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Nachrichten aus dem Netz

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Zum Beispiel Claus Kleber. Der Moderator des „Heute-Journals“ ist jetzt auch „auf Twitter“, wie man so sagt. Und dort twittert Kleber, der sonst mit viel professoraler Gravitas im Fernsehstudio doziert, Dinge wie: „Crazy!“, „Tipps, anybody?“, „U’ll C“ oder „Sonst: Hölle.“ Sowieso haben seine Sätze selten mehr als zwei Wörter, Kleber meistert die Kunst der Verknappung, die durch die 140-Zeichen-Grenze von Twitter geboten ist. Die Leute finden das großartig – nach nicht mal einer Woche hat der Mann, der von den alten Medien kam, mehr als 16000 Follower.



Ein Meister der Verknappung: Claus Kleber ist seit ein paar Tagen auf Twitter unterwegs – und hat schon jetzt mehr als 16000 Follower.

Zum Beispiel die CIA. Auch der amerikanische Geheimdienst hat seit Kurzem eine Repräsentanz auf Twitter. Ganz im bekannten Schlapphutstil lautete die erste Botschaft: „Wir können weder bestätigen noch dementieren, dass dies unser erster Tweet ist.“ Große Lacher allenthalben, mehr als 50000 Mal wurde der Gag retweetet. Zuletzt noch die Berliner Polizei. Die twitterte vorvergangenes Wochenende 24 Stunden lang einen jeden ihrer Einsätze. „Mann streift ohne Hose durch #Mitte“ und ähnliche Tweets bescherten 20000 neue Follower.

Lange Zeit fanden die Public-Relations-Abteilungen auf Twitter gar nicht statt. Sie waren zwar angemeldet, aber viel zu sehr darum bemüht, keine Fehler zu machen, ja nichts Kontroverses oder Missverständliches zu senden. Oder sie bezahlten Geld, um ihre Tweets in der Timeline der Nutzer sichtbar zu machen – was sich nicht großartig von konventioneller Werbung unterscheidet. Doch im Jahr 2014 können die Twitter-Accounts von Exekutiv-Organen und großen Konzernen klingen, als stammten sie von pubertierenden Teenagern. Sie streuen schwer dechiffrierbare Abkürzungen und Emoticons in die Nachrichten, sie nutzen den Zugriff auf das scheinbar unbegrenzte Arsenal beliebig remixbarer Memen. Und sie scheuen sich nicht, meckernde Kunden auch mal anzupflaumen. Weil die Erfahrung zeigt, dass unbeteiligte Beobachter das sehr komisch finden – und es dementsprechend gern teilen.

Doch egal ob Claus Kleber, CIA oder Polizei – alle drei sind auch beispielhaft für ein größeres Dilemma: Schnell drängt sich der Verdacht der Anbiederung beim neuen Publikum im Netz auf. Der erste Unmut über die Usurpation durch die Social-Media-Abteilungen regt sich bereits. In Zeiten, in denen jene – früher mal so vage definierten – „Social Media“ an manchen Universitäten schon als Aufbau-Studiengang gelehrt werden, bekommen die Plattformen, die sich angeblich durch authentische Botschaften und direktes Feedback auszeichnen, ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Von vielen Nutzern werden Twitter oder Facebook als Terrain wahrgenommen, auf dem die Konventionen der Mainstream-Kultur nicht gelten, in dem die Gesetze von Meinungsmacht und Manipulation außer Kraft gesetzt waren. Schon seit langer Zeit ist Ironie das vorherrschende Stilmittel im sozialen Netz und Sarkasmus im Zweifelsfall die beste Reaktion auf so gut wie jeden Input. Wenn die Unternehmen nun den hippen Diskurs kapern, schreibt etwa Kate Losse im Online-Magazin The New Inquiry, werde es Zeit für einen wertkonservativen Backlash. Wenigstens das hat sich also auch im Netz nicht geändert: Uncool ist das neue Cool. 

Den Macho ins Grübeln bringen

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Die 15-jährigen Jungen „behandeln mich ohne Respekt“, sagt die Lehrerin Mitte fünfzig, schmale Brille, hennarote Haare. „Wenn ein männlicher Kollege in die Klasse geht, wird er aber respektiert.“ Da nicken ein paar Frauen in der Runde. „Neulich hat mich ein Schüler eine Schlampe genannt“, sagt eine andere. Auch das überrascht keinen in der Runde. 15 Lehrerinnen und Lehrer sind an diesem Vormittag zu der Fortbildung von „Heroes“ ins Haus der Bildungsgewerkschaft GEW in Berlin gekommen. Sie unterrichten vor allem Jugendliche aus türkisch- oder arabischstämmigen Familien, in denen archaische Ehr- und Geschlechtervorstellungen verbreitet sind. Und sie wollen lernen, wie sie besser mit ihnen umgehen können. Sie sitzen im Halbkreis auf Stühlen, Notizblöcke auf den Knien, und berichten. Dinge, die man eher selten so hört.



Türkischstämmige Jugendliche sollen integriert werden. Manche Lehrerinnen fühlen sich allerdings hilflos gegenüber frauenfeindlichem Verhalten.

„Ich sehe bei den Jungen aber auch eine große Unsicherheit“, sagt eine junge Lehrerin. Daher das Machoverhalten. „Oder sie verstecken sich hinter dem Ehrbegriff“, sagt einer der zwei männlichen Teilnehmer, ein jungenhafter Typ mit Strubbelfrisur. „Aber, wie bricht man das auf?“, fragt er. „Wie kommt man an sie heran?“

Dabei helfen wollen Yilmaz Atmaca und Ahmad Mansour. Sie sitzen an einem kleinen Tisch, zwei Laptops vor sich, mit denen sie Filme und Folien an die Wand projizieren. In erster Linie sollen die Lehrer an diesem Tag die Welt muslimischer Jugendlicher kennenlernen und verstehen. Sie analysieren Musikvideos und kurze Filme, reden von Erfahrungen. Der Schlüssel zum Verständnis ist der traditionelle Ehrbegriff, der auf der Jungfräulichkeit der Töchter beruht. Mit ihm wachsen die meisten Schüler auf, er bestimmt ihr Verhalten.

Der Psychologe Ahmad Mansour und der Theaterpädagoge Yilmaz Atmaca wissen, wovon sie reden. Sie kennen dieses Denken aus ihrer alten Heimat. Mansour ist palästinensischer Israeli und lebt seit neun Jahren in Berlin, Atmaca wuchs in der Türkei auf und kam vor 20 Jahren nach Deutschland. Seit sieben Jahren engagieren sie sich mit dem Projekt „Heroes“, zu deutsch: Helden, gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Sie arbeiten mit muslimischen Jugendlichen, halten Vorträge und machen Fortbildungen in Jugendeinrichtungen und bei der Polizei. Die Lehrerfortbildung bieten sie bundesweit an.

Darin sezieren sie den Ehrbegriff und erklären, welche Folgen er vor allem für Jungen hat: Er mache sie zu ständigen Bewachern ihrer Schwestern, lasse keine eigene Meinung zu und verunsichere sie. Das alles überspielten sie mit Machoverhalten und einem besonderen Stolz auf ihre Ehre. Aber wie können Lehrer damit umgehen?

Das üben sie nun in einem Rollenspiel. Mansour übernimmt die Rolle des Jugendlichen. Der 37-Jährige trägt dunkle Jeans, ein weißes, eng anliegendes Hemd und einen kurzen Bart. „Also, ich bin Muslim und für mich ist es sehr wichtig, dass die Frauen in meiner Familie ehrenhaft bleiben“, sagt er, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. „Wir sind eben anders, wir wollen Jungfrauen heiraten.“ Kurze Stille, erschrockene Blicke. „Ich bin Ihr Schüler, reden Sie mit mir!“, ruft er. „Ich würde dem Schüler jetzt Fragen stellen“, sagt eine junge Frau, „versuchen, mit ihm in den Dialog zu treten: Warum denkst du so?“ „Na, weil ich das so von meinen Eltern und von meiner Religion mitbekommen habe“, kontert Mansour. „Und ich finde das gut.“

„In meiner Klasse denken 23 von 25 Schülern so“, wirft eine Frau aufgeregt ein. „Aber ich kann das doch nicht akzeptieren. Ich arbeite für den deutschen Staat und der vertritt bestimmte Werte.“ Eine andere meint, dass sie sich auf so ein Gespräch nicht einlassen würde. „Das verhärtet die Fronten nur noch mehr.“ Fast alle stimmen zu. Nur die junge Lehrerin aus dem Rollenspiel findet „das entstandene Gespräch wertvoll, weil die Schüler so über ihre Vorstellungen von Ehre nachdenken“.

Zur Überraschung der anderen Besucher sagen auch Mansour und Atmaca, dass man da ansetzen müsse: bei Gesprächen auf Augenhöhe und interessiertem Nachfragen. „Das bedeutet ja nicht, dass ich dem Schüler recht gebe“, sagt Atmaca. „Er soll aber die Möglichkeit bekommen, sich zu erklären.“ Die Lehrer sollten nicht darauf bestehen, recht zu haben. Wenn man ständig sage, „wir leben in Deutschland, hier gibt es Gesetze, und du hast dich anzupassen“ – dann sei das keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern ein Machtspiel, so Atmaca. Und das führe dann zu den bekannten Reaktionen: Aggressivität oder Ablehnung. Weitaus besser sei es nachzufragen, sich nicht verunsichern zu lassen, ganz egal, ob ein Schüler Hitler toll findet, weil der Juden getötet hat, oder seine deutschen Mitschüler Schweinefleischfresser nennt. Warum denkst du so? Woher kommt das? Wenn ein Lehrer diese Fragen stellt, dann redeten die Schüler eher – oder „sie denken sogar darüber nach“.

Die Lehrer hören interessiert zu, sagen aber, dass sie sich oft hilflos und allein gelassen fühlten, von ihren Schulleitern zum Beispiel. Und von der Politik sowieso. Auch Mansour und Atmaca räumen ein, dass noch viel passieren müsse. Den ersten Schritt könnten die Lehrer aber jetzt schon tun: ihren Schülern mal auf Augenhöhe begegnen, so Ahmad Mansour. „Denn so lange wir die Debatten auf der Wir-ihr-Ebene führen, werden wir nichts schaffen.“

Woher der Hass? Cristiano Ronaldo

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Überall in Deutschland laufen die Kinder gerade aufgeregt aus Kiosken und reißen ihre WM-Bilder-Tütchen auf. Und irgendwann ruft immer ein Kind so laut wie möglich: „Ich hab Ronaaaaaaaaaldo!“ So ist das, wenn man noch nicht in der Pubertät ist, da ist die Welt noch einfach und Cristiano Ronaaaaaaaaaldo einfach ein guter Fußballspieler und cooler Typ.

  Für die Älteren wird es schwierig, wenn Ronaldo – Weltfußballer des Jahres, Portugal-alleine-zur-WM-Schießer, lange Zeit teuerster Transfer des Universums – heute Abend gegen Deutschland aufläuft. Da wird er dann wieder in seiner affektierten Revolverheldenhaltung zum Freistoß antreten und die deutschen Fans vor dem Fernseher werden den millionsten Witz darüber machen. Bei Facebook werden sie höhnisch das Cover der spanischen Vogue herumreichen, auf dem er nackt hinter einem Supermodel posiert. Schnell ist dann klar: Wenn keinem anderen Spieler ein grober Schnitzer unterläuft (schlimmes Foul, Bestechungsskandal, Hymne nicht mitgesungen), wird Ronaldo wieder der meistgehasste Mann dieser Weltmeisterschaft sein.





  Dabei kommt der Hass auf Cristiano Ronaldo scheinbar aus ganz unterschiedlichen Ecken: Die einen beschimpfen ihn als „Mädchen“ für seine gezupften Augenbrauen, die anderen als überarroganten Macho. Vor einigen Jahren soll das Model Jasmine Lennard ihn im Lamborghini zu einem Sex-Date abgeholt haben, vor seinem Hotel, nur mit High Heels bekleidet. Dann wäre da seine berühmt gewordene Flirt-Ansprache (,,Me, you! Fuck, Fuck!“) an eine Kellnerin in Los Angeles. Ronaldo verkörpert nicht nur die Fußballträume eines 10-Jährigen – er lebt auch die Sexträume eines 15-Jährigen.

  Ronaldo ist nämlich nicht nur der kompletteste Stürmer der Welt, wie einem heute Abend die gleichen Leute versichern werden, die sich über seinen Freistoßanlauf lustig machen. Er ist auch ein besonders verschachteltes Hass-Phänomen, ein Symbol für die verwirrende Gemengelage der Sexualität im 21. Jahrhundert: Ronaldo ist scheinbar gleichzeitig zu männlich und zu weiblich. Woher der Doppelhass auf ihn?

  Eine Erklärung hat die Soziologin C.J. Pascoe. In Studien habe sich gezeigt, dass das Durchbrechen von Männlichkeitsrollen paradoxerweise denen am leichtesten gemacht wird, die ihre Hypermännlichkeit genügend unter Beweis gestellt haben. „Jock insurance“ nennt Pascoe das und meint: Typen wie Ronaldo bringen schon so viel traditionelle Männlichkeit mit, dass sie sich locker ihre Augenbrauen zupfen lassen können. Ronaldo ist wie ein Pfau, der seine Überlegenheit durch unsinnigen Federschmuck demonstriert: Hey, ich hab so viel überschüssige Maskulinität, dass ich mit weiblicher Schwäche kokettieren kann – und trotzdem fahren die Models nackt im Lamborghini vor mein Hotel!     

