieren wollen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Landesämter und der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr gehen, in der Theorie zumindest, allen Hinweisen auf mögliche Spionage nach. Sie zapfen Quellen (wenn sie denn welche haben) an, versuchen Korrespondenz abzufangen, hören mit. „Gegen-Spionage“ gibt es sogar. Der Bundesnachrichtendienst (BND) platziert dann eine Quelle in einem anderen Nachrichtendienst, um mehr zu erfahren.

Von 2009 bis 2012 wurden knapp 60 Ermittlungsverfahren wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit eingeleitet, es kam zu zehn Verurteilungen. Die Gegner war vor allem Chinesen, Russen, Nordkoreaner und Agenten aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Wenn es um Agenten dieser Nationen geht, ist der Informationsaustausch zwischen den deutschen Diensten eng. Es gibt sogar Hospitationen der Dienste, um zu lernen, wie man erfolgreich gegen solche Spione zusammenarbeitet.

Eine Art Schnittstellen-Koordinator ist das Sachgebiet „Fremde Dienste“ des BND. Die Spezialisten des Auslandsgeheimdienstes unterhalten regelmäßigen Kontakt mit den für Russland, China, Syrien und Iran zuständigen Kollegen der Abteilung 4 des für Spionageabwehr zuständigen Bundesamtes für Verfassungsschutz. Um amerikanische Agenten, ihre Helfer, ihre Unterstützer ging es da nie.
Aktivitäten von Partnerdiensten in Deutschland werden von den Verfassungsschutzbehörden nicht systematisch bearbeitet. Es geht nach dem Zufallsprinzip zu. Wenn einer erwischt wird, gibt es ein klärendes Gespräch mit dem jeweiligen befreundeten Nachrichtendienst. Manchmal müssen erwischte Spione Deutschland verlassen. Das ist die Höchststrafe. Könnte sich diese Praxis wirklich ändern?
Klar: Die deutsche Politik reagiert wegen des Lauschangriffs auf das Handy der Kanzlerin und wegen des neuen BND-Spionagefalls sehr gereizt. Und die Spitzenleute der deutschen Nachrichtendienstwelt beschweren sich, dass die Amerikaner den Selbstanbieter des BND nicht dem BND gemeldet hätten. Das gehöre sich doch so.

Aber der US-Geheimdienstchef James Clapper hat schon im Vorjahr in Washington angedeutet, was er von Beschwerden der anderen hält. Er zitierte dabei den Klassiker „Casablanca“: Spionieren tun doch alle. Wohl mit Blick auf die wehleidigen Deutschen erzählte er, das Ausspähen befreundeter Staatsoberhäupter sei die erste Lektion gewesen, die er „1963 in der Agentenschule gelernt“ habe. Es gibt immer noch deutsche Nachrichtendienstler, die es für „falsch“ halten, jetzt die Amerikaner oder Briten ins Visier nehmen zu wollen. Man brauche die doch – und was sei denn schon passiert? Hochrangige deutsche Nachrichtendienstler werfen Bundestagabgeordneten vor, diese hätten versagt, weil sie den NSA-Untersuchungsausschuss nicht verhindert hätten. Da komme doch ohnehin nichts heraus. Sie selbst wüssten doch auch nichts Genaues. Obwohl das eigentlich eine Bankrotterklärung der Spionageabwehr ist, können die Routiniers der Geheimdienstbranche auf den Zynismus eines Teils des Publikums setzen, das sich wegen der vielen Affären langweilt.

Außerdem: War doch alles schon mal da. Vor genau zwanzig Jahren, Helmut Kohl war noch Bundeskanzler, gab es in Bonn eine geheim tagende Arbeitsgruppe, der drei Ministerien und drei Geheimdienstchefs angehörten. Der Verfassungsschutz hatte sogar eine Liste mit den Namen verdächtiger amerikanischer Agenten angelegt. „Das geht doch nicht, was die hier treiben“, erregte sich der Abteilungsleiter im Kanzleramt, ein Professor für Völkerrecht, über die Skandale, die es damals gab. Schließlich unterlägen auch Spionageaktivitäten befreundeter Staaten keinem politischen Schutz. Dann allerdings erlahmte der Abwehrwille. Man traf sich nur noch gelegentlich. Ende 1995 war Schluss. Das Kanzleramt lud einfach nicht mehr zu Sitzungen ein.

Die Elefanten kämpfen wieder

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Nairobi – Die ersten Tränengasgranaten flogen am Morgen, ein paar Demonstranten warfen Steine auf Polizisten, dann wurde es wieder ruhig in Kenias Hauptstadt. Angespannt ruhig. Unter scharfen Kontrollen sind Tausende Menschen am Montag in den zentralen Park von Nairobi geströmt, um ihren Unmut über die Politik von Präsident Uhuru Kenyatta zu äußern.



Auf einer Kundgebung zeigen die Anhänger der Opposition ihren Unmut über die Regierung - und werfen mit Steinen.

Oppositionsführer Raila Odinga hatte nicht nur zu Massenprotesten gegen die Regierung aufgerufen, sondern den Tag gleich zu einem „nationalen Feiertag“ erklärt. Etliche Kenianer blieben indes zu Hause, auch aus Angst: Kenias tief wurzelndes nationales Problem, die Spannungen zwischen den Ethnien, hatte sich in jüngster Zeit so zugespitzt wie seit Jahren nicht – und damit die Furcht erhöht, die Demonstration könnte zum Zündfunken werden für Ausschreitungen, Übergriffe, Massaker. Und so legte sich über die Hauptstadt tatsächlich eine bedrückte Feiertagsstimmung: geschlossene Läden, verrammelte Türen, freie Straßen.

Es ist ein tief sitzendes nationales Trauma, das nie aufgearbeitet worden ist und nun wieder hervorkommt: Um die Jahreswende 2007/2008 war das Land, bis dato in Europa eher als politisch unauffälliges Safariparadies wahrgenommen, in eine bürgerkriegsähnliche Krise gestürzt. Tote und Vertreibungen hatte es auch zuvor rund um Wahltermine immer wieder gegeben, aber dieses Ausmaß war neu: Die Opposition um Odinga sah sich um den Wahlsieg betrogen, wenig später gingen Milizen in vielen Teilen des Landes auf Menschen der jeweils gegnerischen Volksgruppe los, brandschatzten, mordeten, vergewaltigten; mehr als tausend Menschen starben, Hunderttausende wurden vertrieben. Vielen klingen noch die Worte Odingas im Ohr, der kurz vor dem Ausbruch der Kämpfe zur „Massenaktion“ aufgerufen hatte.

Im Kern ist es der sprichwörtliche Kampf zweier Elefanten, der nun in eine neue Runde geht. Raila Odinga, Sohn des ersten Vizepräsidenten (und späteren Oppositionsführers) im unabhängigen Kenia, gegen Uhuru Kenyatta, Sohn des damaligen Präsidenten. Zwei Dynastien, die seit fünf Jahrzehnten um die Macht im Vielvölkerstaat Kenia ringen und sich mal in Koalitionen arrangieren, mal einander aufs Blut bekämpfen. Und es sind zugleich die Anführer der zwei großen ethnischen Blöcke in diesem Land; Odinga ist Luo, Kenyatta ist Kikuyu. Nach den Unruhen von 2007/2008 gab es eine Einheitsregierung und Kommissionen für Wahrheitsfindung und Versöhnung, und es war verpönt, Mitbürger zu fragen, welcher Ethnie sie angehören. Doch dieser Zustand war offenbar nur ein kurzes Intermezzo in der Geschichte Kenias.

Dabei können sich den Vorwürfen, die Odinga in seiner jetzigen Protestkampagne erhebt, viele Kenianer anschließen, unabhängig von ihrer Muttersprache: Die innere Sicherheit, seit jeher brüchig, ist auf einem historischen Tiefpunkt, Gewaltkriminalität und Terror wüten so ungehemmt wie nie zuvor. Trotz Wirtschaftswachstums ächzt die Mehrheit der kenianischen Bevölkerung unter rasant steigenden Preisen, die Korruption frisst sich weiter durch alle Ebenen des Staates, und bei der Vergabe von Beamtenstellen werden wie eh und je bestimmte Volksgruppen bevorzugt. Doch die Art und Weise, wie Odinga die Proteste anstiftet, mit hitzköpfigen Aufrufen, bereitet vielen Menschen im Land Sorge, auch denen, die ihm inhaltlich zustimmen.

15000 Polizisten hatte die Regierung vorab angekündigt, mit denen am Montag die Innenstadt vor Krawallen gesichert werden sollte. Damit provozierte sie Kritik und Spott: Wo waren all die Polizisten, als in den vergangenen Wochen immer wieder Dörfer nahe der Küste und an der Grenze zu Somalia von Bewaffneten überfallen, in Brand gesteckt wurden, deren Bewohner erschossen, massakriert wurden? Und wer könnte nun womöglich einen Vorteil daraus ziehen, wenn die vielen Beamten anderswo für diesen Tag abgezogen werden?
Erst in der Nacht zum Sonntag hatten Bewaffnete erneut mehrere Dörfer in der Provinz Lamu überfallen und mehr als 20 Menschen hingerichtet. Anschließend bekannte sich dazu die islamistische Al-Shabaab-Miliz aus dem Nachbarland Somalia, die in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von Anschlägen in Kenia verübt hat, jeweils verbunden mit der Forderung, die kenianischen Truppen sollten aus Somalia abziehen.
Präsident Kenyatta hatte nach ähnlichen Attacken Mitte Juni die Öffentlichkeit überrascht, indem er erklärte, nicht etwa al-Shabaab sei für die Taten verantwortlich, sondern „lokale politische Netzwerke“. Parlamentarier seiner Fraktion legten nach und brachten diese Netzwerke in Verbindung mit der Opposition, woraufhin sich etwa unter jungen Kikuyu in Nairobi die Lesart verbreitete, Odinga sei schuld an den Massakern.

In derart aufgeheizter Stimmung also trat der Oppositionsführer am Montagnachmittag vor seine Anhänger im Uhuru-Park und wetterte, Präsident Kenyatta habe seine Aufforderung zu einem „nationalen Dialog“ ignoriert, und nun sei die Zeit für einen Dialog vorbei. Man habe „keine Angst vor Schusswaffen“ und sei bereit, „die Menschen zu verteidigen“.

Dass es bis zum frühen Montagabend in Nairobi weitgehend ruhig geblieben ist, deutet zunächst weniger auf eine Entspannung zwischen den politischen und ethnischen Lagern hin als darauf, dass viele Menschen aus Angst vor Unruhen und vor dem gewaltigen Polizeiaufgebot die Innenstadt an diesem Tag komplett mieden. Doch auch wenn die Fronten nach diesem Tag eher noch verhärteter sein dürften als zuvor und die Chancen für einen konstruktiven Dialog noch weiter sinken: Manche Bewohner der Hauptstadt sahen in Odingas Protestveranstaltung dennoch einen Erfolg. Zumindest für diesen Tag seien schließlich zwei der Hauptprobleme von Nairobi behoben worden, schrieb ein junger Mann auf Twitter: Es gab zur Abwechslung maximale Sicherheit – und keine Staus auf den Straßen.

Toter Teppich

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Das Erika-Hess-Eisstadion ist ein klotziger Betonbau aus den Sechzigern. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich ein Spätkauf, ein Stellplatz für Campingmobile und ein Sexshop, der Live-Shows anbietet. Kein Platz also, an dem sich die Modebranche gern für ein paar Tage den Fotografen präsentiert. Dennoch ist die schmucklose Halle nahe des U-Bahnhofs Reinickendorfer Straße im unglamourösen Bezirk Wedding seit diesem Dienstag nun erstmals der Veranstaltungsort für die Berliner Fashion Week.



Mina Tander, Lena Meyer-Landrut, Nova Meierhenrich und Hadnet Tesfai (von links nach rechts) bei der Eröffnungsfeier der Berliner Fashion Week am Montag.

40 Designer, unter ihnen Newcomer wie der Schweizer Julian Zigerli und bekanntere Gesichter wie Michael Sonntag und Dimitri, werden hier in den kommenden vier Tagen ihre Entwürfe für die Sommersaison 2015 präsentieren. Bislang zeigten sie ihre Kollektionen in einem extra dafür aufgebauten Zelt am Brandenburger Tor. Den Anstoß für den Umzug lieferte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) bereits im März. Sie erklärte damals, Berlins Wahrzeichen diene Sponsoren nur noch als Kulisse, das aber sei eines so bedeutenden Baudenkmals unwürdig. Im Mai kam schließlich auch die endgültige Absage vom Berliner Senat.

Ausschlaggebend für den Umzug der Schauen war die während der Fußball-WM parallel geöffnete Fanmeile am Brandenburger Tor. Das Modevolk gab sich empört. Und Jarrad Clark, stellvertretender Präsident von IMG, also dem Veranstalter der Fashion Week, versucht bis heute zu schlichten: „Ein Vorteil des neuen Standorts liegt darin, dass er uns Raum für Kreativität lässt und uns herausfordert, über die Routine in der Gestaltung hinauszudenken“, verkündete er tapfer. Das haben vor allem die erfolgreichsten Hauptstadt-Designer in aller Deutlichkeit getan. Noch nie standen in Berlin so viele „Offsite“-Termine auf dem Kalender – also Schauen und Präsentation, die fernab des uncharmanten Hauptgeländes um das Eisstadion inszeniert werden.

So präsentieren Vladimir Karaleev und Perret Schaad im herrschaftlichen Kronprinzenpalais Unter den Linden. Das Duo Augustin Teboul entschied sich für die private Atmosphäre der Galerie Judin in Kreuzberg. Lala Berlin nutzt die Studiobühne der Deutschen Oper und Publikumsliebling Dorothee Schumacher bittet für ihr Defilee in die St. Elisabeth-Kirche von Architekt Karl Friedrich Schinkel. Entscheidungen, die Kerstin Geffert durchaus nachvollziehen kann. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Silke Bolms führt sie seit neun Jahren die PR-Agentur Silk Relations. Mehr als 15 Events verantwortet sie dieses Mal. Und so richtig glücklich mit dem neuen Ort klingt sie nicht: Zwar möge das Eislaufstadion im Wedding objektiv betrachtet seinen Zweck erfüllen, sagt sie, es biete genügend Platz, sei zentraler gelegen als man denke, und zudem gebe es eine direkte U-Bahn-Verbindung zum Veranstaltungsort der gleichzeitig stattfindenden Fachmesse Bread and Butter. Nur: Publikumswirksam sei es leider gar nicht, findet Geffert: „Die Bilder unserer Fashion Week gehen in die ganze Welt hinaus. Da sieht das Brandenburger Tor im Hintergrund nun mal imposanter aus als ein Parkplatz für Wohnmobile.“

Doch nicht nur die Umsiedlung der Modewoche ließ Brancheninsider im Vorfeld über einen möglichen Rückgang der Besucherzahlen spekulieren. In der vergangenen Saison kamen immerhin mehr als 250000 Menschen. Auch die Abwanderung der großen Zugpferde scheint für immer mehr Moderedakteure den Anfang vom Ende einzuläuten. Vor einem Jahr verließen Hugo Boss und Escada die Stadt. Beide wollten sich auf neue Märkte konzentrieren. Investitionen tätigen, die gewinnbringender sind als ein Show-Spektakel in der eigenen Heimat. Vor einer Saison zogen dann auch noch Oliver Lührs und Thomas Bentz mit ihrem Label Achtland nach London. Dort würden sie einfach mehr internationale Einkäufer erreichen können, hieß es. Dadurch fehlt vielen in Berlin nun auch noch die größte Design-Hoffnung.

Weniger Anmeldungen zu den von ihr betreuten Schauen, darunter auch die von Augustin Teboul, kann Kerstin Geffert aber nicht verzeichnen. Es hätten sich erneut die wichtigsten Chefredakteure und Journalisten des Landes angemeldet. „Dennoch bin ich gespannt, wie ihre Resonanz in diesem Jahr ausfallen wird. Es ist viel im Umbruch. Aber Berlin hat weiterhin das Potenzial, sich international durchsetzen zu können“, hofft sie. Ohne jeglichen atmosphärischen Pomp, der nun mal zu einer erfolgreichen Modewoche gehört, ist das aber nur schwer vorstellbar. Um zu beeindrucken, bleibt den Designern jetzt allein ihre Entwurfsleistung.

Ein schwieriges Unterfangen, das auch erstmals zwei der bekanntesten Modeschulen aus Deutschland für sich nutzen wollen. Die Universität der Künste Berlin zeigt am Donnerstagabend Arbeiten von Studierenden am Weddinger Hauptsitz der Fashion Week. Einen Tag später präsentiert die AMD Akademie Mode und Design zum 25-jährigen Jubiläum die besten Absolventen des diesjährigen Abschlussjahrgangs aus allen vier Standorten. In den Modemetropolen von New York bis Paris haben solche Plattformen für den Nachwuchs längst Tradition und werden sogar staatlich bezuschusst. Dort wird Mode allerdings auch nicht in einem Eisstadion zwischen Spätkäufen und Sexshops präsentiert.

Tagesblog am 8. Juli 2014

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17:37 Uhr: Schade, jetzt ist der jetzt.de-Tag schon wieder vorbei. Es war mir wie immer eine Ehre oder, um es mit Timmys Worten zu sagen:
[plugin imagelink link="http://www.boredpanda.com/blog/wp-content/uploads/2014/06/funny-children-mistakes-19.jpg" imagesrc="http://www.boredpanda.com/blog/wp-content/uploads/2014/06/funny-children-mistakes-19.jpg"](Weitere niedliche Verschreiber übrigens hier.)

Morgen begrüßt euch hier Kathrin Hollmer.
Tschüß!

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17:15 Uhr:
Manchmal, ganz manchmal check ich Twitter ja nicht:



Schönen Dank auch für die Info, ne?

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16:54 Uhr:
Menschen mit Liebeskummer sind das Elend in Person. Ein gebrochenes Herz innendrin sieht man draußen an der laufenden Nase, den roten Augen, den Sorgenfalten auf der Stirn und der Körperhaltung, die in etwa "Ich möchte mich gerne ganz klein zusammenrollen oder noch besser im Erdbode verschwinden" signalisiert. Da hilft nur noch: schnell in den Arm nehmen und sehr fest drücken. Was aber, wenn der schluchzende, zusammengefallene, herzgebrochene Mensch in, sagen wir mal, Chicago sitzt, man selbst aber in München, und man sieht ihn nur auf dem Bildschirm, im Skype-Fensterchen? Über die Grausamkeit des fern-Trosts und darüber, warum er nicht funktioniert, hat Teresa nachgedacht.


Buhuhuuuu, schluhuhuuuchz!

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16:09 Uhr:
Für die kleine Meditation zwischendurch: Eine Banane im Gleichgewicht.
[plugin imagelink link="http://www.kevinvanaelst.com/insearchofperfectstatesweb.jpg" imagesrc="http://www.kevinvanaelst.com/insearchofperfectstatesweb.jpg"]

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15:43 Uhr:
Gleich noch mal hihi: "Ich mein, no hetero, aber: geile Titten!"
http://www.youtube.com/watch?v=O5We80DTbjo

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15:16 Uhr:
Hihi, jemand hat heute die Webseite der NPD gehackt, Kathrin hat gerade einen Screenshot davon gemacht:



Laut "Stern" wird natürlich dran gearbeitet, das Ganze zu beheben, darum kommt man über die Startseite schon nicht mehr zu dieser Ansicht. Es gibt aber immer noch einen Link, der einen dorthin führt.

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14:53 Uhr:
Wollt ihr wissen, wer bei der Sommerchallenge bisher der totale Verlierer ist? Ich. Ich grille selten, mag Eis nur in Maßen und besitze fast keine kurze Hosen. Aber hier hat grade jemand alle Nacktbademännchen ausgemalt. ALLE. NACKT. BADEMÄNNCHEN. Wer das war wird aus Gründen der Diskretion verschwiegen. In der großen Sommerchallenge-Auswertung am Ende des Sommers werdet ihr es aber sicher erahnen können, denn für's Nacktbaden gibt es ja besonders viele Sommerpluspunkte.




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14:33 Uhr:
2013 wurde "Selfie" Wort des Jahres und wir dachten, wir hätten in unserem Selfie-ABC zu diesem Anlass schon alle Varianten der Selbstfotografie abgehandelt. Aber nein, es geht immer weiter mit dem Selfie-Wahn. Nach der Ellen DeGeneres-Welle nun also das Tour-de-France-Selfie - die vielleicht gefährlichste Selfie-Variante ever. Und Chris weiß auch warum. Bitte hier entlang radeln.




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14:10 Uhr:
Und nun zum täglichen Kartoffelsalat-Update. Im gestrigen Tagesblog hat Chris ja schon vom Kickstarter-Projekt zur Kartoffelsalatfinanzierung berichtet. 10 Euro wollte Zack aus Ohio haben, gestern hatte er dann schon mehr als 7.600 Dollar. Und heute, wie wir gerade von den Phänomeme-Kollegen erfuhren: mehr als 36.000!!! Vermutlich kann er jetzt seine Kartoffeln vergolden. Oder sehr viele hungrige Menschen sehr satt machen.

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13:47 Uhr:
Trauern im Internet, vor allem in sozialen Netzwerken, ist ein gern diskutiertes Thema. Was passiert mit den Profilen Verstorbener? Wer soll und darf sich darum kümmern? Darf eine Facebook-Pinnwand zu einer Gedenk-Pinnwand werden? Gerade habe ich einen berührenden Text zum Thema gelesen, den ich euch empfehlen mag, bevor es ganz bald auch auf jetzt.de etwas Neues zu lesen geht: In "She's Still Dying on Facebook" erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Freundin Lea, die an einer Überdosis gestorben ist. Und wie sie immer und immer wieder an Lea erinnert wird, wie Lea immer und immer wieder stirbt, weil es ihr Facebook-Profil noch immer gibt.
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12:59 Uhr:
Äh, ja, sorry, Katzencontent, gähn und so, aber ich mein erstens: Mittagstief und zweitens: ein Business-Outfit für Katzen! Wer würde ihm hier nicht all sein Geld geben, auf dass er es vermehre (und sich dann aber doch nur selbst daran bereichere)?
[plugin imagelink link="http://likecool.com/Gear/Pet/Business%20Cat%20Tie/Business-Cat-Tie.jpg" imagesrc="http://likecool.com/Gear/Pet/Business%20Cat%20Tie/Business-Cat-Tie.jpg"]

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11:29 Uhr:
Ein neuer Text ist online und zwar zu seinem sehr, sehr spannenden Thema: Wie arbeiten die Entwickler von Computerspielen und die Rüstungsindustrie zusammen? Der Politikwissenschaftstudent Michael Schulze von Glaßer hat darüber ein Buch geschrieben. Sebastian Witte hat mit ihm gesprochen und die Situation zusammengefasst - von Lizenzgebühren bis zu hin zu Hinterzimmer-Deals darüber, wer in "Medal of Honor" mit "Heckler&Koch"-Gewehren schießen darf.

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10:52 Uhr:
Neue Runde Redaktions-Musterraten! Wer trägt heute dieses Muster (und welchem Tier ist es nachempfunden):




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10:38 Uhr:
Wieso immer öffentliche Verkehrsmittel nutzen, wenn man auch auf Europaletten fahren kann? Zumindest in Brastislava, wo sie genau in die Tramschienen passen. Total gute Art, sich fortzubewegen - weniger abgeschmackt als Skateboards, nur halb so peinlich wie Tretroller und total umweltfreundlch. Ich will das sofort ausprobieren!
http://vimeo.com/86508660

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09:57 Uhr:
Kleiner Nachrichtenüberblick, bevor wir uns in die Konferenz verkrümeln:

- Israel fliegt Luftangriffe gegen Gaza.

- Eine Bilanz von Angela Merkels Staatsbesuch in China, bei dem es natürlich auch um die Spionageaffäre um den CIA-Doppelagenten ging.

- Und apropos Spionageaffäre: Bisher gab es in Deutschland kein einziges Sttrafverfahren gegen amerikanische Agenten, gegen die anderer Nationen aber sehr wohl.

- Ein Interview mit einer Psychologin zum Thema "Hochstaplersyndrom" - das ist das, was wir fast alle haben: Die Angst davor, dass irgendwann auffliegt, dass wir eigentlich gar nix können. Zum gleichen Thema möchte ich euch auch noch mal einen meiner liebsten jetzt.de-Texte ans Herz legen: "Viel Lärm um nichts" vom Kollegen Alexander Hirschmann.

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09:13 Uhr:
Guten Morgen! Montag-Tageschef Chris Helten hat euch gestern Abend versprochen, dass heute Jan Stremmel bloggt. Und ja, ich bin's, mache heute aber bei einem Nadja-Schlüter-look-alike-Wettbewerb mit. Ich denke, ich werde gewinnen!

Gleich geht es hier los mit dem Tagesblog, muss nur erst noch Mails lesen. Ihr könnt ja so lange schon mal in den Ticker schauen. Da geht es heute um alleine sein. Ganz, ganz alleine. Nur du. Und ein Elektroschocker.

Der Rhythmus von Süd-Bahia

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Montagabend um sechs am Strand von Santo André: Über dem Ozean verflüchtigt sich das restliche Tageslicht, der Strand ist menschenleer. Nur ein einzelner Mann steht mit dem Rücken zum Wasser und fotografiert ausdauernd einen Immobilienkomplex, der hinter einem schlichten grünen Zaun verborgen liegt. Die Wächter vor dem Anwesen kümmern sich nicht um den Mann. Drei Uniformierte stehen am Eingang zur Anlage, zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Militär- polizisten in Camouflage dekorieren das Gebüsch hinter der Sandlinie. Vor ein paar Wochen hätten sie sich noch die Mühe gemacht, den Mann mit dem Fotoapparat einigermaßen höflich zu verscheuchen. Aber jetzt sieht man das alles lockerer, an den Schranken herrscht allmählich wieder der Rhythmus von Süd-Bahia, bei dem alles etwas langsamer und lässiger zugeht. Noch ein paar Tage, dann wird Joachim Löw den letzten seiner täglichen Strand- läufe unternommen haben, dann werden die Leute, die hinter dem Zaun wohnen, ihre Sachen packen und verschwinden – vermutlich auf Nimmerwiedersehen.