Wer Ronaldo also hasst für seine explodierte Männlichkeit, der muss seine feminine Seite gleich mit hassen. Wer aber ganz traditionell seine feminine Seite unerträglich findet, ist neidisch auf den Pfau, der sich sogar das erlauben kann. Deswegen hassen ihn alle, von rechts wie von links. Es ist auch wirklich kompliziert mit diesem Sexzeug. Außer man ist zehn Jahre alt und sammelt WM-Bildchen.

"Händeschütteln ist immer eklig"

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jetzt.de: Du bist Asperger-Autistin und entwickelst "N#mmer", ein Magazin für Autisten und ADHS-ler. Warum?
Denise Linke: Magazine schaffen Normalität, sie sind Freunde. Menschen mit Autismus und ADHS haben Probleme, Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen, für uns ist es umso wichtiger, dass wir ein Magazin haben. Außerdem will ich Vorurteile abbauen. Etwa, dass wir superintelligent oder gewaltbereit seien.

Viele Autisten bloggen, um sich zu erklären.
Nur werden die Blogs hauptsächlich von Menschen gefunden, die sich ohnehin mit dem Thema befassen. Ich will mit meinem Magazin nicht nur Autisten, ADHS-ler und ihr Umfeld erreichen. Sondern auch "Astronauten", die überhaupt nichts damit zu tun haben.

"Astronauten"?
Damit sind die Menschen gemeint, die weder Autisten noch ADHS-ler sind und uns "auf unserem Planeten" besuchen. Eine Anspielung auf dieses "Autisten leben in ihrer eigenen Welt"-Getue. So ein Satz steht in jedem Artikel zum Thema.



Per Crowdfunding sammelt Denise derzeit Geld für die erste Ausgabe von "N#mmer".


Was haben Autisten und ADHS-ler eigentlich gemeinsam?

Beides sind Entwicklungsstörungen, die ziemlich nah beieinander liegen, sie werden auch oft zusammen diagnostiziert. Ich habe viele ADHS-ler in meinem Freundeskreis. Irgendwann habe ich festgestellt, dass das auch daran liegt, dass wir ähnlich gestrickt sind, zum Beispiel in unserer Wahrnehmung.

Wie meinst du das?
Bei vielen Reizen auf einmal können wir uns nicht konzentrieren. Wenn uns etwas begeistert, kriegen wir den Superfokus.

Werden die Artikel anders aussehen als in anderen Magazinen?

Sie sind jedenfalls nicht kürzer. Autisten und ADHS-ler haben nur ein Problem sich zu konzentrieren, wenn uns etwas nicht interessiert. Deshalb bekommen Themen, die spannend sind, mehr Seiten im Magazin, wie in jedem anderen auch.

Um welche Themen wird es gehen?
Im ersten Heft um Liebe. Es dreht sich um Beziehungen, um Eltern-Kind-Liebe. Wie jemand gelernt hat, sich nach seiner Diagnose wieder selbst zu lieben. Daneben geht es um aktuelle Themen. Zum Beispiel BDSM . . .

. . . du meinst Fesselspiele und Sado-Maso?
Es gibt Studien, die zeigen, dass BDSM bei Autisten und ADHS-lern häufiger praktiziert wird als in der breiten Bevölkerung.

Warum?
Ich vermute, weil es dabei klare Ansagen gibt. Da passiert nicht einfach irgendwas, sondern man weiß genau, was. Und es sind nicht diese leichten Berührungen, die vor allem für Autisten oft unangenehm sind, sondern greifbare, härtere Berührungen. Die Themen im Heft sind normale Themen, nur der Blick auf sie ist anders. So wie unser Blick auf die Welt anders ist.

Wie ist dein Blick auf die Welt?

Nach dem, was mir andere erzählen, nehme ich die Welt ungefilterter wahr: die Musik im Café, das Gespräch am Nebentisch, das Auto, das vor dem Fenster vorbeifährt, den Vogel, der auf dem Baum sitzt – und zwar genauso intensiv wie das Gespräch, das ich gerade führe.

Dann ist die Welt besonders laut für dich?

Extrem laut und extrem hell. Ich stelle mir immer vor, wenn es für alle so laut wäre wie für mich, dann gäbe es wahrscheinlich keine Cafés und keine Clubs. Meine Sinne vermischen sich: Wenn es sehr hell ist, ist es für mich gleichzeitig sehr laut. Auch wenn es leicht bewölkt ist, trage ich eine Sonnenbrille.

Wie ist es, wenn du unter Leuten bist?

Ich muss mich extrem konzentrieren. Was andere einfach so können, musste ich lernen und immer noch bewusst tun, zum Beispiel meine Mimik kontrollieren. Ich muss mich auf mein eigenes Gesicht konzentrieren, darauf, wie der andere guckt, welcher Muskel im Gesicht sich wie bewegt, um überhaupt etwas zu verstehen. Und dann soll ich ja auch noch zuhören. Normal nimmt man das große Ganze wahr und die Details nicht. Bei mir ist es andersherum. Ich verstehe zum Glück in ungefähr der Hälfte der Fälle Ironie und Sarkasmus. Aber ich muss immer noch kurz darüber nachdenken, ob etwas so gemeint ist, wie es gesagt wurde.



Das vorläufige Cover der ersten Ausgabe.


Wie nimmst du Berührungen wahr?

Umarmen finde ich okay bei Menschen, die ich mag. Handgeben finde ich immer eklig. Hände sind oft schwitzig. Bei einer Umarmung merke ich das nicht, weil da Stoff dazwischen ist. Was auf meiner Haut ist, nehme ich sehr intensiv wahr. Viele Stoffe kann ich nicht tragen. Aber das ist bei jedem anders.

Im Moment bist du wegen deines Projekts viel unter Menschen. Wie gehst du damit um?

Ich habe mir leider nach dem Abitur angewöhnt zu rauchen. Es ist viel einfacher, mich aus einer sozialen Interaktion rauszuziehen, wenn ich sage, ich gehe eine rauchen. Ich würde gerne sagen, dass ich fünf Minuten rausgehe, um mich zu sammeln, danach geht’s wieder. Aber dann denken die Leute: Was hat die denn?

Du bekamst deine erste Asperger-Diagnose 2011 in Kalifornien, eine zweite im Jahr darauf in Berlin. Wie bist du darauf gekommen, dich testen zu lassen?
Ich war in den USA und wohnte mit ungefähr 40 Leuten in einem großen Haus. Als einmal vor dem Haus ein Krankenwagen mit Sirene vorbeifuhr, hielten mein Mitbewohner David und ich uns beide die Ohren zu. David fragte mich dann, wann ich meine Diagnose bekommen hätte. Ich hatte keine Ahnung, was er meint, bis er erzählt hat, dass er Asperger hat. Ich ließ mich dort testen, zurück in Deutschland ging ich noch einmal zu einer Psychologin. Beide Tests waren positiv.

Wie läuft so ein Test ab?
In jeder größeren Stadt gibt es Psychologen, die testen, manche allerdings nur Kinder. Mir wurden unfassbar viele Fragen gestellt, etwa 200, bei denen ich teilweise überhaupt nicht verstanden habe, was die mit Autismus zu tun haben.

Zum Beispiel?
Konntest du als Baby krabbeln? Machst du gerne Tiergeräusche nach? Autistische Kinder können oft nicht krabbeln. Ich konnte es auch nicht. Woran das liegt, weiß ich nicht. Und Autisten machen gerne Geräusche nach. Wir lernen ja viel durch Nachahmung, Mimik, Gestik, soziale Interaktion. Autisten machen da keinen großen Unterschied zwischen Mensch und Tier, sondern ahmen automatisch alles nach. Ich miaue meine Katzen an und die miauen mich an.

Wie ging es dir mit der Diagnose?
Direkt nach der ersten stellte ich mich vor den Spiegel und fragte mich: Sehe ich jetzt anders aus, sehe ich autistisch aus? Was natürlich totaler Quatsch ist. Ich hatte genau das gleiche klischeehafte Bild von Autismus und Asperger, das viele Leute haben.

Dachtest du vor der Diagnose daran, dass du Autistin sein könntest?

Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich anders bin als die anderen, aber die anderen haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich es bin. An meiner alten Schule war es schlimm, die anderen Kinder beschimpften und bespuckten mich. Ich musste die Schule wechseln.

Was ist passiert?

Die Kinder in meiner Klasse sagten immer, ich sei komisch. Sie sagten, ich würde lügen. Erst Jahre später habe ich verstanden, warum. Ich sah den anderen im Gespräch nicht in die Augen, das wird als eindeutiges Zeichen für eine Lüge aufgefasst. Dabei bin ich eine ganz schlechte Lügnerin, ich kann mich nur schlecht auf das Gespräch konzentrieren, wenn ich jemandem in die Augen sehe, weil da so viel passiert. Ich konnte lange nicht mal "White Lies" verstehen. Wenn mich jemand fragte, wie ich sein neues Hemd finde, und ich fand es total hässlich, sagte ich: Hässlich! Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich trotzdem "Voll schön!" sagen muss. Wahrscheinlich war ich deswegen so unbeliebt. Inzwischen habe ich das gelernt, auch dass ich dem anderen in die Augen sehen muss. Und Gesichtsausdrücke.

Wie hast du das gemacht?

Meine natürliche Reaktion, wenn es mir sehr schlecht geht, ist natürlich auch Weinen, ich bin ja ein Mensch, aber ich lächle dann. Das musste ich mir abgewöhnen, weil das alle anderen seltsam finden. Ich hatte dann ein Mama-Gesicht, das war fröhlich, ein Oma-Gesicht, das war eher nachdenklich, ein Papa- und ein Opa-Gesicht. Ich habe die verschiedenen Gesichtsausdrücke von den Menschen gelernt, die ich gut kannte, bei allen anderen habe ich die Gefühlsregungen im Gesicht ja nicht verstanden.

Hast du nach der Diagnose eine Therapie begonnen?
Die Therapeutin sagte, dass sie das Gefühl habe, dass ich gut zurechtkomme, ich solle wiederkommen, wenn es mir schlecht geht. Ich habe nie eine Therapie gemacht, ich war auch nie in einer Selbsthilfegruppe.

Was hat sich seit der Diagnose für dich verändert?

Ich gehe sehr offen damit um und erzähle früh davon, wenn ich jemanden kennenlerne. Mir hilft es, dass ich sagen kann: "Ich habe Asperger, deswegen bin ich manchmal ein bisschen komisch." Leider kam die Diagnose recht spät, mit 22. Aus meiner Unizeit habe ich zum Beispiel gar keine Freunde. Ich sprach da einfach mit niemandem, ich ging in mein Seminar oder meine Vorlesung und wieder raus, das war sehr praktisch. Ich verstehe bis heute nicht, wie sich Freundschaften entwickeln. Ich sehe, dass es passiert und ich finde das schön für die Menschen. Aber ich verstehe nicht, wie die das machen. Und mir fehlt es jetzt auch nicht.

Wie hast du deine Freundschaften geknüpft?
Die Freundschaften, die ich habe, sind spontan entstanden. Wenn mir jemand sympathisch ist, dann ist er mir sofort sympathisch und bleibt das auch. Ich habe einige Freunde in einem Hackerspace in Berlin kennengelernt. Da bin ich durch Zufall hingekommen und habe zum ersten Mal Menschen getroffen, die mir sehr ähnlich waren, mit denen es auch nicht so schwierig und anstrengend war. Wenn ich keine Lust hatte mich zu unterhalten, ließen die mich einfach in Ruhe. Ich habe nicht besonders viele Freunde, aber meine Freundschaften sind sehr innig. Wir sprechen nicht jeden Tag miteinander, aber wir wissen, wir verstehen uns und sind füreinaner da. Ich muss mich immer bewusst daran erinnern, meine Freunde zu kontaktieren, das geht nicht automatisch bei mir.

Wie ist es bei dir mit Beziehungen?
Seit ich meine Diagnose habe, ist es wesentlich leichter geworden. Ich kann viel besser einschätzen, dass ich jetzt gerade schlecht drauf bin, weil mir gerade alles zu viel ist und das nichts mit der Situation zu tun hat. Ich hatte früher oft Partner, die oft feiern gingen und die oft Freunde einluden, das war immer schwierig, weil ich nicht erklären konnte, warum ich das nicht will. Jetzt weiß ich, dass es okay ist, wenn ich das nicht möchte.

Das jetzt.de-POnini-Album

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Mit einem Gesicht allein gewinnt man kein Fußballspiel. Das weiß sogar Cristiano Ronaldo. Auf die Beine kommt es an, auf die Explosivität im Sprint, die Kraft beim Schuss, die Ausdauer bei den langen Wegen über die Flügel. Für all das ist natürlich die entscheidende Komponente des menschlichen Körpers der Gesäßmuskel, der Musculus glutaeus maximus, der dem Volumen nach größte Muskel des Menschen.

Deshalb hat jetzt.de zum WM-Auftakt der deutschen Elf der Fußballwelt endlich das Sammelalbum gegeben, das sie braucht: Das POnini-Album der deutschen Nationalmannschaft. Und bitte:

Tor





Abwehr











Mittelfeld

















Sturm








Auf, auf!

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Morgenstunden sind etwas sehr Intimes. Da entsteigt der Mensch seinem Bett, dem vielleicht letzten privaten Nest der modernen Welt, und ist noch ganz zerzaust und allein mit sich und den Gedanken an den bevorstehenden Tag. Das kann gut oder schlecht sein, je nachdem, wann und wie der Wecker klingelt und wie gut man aus dem Bett kommt. Denn nie ist die Stimme der Bequemlichkeit lauter und stärker, als wenn das Hirn noch zur Hälfte schläft und jammert: Weiterschlafen, weiterschlafen, es gibt doch gar nichts Schöneres als weiterschlafen, was soll denn nur der ganze Rest?