Thomas Müller und seine Mannschaftskollegen verlassen das Traningscamp in Süd-Bahia.

Dass die deutschen Spieler in diesem Leben noch mal zurückkehren werden ins Campo Bahia, das ist unwahrscheinlich. Dass sie sich aber künftig mit einiger Sehnsucht und Wehmut an ihr brasilianisches WM-Quartier erinnern werden, das ist ebenfalls anzunehmen. Sie brauchen ihre Erinnerungen nicht mal zu verklären, selbst in der erlebten Gegenwart ist es schön in Santo André. So eine gute Unterkunft hat Deutschlands Nationalmannschaft noch nie gehabt, das stellt jetzt nicht nur Oliver Bierhoff fest, der Entdecker des Reiseziels und Initiator des Unternehmens. Das bestätigen auch die, die eigentlich keine Ahnung davon haben, dafür aber die nötige Begeisterungsfähigkeit mitbringen, etwa der schlaue Mönchengladbacher Christoph Kramer: „Wir haben das beste WM-Quartier aller 32 Mannschaften.“ Und das sagt auch einer, der es bestens beurteilen kann, weil er das nötige historische Wissen besitzt: Wolfgang Niersbach, der DFB-Präsident, der seit 1982 bei jeder deutschen WM dabei war, zieht den ehrenwerten Vergleich mit Erba, dem Hotel am Comer See von 1990, das in der Ahnengalerie der DFB-Unterkünfte den höchsten Adelsrang hat, weil es am Ende mit dem Titelgewinn verziert wurde. Was dem Campo Bahia ja auch noch widerfahren kann.

Die deutschen Fußballer haben schon an schlimmen Orten gewohnt während der Fifa-Turniere, in Argentinien 1978 hatte man sie in die Einöde von Asochinga verfrachtet, bald erfuhren die Spieler, dass die indianische Übersetzung des Dorfnamens – „toter Hund“ – ihre volle Berechtigung hatte. „Da war weit und breit nichts, nur Langeweile“, hat Bernd Hölzenbein mal erzählt.

„In Santo André ist allerdings auch nichts los“, sagt nun Oliver Bierhoff in einem Tonfall, als ob er etwas zugeben müsste. Aber in Wahrheit weiß der DFB-Manager gar nicht, wovon er spricht. Die Leute vom DFB nehmen am Dorfleben von Santo André allenfalls vereinzelt teil, sie gehen nicht mal im Dorf spazieren, des- wegen hat Bierhoff auch keine Ahnung davon, dass es in dieser erstaunlichen Gemeinde eine höchst lebendige Dorf- Disco gibt, die am Wochenende und an Feiertagen bis in die Morgenstunden in Betrieb ist. Am Samstag hat immerhin der DFB-Koch Holger Stromberg vorbeigeschaut. Feiertage gibt es hier im Übrigen in undurchschaubarer Häufigkeit. Sie sind den katholischen Heiligen gewidmet, von denen es in Süd-Bahia deutlich mehr zu geben scheint als im Heiligen Rom.

Es findet auch noch ein anderes öffentliches Leben in Santo André statt. In den Strandlokalen, Restaurants und Gäste- häusern wird nach einem geheimen Rollenplan eine abendliche Happy Hour abgehalten, die eher Happy Night bzw. Party Night heißen müsste. Die Band, die dort aufspielt, ist immer dieselbe, sie wird von einem jungen Weltenbummler angeführt, den die Mädchen mögen, weil er schön singt und gut aussieht; und die Gesellschaft, die ihm zuhört, ist auch immer dieselbe: Brasilianer mit etwas Vermögen, die sich hier in der Stille niedergelassen haben; ein paar Intellektuelle; Einwanderer aus den USA und Europa; Deutsche, die ihr Geld in São Paulo verdient haben und übergesiedelt sind. Und neuerdings gehören zur Dorf-Bohème auch die Künstler, die hier im Dienst der Campo-Bahia-Investoren ihren Sommer verbringen, weil sie immer noch am Design der Bar des DFB-Quartiers arbeiten. Vermittelt hatte sie der Düsseldorfer Galerist Helge Achenbach, über den zuletzt auch einiges in den Zeitungen zu lesen war: Achenbach, einst Fortuna-Präsident, wurde geradewegs in U-Haft genommen, nachdem er aus Brasilien kommend wieder in Deutschland gelandet war. Was aber nichts mit seiner Tätigkeit im Campo Bahia zu tun hatte, dort war auch er nur Auftragnehmer.

Die Bartenderin, die hinter der künstlerisch gestalteten Theke arbeitet, ist Deutsch-Brasilianerin und kam auf Vermittlung einer Agentur zu dem Job im Fußballer-Camp. Sie mixe, versichert sie energisch, nur Fruchtcocktails für die Spieler. Es gibt Gerüchte im Dorf, dass nach dem 4:0-Sieg gegen Portugal ein bisschen zu intensiv gefeiert wurde, und dass der Bundestrainer daraufhin ein Alkoholverbot erlassen habe. Bierhoff dementiert zumindest Letzteres: „Es gibt kein Verbot, abends ein Bier oder ein Glas Wein ist kein Problem“, sagt er. Die Spieler heutzutage seien ohnehin anders als zu seiner Zeit. Auf der koreanischen Insel Jeju fanden 2002 unter Rudi Völlers gütiger Aufsicht regelmäßig durchaus heftige Feiern statt, „aber hier ist die Ausgelassenheit noch nicht so da“, der ganze Tross sei friedlicher als üblich. „Die Betreuer sitzen sonst ja immer bis zwölf an der Bar, aber das ist hier anders, die gehen auch um zehn ins Bett“, erzählt Bierhoff.

Die tropische Atmosphäre mag ihren Teil zur Trägheit beitragen, die Nacht beginnt spätestens um halb sieben. Kann sein, dass die Bewohner des Campo aber auch nur erschöpft sind nach einem ganzen Tag des ständigen Miteinanders. Man müsse es sich „wie im Asterix-Dorf vorstellen“. Alles findet im Freien statt und alles auf einem Fleck, Unterhaltungen, Behandlungen, Besprechungen, Sport, Freizeit, Lukas Podolskis Albernheiten. Nach außen ist man abgeschottet, nach innen offen. „Wir sind ein Riesenteam, weil jeder jeden ständig sieht“, wie ein Betreuer es begeistert schildert. Am freien Tag nach den Spielen dürfen neben Frauen und Kindern auch die Funktionäre kommen (und werden nicht als störend empfunden). Durchs traute Bild fährt dann vielleicht wieder der „Lummerland-Express“, der Materialtransporter von Busfahrer Hochfellner, das einzige Automobil auf dem 14000 Quadratmeter-Areal. Und hinter der Palme versteckt sich womöglich gerade wieder der Spieler X (Name bekannt), um eine Zigarette zu rauchen.

Fragt man die Trainer und Spieler, was sie vom Campo halten, hört man Worte wie „unser Ruhepol“ (Jérôme Boateng), „extremer Wohlfühlfaktor“ (Joachim Löw) oder „perfekt“ (Manuel Neuer). Die Fußballübertragungen gibt’s im Bar-Kino als Gemeinschaftsprogramm, abends in den Zimmern findet Fernsehen bloß noch im Nachtprogramm von ARD und ZDF statt: „Mit Kultur- und Landschaftsbildern“, wie Neuer spottet, „das kann man vielleicht brauchen, wenn man zum Yoga geht.“ Und der Lagerkoller? „Ich habe es zunächst ja nur auf dem Papier gesehen, da dachte ich, es könnte zu eng sein. Aber dann hat unser Psychologe Hans-Dieter Herrmann gesagt: Es kann nicht eng genug sein“, erzählt Bierhoff.

Als er, Löw und der DFB sich fürs Campo entschieden, war das Quartier nicht viel mehr als eine schöne Phantasie. Der Bau zog sich hin, es gab Anlass zur Unruhe. „Ich gebe zu“, sagt Bierhoff, „eine Woche, bevor wir hier ankamen, dachte ich: Es ist ein heißes Spiel!“ Die Vorberichte der Medien waren nach deutscher Art von Schreckensszenarien bestimmt. Als „Invasoren“ sähe man die Deutschen, „hinter der Fassade des Fischerdorfes gärt es“, so hieß es in einem Nachrichtenmagazin, das außerdem versprach, Löw und sein Team „sollten sich auf Straßensperren der Indianer einstellen“. Am Sonntag war tatsächlich eine Gruppe vom Stamm der Pataxo-Indianer am Campo. Sie überreichten Löw und Kapitän Philipp Lahm Pfeil und Bogen und andere Geschenke.

Projekt Baby

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Kinder zu bekommen, ist heute für viele ein Projekt. Erst die Ausbildung oder das Studium fertigkriegen, ein Jahr im Ausland verbringen, die Karriere planen und starten, in der unermesslichen Auswahl des Lebens und des Internets den perfekten Partner suchen – und dann! Endlich! Das Kind! Die emotionale Erfüllung. Irgendwann so mit Mitte 30. Oder auch später, wenn noch der perfekte Job oder die noch bessere Wohnung dazwischenkommt. Für manche Frauen ein gefährliches Spiel mit der biologischen Uhr. Egal, geht schon noch.



Kaum geboren, machen viele Eltern ihre Kinder schon zum Projekt. Bei Dolce & Gabbana gibt es die passenden Jogginghosen mit Leopardenprint.

Umso größer die Erleichterung, die Freude, wenn es dann wirklich geht und das Projekt startet. Ein Kind. Kaum vorstellbar, wie diese Wesen früher groß geworden sind. Ohne Babymessen, ohne Baby-Blogs im Internet, ohne Pekip-Kurse (ja, das ist das, wo die Babys in überhitzten Räumen nackt rumkrabbeln und auf den Boden pinkeln) – und ohne die neueste Junior-Kollektion von Burberry.

Mittlerweile gibt es kaum eine teure Marke mehr, die keine eigene Junior-Baby-Kids-Mini-Kollektion hat. Dolce & Gabbana stylt Jogginghosen mit kleinen Mini-Totenköpfen oder mit Leopardenprint. Kosten 200 Euro. Tommy Hilfiger bietet den amerikanischen Look mit einem Baby-Parka für, hey, 180 Euro. Und von Burberry gibt es natürlich den klassischen beigefarbenen Trenchcoat für lockere 575 Euro. Die Stars machen’s vor und lassen ihre Kleinsten in feinster Kleidung herumkrabbeln. Aber wer denkt, dass es nur die Stars sind, die sich diese Preise leisten, der irrt. Burberry zum Beispiel macht mittlerweile Milliardenumsätze mit den Mini-Klamotten.

Solche Summen können nicht nur von den Käufen der Schauspielerin Katie Holmes stammen, die ihr und Tom Cruises Kind Suri selbstredend in den Trenchcoat verpackt. Mit farblich abgestimmtem Schnuller, natürlich.

Nein, auch Normalmenschen kaufen, egal wie teuer. Konsumieren haben wir ja gelernt in den ersten 35 Jahren unseres Lebens. Außerdem zeigt man: Mein Kind ist mir was wert. Und sowieso – sagt ein so hübsch angezogenes Wesen nicht viel darüber aus, wie toll ich selbst bin? Vergessen, verdrängt, egal, dass das Kleine das Zeug nur einige Wochen trägt und dann rauswächst.

Was das Kind davon hat? Hübsche Kinderfotos für die Abi-Zeitung oder für die Enkel. Mehr kaum. Stattdessen wird es wohl irgendwann schmerzhaft werden. Wenn das Projekt dann trotzdem lieber mit Freunden in Urlaub fahren möchte oder mit 18 auszieht. Und eventuell Vorwürfe kommen wie: „Mensch, Mama, war ich eigentlich jemals mehr als ein Projekt für dich?“

Echtes Geld für falsche Waffen

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Pixel-Özil und Pixel-Müller rennen über den Pixelplatz Richtung Polygon-Tor. Müller schießt, trifft und programmierter Jubel bricht aus. Die Spieler sehen dabei zwar etwas unbeholfen aus, aber immerhin tragen sie die Namen ihrer realen Vorbilder. Dadurch wirkt das Videospiel "FIFA 14" realistischer. Das wissen sowohl die Entwickler als auch DFB und FIFA, die Lizenzen an die Spiele-Designer verkaufen, damit sie Müller und Co. offiziell in ihrem Spiel nennen dürfen.

Bei Sport- oder Autorentiteln sind diese Lizenz-Abmachungen ein offenes Geheimnis und der Käufer im Laden weiß, dass ein Teil seines Geldes bei der FIFA landet. Aber was passiert, wenn der Gamer sich für ein Militär-Spiel wie "Call Of Duty" oder "Battlefield" entscheidet? Hier tragen Panzer, Hubschrauber und Pistolen auch authentische Bezeichnungen. Unterstützt man Waffenfirmen, wenn man diese Spiele kauft?