Der 2011 verstorbene Autor Marc Fischer sagte einmal, sein Tag beginne nicht vor elf Uhr vormittags. Das hat mir gut gefallen. Es hat mich beruhigt. Mein Tag beginnt, wenn ich es mir selbst aussuchen kann, auch nicht vor elf Uhr. Eher um halb zwölf. Leider gibt es oft Tage, an denen ich es mir nicht aussuchen kann. Ich finde das sehr qualvoll. Meist drücke ich dann so oft auf den „Schlummern“-Knopf meines Weckers, dass mir nur noch zwanzig Minuten bleiben, um zu duschen und mich anzuziehen. Wenn ich es schaffe, mir dabei auch noch einen Kaffee zu machen und die Haare zu föhnen, bin ich stolz und fühle mich erwachsen. Ich schaffe es aber nur selten.

Die Zeit am Morgen ist die Brücke zwischen dem Faulmenschen und dem Arbeitsmenschen. Deshalb tut man gut daran, es sich auf dieser Brücke so seelenfreundlich wie möglich einzurichten. Mit einem Teil der Synapsen ist man aber schon beim Tagesgeschehen und seinen Problemen: Wer muss getroffen, angerufen, besänftigt werden? Was muss überstanden und was in die Wege geleitet werden? Im Idealfall ist man am Morgen auch schon ein wenig effizient. Denn obwohl diese Zeit keine Arbeitszeit im eigentlichen Sinn ist, greift der bevorstehende Tag schon nach einem und beeinflusst das Morgenritual: Der Manager liest den Wirtschaftsteil der Zeitung, der Gärtner studiert akribisch den Wetterbericht.

Ich suche noch immer nach diesem einen morgendlichen Programm, das nur mir gehört und mich stark macht für den Tag. Das mich – ganz egal, wie beschissen alles läuft – immer auffängt und mir hilft, den Tag mit Würde anzugehen. Ich denke dabei an meinen Vater, der jeden Morgen um sechs Uhr dreißig von seinem Radiowecker mit klassischer Musik geweckt wird, einige Sportübungen macht, kalt duschen geht, in Ruhe frühstückt und später, kurz vor acht, auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad ein paar Schlenker fährt, um noch etwas frische Luft zu bekommen. Seit mehr als dreißig Jahren. Egal, ob er vier oder sieben Stunden Schlaf hatte, egal, ob er am Abend ein Glas oder zwei Flaschen Wein getrunken hat. Es gibt ihm Halt. Als ich während der Schulzeit für einige Jahre bei ihm wohnte, sagte er: „Wir treffen uns immer um sieben zum Teetrinken in der Küche. Es gibt nichts Besseres, als morgens noch ein bisschen Zeit zu haben.“ Fand ich abends immer eine gute Idee. Morgens nicht mehr.

Deshalb denke ich so gern an den Satz von Marc Fischer. Er beruhigt mein schlechtes Gewissen. Marc Fischer hat trotz des späten Tagesbeginns großartige Arbeit geleistet. Aber natürlich ist schon die Grundannahme falsch, Dinge seien nur okay, wenn sie jemand anders vorher schon mal für okay erklärt hat. Und irgendwann, denke ich immer, muss auch ich es doch noch mal schaffen, ein tougher Aufstehtyp zu werden. Es gibt Menschen, die um fünf Uhr aufstehen, um zu laufen. Oder zu schreiben. Sie machen sich Leinsamen-Früchte-Müsli, selbst gemahlen. Sie gehen zum Frühyoga. Wenn die das schaffen, dann kann ich das doch auch! Mal stelle ich mir also die Laufschuhe vors Bett und gehe tatsächlich morgens joggen. Dann denke ich: Das mache ich jetzt immer. Und dann vergehen sieben Monate ohne einen einzigen Jogginglauf. Mal mache ich mir einen Kaffee, lese noch in Ruhe Zeitung, bevor ich irgendwohin gehe, und denke: Morgenruhe ist etwas Schönes, das mache ich jetzt öfter. Am nächsten Tag drücke ich wieder zu oft auf „Schlummern“, stürme wieder mit nassen Haaren und Zahnpasta im Mundwinkel aus der Tür und verfluche alles, was mir in die Quere kommt, und denke: Ab jetzt beginnen meine Tage nicht mehr vor elf. Werden sie aber immer wieder tun. Ein Morgenritual zu haben, das mich an solchen Tagen auffängt, das wäre schön.

Wie sieht die Zeitspanne zwischen Aufstehen und Arbeitsbeginn bei anderen aus? Vier Protokolle.      


Luise Amtsberg, 29, Grünen-Abgeordnete im Bundestag und Sprecherin für Flüchtlings- und Asylpolitik der grünen Bundestagsfraktion.




Ich bin Frühaufsteherin und nach Berichten meiner Eltern auch schon immer gewesen. Ich wache morgens um sechs Uhr ohne Wecker auf. Die meisten meiner Freunde finden das ziemlich schräg, aber ich bin eben so gepolt. Dafür liebe ich es, einen Mittagsschlaf zu machen. Nachmittags mal kurz wegdösen, das kann ich super. Kein Tag beginnt bei mir ohne Kaffee, also führt mein erster Gang in die Küche zum Wasserkocher, wo ich mir meinen sogenannten Cowboy-Kaffee – gemahlene Kaffeebohnen, mit heißem Wasser übergossen – aufbrühe. Milch rein, und dann setze ich mich im Schlafanzug eine Weile an den Küchentisch und habe noch so ein, zwei Stunden für mich und kann in Ruhe ein paar Sachen abarbeiten, die sich morgens leicht erledigen lassen. Ich höre Deutschlandfunk, beantworte Mails, lese Nachrichten und überlege, was davon für mich politisch relevant ist. Ich sehe in meinen Kalender und stelle mich drauf ein, was der Tag bringen wird. Mein Pensum ist mittlerweile echt groß, und ich weiß heute aus dem Kopf gar nicht mehr, was morgen anliegt. Irgendwann gehe ich dann duschen.

Je nachdem, wann es im Bundestag losgeht, manchmal ist das ja schon um sieben Uhr dreißig, muss ich natürlich etwas früher aus dem Haus. Wenn ich nicht gerade Termine am Stadtrand habe und den Fahrdienst in Anspruch nehme, radle ich zur Arbeit, das ist eine schöne Strecke von meiner kleinen Wohnung in Kreuzberg am Kanal entlang nach Mitte. Diese Minuten auf dem Rad heben meine Stimmung. Ich finde die Morgenstunden die schönste Zeit des Tages, da schläft noch alles, es geht einem keiner auf den Keks. Klar, wenn ich bis um vier feiere, schlafe ich aus. Aber wenn ich abends normal so gegen zwölf ins Bett gehe, wache ich immer um sechs auf.

Auf der nächsten Seite: Finn-Ole Heinrich, 31, Schriftsteller und Filmemacher.
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Finn-Ole Heinrich, 31, Schriftsteller und Filmemacher.



Ich halte viel von Ritualen, nur leider ist mein Leben oft zu unstet, um sie auch einzuhalten. Wenn ich zwischen meinen Lesereisen mal ein paar Monate lang durchgehend zu Hause bin, richte ich meinen Tagesablauf am liebsten nach meinen Mitbewohnern. Ich habe eine Weile mit einer Krankenschwester zusammengewohnt, die drei- bis viermal die Woche um sechs und einmal um elf Uhr aufstehen musste. Das habe ich dann auch so gemacht. Und wenn sie nach acht Stunden Arbeit nach Hause kam, hatte auch ich Feierabend. Derzeit wohne ich mit zwei Gärtnern zusammen, die müssen jetzt im Sommer gegen halb fünf morgens aufstehen. Das mache ich mit. Wenn ich mir streng verordne, nicht im Internet rumzudödeln, habe ich morgens vier, fünf Stunden Zeit, um ungestört zu schreiben. Dass ich in den frühen Morgenstunden am besten arbeite, habe ich schon während des Studiums gemerkt. Ich komme mit relativ wenig Schlaf hin, aber leider habe ich tierische Schlafstörungen und muss oft acht Stunden im Bett liegen, um überhaupt auf fünf Stunden Schlaf zu kommen. Ich bin deshalb nicht immer gleich gut ausgeschlafen und mache mir nach dem Aufstehen als Erstes einen Tee; erst einen grünen und dann, wenn der nicht mehr hilft, einen schwarzen. Nach zwei bis drei Stunden kriege ich Hunger und mache mir ein Müsli. Nach dem Schreiben mache ich dann zwanzig Minuten Gymnastik, ein physiotherapeutisches Programm gegen meine jahrelangen Rückenprobleme. Dabei höre ich NDR Info. Danach gehe ich duschen.

Das ist jetzt natürlich der Idealfall. Auf Lesereise zum Beispiel ist alles anders. Da habe ich bis zu vier Termine mit Auftritten am Tag. Die dauern oftmals bis in die Nacht hinein, weil man nach der Veranstaltung mit allen was essen oder trinken geht. Für mein neues Buch musste ich in den letzten sieben Wochen vor Abgabe täglich gut zwölf  bis vierzehn Stunden schreiben, weil ich in der Zeit davor durch Lesereisen oder andere Projekte in Stress geraten bin und kaum Rituale pflegen konnte.  

Auf der nächsten Seite:  Nike van Dinther, 26, Gründerin und Autorin des Blogs „This is Jane Wayne“.
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Nike van Dinther, 26, Gründerin und Autorin des Blogs „This is Jane Wayne“.




Bei mir ist kein Morgen wie der andere. An einigen Tagen bin ich total rentnermäßig drauf und schon um sechs Uhr dreißig hellwach, an anderen verfalle ich in den Kleinkindmodus und bin darauf angewiesen, dass mein Freund mir Kaffee ans Bett bringt. Eigentlich versuche ich ja gerade, meinen Körper darauf zu konditionieren, dass er ohne Wecker um sieben Uhr dreißig aufwacht. Weckerklingeln macht mir nämlich auch schlechte Laune. Sieben Uhr dreißig ist eine gute Zeit zum Aufstehen, finde ich. Dann bin ich um neun fertig, um aus dem Haus zu gehen. Als Erstes mache ich nach dem Aufstehen Musik an. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch ohne Musik in den Tag starten kann.

Ich bin morgens ein ziemlich träger Rumlatscher. Oft schlunze ich erst mal auf den Balkon, setze mich ein paar Minuten hin und blättere Magazine durch. Gern auch so doofe Kataloge, die man ungefragt nach Hause geschickt bekommt. Das ist super zum Wachwerden. Was ich auch mag: ungestylt in Schlafanzughose, Pulli und Turnschuhen Brötchen holen. Dann bekommt man schon mal was vom Leben mit und muss schon mal ein paar Worte mit dem Bäcker reden und fühlt sich total aktiv. Mittlerweile frühstücke ich sogar regelmäßig, weil ich gemerkt habe, dass ich einfach zu lahm in der Birne bin, wenn ich erst um dreizehn Uhr zu Mittag esse. Ich schnipple mir also sehr oft morgens Obst. Das ist total meditativ, weil man da noch nichts denken muss. Und ohne Käsebrot läuft bei mir auch nichts. Unter die Dusche gehe ich übrigens am liebsten abends. Ich liebe es, frisch geduscht ins Bett zu gehen.

Obwohl ich wirklich versuche, so entspannt wie möglich in den Tag zu starten und so viel Zeit wie möglich zum Trödeln zu haben, bin ich morgens ganz unterbewusst immer schon ein bisschen in Hektik. Ich hab oft Angst, dass ich vielleicht schon was Wichtiges verpasst habe. Wahrscheinlich ist das ein Zeichen unserer Zeit.    

Auf der nächsten Seite: Devon Carbone, 25, Balletttänzer an der Bayerischen Staatsoper.
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Devon Carbone, 25, Balletttänzer an der Bayerischen Staatsoper.




Sechs Tage die Woche habe ich ab morgens um zehn Uhr Tanztraining. Mein Wecker klingelt schon um acht, aber ich drücke mindestens zwei- bis dreimal auf „Snooze“ und stehe erst um acht Uhr deißig auf. Ich würde gern früher aufstehen, denn ich liebe die Stille des Morgens. Außerdem bin ich mir sicher, dass ich noch etwas besser in allem wäre, was ich tue, wenn ich mir morgens mehr Zeit nehmen würde, einfach noch etwas dazusitzen und Ruhe zu haben. Aber ich schaffe es nicht. Ich war noch nie ein guter Frühaufsteher.

Nach dem Duschen mache ich mir schnell Kaffee und frühstücke ein wenig, einen Apfel und ein, zwei Eier und Brot. Gewöhnlich habe ich morgens noch keinen Hunger, aber ich muss etwas essen, damit ich Kraft habe für das Training. Eigentlich snacke ich lieber den ganzen Tag über immer ein bisschen oder esse mittags mehr, aber gerade das ist eigentlich gar nicht so gut, weil man nach einem zu großen Mittagessen schlecht wieder richtig fit wird für die Proben am Nachmittag. Ich sollte eigentlich an alldem arbeiten: früher aufstehen, mehr frühstücken, weniger zu Mittag essen.