Wer Egoshooter spielt, schießt oft mit Waffen, die es wirklich gibt - und hilft womöglich, sie zu finanzieren.


Michael Schulze von Glaßer, 27, sagt: ja. Der Student der Politikwissenschaft hat ein Buch geschrieben, in dem er sich mit der Zusammenarbeit von Waffen- und Spieleherstellern beschäftigt: "Das virtuelle Schlachtfeld – Videospiele, Militär und Rüstungsindustrie" ist im vergangenen März erschienen. Schulze von Glaßer erklärt, dass viele Rüstungsfirmen sich einschalten, sobald ihre Produkte in Games auftauchen: "Bei 'Call of Duty' oder 'Battlefield' kommen viele Waffen vor, die es wirklich gibt. Da sagen einige Firmen: 'Hey, wenn ihr diese Waffe nachbilden wollt, dann müsst ihr uns dafür Lizenz-Gebühren zahlen.' Anderen Firmen ist es egal, wenn ihre Waffen virtuell auftauchen – der Hersteller des Leopard 2-Panzers, der zum Beispiel in 'World of Tanks' auftaucht, duldet das zum Beispiel einfach und will vielleicht auch nichts mit Ego-Shootern zu tun haben."

Waffenhersteller haben ein Recht auf Lizenzgebühren


Die Hersteller haben grundsätzlich ein Recht darauf, Ansprüche zu erheben. Die Bezeichnungen für Fahrzeuge, Geräte und Waffen sind genauso geschützt wie die Firmennamen und die Formen der jeweiligen Modelle. Wenn die Programmierer also Namen, Formen und Marken einfach übernehmen, kann die Rüstungsindustrie auf Unterlassung oder Schadensersatz klagen, erklärt Anwalt und Medienrecht-Spezialist Boris Rothe: "Man prüft hier zum Beispiel das Urheberrecht, das Wettbewerbsrecht oder Markenrecht. Grundsätzlich darf man nicht alles mit dem Verweis auf das Recht auf freie Meinungsäußerung benutzen oder sich immer auf die Zitierfreiheit berufen." Das gilt für alle Medien und eben auch für Videospiele. "Wenn es um's Geld geht, muss der Hersteller natürlich erstmal beweisen, dass er tatsächlich Verluste gemacht hat, weil er in einem Spiel genannt wurde." Da das nicht so leicht ist, gibt es auch andere Arten sich zu einigen.

Generell schweigen alle Seiten darüber, ob und wieviel Geld für die Lizenzen gezahlt wird. Schulze von Glaßer hat im Zuge seiner Recherche bei Spiele- und Waffenherstellern angefragt, erhielt aber nur vom Leopard 2-Hersteller Krauss-Maffei Wegmann eine Antwort. Alle anderen reagierten gar nicht oder mit der Nachricht, sich nicht äußern zu wollen.

Die Hersteller entscheiden, wer mit ihren Waffen schießt - auch im Videospiel


Doch auch wenn kein Geld fließt, arbeiten die beiden Industrien oft eng zusammen. Anders ist es nicht zu erklären, dass zum Beispiel in "Call of Duty – Black Ops 2" den Waffenherstellern Remington Arms Company Inc. oder Barrett Firearms Manufacturing im Abspann gedankt wird. Wofür sich die Programmierer genau bedanken bleibt unklar, allerdings ist im Fall von Remington bekannt, dass dieser Hersteller auf Lizenzgebühren besteht. "Hier ist es sehr wahrscheinlich, dass Remington für die Lizensierung Geld bekommen hat“, sagt Schulze von Glaßer. Zu einer inoffiziellen Übereinkunft kam es in einem Fall aus dem Jahr 2012 in den USA. Die Rüstungsfirma Bell hatte zunächst geklagt, weil im Spiel "Battlefield 3" Hubschrauber  herumflogen, die Bell so tatsächlich produziert. Der Spieledesigner EA hatte keine Lizenz für diese Modelle und so kam es fast zum Prozess. Eine Einigung zwischen Bell und EA gab es dann außerhalb des Gerichtssaals. Wie die Einigung hier aussieht, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass die Bell-Hubschrauber weiter durch die virtuelle Welt von "Battlefield 3" gleiten und auch in "Battlefield 4" wieder auftauchen.

Aber die Waffenindustrie findet anscheinend auch abseits von Lizenzgebühren ihre Wege, Einfluss auf die Spielefirmen auszuüben. "Es gab wohl auch den Fall, dass sich Waffenhersteller haben zusichern lassen, dass ihre Produkte in der virtuellen Welt nicht von den bösen Gegnern verwenden werden können. Es sollen nur die 'Guten' damit schießen können", sagt Schulze von Glaßer. Dass er in seinen Aussagen so vage bleibt, liegt daran, dass diese Deals nicht offziell ist. Schulze von Glaßer selbst hat die Information über einen solchen Deal auf einer Messe von einem Spielentwickler bekommen, der nicht namentlich genannt werden möchte. In einem Podcast erzählte ihm der Spiele-Journalist Daniel Raumer von einer Abmachung zwischen dem Waffengersteller Heckler & Koch und den Entwicklern des Spiels "Medal of Honor". Der Entwickler Greg Goodrich äußerte Raumer gegenüber, man habe vertraglich zusichern müssen, dass im Spiel nur die "Good Guys" mit den Waffen schießen, die Modellen von Heckler & Koch nachempfunden sind (nachzuhören ab Minute 41).

Den Rüstungsfirmen geht es also wahrscheinlich um mehr als nur um eine Bezahlung, die ihnen rechtmäßig ja zusteht. Sie wollen in die Spielweise und Handlung von Titeln eingreifen, um Werbung für sich zu machen oder um ihre Industrie in ein gutes Licht zu rücken. In solchen Fällen werden Videospiele zum Politikum und der Spieler kann mit Hilfe von echten Produkt- und Firmennamen beeinflusst werden.

Vielen Spielern ist das wahrscheinlich gar nicht bewusst. Schulze von Glaßer wünscht sich darum mehr Transparenz und Aufklärung: "Im Sinne des Verbraucherschutzes sollte zumindest offengelegt werden, welche Firmen mitverdienen, wenn ich im Laden so ein Spiel kaufe. Die Videospielfirmen tragen da eine große Verantwortung." Diese Vereinbarungen transparent zu machen, wäre aber vermutlich nicht im Sinne der Spiele- und der Waffenindustrie. So bekommt das virtuelle Nachladen und Schießen schnell einen sehr realistischen Beigeschmack.

Ding der Woche: Das Tour-de-France-Selfie

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Die Tour de France machte in den vergangenen Tagen für drei Etappen einen Abstecher nach England. Die Fahrer sind Profis, sie werden sich auf die offensichtlichen Veränderungen der äußeren Umstände während dieser drei Tage eingestellt haben (Linksverkehr, abends Ale statt Bordeaux, „Go, go, go!“, statt „Allez Allez!“). Eines konnten sie nicht vorhersehen: dass ihnen die britischen Radfans und ihre Smartphones gefährlich werden.  

Dass bei der Tour de France die Fans am Streckenrand stehen und anfeuern, ist nicht neu. Besonders fitte und engagierte Fans rennen ein paar Meter neben dem Führenden her und feuern ihn an. Auch Fotos wurden von schon immer geschossen.  

Seit das Selfie seinen Siegeszug angetreten hat und selbst bei Oscarverleihungen eingesetzt wird, reicht das nicht mehr allen. Britische Radsport-Fans wollen nicht einfach ein Tour-Foto. Sie wollen ein Tour-Selfie.  

Prinzipiell ist gegen diesen Wunsch nichts einzuwenden. Wären da nicht zwei Probleme, die jedem bekannt sein dürften, der mal ein Selfie aufgenommen hat. Das erste könnte man das Arm-zu-kurz-Winkel-nicht-weit-genug-Dilemma nennen: Die menschlichen Proportionen und die Smartphone-Objektive machen es manchmal verdammt schwer, sich selbst und den tollen Hintergrund angemessen ins Bild zu bekommen. Das zweite Problem: Man steht mit dem Rücken zum Hintergrund und sieht ihn also nicht oder zumindest nicht genau. Wenn man einen Berg oder einen Kirchturm im Hintergrund haben möchte, ist das nicht so schlimm. Beides bleibt ja im Normalfall, wo es ist. Wenn der Hintergrund ein fast 200 Mann starkes Feld von Radfahrern ist, das mit Geschwindigkeiten jenseits der 50 Stundenkilometer heranprescht, wird es aber kompliziert.  

Es kam am Wochenende zu mehreren gefährlichen Situationen, weil Selfie-Fotografen zu weit auf der Straße standen und nicht rechtzeitig auswichen, als die Fahrer näher kamen. Marcel Kittel, der am Samstag die Etappe in Harrogate gewann, sagte: „Manche Zuschauer sind mitten auf der Straße gestanden, um ein Foto zu machen.“ Der britische Radprofi Geraint Thomas freute sich zwar über die vielen Fans, aber die Selfies seien der „new pain in the ass“ auf der Tour de France. Die Leute stünden mit dem Rücken zu den Fahrern, sähen sie nicht kommen und verstünden nicht, wie schnell die Radfahrer seinen und dass sie jeden Zentimeter der Straße brauchen würden. Der US-Fahrer Tejay van Garderen machte seinem Ärger über Twitter Luft:    










Mittlerweile haben die Radprofis die England-Etappen hinter sich und sind zurück in Frankreich. Mal sehen, ob sich die Franzosen von den Radsportfans auf der Insel anstecken lassen.

Schwacher Online-Trost

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Die Melodie,  die nach betrunkenem Fisch mit Schluckauf klingt, ertönt. Ich klicke auf den grünen Hörer. Ein Bild erscheint. Schon in den ersten zwei Sekunden weiß ich: Irgendetwas stimmt nicht. Und ich hätte den Anruf nicht annehmen sollen. Die Person am anderen Ende sitzt alleine im Zimmer vor dem Laptop, mit roten Augen und laufender Nase. Es dauert genau ein "Hallo" bis zum Zusammenbruch. Liebeskummer.

Jemanden mit Liebeskummer zu trösten ist schwer, denn es gibt fast nichts, was man für ein gebrochenes Herz tun kann. Ales, was bleibt, ist: Dasein, Umarmungen und ein ordentlicher Rausch, der – zu gegebener Zeit – mit der Suche nach Ersatz verbunden werden kann. Doch was, wenn das wegfällt? Wenn sich der Liebeskummernde in einer anderen Stadt, einem anderen Land oder gar auf einem anderen Kontinent aufhält? Wenn das einzige, was man hat, eine anfällige Skype-Verbindung ist?



Das Elend, durch eine Kamera betrachtet

Dann hat der Tröstende ein Problem. Denn bei einem Gespräch durch zwei Bildschirme hindurch ist es unmöglich, das nötige Maß an Empathie aufzubringen. Wenn dieser arme Mensch direkt neben einem so sehr schluchzt, dass man selbst die Luft anhält, damit man ihm nicht das bisschen Sauerstoff, das er noch bekommen könnte, wegatmet, dann setzt der ehrliche Tröstreflex ganz von selbst ein. Schluchzt es hingegen auf einem Bildschirm, denkt man unterbewusst, man sieht "Berlin Tag & Nacht" oder "Germanys Next Topmodel" und alles, was einsetzt, ist der Reflex, den Sender zu wechseln. Alles in allem führt das fehlende Mitgefühl und der daraus folgende Mangel an Geduld zu Fehlern, die beim Trösten alles noch viel schlimmer machen.

Denn eigentlich gibt es beim Liebeskummertrost nur eine Hauptfigur: Das ist die mit der laufenden Nase und den verheulten Augen. Sie steht im Rampenlicht des Elends, ihre Probleme werden erörtert und zwar ihre allein. Das führt dazu, dass der Tröster – zumindest im echten analogen Trostmodus – unter permanentem Verkneifungszwang steht, denn es gibt zu jeder Situation garantiert eine ähnliche aus seiner eigenen Biographie zu erzählen. Ach was ähnlich: Natürlich hat man selbst das Gleiche immer in noch schlimmer schon erlebt.

Das stimmt meistens sogar, denn die Welt hält nur ein begrenztes Arsenal an Beziehungsproblemen bereit. Lediglich Mischung und Anzahl sind in jeder Beziehung anders: Die einen bekommen eine gute Hand voll, die anderen könnten das komplette Problem-Panini-Album füllen. Jeder denkt nun aber, dass die Partnerschaft und die Gründe für ihr Ende höchst individuell sind. Und das Letzte, was man da braucht, ist jemand, der einem erklärt, dass man an einem Standardproblem gescheitert ist.

Das Ding ist: Als Skype-Tröster bleibt einem nichts anderes übrig, als auch ab und zu einmal etwas zu sagen, um nicht völlig passiv vor dem Laptop zu sitzen. Da es aber beim Trösten eigentlich nie etwas Richtiges zu sagen gibt, ist "Bei mir war das ja so und so..." mit hoher Wahrscheinlichkeit das Falsche. Gleiches gilt für die eigene Meinung. Auch die zurückzuhalten fällt uns gegenüber einem Computerbilder viel schwere als gegenüber dem Analogfreund und ein "Ich hab das schon immer gesagt" ist schnell herausgerutscht.