Meine beste und liebste Aufwärmübung vor dem Training ist es, mit dem Rad zur Oper zu fahren. Viele von uns sind schon um zwanzig vor zehn beim Training und dehnen sich. Ich nicht. Ich kann mich während des Trainings nicht mehr so gut konzentrieren, wenn ich schon so lange vorher da bin. Wir haben zwar Fenster in unseren Tanzsälen, aber wir sind trotzdem fast den ganzen Tag drinnen. Ich genieße deshalb jede Minute an der frischen Luft. Außerdem ist das Radfahren eine sehr gute Aufwärmübung für Körper und Geist, denn Hirn und Körper müssen dabei sehr koordiniert zusammenarbeiten, und das sogar ganz unbewusst. Und man kann auch noch die Sonne und die Natur genießen. Das empfinde ich als sehr stärkend und konzentrationsfördernd. Die Natur ist immer noch die beste Inspiration für die Kunst, glaube ich.

Sie will nach ganz oben

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Wer Samantha Cristoforettis Lebenslauf sieht, könnte Angst bekommen. Die 37-jährige Mailänderin studierte Ingenieurwissenschaften und Luft- und Raumfahrttechnik in München, Toulouse, Moskau und Neapel. Abschluss mit 1,3. Sie trat 2001 in die italienische Luftwaffe ein und schloss 2005 als Jahrgangsbeste die Luftwaffenakademie ab. Als eine der ersten Frauen Italiens wurde sie zur Kampfpilotin ausgebildet. 2008 suchte die ESA (European Space Agency) sechs Nachwuchsastronauten. Samantha bewarb sich und setzte sich gegen 8400 Bewerber durch. Im November fliegt sie von Baikonur in Kasachstan aus als erste Italienerin ins All. Auf ihrer ISS-Expedition wird sie als Bordingenieurin für den Start der Rakete, das Andocken an die ISS und auf dem Rückflug für den Wiedereintritt in die Atmosphäre verantwortlich sein.
     

jetzt.de: Was passiert, wenn Sie auf einer Party nach Ihrem Beruf gefragt werden?
Samantha Cristoforetti: Ich sage meistens, dass ich Ingenieurin bin. Stimmt ja auch. Ich gehe nicht ins Detail, das monopolisiert sonst nur das Gespräch. Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen.

Das tun Sie und Ihre Kollegen aber ständig. Sie geben Interviews, die ganze Welt verfolgt, wie Sie nacheinander ins All fliegen.
Das ist Teil des Jobs, das stand schon so in der Ausschreibung. Und das reicht auch. Privat möchte ich etwas über andere erfahren. Wenn ich sage, dass ich Astronautin bin, erzählt mir niemand mehr etwas, weil mich alle mit Fragen belagern.

Im November fliegen Sie für ein halbes Jahr zur Internationalen Raumstation ISS. Sie pendeln ständig zwischen Köln, Houston und dem „Sternenstädtchen“ bei Moskau. Haben Sie auch irgendwann Zeit für sich?
Für kurze Auszeiten schon. Ich war vor Kurzem in Japan und verbrachte ein Wochenende nur mit Touristensachen, ich habe mir Tokio und die heißen Quellen angesehen. Im letzten Jahr vor dem Start gab es nur an Weihnachten Urlaub, zwei Wochen bekommen wir noch im Sommer. Für uns Europäer ist das wenig, aber für unsere amerikanischen Kollegen ist das ganz normal, die kriegen sowieso ganz wenig Urlaub. An den Wochenenden ruhe ich mich aus, richtig Zeit für Hobbys habe ich im Moment nicht. Ich laufe, fahre Fahrrad und mache Krafttraining. Sport hilft unheimlich, ist aber auch Teil des Jobs. Wir Astronauten müssen fit bleiben. In allen Ausbildungszentren gibt es Fitnessstudios und Schwimmbäder für alle Mitarbeiter. Hier in Köln ist das zehn Meter tiefe Becken, in dem wir die Weltraumspaziergänge trainieren, einmal in der Woche zum Schwimmen geöffnet.

Sie richten sich ja nicht nur jetzt, sondern bereits Ihr ganzes Leben lang auf diesen Job aus. Viele verstehen nicht, warum man sich so für den Job aufopfert.
Ich möchte nicht, dass es wirkt, als hätte ich mein ganzes Leben lang etwas gemacht, das ich nicht mochte. Als ich aufgewachsen bin, habe ich Leidenschaften für Sachen entwickelt, die da heute gut reinpassen: Wissenschaft, Technik, Fliegerei, Sprachen, interkulturelles Zusammenleben und Kommunikation.

Zufällig oder aus Zielstrebigkeit?
Ich habe mich für diese Dinge interessiert, aber mir war schon bewusst, dass ich mich damit nicht von meinem Traum entferne. Man kann ja nicht direkt auf diesen Beruf hinarbeiten, aber dass ich Astronautin werden will, habe ich immer in meinem Herzen gehabt.

Gibt es auf der Raumstation auch so etwas wie Freizeit?
Ja, natürlich. Die Arbeit auf der ISS geht normalerweise von morgens acht Uhr bis abends um sieben. Nachtruhe ist zwischen 22 und sechs Uhr. Es gibt jeden Morgen und Abend jeweils eine kurze Videokonferenz mit dem Boden. Wir bekommen für jeden Tag einen schriftlichen Plan, diese Konferenzen sind für Last-Minute-Fragen und -Hinweise da. Es kann passieren, dass man abends noch arbeiten muss, weil man nicht fertig geworden ist oder ein Versorgungsschiff mit Sauerstoff, Nahrung und Wasser kommt.

Was macht man auf der Raumstation am Wochenende?

Der halbe Samstag ist mit Hausarbeit verplant, mit Saubermachen und Staubsaugen.

Staubsaugen? Im All?

Der Staubsauger funktioniert vom Prinzip her wie ein irdischer Staubsauger, nur dass wir damit nicht am Boden, sondern auf allen Flächen saugen, zum Beispiel reinigen wir die Filter vor den Ventilatoren, die für die Luftzirkulation sorgen, dort sammeln sich Staub und Flusen. Außerdem haben wir am Wochenende eine wöchentliche Planungskonferenz. Ansonsten ist das Wochenende frei für Videotelefonate mit der Familie. Und für Sport.

Wie bitte?
Ja, wir machen auf der Raumstation Sport, etwa zwei Stunden am Tag. Das ist wichtig, weil in der Schwerelosigkeit Muskeln und Knochen abbauen, so sehr, dass Astronauten früher erst einmal nicht auf ihren Beinen stehen konnten, wenn sie aus dem All zurückkehrten. Es gibt ein ganz witziges Fahrrad – ohne Sitz. Den braucht man nicht, die Schuhe werden in den Pedalen eingehakt. Oder wir gehen aufs Laufband. Da schnallen wir uns mit einer Art Geschirr fest, das uns auf das Band drückt. Zusätzlich trainieren wir mit einem telefonzellengroßen Gerät mit Seilzügen und einer Hebestange, das das Training mit Gewichten simuliert. Man kann damit zum Beispiel Kniebeugen oder Bankdrücken machen.

Und wenn Sie mal keine Lust auf Sport haben?
Es gibt ganz viele Kameras, die ISS ist ein Kameraparadies. Viele mögen es, einfach in der Cupola, dem durchsichtigen Beobachtungsturm, zu schweben und Bilder von der Erde zu machen – ich nehme an, dass ich das auch tun werde. Fernsehgucken ist auch beliebt, manche schauen Filme, das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Das kann ich später wieder machen. Inzwischen gibt es Internet, wenn auch sehr langsam. Wir können surfen, twittern und bloggen.

Der Astronaut Chris Hadfield hat unter anderem eine Gitarre mit auf die ISS genommen. Was werden Sie an Persönlichem mitnehmen?
Das meiste schickt die ESA automatisch, Klamotten für sechs Monate, Zahnpasta und -bürste, Essen, Wasser. Und dann hat man noch eine Box mit persönlichen Sachen, etwa so groß, wie das Handgepäck im Flugzeug sein darf. Ich werde da bequeme Klamotten reinpacken, ein paar Jogginghosen und Sweatshirts. Ich nehme an, dass ich frieren werde. Es sind meistens Jungs da oben, die mögen es kalt. Und wir bekommen pro Monat eine kleine Kiste mit Bonus-Essen, zusätzlich zum normalen Essen.

Was ist da drin?
Meistens landestypisches Essen, als moralische Unterstützung. Man kann es abends mit allen teilen, wie bei einer kleinen Feier. Das normale Astronautenessen kommt aus Konserven oder ist gefriergetrocknet, sodass man es nur erwärmen oder mit Wasser zubereiten muss, Riegel oder Trockennahrung wie Nüsse gehen natürlich auch.

Was nehmen Sie noch mit?
Ich werde ein paar Kleinigkeiten für Freunde mitnehmen, Ketten, Glücksbringer, und bringe sie ihnen dann aus dem All zurück. Dann haben sie Sachen, die schon mal da oben waren. Ich suche gerade Gedichte zum Thema Weltraum und Himmel zusammen, für kleine Bücher, die ich mit auf die Raumstation nehme und dann als Geschenk zurückfliege.

Können Sie diese fast schon kindliche Faszination für das All überhaupt noch verstehen?
Natürlich ist es mein Job, aber ich spüre nach wie vor die Begeisterung. Ich sehe jeden Abend zum Himmel. Auf der Erde haben wir fast alles erobert. Das All ist unsere nächste Grenze. Ich will dabei sein, wenn wir diese Grenzen bezwingen.

Dort oben haben Sie keinen richtigen Schlaf, kein richtiges Essen, Sie sind nie allein. Keine Angst  durchzudrehen?
An den leichten Schlaf und das Essen gewöhnt man sich. Auch wenn die Schlafqualität, wissenschaftlich gesehen, niedriger ist als auf der Erde, weil man oft aufwacht, ohne dass man es richtig merkt. Deshalb ist man danach nicht so gut erholt. Und wegen des Rests: Ich komme vom Militär, das war auch nicht viel anders, und da waren wir nicht sechs Leute, sondern Hunderte. Die Raumstation ist riesig. Wenn man seine Ruhe haben möchte, kann man sich ein ruhiges Modul suchen, in dem gerade nichts los ist. Jeder hat seine eigene Kabine, das ist so eine Art Telefonzelle, da schläft man, hat seinen privaten Laptop, Bilder von der Familie und einen Schlafsack, der an der Wand eingehakt ist, damit man nicht wegschwebt. Wir sprechen jede Woche mit Ärzten und Psychologen. Die fragen, wie es uns mit dem Workflow geht und ob es uns zu viel wird. Und wenn sie im Protokoll sehen, dass wir zwei Tage hintereinander keine Mittagspause eingelegt haben, wollen sie wissen, ob das wirklich sein muss.

Damit keiner ein Burn-out bekommt?

Ich habe noch nie von einem Astronauten mit Burn-out gehört. Es ist eine Arbeit, bei der man sehr viel Stress hat und sehr viel leisten muss, aber die Belohnung ist so groß. Burn-out-Betroffene fühlen sich selten belohnt für das, was sie machen.

Was ist für Sie die größte Belohnung?
Ich erlebe unglaubliche Sachen. Das ist ein Privileg. Vor einigen Monaten durfte ich mich in die Rakete der Mannschaft setzen, die vor mir startet. Das war ein unglaublich cooles Gefühl! Ich wusste, das ist keine Simulation: Dieses Ding fliegt wirklich in den Weltraum! Ich werde im Training immer wieder mit meinen Grenzen konfrontiert. Dass ich die überwinde, macht mich sehr stolz. Am anspruchsvollsten ist das Training für Außeneinsätze im Becken, gerade wenn man so klein ist wie ich. Die Raumanzüge sind leider nicht für kleine Leute gemacht.

Wie schwer ist so ein Raumanzug?

Um die 160 Kilogramm. Im Weltraum spürt man das ja nicht, nur beim Training auf der Erde. Die Anzüge sind sehr steif, man muss, wenn man arbeitet, gegen den Widerstand des Wassers ankämpfen, das ist sehr anstrengend. Und man trainiert sechs Stunden ohne Pause, so lange dauert ein Weltraumspaziergang. Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich im Anzug tauchte. Im Becken ist eine Nachbildung der Raumstation. Ich machte die Augen auf und hatte wirklich das Gefühl, ich bin im Weltraum. Ich hatte so große Augen!

Was ist Ihnen noch besonders in Erinnerung geblieben?
Eine lustige Erfahrung waren die Parabelflüge. Das Flugzeug fliegt Parabeln, und was innerhalb des Flugzeugs nicht befestigt ist, fliegt rum, bei jeder Parabel etwa 22 Sekunden lang. Pro Flug macht man das etwa dreißigmal.

Und das war lustig?
Das war eine physische Erfahrung, die neu für mich war. So was erlebt man als Erwachsener eigentlich nicht mehr.

Werden Sie die einzige Frau auf der ISS sein?
Während meines Aufenthaltes wird Jelena Serowa an Bord gehen, seit den Neunzigern die erste Russin, die fliegt.

Spielt das Geschlecht eine Rolle unter Astronauten?

Nein. Es ist wirklich nicht anders, als wenn man diese Frage einem Arzt oder Anwalt stellen würde. Als Frau stehe ich vielleicht mehr unter Beobachtung, aber die Arbeit ist genau die gleiche. Ich bin das auch gewohnt, im Studium war ich eine von wenigen Frauen, in der Luftwaffe war ich in meinem Geschwader die einzige Frau. Es ist egal.

Haben Sie Angst?
Angst ist übertrieben. Die kosmische Strahlung im Weltraum ist ein Problem. Ich mache mir aber weniger Sorgen um meine Gesundheit als um die konservativen Strahlengrenzwerte bei der ESA. Wenn der Körper zu viel Strahlung abbekommen hat, darf man nicht mehr ins All. Es könnte also sein, dass ich deswegen irgendwann nicht mehr fliegen darf.