[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/14aUO0Mf7dWDXW/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/14aUO0Mf7dWDXW/giphy.gif"] Was man auch sagt, es ist bestimmt falsch, wenn der Gesprächspartner gerade Liebeskummer hat

Das Schlimmste am Trösten per Video-Chat ist vermutlich die grausame Hilflosigkeit. Jeder Liebeskummernde kommt irgendwann an den Punkt, einen schrecklichen Fehler begehen zu wollen: Obwohl sie zwei Jahre gebraucht hat, um Schluss zu machen, will sie ihn jetzt unbedingt zurück. Er wurde von ihr betrogen und aus der Wohnung geschmissen, will ihr aber verzeihen und denkt, ein Liebes-Video sei die Rettung. Oder sie setzen sich in den Kopf, den besten Freund, die Schwester oder gar die Eltern des Ex-Partners um Hilfe zu bitten, sei ein guter Plan.

In solchen Fällen muss der Tröstende sein Können beweisen. Die Kunst ist, sich den Plan anzuhören, so zu tun, als würde man ihn ernst nehmen und dann unter Umarmungen und Streicheleinheiten solange darüber zu reden, bis der andere am Ende selbst (denkt er!) zu der Erkenntnis kommt, es lieber zu lassen – zumindest für heute. Funktioniert das nicht, ist die Beschlagnahmung von Handy, Autoschlüssel oder Reisepass der zielführende Plan B.

Sitzt man nun aber nur per Skype dem Häufchen Elend gegenüber, bleibt nur die Kraft des vernünftigen Wortes. Die aber wird durch anhaltende Verbindungsprobleme stark beeinträchtigt, was wiederum auf Kosten der eigenen Nerven geht. Und irgendwann wird die Versuchung riesig, den Liebeskummernden einfach sich selbst und seinem Kamikaze-Plan zu überlassen. Denn man ist ja nur einen Klick davon entfernt.

Und selbst wenn man nicht auflegt, passiert es manchmal, dass man den anderen nicht aufhält. Man kann ihn ja nicht am Arm fassen, sich ihm in den Weg stellen, ihn mit ins Kino nehmen, man kann nur versuchen, ihn mit den Worten "Tu’s nicht!" aufzuhalten. Und schaut dann zu, wie der Liebesirre durch die Zimmertür und in sein Verderben rennt, während man selbst fassungslos durch den Bildschirm in ein leeres Zimmer starrt.

Was man aber auch falsch oder richtig macht beim Skype-Trösten, eines ist sicher: Nach drei bis acht Stunden klickt man völlig erschöpft auf den roten Hörer, mit der Gewissheit, dass diesem Gespräch noch viele, viele seiner Art folgen werden.

Sieben? Sieben!

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Eigentlich sollte an dieser Stelle ja heute ein anderer Text stehen. Ein Ticker über das Halbfinalspiel gegen Brasilien? Pah, brauchen wir nicht, dachten wir in der Themenkonferenz gestern, Deutschland im Finale oder nicht, Löw noch da oder nicht, Brasilien Titelfavorit oder nicht, da kann man drüber diskutieren im Ticker, kann man aber auch ziemlich gut bleiben lassen.  

Und dann das.  

Dieses Spiel. Dieses Spiel, das man nicht glauben kann. Das noch hervorgekramt und mit Ehrfurcht besprochen werden wird, wenn Miro Kloses Enkel 36 Jahre alt sind.  

Also weg mit dem alten Tickertext, ein neuer muss her. Einer, bei dem man aber eigentlich gar keine konkrete Frage stellen kann, weil wahrscheinlich eh alle noch viel zu aufgeregt durcheinander reden werden und es ja auch vieles zu besprechen gibt, so vieles:  

Sieben Tore.  

Die manchmal eingeblendete Toranzeige auf dem Fernseher, in der irgendwann nicht mehr genug Platz war, um alle Tore gleichzeitig zu zeigen.  

Das Rekordtor von Klose, der keinen Salto machte.  

Ronaldo, bisher WM-Torschützenkönig, der auf der Tribüne in sein Kommentatoren-Mikro beißen zu wollen scheint.  

Kroos, der nach dem 3:0 weitertrabt, als wäre es etwas Selbstverständliches, nach 20 Minuten das 3:0 in einem Halbfinale gegen Brasilien zu schießen.  

Das Gefühl nach dem vierten oder fünften Tor, jetzt gar nicht mehr so richtig jubeln zu wollen, weil einem die brasilianische Mannschaft ein bisschen leid tut.  

Die Angst, dass Brasilien jetzt in eine tiefe Krise stürzt, dieses Land, das den Nationalstolz und den Fußball doch so ernst nimmt.  

Die Frage, ob irgendjemand auf der Welt dieses Ergebnis wohl richtig getippt hat. Und was er damit wohl gewinnt.  

Die Frage, ob dieses Spiel jetzt wirklich "Das Wunder von Belo" getauft wird und ob das nicht zu sehr nach Hundename klingt.

Manuel Neuer, der sich echt ärgert, als das 7:1 fällt.  

Torwart Júlio César, der nach dem Spiel im Interview kein Interview gibt, sondern eine Ansprache hält, die eines Bundespräsidenten würdig wäre. 

Verteidiger David Luiz, der zum Interview mit rotgeweinten Augen erscheint und nur einen Satz herausbringt.  

Der Junge mit dem Cola-Becher und der Brille, der nach dem dritten oder vierten Tor eingeblendet wird und so bitterlich weint.  

Der alte Mann mit dem grauen Schnauzbart, der nach dem Spiel traurig eine Attrappe des WM-Pokals umarmt, sich noch daran festzuklammern scheint.  

Was die Holländer jetzt wohl denken, und die Argentinier.  

Dass man trotz einem solchen 7:1 noch nicht Weltmeister ist. Und es vielleicht auch nicht wird.  

Da ist noch so viel mehr. Also los. Anpfiff! 

Tagesblog - 9. Juli 2014

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08:32 Uhr: Guten Morgen! Der Chef schreibt im Ticker, ich muss mich damit auch beschäftigen (obwohl mir Fußball wirklich vollkommen wurschtegal ist), das mache ich hiermit und verweise auf seinen Text dazu. Die Nachbarn haben gestern übrigens nur bis Tor Nummer drei gebrüllt. Danach nicht mehr.
Und ich bin sehr froh, dass die Brasilianer wenigstens noch ein Tor gemacht haben. Ich meine, das bricht einem doch das Herz:



(Foto: Reuters)

Blasser Alpenfirn

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Die Auftritte des Schweizer Nationalteams bei der Fußball-WM waren sportlich erfrischend – aber musikalisch nicht sehr überzeugend. Während Italiener und Brasilianer lauthals ihre Hymnen schmetterten, brummten bei den Schweizern nur zwei, drei Spieler undeutlich mit. Das liegt zum einen daran, dass 15 von 23 Kickern der „Nati“ einen Migrationshintergrund haben. Zum anderen liegt es an der Hymne selbst. Sie klingt wie eine Kreuzung aus Kirchenlied und Wetterbericht, der Text ist schwer zu merken. Das soll sich bald ändern; die Schweizer streben eine neue Hymne an.



Ihre Nationalhymne finden viele Schweizer atbacken. Das hat man auch während der WM gemerkt.

Der „Schweizerpsalm“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und hebt mit den Worten an: „Trittst im Morgenrot daher,/ Seh ich dich im Strahlenmeer,/ Dich, du Hocherhabener, Herrlicher!/ Wenn der Alpenfirn sich rötet,/ Betet, freie Schweizer, betet.“ Es ist dann auch noch viel von Sternenheer, Wolkenmeer, Nebelflor und Abendglühn die Rede. Kaum ein Schweizer schafft es, wenigstens eine Strophe unfallfrei auswendig zu singen. Die verballhornte Form dagegen kennt jedes Schulkind: „Trittst im Morgenrock daher.“

Der Zisterziensermönch Alberich Zwyssig komponierte das Lied 1848 im sakralen Stil, zur Hymne erkoren wurde es aber erst vor 53 Jahren. Zuvor hatte es Probleme mit der bisherigen Hymne „Rufst du, mein Vaterland“ gegeben. Denn die Melodie zu dem patriotischen Lied hatten die Schweizer einfach bei den Briten geklaut. „God save the Queen“ auf Schweizerisch – das führte immer wieder zu peinlichen Verwechslungen in Politik und Sport.

1961 hatte der Bundesrat genug und erhob den Schweizerpsalm provisorisch zur neuen Nationalhymne. Das fromme Lied hatte nie viele Fans. Nun hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) einen Wettbewerb ausgeschrieben mit dem Ziel, den Schweizerpsalm aufzupeppen. Anstatt des „sperrigen und inhaltlich angejahrten Textes“ soll die Hymne auf Wunsch der SGG künftig von der Präambel der Bundesverfassung inspiriert sein und die politische und kulturelle Vielfalt des Landes spiegeln. Die Melodie darf leicht abgewandelt werden.

Rechtzeitig nach dem Ausscheiden bei der WM in Brasilien hat die SGG erste Ergebnisse vorgelegt. 208 Vorschläge sind eingegangen, 129 auf Deutsch, 60 auf Französisch, sieben auf Italienisch, zehn auf Rätoromanisch. Ein Witzbold reichte eine Hymne auf Portugiesisch ein, was zwar kulturelle Vielfalt spiegelt, aber nicht infrage kommt, da nur Schweizer Amtssprachen verwendet werden dürfen. Eine Jury aus Journalisten, Musikern und Schriftstellern überprüft die Lieder bis zum Herbst. Über die zehn besten wird im Frühling 2015 abgestimmt, per Online-, SMS- und Telefon-Voting.

Der Siegertitel soll als Vorschlag für eine neue Nationalhymne dem Bundesrat unterbreitet werden, der das SGG-Projekt bereits als „konstruktiven Beitrag engagierter Bürgerinnen und Bürger“ gewürdigt hat. Peter Keller von der Schweizerischen Volkspartei ist weniger begeistert. Er spricht von einer „dümmlichen Casting-Show“ und fordert ein ernstes Referendum. Was herauskomme, wenn das Publikum per SMS entscheide, zeige sich beim Eurovision Song Contest, schimpft er: „Conchita Wurst mal DJ Bobo – das wäre unsere neue Hymne!“

Miss Fracking

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Katherine Richard redet. Sie sitzt ganz vorn auf der Stuhlkante, der Rücken sehr gerade, und redet. Zahlen, Studien, Statistiken, Argumente, Gegenargumente. Der Mann neben ihr auf dem Podium schnappt nach Luft, blickt verzweifelt zum Moderator, öffnet den Mund zum Widerspruch. Doch er findet keine Lücke in ihrem Monolog. Wenn Richard spricht, ist es ein Wortschwall, ein Redefluss, ein mächtiger Mississippi der Sätze. Mit ihr in einer Podiumsdiskussion zu diskutieren, ist keine Freude. „Die Organisatoren der Konferenz haben mir zu wenig Redezeit und zu wenig Power-Point-Folien zugebilligt“, sagt sie hinterher, „da musste ich eben schneller reden.“



Greenpeace Aktivisten demonstrieren in der Nähe von Bukarest gegen Fracking.

Der Auftritt der 32-Jährigen auf der Energiekonferenz in New York ist ein Ereignis. Niemand der anderen Redner spricht so viel und so schnell. Kaum einer ist so jung. Und sehr wenige neben ihr sind Frauen. Energie ist noch immer eine Industrie der alten Männer, besonders die Öl- und Gasindustrie. Das ändert sich nun – dank Menschen wie Richard.

Nun ist es nicht so, dass Richard nur schnell und viel redet, sie hat auch etwas zu sagen. Sie zählt zu den wichtigsten Experten für Gasförderung in Amerika – ja, auch für das umstrittene Fracking. Sie ist eine der jüngsten Chefinnen eines Öl- und Gasunternehmens mit einem Wert von mehr als 750 Millionen Dollar. Warwick Energy, von ihr selbst gegründet, gehören inzwischen mehr als 5000 Gasquellen in 13 amerikanischen Bundesstaaten. Seit 2010 berät Richard gemeinsam mit zwei Think Tanks das afghanische Ministerium für Bergbau zum Thema Transparenz und Entwicklung der Energieindustrie. Und das Genfer World Economic Forum hat sie im vergangenen Jahr zu einem der Young Global Leaders gewählt.

Öl und Gas haben sie schon lange interessiert, sie ist mit der Branche aufgewachsen. Ihre Eltern haben zwar beide andere Jobs, aber die Generationen davor verdienten ihr Geld mit dem schwarzen Gold, auf beiden Seiten der Familie. Und sie wuchs in Oklahoma City auf, der Hauptstadt des Bundesstaats im Norden von Texas, die sich zur Zentrale des neuen amerikanischen Gasbooms entwickelt hat. Hier sitzen die Fracking-Spezialisten Chesapeake Energy und Devon, hier gibt es Hunderte Start-ups und Zulieferer der Erdgasindustrie. „Ich nenne es das Silicon Valley der Öl- und Gasbranche“, sagt Richard.