Und Ihre Familie?
Wenn sie Angst haben, dann haben sie es mir nicht gesagt. Ich war früher Militärpilotin, das war auch kein Bankjob. Beim Militär wäre ich inzwischen mehrmals in Afghanistan gewesen. Wenn ich im November starte, werden sie sicher nervös sein. In den vergangenen Jahren war ich mit meinen Beinen auf dem Boden, meistens. Meine Eltern sind ganz froh, dass ich jetzt „nur“ Astronautin bin.

Cro, ärgere dich nicht!

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Ein Gespräch über Rückschläge, bei einer Partie „Mensch, ärgere Dich nicht‟. Sonderregel: Schmeißt der Reporter eine Figur des Interviewten, darf er eine unangenehme Frage stellen. Umgekehrt darf der schamlos bewerben, was er will, wenn er es schafft, eine Figur des Reporters zu schmeißen.    

Der Beginn des Interviews verzögert sich um eine gute Stunde, weil bei dem Rapper ein Klavier geliefert wird, das aber zu spät kam. Ich habe etwas Zeit, mich im Büro von Cros Label Chimperator in der Stuttgarter Innenstadt umzusehen. Es herrscht eine sympathische Mischung aus New-Economy-Loft und Studenten-WG. Glaswände sorgen für Lichtdurchflutung, es liegt viel Kram verstreut: kartonweise CDs, Poster, Kamerastative, Ikea-Tragetaschen voll mit Geschirrtüchern. Es könnte genau diese Mischung aus Professionalität und „Easy“-Mentalität sein, der sich Cros Karriere verdankt. Carlo, wie er heißt, wenn er seine Panda-Maske nicht trägt, begrüßt dann mit herzlicher Umarmung und will schnell loslegen: „Dann würde ich sagen – du beginnst. Alter vor Schönheit.“


jetzt.de: Was für ein Klavier ist es denn?

Cro: Ein Steinway Essex. Geiles Klavier. Die Menschen, die Steinway kennen, die flippen jetzt aus. Das ist der Mercedes unter den Pianos! Deshalb will ich nur heim und spielen!

Spielst du gut?
Es reicht, damit Mädchen sich verlieben.

Wie gehst du mit Rückschlägen um?

Manche sind hart und fies – aber die gehen in der Regel sehr schnell rum. Spätestens wenn ich mir Rat von Kody geholt hab.

Wer ist Kody?

Ein Dude hier aus dem Büro, der vor allem früher die Paparolle innehatte.

Und was war der letzte Rat, den er dir gegeben hat?

Scheiß auf andere, check die Klicks, und zähl dein Geld, Homie.

Waren das alles gute Zahlen?

Das waren sehr gute Zahlen.

Bist du denn reich?

Gefühlt: voll! Keine Ahnung, was andere da denken würden. Aber für mich ist das gerade sehr viel Geld.

Es gab in der Redaktion Diskussionen, ob du überhaupt geeignet bist, um über Rückschläge und übers Scheitern zu sprechen.
Nicht so wirklich, ne?

Läuft wirklich alles so glatt, wie’s von außen aussieht?

Schon. Es hat echt alles ziemlich perfekt funktioniert. Crazy! Beängstigend verrückt gut hat das alles funktioniert!
Es passt schon sehr stimmig ins Bild, dass Cro – während er das sagt – die erste Figur des Spiels schlägt. Vermutlich passt es noch etwas besser, dass er dann vergisst zu werben.

Kannst du dir den Erfolg selbst erklären?
Es war wohl alles dabei: ein tolles Team, ein bisschen Talent, ein bisschen Glück. Viel Fleiß allerdings auch.
Er schlägt noch eine Figur.
Darf ich jetzt werben?

Zweimal schon.

Ach geil! Dann fangen wir doch ganz locker an: neues Album, draußen seit 6. Juni, „Melodie“, meins.

Und gleich noch mal bitte.

Dann werbe ich doch gleich noch für meine neue Viovio-Klamottenkollektion. Die ist gerade erschienen. Anschlusstreffer in der Werbepause. Ich schlage auch eine Figur.
Wie fühlt es sich an, wenn in quasi allen Kritiken
„niedlich“ steht?
Egal. Ich bin ja auch niedlich. Pandas sind niedlich. Alle lieben Pandas.

Wie lange kannst du das mit der Maske noch
durchziehen?
Hoffentlich für immer. Keine Ahnung, wie ich in zehn Jahren drüber denke. Aber gerade ist es mir unendlich viel wert, nicht erkannt zu werden, wenn ich die Maske abnehme.
Funktioniert das denn wirklich immer noch?

Funktioniert immer noch.
Gleichstand: Direkt vor seinen Zielfeldern schlage ich noch eine Figur! Der Ärger darüber ist nicht sehr glaubwürdig.

Mal eine ganz andere Theorie: Eigentlich bist du Nostalgiker!
Hä?
Doch, doch! Deine Songs leben hauptsächlich von der sehr liebevollen Erinnerung an eine frühere Zeit.
Aber das hat nichts von „Früher war alles besser“. Was du da raushörst, ist eher ein Gefühl von „Damals war alles geil – aber jetzt ist es noch besser“. Und deshalb ist dieses Damals für mich so perfekt. Hätte ich da nicht all das gemacht, was ich gemacht habe, dann wäre es jetzt nicht, wie’s ist.

Himmel, bist du denn schon mal mit irgendwas gescheitert?

Überlegt sehr lange. Ich habe zu Hause so eine seltsame Flöte aus dem Urwald. Aus der bekomme ich keinen Ton raus. Die muss man so komisch halten. (lacht) Warte, ich werfe dich noch mal schnell raus, bevor ich ernsthaft antworte.
Gesagt, getan.
Oh Gott, ich kann nicht gleichzeitig überlegen und spielen. Also: Nö, bin nicht gescheitert. Wenn ich merke, dass ich scheitern würde, dann fange ich gar nicht erst an.
Klingt feige!
Egal.

Was bedeutet Scheitern für dich?
Etwas zu erwarten, das ich dann nicht mal im Ansatz erreiche.

Sind das dann nur eigene Ansprüche, oder kann es auch schlechtes Feedback von anderen sein?
Eigentlich nur eigene. Wenn jetzt alle schreiben würden, mein neues Album ist beschissen, würde ich trotzdem denken: „Ihr seid alle bescheuert! Das ist geil so! Ihr seid doch gescheitert!“

Kannst du gut mit Druck umgehen?
Es gibt schon immer wieder Momente – Albumproduktionen und so –, in denen ich mir denke: „Fuck, wie schaffe ich das jetzt alles? Gelingt mir noch mal so etwas Krasses?“ Aber das verfliegt ganz schnell wieder.

Wie?
Indem ich einfach Musik mache und merke: „Ah, wieder was Geiles entstanden.“

Kannst du selbst beurteilen, wann etwas geil ist?

Na klar. Ich hab ja meinen Geschmack, und der hat mich bisher noch selten getäuscht.

Wenn dich nachts etwas um den Schlaf bringt, hast du mal gesagt, dann hat das immer mit Liebe zu tun.
Das ist ja durchaus doppeldeutig, meinte aber Liebeskummer, oder?
Doch, schon. Herzschmerz war eine Zeit lang schon ein Thema. Aber momentan ist es eher die schöne Seite der Liebe, die mich nachts wach hält.

Bist du ein Beziehungstyp?

Ja, doch. Ich bin nicht gern allein, und ich teile alles lieber. Ich teile richtig gern!

Ist denn „Work-Life-Balance“ ein Thema für dich?

Ich weiß nicht mal, was das heißt.

Genug Geld verdienen, aber trotzdem Zeit haben,
es auszugeben.
Aha. Denke ich nicht drüber nach.

Man erzählt sich von Cro, dass er ein extrem fokussierter Arbeiter sei. Angeblich produziert er Songs zum Teil in wenigen Stunden, ohne anschließend noch viel ändern zu müssen. Man kann sich das gut vorstellen, wenn man ihm beim Nachdenken zusieht. Manchmal wirkt es, als würde er Gesagtem nachlauschen: „Hat das Sinn ergeben? War es das, was ich sagen wollte?“ Er tut das sehr konzentriert – aber nie lange. Dabei scheint er in diesem Fall kaum mitzubekommen, dass er noch eine Figur schlägt. Als ich ihn beim nächsten Wurf schlage, reißt es ihn aber etwas.

Wie riecht es nach einer Show unter der Maske?

Meine Schwester hat mal an der Maske geschnuppert und gesagt: „So riecht also Erfolg – nach Gummi und Schweiß!“ (lacht)

Produzierst du wirklich so schnell, wie die Leute sagen?

Auch nicht immer. Aber eher schon. Bei „Traum“ zum Beispiel hab ich keine dreieinhalb Stunden gebraucht, um das zu schreiben.

Sind das dann auch die Songs, mit denen du
glücklicher bist?
Ja. Die schnellen sind immer die besten.

Taugt das auch als Lebensmotto: Immer möglichst schnell entscheiden und dann weitermachen?

Ja, einfach machen funktioniert für mich meistens sehr gut.

Du darfst auch noch zweimal werben.

Aber ich weiß gar nicht, wofür. Ach doch: für meine Schwester! Gut! Hier müsst ihr alle gucken: www.julewaibel.com. Die macht krasse Kleider, die bald bei „Austria’s Next Top-Model“ zu sehen sind. Eine ganze Show mit ihrem Stuff. Super!

Die letzten zehn Minuten vergehen mit vollem Fokus auf das Spiel. Ein umkämpftes, enges Spiel, das Cro mit einer Figur Vorsprung und unter verhaltenem Hohn gewinnt.

Gratulation! Du darfst noch mal werben.
Aber mir fällt nichts ein!

Hast du nicht noch ’ne Schwester?
Leider nein.

Drauf, und dann...

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Manche Menschen nehmen Drogen, um dem Arbeitsalltag zu entfliehen. Andere nehmen sie, um im Arbeitsalltag zu funktionieren. Bryan Saunders nimmt Drogen, weil sie Teil seiner Arbeit sind.  

Saunders, 45 Jahre alt, rundes Gesicht, Brille, Homer-Simpson-Bart und -Haupthaar, lebt in Johnson City in Tennessee und ist Künstler. Sein bekanntestes Projekt trägt den Titel „Drugs“: eine Serie von Selbstporträts, jedes gemalt oder gezeichnet unter dem Einfluss einer anderen Droge oder eines anderen psychopharmazeutischen Medikaments. Auf ein paar Bildern sieht Saunders sehr glücklich aus, mit großen Augen und einem Grinsen im Gesicht. Viele sind fröhlich bunt und überdreht, manche strahlen eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit aus, andere sind auf Leinwand gebannte Kiffer-Albernheit. Mindestens genauso viele sind allerdings verstörend: dunkle Fratzen, wirres Gekritzel, ausdruckslose Gesichter – Bilder, die aussehen wie ein Horrortrip.  

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Einige seiner Drogenerfahrungen waren tatsächlich Horrortrips: Den schlimmsten erlebte er, nachdem er Trazodon genommen hatte, ein Psychopharmakon, mit dem Depressionen und Angststörungen behandelt werden. Er bekam es von einem Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung. „Der sagte mir“, erzählt Saunders über Skype, „ich solle zwei davon abends nehmen, dann würde ich wunderbar schlafen und mich am nächsten Tag großartig und fit fühlen.“ Das Gegenteil passierte: „Ich wurde erst total hyperaktiv. Dann senkte sich diese massive schwarze Unheilswolke auf meine Schultern und wurde stündlich fünf Kilo schwerer. Ich musste das Licht ausschalten, weil es mir zu hell war. Im Dunkeln bekam ich dann Angst, also schaltete ich den Fernseher an. Der war wieder zu hell, darum deckte ich ihn mit Kleidung ab. Schließlich habe ich den Kranken­wagen gerufen.“  

Saunders kauft die Drogen für sein Experiment nie selbst, er nimmt nur, was Leute ihm geben. Anfangs war das sehr viel. Er lebte in einer Sozialwohnung, in seinem Haus habe fast jeder regelmäßig Drogen oder Pillen genommen. „Da war alles verfügbar, was man sich vorstellen kann.“ Die Leute hörten von seinem Experiment, erzählten ihm von Drogen, die er noch nicht kannte, steckten ihm Sachen zu. Er nahm sie alle. Durcheinander. Manchmal gleichzeitig. „Das Experiment geriet völlig außer Kontrolle“, sagt er.  

Mittlerweile ist er vorsichtiger, bereitet sich vor. „Ich will bei jeder Droge die gleiche stabile Ausgangssituation haben, sowohl physisch als auch psychisch“, sagt Saunders. Er achte darauf, nicht unter Stress zu stehen und klar im Kopf zu sein. Psychische Stabilität, das wird im Gespräch mit Saunders schnell klar, ist in seinem Leben nicht immer der Normalzustand gewesen.  