Seit dem Schiefergas-Boom, also dem Gas, das per Fracking aus den Schieferschichten kommt, ändert sich die Energieindustrie, sagt Richard, die Vormacht von Exxon oder Shell schrumpft. „Entrepreneure haben einen Großteil der Innovationen und der Erfolge der vergangenen zehn Jahre vorangetrieben“, sagt Richard. „Die Schiefergas-Revolution ist bemerkenswert, weil sie von den ‚Unabhängigen‘ kommt, so nennen wir die Öl- und Gasproduzenten, die zu keinem Ölmulti gehören. Es waren kleinere Firmen, die effizienter, kreativer und agiler sind, neue Technik zu verwenden und weiterzuentwickeln.“

Beim Fracking bohren die Firmen viele kleine Löcher, um Gas oder Öl zu finden – sie müssen also auch viele, kleine Entscheidungen treffen. Früher bohrte man ein großes, teures Loch – das war das Richtige für die großen, teuren Ölkonzerne, glaubt Richard. „Die neuen technischen Herausforderungen und der daraus folgende Boom an Einfallsreichtum und Wohlstand zieht eine neue Generation an“, sagt sie. „Es braucht so viele verschiedene Arten an Jobs, um nach Schiefergas zu bohren und es zu fördern.“ In Oklahoma City und der Umgebung siedeln sich Start-ups an, die sich zum Beispiel auf 3-D-Druck von geologischen Modellen oder schlaues Datenmanagement für Fracking-Konzerne spezialisieren.

Noch sind laut einer Studie der Independent Petroleum Association of America 71 Prozent der Mitarbeiter der Industrie 50 Jahre oder älter. Doch seit die neue Technik Fracking wieder gigantisches Wachstum brachte, ist die alte amerikanische Traditionsbranche wieder sexy. Das amerikanische Magazin Businessweek hat über das Phänomen kürzlich einen langen Artikel veröffentlicht: „Nach Jahren, in der es der Industrie nicht gelang, junge Talente anzu-ziehen und zu halten, brummt sie neuer-dings mit aufstrebenden Millennials.“ Millennials nennt man Leute der Geburtsjahrgänge 1980 bis etwa 1995. Ölbranchen-Veteranen nennen es „den großen Crew-Wechsel“.

Da ist etwa der 27-jährige Mark Hiduke, der gerade 100 Millionen Private-Equity-Dollar für seine Fracking-Firma bekam. Oder der 34-jährige Patrick Collins, der Grundstücke mit Ölquellen kauft und verkauft. Den Energiemanagement-Studiengang an der University of Oklahoma belegen heute 600 Studenten, vor zehn Jahren waren es gerade mal 100.

Die große Kritik an der Fracking-Technik beschäftigt Richard, sagt sie. Beim Fracking wird nicht nur in die Tiefe gebohrt, sondern auch horizontal. Mit großem Druck werden Wasser und teils giftige Chemikalien in die Schieferschichten gepresst, das Gas wird so aus einst unzugänglichen Poren freigesetzt. „Wir als gesamte Industrie hätten auf die Ängste der Menschen besser eingehen sollen, die zum Teil auf Fehlinformationen beruhen.“ Ja, es gebe Gefahren beim Fracking. „Aber wenn man es richtig macht, mit moderner Technik und Sicherheitsvorkehrungen, ist Fracking sicher und eine echte Ingenieursleistung.“ Der Gasboom bringe den Vereinigten Staaten neue Chancen, vor allem weil sich neue Fabriken ansiedeln, die von den niedrigen Energiepreisen profitieren wollen. „Herauszufinden, wie man effizient, sicher und wirtschaftlich Schiefergas fördert, ist vielleicht die größte industrielle Revolution der letzten sechs Jahrzehnte.“

Trotz ihres frühen Interesses an Öl und Gas studierte Richard erst Geschichte an der Eliteuni Harvard, ihr Schwerpunkt war die Politik der Postkolonialzeit, für ihre Ab-schlussarbeit recherchierte sie lange in Ruanda. Nach der Uni fing sie bei Goldman Sachs an, bald mit Schwerpunkt Energie-investitionen. Die Investmentbank schickte sie nach New York, London, Paris und Dallas. Später wechselte sie zu einem Hedgefonds, arbeitete dort wieder im Energiegeschäft. Ab 2009 baute sie die Energiesparte von MSD Capital auf, MSD ist der private Investmentfonds des Milliardärs und Computerpioniers Michael Dell. In ihren Jahren in der Finanzwelt hat sie gelernt, sich auf die Zahlen zu konzentrieren: welche Gasquellen bringen die solidesten Cash Flows, wie kann man zuverlässige Prognosen machen, was sind faire Preise, für welche Risiken muss man welche Renditen kalkulieren? Der Branche ging es gut, Amerikas Gasförderung brach jedes Jahr neue Rekorde. Und Richard hatte Erfolg mit ihren Energieinvestitionen für die Investmentfonds anderer Leute.

2010 entschied sie, ihr eigenes Unternehmen zu gründen und zog zurück nach Oklahoma City. „Ich habe schon seit langer Zeit gewusst, dass ich mich gern selbständig machen will. Ich bin einfach so ein Typ“, sagt sie. „Der Schritt 2010 war ziemlich gewagt und verrückt. Wenn ich gewusst hätte, wie hart es wird, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Oder wahrscheinlich doch. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich damals nicht wusste, wie schwer der Anfang wird.“ Warwick Energy bot um Gasquellen mit, die in den Schiefergasfeldern Amerikas liegen – aber ohne Erfolg. „In den ersten zwei Jahren haben wir keinen einzigen Zuschlag bekommen“, erzählt Richard. Auch andere, größere Investoren hatten die Gasbranche damals für sich ent-deckt, die Preise stiegen. „Aber die ganze Zeit habe ich auch gewusst, dass es nichts gibt, was ich gerade lieber machen würde.“

Erst 2012 kam der Durchbruch, die große Begeisterung der Investoren für Fracking-Investitionen hatte sich wieder ein wenig gelegt. Und Warwick Energy konzentriert sich auf eine Nische: Gasfelder, die schon zum Teil ausgebeutet wurden, aber gerade stillliegen – eine Art Second-Hand-Markt für Erdgasquellen. Warwick bohrt nicht selbst, sondern kauft nur Anteile an dem Gasfeld, das ein anderer ausbeutet – es ist ein reines Finanzgeschäft, aber eins, für das man sich extrem gut auskennen muss. „Ich glaube, man sollte nicht in Öl- und Gasquellen investieren, ohne ein extrem starkes Technik-Team zu haben, das die Vorkommen und Förderbarkeit einschätzen kann“, sagt sie. Gut 50 Leute arbeiten inzwischen für sie, ein Teil davon als Freiberufler, viele haben vorher jahrzehntelang für Energiekonzerne wie Chesapeake, Devon oder Chevron gearbeitet.

Richard und ihr Team sind ständig auf der Suche nach neuen Öl- und Gasquellen, auch in anderen Ländern, darunter Deutschland. „Deutschland muss eine Grundsatzentscheidung treffen, ob es Fracking erlauben will“, sagt sie. „Es muss sich auf nationaler Ebene fragen, wie wohl es sich mit seiner Abhängigkeit von Russland fühlt.“

Das Geld für die Gasquellen sammelt Ri-chard bei Investoren ein, aus ihrer Zeit bei Goldman Sachs und den Investmentfonds hat sie beste Kontakte. Alle ihre Geldgeber wollen anonym bleiben. Es seien vor allem große Versicherungsunternehmen, die gut finden, dass bei den bereits angezapften Second-Hand-Gasquellen klar ist, dass der Rohstoff weiter fließen wird; anders als bei neuen Quellen, die noch gebohrt werden müssen und sich unter Umständen als leer oder zu schwer zugänglich entpuppen. Auch ein Chemiekonzern, Private-Equity-Firmen und reiche Privatleute investieren in Richards Projekte. Und ihr eigenes Geld steckt fast komplett im Unternehmen. Richard hat ehrgeizige Pläne: gerade sammelt sie neues Kapital ein. „Bis Ende 2014 werden wir ein drei Milliarden Dollar schweres Unternehmen sein.“

Allerdings, zu ihrem Leidwesen, ist sie als ehrgeizige junge Frau noch immer recht allein in der Branche. Auf dem Podium bei Energiekonferenzen ist sie eine Ausnahme, vor den Damentoiletten gibt es nie eine Schlange. Das ändert sich jetzt, langsam. „Die Hälfte aller Leute, die ich direkt nach dem College anstelle, sind Frauen“, sagt sie. Sie selbst hatte gute Mentoren aus der Industrie, denen sie viel zu verdanken hat. „Ich hatte nie das Gefühl, dass mein Geschlecht meine Karriere beeinflusst hat. Wenn du eine unbändige Begeisterung für das hast, was du tust, werden sich immer Leute um dich herum für dich zusammen-tun, dann spielen Geschlecht, Alter oder irgendeine andere Dynamik keine Rolle.“

Ohne Beistand aus ihrem Umfeld wäre es unmöglich gewesen, ihr Start-up zu gründen: „Man braucht Leute um einen herum, die einen unterstützen“, sagt sie, die übrigens unverheiratet und kinderlos ist – allerdings auch erst 32 Jahre alt. „Es gibt keine Grenze mehr zwischen dir und deiner beruflichen Identität, das Business lebt von dir wie ein Parasit.“ Einmal, erzählt sie, war sie mit Freunden im Urlaub in Kolumbien. Während die anderen an den Strand gefahren sind, hat sie eine Raffinerie be-sichtigt. „Die Leute um einen herum müssen damit umgehen können, dass man ge-danklich völlig auf diese eine Sache fixiert und manchmal erschöpft ist. Diese Leute in meinem Leben waren meine Heiligen.“

Schimpansisch für Anfänger

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Enge Verwandtschaft fördert gegenseitiges Verständnis nur selten. Das gilt auch für Affen und Menschen, zumindest bis jetzt: Schottische Wissenschaftler haben nun erstmals ein Wörterbuch für die Affensprache vorgelegt. Demnach tauschen Schimpansen durch Gesten Botschaften mit ihren Artgenossen aus und können zum Beispiel kundtun, wenn der andere mal seinen Hintern in Bewegung setzen soll (Current Biology, online).



Schimpansen kann man mit dem Wörterbuch für die Affensprache verstehen lernen.

Am Kommunikationsvermögen des nächsten Menschenverwandten herrschte unter Forschern kein Zweifel. Nur die Art und Weise, auf die Schimpansen ihre Botschaften vermitteln, blieb rätselhaft. Viele Wissenschaftler konzentrierten sich auf die Laute der Tiere, weil auch die menschliche Sprache aus Lauten besteht. Doch bereits in den 1970er-Jahren hatte die Schimpansenforscherin Jane Goodall den Gebrauch von Gesten beschrieben. Zahlreiche Arbeiten haben seither gezeigt, dass viele dieser Gebärden eine Bedeutung haben und von den Affen absichtsvoll benutzt werden. Es gibt zudem Hinweise auf einen evolutionären Zusammenhang zwischen Affengestik und menschlicher Sprache. Nur was die Tiere sich mit Hand und Fußsohlen genau mitteilen, konnte niemand übersetzen.

Das sollte sich nun ändern. Zwei Jahre lang haben Catherine Hobaiter und Richard Byrne von der schottischen Universität St. Andrews Affengebärden im ugandischen Budongo-Urwald auf Video aufgezeichnet. Deren Analyse zeigte 66 Gesten und 19 Reaktionen von Schimpansen, an die sich diese Zeichen richteten. Viele Gesten scheinen mehrdeutig zu sein, mit situationsabhängigen Reaktionen: So bedeutet das auffällige Kratzen am Unterarm meist „Lause mich!“, gelegentlich aber „Komm mit mir!“.

Präsentiert ein Affe einem anderen seine Fußsohlen, gilt das als Aufforderung, auf seinen Rücken zu klettern. Mit dem freigelegten Wortschatz werden zwar noch keine Mensch-Affen-Gespräche möglich. Doch wenn der Schimpanse beim nächsten Zoobesuch sehr direkt guckt und mit seinen Zähnen Streifen von einem Blatt zupft, ist das laut Studie eine Anmache: „Flirte mit mir!“

Italiens Meer, Europas Meer

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Rom – Bevor das Licht ausgeht, entschuldigt sich Admiral Filippo Maria Foffi, das folgende Video habe ein Amateur aufgenommen. Dann drückt der Oberbefehlshaber der italienischen Marine auf die Starttaste. Aus der Luft zoomt die Kamera auf ein Schiff, das an ein völlig überdimensioniertes Ruderboot erinnert. Es schaukelt im tiefblauen Wasser des Mittelmeeres, dicht gedrängt sitzen Menschen darin, regungslos, die Köpfe gesenkt. In einiger Entfernung ankert eine graue Fregatte. Die Einsatzzentrale der Marine-Operation „Mare Nostrum“, 20 Autominuten nördlich von Rom gelegen, in der Admiral Foffi das Kommando führt, hat die Fregatte zu dieser Stelle im Mittelmeer beordert. Die Offiziere vor den Überwachungsbildschirmen hatten das Flüchtlingsboot identifiziert, jetzt müssen die Insassen aufgenommen werden.