Saunders’ Selbstporträts auf Drogen machten schon mehrmals die Runde im Internet, wurden weltweit geteilt und verlinkt. Durch sie kann man Drogen erfahren, ohne sie zu nehmen, sie zeigen gleichzeitig Reiz und Gefahr. „Wir leben in einer Drogengesellschaft“, sagt Saunders. „Sie sind nun mal überall. Auf der Straße. Im Job. Vielleicht ist dein Chef auf Drogen, und du merkst es nicht mal.“  

Auch wenn Saunders seine Bekanntheit weitgehend seiner „Drogen“-Serie zu verdanken hat, sind die Bilder nur ein kleiner Teil eines sehr viel größer angelegten Projekts – und wenn man das weiß, werden sie umso interessanter. Saunders porträtiert sich auch selbst, wenn er nüchtern ist. Er tut es so gut wie jeden Tag. Seit fast fünfundzwanzig Jahren. An die 9400 Selbstporträts sind so bislang entstanden, genau kenne er die Zahl nicht, sagt er. Wenn man so will, ist Saunders also wahrscheinlich mehr als jeder andere eins mit seiner Arbeit geworden. Er ist seine Arbeit. Und seine Arbeit ist er.  

Begonnen hat er damit auf dem College. Er bekam die Aufgabe, eine Sache aus neun verschiedenen Perspektiven zu malen. Er wählte sich selbst und stellte dabei fest: „Wahrscheinlich kann ich das jeden Tag machen, bis ans Ende meines Lebens, und es wird immer etwas anderes dabei herauskommen.“  

Er malt und zeichnet in Notizbücher, den Anstoß geben Gefühle, Stimmungen oder Dinge, die er sieht oder erlebt. Er begann zu experimentieren: Er begab sich in Situationen, vor denen er Angst hatte, und malte sich. Er malte sich einen Monat lang, ohne zu sehen, mit verbundenen Augen oder in einem abgedunkelten Raum. Er malte sich nur mit der linken Hand, nur mit den Füßen, er malte sich verliebt und unter Schmerzen, er malte sich nur in Gelb. Aktuell arbeitet er an einer Serie, für die er Selbstporträts auf Bilder aus psychologischen Persönlichkeitstests malt. In solchen Tests – Saunders musste sie selbst schon mehrfach machen – sollen Patienten Geschichten zu einem Bild erzählen, das ihnen gezeigt wird. Saunders malt seine Geschichten direkt in das Bild, er selbst ist immer irgendwo zu sehen.  

Es geht Saunders um Einflüsse, um die Wahrnehmung seiner selbst. Er kann sehr feinfühlig darüber sprechen, wie er sich fühlt oder gefühlt hat. Manchmal kippt er aber auch ins Nüchtern-Medizinische. Er spricht von seiner „Brain Chemistry“ und sagt, dass er sofort spüre, wenn es in seinem Gehirn zu einem Serotoninmangel komme.  

Irgendwie passt Saunders damit ganz gut in diese Zeit. Er treibt quasi auf die Spitze, was in der modernen Leistungsgesellschaft viele Menschen tun: sich selbst beobachten. Aber während andere sich selbst vermessen und optimieren, sei es mit Apps, Ernährungsplänen oder Neuro-Enhancern, will Saunders nur beobachten und interpretieren.  

Nur deswegen wird er auch noch weiter Drogen nehmen, wenn er welche bekommt, die er noch nicht kennt. Viele sind das nicht mehr, „ein paar Große“ würden ihm aber noch fehlen. Crack zum Beispiel. Hatte er eigentlich nie Angst, süchtig zu werden? Nein, sagt er. Und zwar, weil er Drogen eigentlich gar nicht mag. „Ich habe Drogen nie genommen, weil ich vor etwas fliehen und etwas Belastendes vergessen wollte – oder weil ich Spaß haben und mir ein schönes Leben machen wollte.“ Saunders wollte einfach sehen, was mit ihm passiert. Durch seine Bilder können wir das jetzt auch.

Kind und weg

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Eine befreundete Kleinfamilie ist eben von vier Monaten Thailandurlaub zurückgekommen. Andere Bekannte fahren immer noch mit dem Kleinbus durch ihr Leben, den sie sich für die halbjährige Europatour während der Elternzeit zugelegt hatten. Und ich weiß von mindestens vier Familien, die ihre Elternzeit nach einem einfachen Modell auffächern: Die Frau bleibt zehn Monate beim Kind, die verbleibenden vier Monate Elternzeitanspruch werden geteilt. Das heißt, dass der Mann zwei Monate zur Kleinfamilie stößt – und ab geht es in den ausgedehnten Urlaub. Eine Steuerberaterin, die eine Reihe von Familien in Sachen Elternzeit und Elterngeld vertritt, schüttelte kürzlich in einem Gespräch den Kopf. Sie spricht nicht mehr von Elternzeit, sondern von staatlich finanziertem Urlaub.  

Nun sind das, mangels verfügbarer Untersuchungen, recht private Betrachtungen. Ich kenne keine offiziellen Zahlen dazu, ob die Elternzeit wirklich zur Urlaubszeit verkommt. Alles, was man weiß, ist, dass nicht mal dreißig Prozent aller Männer Elternzeit nehmen. Mehr als drei Viertel dieser Männer sind nicht länger als zwei Monate zu Hause. Von einem Massenphänomen kann man also noch nicht reden. Dennoch geschieht da gerade was. Ich sehe es nicht nur in meinem Umfeld. Ich sehe es in den Foren, in denen sich reisewillige Eltern austauschen. Ich sehe es an den Neuerscheinungen im Buchhandel, für die sich Autorinnen mit ihren Kindern in die Mongolei begeben haben, für die Eltern mit Kleinstkindern um die Welt fahren oder zumindest durch Südamerika. Mit dem Fahrrad. Wird man bald belächelt, wenn man seine Elternzeit zu Hause verbringt? Erzeugen Kinder Fernweh? Braucht man Nachwuchs, um sich rauszutrauen?

Es gibt erfahrene Eltern, die werdenden Eltern klarmachen, dass sie ihre Freiheit nun an den Nagel hängen können. Weggehen, Urlaub, Ausschlafen – alles rum und aus. Quasi rationiert wie das Essen bei der Bundeswehr: schlafen in Schichten, sich erholen in Schichten, ausgehen in Schichten. Es gibt Menschen, die solchen Perspektiven mit Trotz begegnen. Sie kaufen sich sofort das Equipment, das es braucht, um ein Neugeborenes durch diverse Outdoor-Abenteuer befördern zu können. Eine Kraxe. Einen Radanhänger. Einen Kinderschlafsack. Wasserfilter. So eine Reise kann bisweilen einen „Jetzt erst recht“-Aufkleber tragen. Es geht dann darum, die eigene Freiheit demonstrativ zu verteidigen. Und es geht vor allem darum, ein verrinnendes Gefühl zu retten: das Glück gelassener Sommer beim Surfen im Atlantik; die Seligkeit beim Ausflug an den See samt Übernachtung im Corsa; Lagerfeuer, Sternenhimmel, Dosenbier. Das kommende Kind ist für viele ein Signal dafür, dass eine Zeit zu Ende geht. Dass das Erwachsensein beginnt. Die Elternzeit-Ausfahrt ist die letzte große Flucht, ehe das Leben in Schulferienzyklen vor sich hin marschiert.   Blättert man durch die Foren, in denen sich Eltern Ratschläge für unterwegs geben, entdeckt man schnell eine neue Peergroup. Wer mit seinem Nachwuchs am längsten und weitesten verreist, wird bestaunt. Eltern mit weniger Fernweh bekommen in Diskussionen ihre übertriebene Vorsicht vorgehalten. Wer zu Hause bleibt, weil er seinen Kindern (und sich selbst) die Mühen einer Familienfahrt ersparen will, gerät unter Rechtfertigungsdruck.   

Vielleicht ist die Elternzeit-Reise auch Ausdruck der Gap-Year-Routine unserer Zeit. Sobald sich zwischen zwei Lebensphasen ein Loch ergibt, wird es mit einer Reise gefüllt: nach der Schule, nach dem Bachelor, nach dem Studium. Die Elternzeit ist, so betrachtet, auch ein großes Loch, viele Monate breit. Und dann hält der Staat noch Förderung parat. Die idealen Voraussetzungen für einen Urlaub, man könnte der Steuerberaterin recht geben.  

Was wird dabei aus dem Anliegen, das die Initiatoren der Elternzeit ursprünglich hatten? Ging es nicht mal darum, zu Hause zu einer Familie zu werden? Zusammenzuwachsen? Durchaus. Die Frage ist: Muss das zu Hause geschehen?   

Nicht unbedingt. Denn nach der Geburt eines Kindes wird das Leben nicht nur komplexer. Es gibt plötzlich auch Großeltern, die gern ins Geschäft des Erziehens reinreden und die Komplexität noch erhöhen. Und damit nicht genug: Spielplatzmütter geben gute Ratschläge. Eltern aus dem Freundeskreis sagen, was man „unbedingt machen muss“ und wie. Es geht dann um schnelle Krippenanmeldung, um die besten Kinderwägen, um die ersten Zähne, um geeignetes Essen. Eine anstrengende Zeit, in der es mühsam sein kann, die zunehmende Komplexität und die Vielstimmigkeit des Lebens zu verdauen. Manchen fällt das Zusammenwachsen unter solchen Umständen schwer. Ein langer Ausflug ist da vielleicht ein gutes Rezept. Das Leben reduziert sich wieder, die Stimmen verschwinden, und die Kleinfamilie probiert in Ruhe aus, was es heißt, Kleinfamilie zu sein. Zusammenwachsen in der Ferienwohnung, im VW-Bus oder im Zelt – dort, wo das Leben übersichtlich ist.  

Würden die reisenden Eltern auch ohne staatliche Stütze wegfahren? Viele schütteln still den Kopf, wenn man sie fragt. Mit der Elternzeit ist ein Schutzraum entstanden, wie es ihn vorher kaum gab. Das Kinderkriegen soll attraktiver werden. Sieht so aus, als würde das der Fall.

Wenn die Guten Mist bauen

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Man kann sie in Somaly Mams Autobiografie nachlesen, genau wie es der Untertitel verspricht: „Die wahre Geschichte einer kambodschanischen Heldin, die aus der sexuellen Sklaverei geflohen ist und ihr Leben nun der Rettung anderer widmet.“ Es klingt bewundernswert, wie diese Frau mit ihrer Stiftung junge Kambodschanerinnen aus Kinderbordellen befreit, nachdem sie durch dieselbe Hölle gegangen ist – so sehr sogar, dass sich Hilary Clinton, Michelle Obama und Angelina Jolie gerne mit ihr zeigten. Jetzt ist allerdings etwas über die  berühmte Aktivistin bekannt geworden, das ihre Bewunderer zweifeln lässt: Es handelt sich bei ihrem Beststeller zwar um eine ergreifende, aber offenbar doch um eine erlogene Geschichte.



Sie galt erst als Opfer der sexuellen Sklaverei und als Heldin. Jetzt wird Somaly Mam eine Lügnerin genannt.

Zuerst berichtete die Zeitung Cambodia Dailyüber Widersprüche, dann recherchierte das amerikanische Magazin Newsweek in Mams Heimatdorf. Keiner der Bewohner kannte den bösen Großvater, der sie angeblich als Kind versklavte. Alle behaupteten hingegen: Mam wuchs in einer Familie auf und hatte ein recht normales Leben, für kambodschanische Verhältnisse zumindest. Die einstige Heldin und Vorzeige-Aktivistin schweigt zu den Vorwürfen.  

Mist gebaut hat jetzt auch eine der größten gemeinnützigen Organisationen, Greenpeace. Durch fahrlässige Währungsgeschäfte verlor sie 3,8 Millionen Euro. Im Stil vom deutschen Länderfinanzausgleich fließt Geld von den Ablegern der reichen Länder zu den ärmeren. Auf dem Weg rechnet man Euros und Dollars um in Rupie, Peso oder Schilling. Ein Mitarbeiter wollte dem fallenden Eurowert entgegenwirken und kaufte vorab Währungen zu festen Kursen. Angeblich im Alleingang. Weil der Euro allerdings nicht schwächer, sondern stärker wurde, ging trotz seines guten Willens eine hohe Summe verloren, die man doch eigentlich für die Umwelt hätte einsetzen sollen.

Ist doch traurig, dass man nicht einmal dem guten Zweck vertrauen kann – oder was meinst du? Wie gehst du denn mit solchen Nachrichten um? Halten sie dich vom Spenden ab? Oder ist nicht zu spenden auch keine Lösung? Und: Wenn du eine Organisation unterstützen willst, informierst du dich vorher, was genau mit dem Geld passieren wird?

Tagesblog am 17. Juni 2014

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18:00 Uhr: Abpfiff! Nachspielzeit ist vorbei, ich bin raus. Morgen bloggt Außenstürmer Hollmer.

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17:26 Uhr:
Ich war noch mal in den Katakomben des jetzt-Stadions, und habe dort die Vervollständigung der Poser-Mannschaftsaufstellung vorangestrieben. Neu dabei: Torwarttrainer Dirk, Techniktrainer Wolle und Andi "Blutgrätsche" Friedl.

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16:27 Uhr:
Verzeiht mir das lange Schweigen. Ich habe gerade mit meinem Computer gerungen, der mir den Dienst weitestgehend verweigerte. Vielleicht ist der auch im WM-Modus oder so. Jedenfalls unverschämt langsam. Das Onlinestellen des aktuellen Kosmoshörers (der ja eh schon einen Tag Verspätung hatte) hat sich deshalb verzögert. Jetzt ist er aber da. Tadaa!




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15:06 Uhr:
Sollte übrigens noch irgendjemand Zweifel haben, dass die jetzt-Redaktion härter ist als die härtesten Profifußballer, hier ist der Beweis.