Flüchtlinge aus Nordafrika erreichen den Hafen von Lampedusa.

Das Video zeigt einen Einsatz, wie er seit Jahren stattfindet. Insbesondere aber verstärkt seit dem „Tag der Toten von Lampedusa“, wie die Offiziere in Rom jenen 3. Oktober 2013 nennen, an dem vor der Insel ein mit 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea beladener 20 Meter langer Kutter sank, der aus der libyschen Hafenstadt Misrata kam. Die Küstenwache und Fischer retteten 155 Flüchtlinge, 390 Menschen ertranken. Die Katastrophe löste einen Aufschrei aus in Europa. Am Tag danach, erzählt der Admiral, habe die Regierung in Rom beschlossen, die Operation Mare Nostrum zu starten.

Seither gibt die Marine jeden Monat sechs bis neun Millionen Euro zusätzlich aus, um vergleichbare Katastrophen zu verhindern – und um die Außengrenzen der Europäischen Union zu sichern. Fünf große Fregatten sind im Dauereinsatz, viele kleinere Schiffe, dazu Zoll, Seepolizei, Luftwaffe. „Wir machen das für ganz Europa“, sagt Admiral Foffi. Aber es sei natürlich nicht möglich, dass ein einzelner Mitgliedstaat das gesamte Mittelmeer überwache. „Wir brauchen die Hilfe aus ganz Europa.“ Konkret: Die italienische Marine müsste die Zahl der Schiffe und Mitarbeiter verdoppeln, um alles zu kontrollieren.

Am Dienstag kamen in Mailand die europäischen Außenminister zusammen, um darüber zu beraten, wie die Kosten der Italiener bei der Rettung, Aufnahme und Versorgung der Ankömmlinge geteilt werden könnten. „Das Mittelmeer ist nicht allein Italiens Meer“, gab der italienische Premier Matteo Renzi den Ministern vorab zu bedenken. Die Reaktion fiel verhalten aus. „Es kann nicht dauerhaft Aufgabe der italienischen Marine sein, Flüchtlinge aufzunehmen“, sagte zwar Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Aber dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex mit den bescheidenen Mitteln, die sie habe, die Aufgaben der italienischen Marine übernehme, das sei auch nicht realistisch. Ein knappes Jahr nach der Katastrophe vor Lampedusa wissen die reichen Europäer immer noch nicht, wie sie mit den Flüchtenden umgehen sollen.

Und das, obwohl die Bilanz der Operation Mare Nostrum erschreckend ausfällt. Bis zum vergangenen Wochenende griff die Flotte, unterstützt durch Frontex und ein Schiff aus Slowenien, 73986 Flüchtlinge auf. Das sind täglich 270 Menschen, die auf seeuntüchtigen Booten aus Afrika kommend ihr Leben riskieren, um in Europa eine Zukunft zu suchen. Wie viele Menschen dabei ertrinken, kann nur geschätzt werden. Von 150 Toten seit Beginn von Mare Nostrum sprechen die Italiener, hinzu kommen 220 Tote an der Küste Libyens und weitere in den Gewässern vor Griechenland und der Türkei. Früher sei eines von zehn Booten angekommen, heute werden neun von zehn aufgegriffen.

Fast alle Flüchtlinge, nämlich 96 Prozent, starten von der Küste Libyens. Admiral Foffi sagt, dies sei eine Auswirkung des arabischen Frühlings, bei dem Staatschef Muammar al-Gaddafi gestürzt wurde. Das Ende Gaddafis bedeutet auch das Aus der Absprache, dass Rom dem libyschen Staatschef viel Geld dafür zahlt, damit dieser das Auslaufen von Booten verhindert.

Die meisten Aufgegriffenen der vergangenen Wochen waren vor dem Bürgerkrieg fliehende Syrer. Jeder zehnte Flüchtling ist weiblich, mehr als 6000 Aufgegriffene waren minderjährig. Wer aufgegriffen wird, hat meist schon eine Katastrophe hinter sich. Weil die Überfahrt teuer ist, werden viele Flüchtlinge allein auf den gefährlichen Weg geschickt und Schleusern ausgeliefert. Andere haben Angehörige in den Wellen verschwinden oder bei Stammeskämpfen auf dem Boot sterben sehen.

Mit Mare Nostrum sei das Mittelmeer zu einem der am besten überwachten Meere geworden, sagt Kommando-Chef Michele Saponaro. Seine Offiziere verfolgen die Routen der Schiffe im Mittelmeer, die als unzählige Punkte auf Bildschirmen leuchten. Rund um die Uhr tragen sie Informationen aus 30 Ländern und diversen Geheimdiensten auf einem Areal von 73000 Quadratkilometern zusammen. Etwa fünf Auffälligkeiten entdecken sie täglich. Es gehe nicht nur um humanitäre Hilfe, erzählt Saponaro, sondern auch darum, Handelswege zu schützen, Schmuggler, Terroristen und Piraten aufzuspüren oder Fischer zu überwachen.

Das Amateurvideo zeigt die Folgen des Streits um die Flüchtlinge. Von der Fregatte rasen Schnellboote auf das Boot zu, sie nehmen es in Schlepptau und docken an dem neben der Fregatte schwimmenden Kai an. Männer und Frauen steigen aus, weinende Babys werden von Arm zu Arm gereicht, auch viele Erwachsenen haben Tränen in den Augen. Sie haben 36 Stunden Fahrt überlebt, schwanken bei den ersten Schritten auf festem Grund, endlich frisches Wasser, Essen, ein medizinischer Check, Fingerabdrücke werden abgenommen, dann kauern sie im Schatten großer Planen. Und was erwartet sie? „Wir bringen sie in Sicherheit“, sagt Admiral Foffi. Nämlich wohin? An Land. Für das weitere Schicksal seien andere verantwortlich.

Auf Speed

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München – Marc Benioff ist ein großer Kerl, über 1,90 Meter, dazu recht massig, aber sein Ego kann da durchaus mithalten. Es wurde schließlich vom Besten in diesem Fach geschult, von Oracle-Chef Larry Ellison. Als Benioff noch bei dem Software-Hersteller arbeitete, waren sie sehr eng, der geniale Verkäufer Benioff und der Egomane Ellison. Zusammen segelten sie auf Ellisons berühmt-berüchtigter Yacht durchs Mittelmeer oder flogen mal eben schnell nach Japan, um die Kirschblüte zu genießen.



Marc Benioff wurde für seine Geschäftsidee belächelt. Bis seine Firma Salesforce Milliarden machte.

Auch als Benioff seine eigene Firma Salesforce gründete, blieben sie Freunde, ja mehr als das: Ellison gab seinem Ziehsohn zwei Millionen Dollar, damit der starten konnte, was die meisten zu jener Zeit, 1999, für eine ziemliche Schnapsidee hielten: Eine Firma, die Dienste zur Pflege von Kundenbeziehungen im Internet anbot. Benioff wurde verlacht, doch Ellison behielt recht. Er hatte Benioffs Geschäftsidee als the next big thing bezeichnet, als das nächste große Ding.

Heute hat Salesforce etwa 13000 Mitarbeiter, Marc Benioff ist Milliardär, groß und massig. Und wenn seine Firma einlädt, zum Beispiel auf die Münchner Messe, kommen Tausende. 5000 allein sitzen in einer Halle, der Rest muss die Veranstaltung per Video in anderen Räumen verfolgen. Aber was heißt hier Veranstaltung: Die Sitzreihen wurden konzentrisch um einen kleinen Fleck in der Mitte des Saals angeordnet. Benioff bleibt nicht dort stehen, sondern marschiert mit seinem Funkmikrofon durch die Reihen, damit ihn auch die ganz hinten mal aus nächster Nähe sehen können. Missionierung, das wäre vielleicht die bessere Bezeichnung.

Er holt dazu sein Büro aus der Westentasche. Sein Büro, das ist – ein iPhone. Es steckt in einer dicken Hülle mit Zusatzakku, der verhindern soll, dass dem Mobiltelefon zu schnell der Saft ausgeht. Das wäre nicht so gut, denn, so behauptet der Salesforce-Chef, ein anderes Gerät habe er gar nicht dabei auf seiner Tour durch Europa, die bereits einen Monat dauert.

Er wird es noch oft sagen an diesem Tag: „Mit dem Smartphone führe ich mein Unternehmen.“ Aber wie kann das überhaupt funktionieren? Es funktioniert, weil die ganzen Mengen Daten, die ein Unternehmenslenker braucht, im Hintergrund gesammelt, aufgearbeitet und schließlich so dargestellt werden, dass auch auf dem kleinen Bildschirm eines Smartphones sofort ins Auge fällt, wo es gut läuft und wo nicht. Jeder Mitarbeiter kann außerdem wie bei Twitter oder Facebook anderen Kollegen oder Gruppen folgen. Daraus wird ein Feed gebildet, also eine Abfolge von Nachrichten, Bildern und Daten.

Das heißt: Postet zum Beispiel ein Vertriebsmitarbeiter, dass er ein Geschäft unter Dach und Fach hat, erfahren das ganz automatisch auch alle seine vernetzten Kollegen, die ihm folgen. Ein Vorgesetzter muss etwas entscheiden? Er bekommt den Fall vorgelegt, tippt auf Ja oder Nein und erklärt bei Bedarf kurz, warum er so entschieden hat. Und muss man dem Chef mal etwas Wichtiges mitteilen, postet man es an dessen virtuelle Pinnwand.

Prozesse an der Oberfläche werden also radikal vereinfacht, die Komplexität stattdessen in Rechenzentren verlagert, mit Algorithmen gesteuert. Und es ist klar, worauf das in erster Linie abzielt: Auf Geschwindigkeit. „Speed ist die neue Währung der Wirtschaft“, sagt der Spanier Miguel Milano, er ist Europa-Chef von Salesforce. Und was ist den Bossen noch wichtig, wenn er ihnen zeigt, wie die mit einem Handy einen Konzern steuern können, so wie er? Sie wollen zum einen möglichst viel über ihre Kunden wissen, und sie wollen, dass ihre Mitarbeiter nicht in Firmenkategorien denken, in Silos, sondern so effektiv wie möglich zusammenarbeiten.

Die Cloud, der Verbund aus Rechnern, ist dabei die große Wurstmaschine. Gefüttert mit Daten – „alles, was kommunizieren kann, können Sie auch mit unserem System verbinden“, sagt Milano – spuckt die Software alle möglichen Grafiken und Übersichten in Dashboards aus, Instrumententafeln für moderne Wirtschaftsbosse und deren Mitarbeiter. Warum verkauft sich Produkt XY in Land Anur an unter 25-Jährige, in Land Baber eher an Ältere – auf solche Fragen kommt man wahrscheinlich nur, wenn man überhaupt erst einmal die entsprechenden Daten auf so einfache Weise abrufen kann.

Und das natürlich Tag und Nacht. „Wenn ich morgens aufwache, schaue ich als Erstes auf mein Smartphone“, sagt Miguel Milano freimütig. Und zuletzt drauf geguckt hat er, kurz bevor er sich schlafen legte: „Es geht um Speed“, wiederholt er bloß, und verneint die Frage, ob es irgendwelche Regeln in seiner Firma gibt. Regeln, die Mitarbeiter davor schützen, zum Sklaven ihrer Smartphones zu werden.

Denn das ist die Kehrseite der superschnellen, datengetriebenen Arbeitswelt: Wenn das Büro in die Sakkotasche passt und ins Handtäschchen, wächst auch der Druck auf die Angestellten, zumal bei global operierenden Firmen, wo die einen gerade beim Mittagessen sitzen, wenn die anderen schlafen gehen. Dazu kommt: Alles, was man tut oder auch nicht tut, lässt sich genauestens erfassen und in ebenso bunte wie aussagekräftige Statistiken verpacken wie Umsatzzahlen oder der Energieverbrauch in einer Fabrik.

Wenn von Cloud-Computing die Rede ist, kommen in der Regel aber eher andere Bedenken zur Sprache, vor allem in Europa, wo die ständig neuen Enthüllungen über den US-Geheimdienst NSA zumindest das Bewusstsein dafür geweckt haben, dass Daten und Dienste in steter Gefahr sind, sobald sie übers Internet geschickt werden oder darüber zugänglich sind. Gerade US-Firmen haben es derzeit nicht leicht auf diesem Markt. Sie versuchen das Problem zu umgehen, indem sie wie etwa Microsoft Datenzentren in Europa einrichten oder sich wie Salesforce sogar auf einzelne Ländern kaprizieren. Salesforce kooperiert in Deutschland mit der Deutschen Telekom. Die ist hier nicht bloß größter Cloud-Anbieter, sondern argumentiert auch, dass die Daten ausschließlich in Deutschland gespeichert würden und die Cloud somit den strengen deutschen Datenschutzregelungen entspreche. Wer also seine Kundenbeziehungen künftig in Deutschland mit Salesforce steuert, dem kann man zusagen, dass die Daten in Deutschland bleiben.

Miguel Milano, dem Europa-Chef von Salesforce, ist auch vollkommen klar, dass Vertrauen das wichtigste Gut seiner Firma ist. Um das zu erwerben, setzt Salesforce auf Transparenz. Kunden können sich die Rechenzentren jederzeit anschauen. Über das Netz lässt sich überwachen, ob die Performance stimmt. Man habe außerdem viele Banken und Regierungen als Kunden – „die haben das alles vorher genauestens auditiert“, sagt Milano.

Eigentlich aber gibt es längst kein Zurück mehr, schon wegen des Kostendrucks muss die Produktivität stetig wachsen und müssen sich die Unternehmen daher wohl oder übel mit der Cloud anfreunden. Bei Coca Cola Deutschland etwa erwartet der IT-Leiter, dass sich durch den Einsatz von Cloud-Software die Produktivität um 20 bis 25 Prozent steigern lässt. „Die Hälfte unserer 10000 Mitarbeiter hat direkten Kontakt zu Kunden“, sagte Markus Franke. Das will er ausnutzen, und zwar, wie er sagt, „mobile first“, also mit der Betonung darauf, alles mit mobilen Geräten zu erledigen – mit Smartphones oder Tablets. Dass die Mitarbeiter alles sofort und schon an Ort und Stelle eingeben und checken können, soll das Geschäft drastisch beschleunigen und es effektiver machen.

Jetzt müssten nur noch die Netze genügend Bandbreite liefern, und zwar auch abseits von Groß- und Innenstädten. Denn das ist natürlich die Achillesferse der vernetzten Welt: Wo kein Netz ist, da gibt es auch keine Vernetzung, keinen Speed und keine Produktivitätssteigerung. Bei Salesforce hat man das erkannt. Im August, so ist es geplant, soll es eine Version der Anwendungen für Mobilgeräte geben, die man auch offline benutzen kann, dann also, wenn kein mobiles Datennetz zur Verfügung steht. Dann zählt auch die Ausrede Funkloch nicht mehr.

Alles endet in einer Melange aus Geschrei und Tränen

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Ob Felipão, der magie-beseelte Coach der Seleção, in der Nacht vorm Spiel noch ein falsches Orakel der Orishas befragt oder seine Aufstellung einfach aus dem Flug der Fledermäuse abgelesen hat, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass die Journalisten der großen Medien des Landes, vom Fernsehsender Globo bis zu São Paulos Qualitätsblättern, alle mächtig sauer waren auf Felipe Scolari, als sie kurz vor Spielbeginn dessen taktische Rochade fürs Halbfinale erfuhren: Nicht Willian spielte, der gesetzte Ersatzmann für den verletzten Neymar, auch Paulinho schickte der Coach nicht aufs Feld – sondern Bernard. Einen Stürmer, der wie ein Schulbub auf Stress-Situationen reagiert.



Schweinsteiger umarmt die Brasilien-Spieler Dante und Luiz nach dem Halbfinale der WM.

Felipão wählte, entgegen seiner Natur, also die offensive Variante. Flucht nach vorne gegen Deutschland, mit den Außen- stürmern Bernard und Hulk, die zweierlei zu tun hatten: Den spielstarken Kapitän Philipp Lahm auf der rechten Seite ausschalten, der es nicht mag, wenn ihm ständig einer auf den Füßen steht – und auf der linken Seite die statistische Schwachstelle des Gegners aufbohren, denn über Benedikt Höwedes Seite hatte die DFB-Auswahl zuvor ihre drei WM-Gegentore kassiert.

Die Aufgaben waren klar verteilt: Hulk markierte Lahm, Bernard lauerte auf der rechten Seite, beide sollten mit langen Bällen aus der Abwehr auf die Reise geschickt werden. Das war zwangsläufig Teil dieser Harakiri-Strategie, in Ermangelung von pass- und ballsicheren Mittelfeldspielern galt es, diesen Bereich möglichst schnell und schlicht zu durchqueren.

Doch es war sofort klar: Hier würde nichts funktionieren. Neymar, den die Zuschauer mit Sprechchören feierten, er fehlte an allen Ecken und Enden. Diese Seleção, von Scolari mit höchstem Risiko als reines Funktionsteam um Ausnahmespieler Neymar herum konzipiert, war ohne den Dreh- und Angelpunkt völlig orientierungslos, und Bernard, der Überraschungsgast in der Stammformation, wirkte wie einer aus der Schülerelf, der ausnahmsweise mal bei den Großen mitspielen durfte.

Er hatte den Ball noch kaum berührt, als es schon 0:5 stand. Die Fans auf den Rängen, die kleinen wie die großen, weinten hemmungslos, das Desaster auf dem Rasen verfolgten sie trotzdem tapfer weiter: Die Demütigung der WM-Nation, die Horrornacht des brasilianischen Fußballs. Der Tag, der das Trauma von Maracanazo vergessen machte, die 1:2-Niederlage gegen Uruguay bei der WM 1950 im eigenen Land, als der Titel verloren ging. Ja, Maracanazo ist seit gestern Nacht vergessen – dass es durch ein noch viel größeres Trauma ersetzt wurde, dürfte die Stimmung im WM-Land über die letzten Tage trüben. Scolari, der sonst wie ein Tiger in seinem Trainergeviert kreist und die Seleção in Kommandantenpose durchs Spiel zu steuern pflegte, er sah jetzt mit schlaff hängenden Schultern zu, ein Rentner, der sich an den Spielfeldrand verirrt hatte.

Scolari hatte alles falsch gemacht. Diese Botschaft ging von David Luiz aus, dem neuen Kapitän, der mit dem Gelb-gesperrten Thiago Silva bisher bei der WM ja eine unüberwindbare Innenverteidigung gebildet hatte. Das Stellungsspiel war seine Stärke nie, nun hatte er statt Silva den Kollegen Dante an der Seite, ausgestattet mit null Minuten WM-Erfahrung. Und während David Luiz, heillos übermotiviert im Glauben, er müsse hier alle Positionen gleichzeitig spielen, wie ein Derwisch übers Spielfeld flatterte, wird sich der Bayern-Verteidiger hinten wie bei einem Hallen-Kick vorgekommen sein: Allein gegen drei, vier Deutsche, die sich noch am Elfmeterpunkt freistehend den Ball zuschieben konnten. Als Scolaris Kahn absoff, war der Kapitän als Erster über Bord gegangen.

Die Seleção wurde nach der Pause mit Pfiffen empfangen, viele Gesichter spiegelten nackte Angst wider. Doch Scolari hatte sie noch einmal erreichen können, mit Paulinho und Ramires für Hulk und Fernandinho rannten sie los. Oscar, Paulinho und Fred hatten plötzlich beste Chancen, schossen aber sichtlich entnervt immerzu den großartigen Keeper Neuer an. Nach einer Stunde hatten die Fans genug: „Fred, du Arsch, hau ab!“, dröhnte es von den Rängen im Estádio Mineirão, hier, wo Brasiliens unglücklicher Mittelstürmer seine Wurzeln hat. Jeder Ballkontakt Freds wurde fortan ausgebuht. Und als auf der Stadionleinwand Ronaldo auftauchte, das Gesicht des WM-Komitees und der bisherige WM-Schützenkönig, der den Titel hier an Klose verlor, setzte ein Gezeter ein, als habe sich Sepp Blatter in der Loge erhoben.

Die Fans kamen kaum zu Atem. Beim 0:6 winkte Scolari flott Fred vom Platz, vergebens – er erhielt ein Schlusskonzert , das den Frustrierten fast in den Rasen drückte. Dass Willian, der Neue, den alle von Beginn an erwartet hatten, noch ein paar brauchbare Spielzüge inszenierte, wirkte wie letzter Hohn auf Scolaris intuitiv angerichteten Spielersalat. Der vorletzte Hohn: Schürrles 0:7 bejubelten die gelben Fans demonstrativ. Wie beim Stierkampf wurde jede Ballstafette der Gäste beklatscht.

Als es vorbei war, versammelte Scolari seine weinenden Jungs am Mittelkreis, inmitten donnernder Buhrufe. Alles endete in einer Melange aus Geschrei und Tränen. Es ist was passiert, das weit, sehr weit über die Nacht hinausreichen wird. Und ins ganze Land.

Was mir das Herz bricht: Überforderte Menschen an Lautsprechern

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Wenn man einmal ungestört Zugfahren möchte, gibt es einen unschlagbaren Trick: Man muss dann fahren, wenn alle anderen Menschen einen sehr guten Grund haben, zuhause zu bleiben. Das kann eine sehr frühe Uhrzeit sein, ein Tag, an dem Menschen mit echten Berufen arbeiten müssen oder eben ein sehr sehr begehrtes Fußballspiel. Zum Beispiel das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien.  

Ich sitze also nahezu allein im ICE, kaue auf der Yorma’s-Schnittlauchbrezel und freue mich auf eine ruhige Fahrt, als es auf einmal ein Knacken im Zug gibt. Das kenne ich natürlich: Über den Lautsprecher wird nun „Nächster Halt: Jena Paradies“ angesagt. Ich freue mich darauf, denn die Durchsage bedeutet, es geht voran. Dann aber bemerke eine ungewohnte Lautfolge. Es klingt wie ein Ruckeln, was darauf folgt, ist ein sehr lautes und angestrengtes Atmen. Jemand scheint sich sehr zu konzentrieren, was seltsam ist, denn Jena Paradies wird doch vermutlich häufiger angesagt, oder? In dem Moment, in dem aus dem Lautsprecher anstatt „Liebe Fahrgäste“ ein unsicheres „Liebe Fußballfreunde“ herausschallt, ist allerdings bereits alles zu spät: Das Herz wird brechen und im Gegensatz zu diesem Lautsprecher wird es dafür nur ein „Knack“ benötigen.  


Knack!

Denn die folgende Darbietung ist nicht nur für alle im Zug hörbar, sie geschieht auch unter Zwang. Vielleicht, weil gutgelaunte Kollegen gesagt haben: „Hannelore, jetzt sach’ mal das freudige Ergebnis durch“, und Hannelore nicht wusste, wie sie sich dagegen wehren soll. Vielleicht ist sie sogar eine Untergebene und es war eine Anweisung des Zugführers, jetzt mal richtig für Stimmung zu sorgen. Hannelore ist aber keine Stimmungskanone. Sie ist zufrieden, wenn sie Fahrkarten kontrolliert und den Menschen von Angesicht zu Angesicht sagen kann, auf welches Gleis sie beim Umsteigen wechseln müssen. Das ist ihr Job und den macht sie sehr freundlich und gut. Hannelore träumte nie davon, die Oscarverleihung zu moderieren, geschweige denn ein Fußballspiel zu kommentieren. Trotzdem wird sie nun dazu gezwungen und der ICE fühlt sich für sie trotz seiner Leere wie ein gut gefülltes Stadion an.

Hannelore sagt nun: „Bei dem Spiel...“ Pause. Knacken. Knistern vom Zettel, dann Freude in der Stimme, dass sie den Text wiedergefunden hat: „Brasilien gegen Deutschland steht es jetzt... ähm... null zu eins.“ Wieder knackt es in der Leitung. Man denkt „Puh, das war nicht so schlimm wie erwartet“, aber der Mensch, der Hannelore in diese aussichtslose Situation getrieben hat, murmelt nun etwas im Hintergrund. Wieder schweres Atmen, dann sagt sie noch mit Jena-Paradies-Euphorie: „Also Deutschland führt. Und... der Torschütze: Thomas Müller“. Mehrmaliges Rumpeln, das Einhängen des Zugtelefons will nicht so richtig gelingen. Glücklicherweise ist das Hannelore bewusst und sie verzichtet darauf „Ist das Ding jetzt aus?“ zu fragen, wie es Menschen bei der Aufnahme einer tristen Anrufbeantworteransage so gerne tun. Auf dass jeder ihrer Anrufer die nächsten 20 Jahre mit einem „Sprechen Sie nach dem Piep. Knack. Knister. Ist das Ding jetzt aus? Knack.Pieeeeeeeeep“, begrüßt werde.  

Im Zug herrscht Stille. Denn das hier ist nun mal kein Stadion und keine Oscarverleihung. Es ist ein ICE, in dem als Highlight Currywurst aus der Mikrowelle serviert wird. Keiner klatscht enthusiastisch oder bricht in Tränen aus. Deutschland gegen Brasilien wird zu „Jena Paradies“, nur dass hier auf einmal alle sehr gerne aussteigen würden. Oder zumindest jemand Hannelore in den Arm nehmen sollte. Denn man ahnt bereits: Aus der Nummer kommt sie nicht mehr raus, wenn noch weitere Tore fallen. Und das tun sie dann auch. Sechs Mal. Nach dem fünften hat Hannelore allerdings bereits aufgegeben. Vielleicht, weil sie damit beschäftigt ist, einen Krankenwagen für all die gebrochenen Herzen in diesem Zug zu rufen. Das kann sie dann zumindest ganz für sich tun, ohne Lautsprecher.
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