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14:38 Uhr:
Große Panik! Jetzt hinke ich gerade eh schon mit allem hinterher, und dann merke ich auch noch dank Digital_Data, dass heute schon wieder Tipps für das WM-Tippspiel fällig sind. Eigentlich wollte ich mich ja diesmal drauf vorbereiten, Statistiken und News über Verletzungen wälzen, aber wieder bleibt dafür wohl keine Zeit und ich muss per Bauchgefühl tippen. Was bislang in etwa so gut funktioniert hat wie bisher die Abwehr von Spanien. Ein Stress, diese WM!

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13:14 Uhr: Es steht zwar schon unten in den Kommentaren, aber für alle Nicht-Scroller noch mal hier die Meldung zum BGH-Urteil zu Fahrradhelmen: Radfahrer haben bei unverschuldeten Unfällen auch dann einen vollen Anspruch auf Schadenersatz, wenn sie ohne Helm unterwegs waren. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden.

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12:48 Uhr:
Größter Sport heute in den sozialen Netzwerken: Cristiano Ronaldo verhöhnen. Zum Beispiel – und das ist noch eine der witzigeren Varianten – mit dem Gif eines Freistoßes (den ich gestern gar nicht mitbekommen habe): CR7 bringt es fertig, eine Ein-Mann-Mauer zu treffen.
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Auch gerne herumgereicht: Der Doppelstinkefinger hinter dem Rücken des Schiedsrichters. Während die Leute noch spekulierten, wie viel nachträgliche Sperre die FIFA dafür verhängen wird, schauten andere genauer hin. Und sahen: Es handelt sich um Zeigefinger.
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12:07 Uhr:
Allen, die wie ich und wahrscheinlich sowieso jeder Mensch irgendwann in ihrer Kindheit mal unbedingt Astronaut werden wollten, sei jetzt endlich und ein für alle mal gesagt: So geil ist der Job nicht. Man muss nämlich auch auf einer Raumstation staubsaugen. Das hat die Aufdeckungsarbeit von Sherlock Hollmer ergeben. Sie hat eine Astronautin ausführlich zum Thema Work-Life-Balance im All befragt.




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11:40 Uhr:
Gerade hatte ich einen Termin mit unserem Produktmanager Andi. Er kam mit einem verwegenen Viertagebart herein, und als ich ihn darauf ansprach, tönte er ebenso verwegen, dass er sich nicht mehr rasieren werde, bis Deutschland Weltmeister ist. Kurz danach wollte er's zurücknehmen, logisch, der Müller macht ja bestimmt nicht jedes Mal drei Hütten. Als Gegenmaßnahme baue ich hier jetzt mal ein bisschen Druck auf, indem ich seinen Bart und den dazugehörigen Spruch öffentlich mache. Weil Andi mit Achtjahrebart, das würde ich schon gerne mal sehen.




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10:48 Uhr:
Schon mal eine WG-Party erlebt, bei der es nichts Alkoholisches zu trinken gibt? Einen Club, der nur Saft und Cola auschenkt? Eben. Eine Party ohne Alkohol ist keine Party. Das zumindest hat sich bei uns als ungeschriebenes Gesetz etabliert, sodass wir quasi verlernt haben, wie man ohne Trinken feiert. Erik hat es sich für einen Eintrag ins Lexikon des guten Lebens erklären lassen.



(Foto: Jala / photocase.de)

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9:50 Uhr:
Dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die betrügen und Fehler machen, wissen wir. Aber wir sind überrascht, wenn es Menschen tun, die sich eigentlich für etwas Gutes einsetzen. In den vergangenen Tagen gab es mehrere solche Nachrichten. Greenpeace hat Spenden verzockt, und eine Kambodschanerin, die sich gegen Kinderprostitution einsetzt, hat es mit der Wahrheit wohl nicht so genau genommen. Im Ticker diskutieren wir heute darüber, ob und wie man auf solche Meldungen reagieren sollte.

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9:15 Uhr:
Zurück aus der Morgenkonferenz bei sz.de. Da ging es - logisch - um Fußball, aber es gab auch eine Diskussion um Fahrradhelme. Denn heute könnte es ein Urteil des Bundesgerichtshofs geben, in einem Fall, der tatsächlich diskussionswürdig ist. Eine Radlerin war gestürzt, weil ein Autofahrer kurz vor ihr die Tür geöffnet hatte. Sie erlitt Kopfverletzungen, bekam aber nicht die volle Schadensersatzsumme. Schließlich habe sie ja keinen Helm getragen und habe somit eine Teilschuld an den Verletzungen. Ob diese Argumentation in Ordnung ist, muss das Gericht jetzt entscheiden.

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8:30 Uhr:
Guten Morgen! Kann man diesen Tag mit etwas anderem beginnen als mit Fußball? Nach diesem Sieg? Ja. Man kann. Zum Beispiel mit einem Gedanken von meinem Arbeitsweg. Ich hatte neulich hier im Tagesblog ja schon mal über eine Vokabelsammlung geschrieben. Jemand hat Wörter aus allen möglichen Sprachen zusammengetragen, Wörter für Situationen, Handlungen oder Gefühle, die jeder aus dem Alltag kennt, für die es im Englischen aber kein Wort gibt.

Seitdem fallen mir immer wieder Situationen auf, für die man eigentlich auch Wörter erfinden müsste. Zum Beispiel heute am Bahnsteig: Die untentschlossenen, aber hektischen Hin-und-Her-Bewegungen eines eiligigen Menschen, der bei einer einfahrenden U-Bahn versucht, möglichst nah an der nächsten Tür zu sein. Vorschläge, anyone?

Zahl doch, was du willst!

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Nürnberg – Auf der Theke stehen die ersten offenen Weinflaschen, die Lichterketten sind angeschaltet, der DJ hält sich mit den Beats noch zurück und sorgt für ein unaufdringliches Hintergrundrauschen. In der Nürnberger Weinerei, einer kleinen Kellerbar am Prinzregentenufer, wartet man darauf, dass der Samstagabend beginnt. Ein paar Studenten sind bereits da, zwei Mädchen in dunklem Blazer und Blumenstrickjacke nippen an ihren Gläsern. Wie viel sie der Wein kosten wird, ist noch unklar – die Gäste werden am Ende des Abends selbst entscheiden, was sie zahlen. Denn in der Weinerei gilt das Prinzip: Pay what you want, bezahle, was du willst.



In einigen Lokalen in deutschen Großstädten, den USA, Australien oder Indien entscheiden die Kunden über die Bezahlung.

Einen Gleichgewichtspreis aus Angebot und Nachfrage wie in ökonomischen Lehrbüchern gibt es hier nicht, die Kunden haben die volle Entscheidungsmacht. In den vergangenen Jahren hat das Modell an Popularität gewonnen. Nicht nur in deutschen Großstädten, auch in den USA, Australien oder Indien setzten einige Gastronomen auf das Prinzip „Pay what you want“. Dabei verspricht das Konzept auf den ersten Blick eher wenig Erfolg: Warum sollen Menschen angemessen für etwas zahlen, wenn sie genauso gut nichts bezahlen können, oder zumindest sehr wenig?

Die Betreiber der Weinerei stellen sich diese Frage nicht mehr. Seit zwölf Jahren funktioniert für sie das Bezahlmodell, das sich ganz auf die Loyalität der Kunden verlässt. „Zwei Euro zahlt man beim Eintritt für das leere Glas an Miete, pro eingeschenktem Wein geben die meisten Gäste durchschnittlich etwa zwei bis 2,50 Euro“, erzählt Ulrich Schultze. Er ist Vorsitzender des Nürnberger Vereins „Gesellschaft zur Förderung von Kunst und Kultur in Europa“, der hinter der Weinerei steht. Mit 2,50 Euro lägen die Kunden zwar unter dem Marktpreis für ein Glas, das koste in der Innenstadt deutlich mehr. Doch es reiche, um unter dem Strich so viel einzunehmen, dass die Weinerei sich selbst trägt. Man muss dazusagen: Da der Verein gemeinnützig ist und Schultze und seine Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten, fallen keine Lohnkosten an.
Zwei Gehälter könne man von den Einnahmen aber sicherlich finanzieren, meint Schultze, der unter der Woche als Architekt arbeitet. Die Weinerei schreibe seit ihrer Eröffnung schwarze Zahlen, wie viel das Team genau im Jahr einnimmt, will der 47-Jährige nicht sagen. Dass jemand tatsächlich keinen Cent bezahle, passiere jedoch so gut wie nie.

Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch immer seinen eigenen Nutzen maximieren möchte, könnte man das überraschend finden. Marcus Kunter überrascht es nicht. Der Betriebswirtschaftler forscht an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zu „partizipativen Preismodellen“ und weiß: „Wenn man einer anderen Person in die Augen sehen muss, das heißt, wenn man nicht anonym ist, trauen sich vielleicht ein bis zwei Prozent ohne Bezahlung zu gehen. Der Rest wagt das nicht, sei es aus Scham oder aus Furcht vor einem schlechten Gewissen“.

Es ist kein Zufall, dass das Modell vor allem in der Gastronomie beliebt ist. Hier reden die Menschen viel miteinander, diesen sozialen Kit braucht es. Denn wenn niemand sieht, wie wenig man zahlt, huschen die meisten eben doch schnell an der Kasse vorbei – im Internet mache es allein schon einen Unterschied, ob man seine Daten angeben müsse oder nicht, sagt Kunter: „Wer im Internet einen beliebigen Preis verlangt und volle Anonymität gewährt, fährt damit meistens schlecht“.

Wer sein Gegenüber aber direkt auffordert, sich für einen Betrag zu entscheiden, kann profitieren. Ju-Young Kim von der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat gemeinsam mit Kollegen herausgefunden, dass „Pay what you want“ in den meisten Fällen kurzfristig zu einem höheren Umsatz führt. Nicht unbedingt, weil sich alle Kunden so fair verhalten und einen angemessenen Preis zahlen, sondern vor allem, weil die Preisfreiheit so viele neue Kunden anzieht. „Der Zustrom kompensiert, dass andere im Zweifelsfall nur wenig geben“, sagt Kim.

Die zwei Studentinnen, die gerade ihr erstes Glas Wein in der Hand halten, gehören zu letzterer Gruppe. Sie sind hergekommen, um für wenig Geld noch viel zu trinken, bevor es in den Club geht. Sie behaupten zwar, dass sie das Konzept unterstützen und immer angemessen zahlen, doch sie erwähnen im nächsten Satz, dass es für fünf Gläser Wein etwa fünf Euro sind. Ein paar Tische weiter hat gerade eine größere Gruppe Platz genommen, alle etwa um die 20 Jahre alt, alle das erste Glas Wein in der Hand. Einer von ihnen erzählt, dass er meistens mehr als in anderen Bars mit festen Preisen gebe. Er sei sich bewusst, dass die Weinerei nur so überleben könne, deswegen zahle er auch entsprechend. Ein Grund, warum das Modell bei großen Konzernen wie beispielsweise Burger King wohl weniger gut funktionieren würde – die haben es doch nicht nötig, würden sich die Kunden denken. Ein soziales Image dagegen kann die Preise nach oben treiben.

„Als sich das Konzept nach der Eröffnung in der Stadt herumsprach, kamen eine Zeit lang so viele Leute, dass es schwer war, überhaupt die Kontrolle zu behalten“, erzählt Betreiber Schultze. Mittlerweile ist der Hype etwas zurückgegangen, auf den Ledersofas mischt sich jedes Wochenende Stammpublikum mit immer wieder neuen Gästen. Ob sie alle im Schnitt heute weniger oder mehr als vor zwölf Jahren zahlen, kann Schultze nicht sicher sagen.

Studien zu „Pay-what-you-want“-Modellen sind meist auf kurze Frist angelegt, ob das Modell auch über Jahre hinweg funktioniert, ist deshalb schwer zu belegen. Betriebswirtschaftlerin Ju-Young Kim stellte zwar fest, dass in einem persischen Restaurant in Frankfurt die gezahlten Preise nach einem Jahr sogar gestiegen waren. Mittlerweile allerdings, nach acht Jahren „Pay what you want“, sind die Gäste dort zahlungsmüde geworden: „Während sie früher im Schnitt noch etwa 6,50 Euro gaben, sind es heute um die zwei Euro weniger“, erzählt der Inhaber des Restaurants Kish, Pourya Feily. Er hat dafür eine einfache Erklärung: Seine Gäste haben heute eben weniger Geld.

Markus Kunter von der Hochschule Aachen würde dagegen anders argumentieren: „Mittel- bis langfristig sinkt die Zahlungsmoral meist ab“, sagt er. Pourya Feily gewährt seinen Gästen sowieso nur mittags beim Buffet die volle Preisautonomie, abends stehen feste Preise in der Speisekarte. Die Idee: Leute, die mittags vom niedrigen Preis angezogen werden und denen das Essen schmeckt, kommen irgendwann auch abends und zahlen dann mehr. Noch funktioniert das trotz der gesunkenen Beträge am Mittag, noch will Feily sein Konzept nicht aufgeben.

Auch in der Weinerei hat man nicht vor, in Zukunft fixe Preise vorzuschreiben. Wobei man hier in all den Jahren vor allem eines gelernt hat: Viele leer getrunkene Weingläser füllen noch keine Kasse. Mit steigendem Alkoholpegel werden es meist weniger Münzen, die die Gäste aus ihrem Geldbeutel holen. Wenn weniger getrunken wird, geben die Leute im Schnitt mehr. Wohl ein wichtiger Unterschied zu anderen Bars. Denn wenn Schultze nach einer langen Nacht die Weinerei zuschließt und ein ruhiges Wochenende hinter sich lässt – dann war das für ihn nicht unbedingt ein schlechtes. In der nächsten Zeit steht allerdings ein anderes Thema im Vordergrund, denn die Weinerei verlässt im Juli das Prinzregentenufer. Die Betreiber haben woanders Räume gefunden und nehmen das zum Anlass, um in den Ausstellungsräumen „Fotos, Kram und Zeugs aus den letzen Jahren und Jahrzehnten unseres Kulturwohnzimmers“ zu zeigen, wie es auf der Homepage heißt. Und natürlich wird gefeiert. Wie viel Geld bei der Abschiedsparty wohl zusammenkommen wird?

Ende eines Traums

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Barcelona – Schon 120 Euro machen Clara Barzolavera jeden Monat Sorgen. So viel kostet das Essen für ihre zwei Söhne im Kindergarten. Jeden Monat hat sie Angst, die nicht zahlen zu können. „Die Kinder“, sagt die 40-jährige Frau mit den langen schwarzen Haaren und den Augenringen, „leiden am meisten unter der Situation.“ Sie streichelt ihrem zweijährigen Sohn über den Kopf. Vor einigen Jahren haben sie und ihr Mann eine Wohnung gekauft. Er hatte einen gut bezahlten Job in der Baubranche, sie ging putzen. Über 1000 Euro Rate zahlten sie monatlich für ihre 65-Quadratmeter-Wohnung in einem Randbezirk Barcelonas, bis ihr Mann vor drei Jahren seine Arbeit verlor und sie die Raten nicht mehr zahlen konnten. Wenig später lag der Räumungsbescheid im Briefkasten. „Ich hatte große Angst“, sagt sie. Damals war sie schwanger mit dem Sohn, der heute auf ihrem Schoß sitzt.



Spanien gehört zu den Ländern Europas mit der höchsten Armutsgefährdung und den größten Einkommensunterschieden.

Schicksale wie die von Clara Barzolavera gibt es Tausende in Spanien. Nach der Jahrhundertwende hatten viele von ihnen Kredite aufgenommen, die nach der Einführung des Euro günstig geworden waren. Als 2007 das Überangebot an Wohnungen deutlich wurde, als der Bauboom endete und die Immobilienblase platzte, waren viele doppelt betroffen: Sie verloren ihre Jobs in der Baubranche und konnten die Raten nicht mehr zahlen. Das spanische Recht verschärfte ihre Lage. Wenn nur eine Rate ausgefallen war, durften die Banken schon die Kreditzinsen erhöhen. Fielen mehrere Raten aus, wurden die Wohnungen zwangsgeräumt. Dabei wurden oft nur 50 Prozent des ursprünglichen Wohnungswertes auf die Schulden angerechnet. Das Rest des Darlehens blieb den ehemaligen Besitzern, aber mit erhöhten Zinsen. Über eine halbe Million Fälle gab es bis Ende 2013. In manchen Wochen nahm sich aus Verzweiflung mehr als ein Dutzend Menschen das Leben. Im ganzen Land setzt sich die Bürgerbewegung Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) für die Opfer der Zwangsräumungen ein.

In Barcelona hat die Bürgerbewegung ihren Sitz im wenig betuchten Stadtteil Encants. „Stop“ ist auf ein Metalltor in einer Seitenstraße gemalt. Das dem Verkehrszeichen nachempfundene Schild ist längst ihr Markenzeichen. An den Wänden hängen Plakate von Demonstrationen: „Mein Haus ist kein Geschäft, es ist ein Grundrecht“. Etwa 700 Räumungsfälle behandelt die PAH derzeit allein in Barcelona. Es ist ein Montagnachmittag, wie jede Woche treffen sich Betroffene, die meisten über 40 Jahre alt. Zur Begrüßung geben sich manche stumm die Hand wie bei einer Beerdigung. Andere schauen sich erst um, neugierig, skeptisch, müde.

Auch Clara Barzolavera kam vor zwei Jahren hierher, als sie nicht weiter wusste. Sie war schwanger, hatte Schwierigkeiten mit ihrem Mann und wusste, sie würde die Wohnung verlieren. „Da sagte eine Frau zu mir: Hierher kommst du nicht zum Heulen, hierher kommst du, um zu kämpfen.“ Die Organisation stellt weder Anwälte noch Geld. Sie kämpft mit Information und mit der Unterstützung durch die Gemeinschaft. Fast täglich erläutern Freiwillige den Opfern ihre Rechte. Auch an diesem Montag gehen viele Finger hoch. Ein Mann aus der ersten Reihe hat am Vortag seinen Räumungsbescheid bekommen und will wissen, was er jetzt tun muss. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf ihn ein. Ein Mann weiß, dass sich der Rausschmiss verzögert, wenn man Strom und Wasser weiter bezahlt. Was noch wichtiger ist als ihre Ratschläge: Die PAH-Besucher können von Erfolgen berichten. Stolz steht ein älterer Herr auf und erzählt, dass er einen Verhandlungstermin mit der Bank ergattert hat. Ein Etappensieg, viele klatschen, sichtbar erleichtert ob einer guten Nachricht.

Die PAH arbeitet mit der Macht der Gruppe. Steht irgendwo eine Räumung an, stellen sich viele Mitglieder vor die Wohnung oder die Bank, jeden Tag werden neue Termine bekanntgegeben. Ist ein Fall besonders hart, laden sie Reporter ein. „Das Einzige, was wir bei den Banken zerstören können, ist das Image“, erklärt Carlos Macías Caparrós, ein junger Mann mit Vollbart und Brille. Dem 29-Jährigen und den anderen Freiwilligen geht es um Selbsthilfe. Wer weiß, was er darf, lässt sich nicht von Formularen und Bankvokabular einschüchtern, so die Logik. Wer spürt, wie ihm die Gruppe geholfen hat, hilft anderen. Ein Experiment mit Erfolg: In einigen Provinzen setzen sich Bürgermeister gegen Zwangsräumungen ein und Urteile des Europäischen Gerichtshofes wie des Menschenrechts-Gerichtshofs bestätigten, dass einige Räumungen unrechtmäßig waren. Ein Bürgerbegehren zur Änderung der Gesetze, das 1,5 Millionen Spanier unterzeichnet hatten, ist zwar gescheitert. Doch öfter als früher akzeptieren Banken inzwischen die Wohnung als einzigen Ausgleich für den geplatzten Kredit.

Als Clara Barzolavera im Januar 2012 den Räumungsbescheid bekommt, hält auch sie sich an den Rat Betroffener. Sechsmal erscheint sie mit Dokumenten bei der Bank. Sie will erreichen, dass die Rückgabe der Wohnung für das Streichung der Kreditschulden ausreicht. „Jedes Mal wurde ich ausgelacht.“ Schließlich campieren sie, ihr Mann und andere Unterstützer vor der Bank. Drei Mal. Als sie droht, „es werde etwas Schlimmes geschehen“, ist es soweit: Im Dezember 2013 kann sie den Schlüssel übergeben. Der Kredit ist erledigt.

Ihre Odyssee ist damit aber nicht zu Ende. Mehrere Monate kommt die Familie bei einem Freund unter, zu Viert in einem Zimmer ohne Strom und Wasser. Bis der zweijährige Sohn krank wird. „Ich wollte ihn nicht zum Arzt bringen, weil ich Angst hatte, die Behörden könnten mir die Kinder nehmen.“ Ihr Mann bekommt Arbeitslosenhilfe, aber auch die wird bald auslaufen. Clara Barzolaveras Putzgehalt reicht nicht, und Unterstützung vom Amt bekommt sie nicht: „Dort hat man mir gesagt: Wäre ich auch arbeitslos, könnte man mir helfen. So nicht.“ Clara Barzolavera und ihr Mann helfen sich selbst: Im Sommer finden sie eine leere Wohnung, die einer Bank gehört. Als die Nachbarn im Urlaub sind, brechen sie die Tür auf und ziehen ein. Notwehr. Oft geht es nicht anders.

Wenn Menschen in Valencia, Madrid oder Barcelona ihr Eigentum räumen, sind sie ihre Probleme nicht los. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Denn obwohl über drei Millionen Wohnungen im Land leer stehen, weigern sich viele Banken, sie an Arbeitslose oder Geringverdiener zu vermieten. Noch immer stottern Spanier Kredite ab für leere Wohnungen und finden selbst keine Bleibe. Und finden sie eine, können die Eigentümer sie schnell wieder rausschmeißen. Das spanische Mietrecht ist noch strenger als das Hypothekenrecht.

Deshalb steigt die Zahl derer, die zur PAH kommen. Einige, die wegen der Räumung ihres Eigentums schon einmal hier waren, sind nun auch aus einer Mietwohnung geflogen.. „Die sind doppelt traumatisiert“, sagt Carlos Macías Caparrós. Die Initiative erkundet mittlerweile, welche leer stehenden Häuser Banken gehören, und bringt dort Wohnungslose unter; in Barcelona sind es derzeit 1180 Menschen. Danach verhandeln sie mit den Banken, um das illegale Mietverhältnis zu legalisieren und eine Sozialmiete auszuhandeln. „Die Banken wurden mit Steuergeld gerettet, also gehören die Wohnungen ohnehin den Menschen“, findet Carlos Macías Caparrós.

Auch Clara Barzolavera könnte bald wieder vor dem Berater sitzen. Gerade versucht sie, wieder einen normalen Alltag zu finden: Die Söhne gehen in die Krippe, ihr Mann sucht Arbeit. Doch sie ist nervös: Die Familie hat 1035 Euro monatlich, damit kann sie nur das Lebensnotwendige kaufen. Sie ist auf ihre neue, besetzte Wohnung angewiesen. „Wir könnten jeden Tag rausgeschmissen werden“, sagt sie. Doch voller Angst ein Jahr warten, wie beim letzten Mal, wird sie diesmal nicht. Drei Mal in der Woche geht sie zu Treffen der PAH.Gleichzeitig versucht sie, für ihre besetzte Wohnung bei der Eigentümerbank eine Sozialmiete auszuhandeln. „Erst das wäre ein echter Sieg“, sagt sie.

Eine gewisse Grundverrücktheit

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Diese Worte Sigmund Freuds sind heute aktueller denn je: „Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, dass die Psychoanalyse“, so schrieb deren Begründer, „von der Medizin geschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde“ – dort „im Kapitel Therapie“ als eine unter mehreren konkurrierenden Techniken. Just diese Befürchtung ist eingetroffen: Mit dem Aufstieg zum kassenlizensierten Heilverfahren einher ging ein enormer Bedeutungsverlust der Psychoanalyse, die – wie Freud 1927 weiterschrieb – „ein besseres Schicksal“ verdient hätte: „Als
‚Tiefenpsychologie‘, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.“ Das ist nicht wenig.



Willkommen auf der Couch: Hier behandelte Sigmund Freud seine Patienten.

Der Anspruch auf die Rolle einer universalen Deutungsmacht über die Moderne ist vergleichbar nur dem originären Impuls des Marxismus, mit dem die Freudsche Psychoanalyse das Ziel der Emanzipation des Menschengeschlechts teilt – und des frühen Marx’ „kategorischen Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Hier wie dort steht am Anfang die Erkenntnis, wonach die Menschen nicht Herr im eigenen Hause sind.

Die Biologisierung gehirnphysiologischer Prozesse und die dramatische Zunahme jener Tendenz, normales menschliches Unbehagen und Unglück zu pathologisieren und ihm rein medikamentös zu begegnen, sind nicht die einzigen Gründe für den Bedeutungsschwund der Psychoanalyse sowohl als therapeutische Option als auch im Blick auf ihr kulturelles, intellektuelles und wissenschaftliches Ansehen. Durch Trivialisierung und Banalisierung sind die psychoanalytischen Begriffe zur Karikatur ihrer selbst geworden, sind ihre originären kulturkritischen Antriebe unkenntlich geworden. Ihre Vertreter selbst sind daran nicht unschuldig, denn seit den Anfängen vor mehr als hundert Jahren herrscht unter ihnen der sektiererische Geist priesterlichen Kasten-, Kader- und Proselytenwesens mit strengen Ritualen der Initiation und Inklusion sowie im Gegenzug der Exklusion aller Abweichungen von der Orthodoxie. Als eine dissidente Wissenschaft sui generis bringt die Psychoanalyse kraft ihrer Unabgeschlossenheit – Freud war sie „work in progress“ – fortwährend ihre eigenen Dissidenten und Grenzgänger hervor. Im Umgang mit diesen ist sie allerdings selbst nicht frei von jenen autoritären Anmaßungen, destruktiven Aggressionen und rituellen Zwangshandlungen, deren Aufklärung und Therapie sie sich doch verschrieben hat.

Der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke gehört zur raren und unverwüstlichen Sorte derer, die sich solcher selbstaufklärerischen Potenziale bewusst sind und ihr eigenes Dissidententum auch dafür einsetzen, die Dissidenz anderer zu rehabilitieren. Diesem personifizierten Stachel im Fleisch einer – nach eigenen Worten – „zur Ideologie von Verbänden herabgestuften Psychoanalyse“ wurde jetzt zur Feier von Nitschkes 70.Geburtstag ein Symposion im Kreise von Kollegen, Freunden und Weggefährten zuteil. Das Thema: Grenzgänger und Grenzgänge in der Geschichte der Psychoanalyse. Bertram von der Stein, der Gastgeber vom Düsseldorfer Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie, wollte diesen Fokus noch weiter ausgedehnt wissen, denn „eine gewisse Grundverrücktheit“ gehöre zur psychoanalytischen Ausbildung einfach dazu.

Vorträge über die Popstars unter den Renegaten wie Otto Gross (Albrecht Götz von Olenhusen), Wilhelm Reich (Andreas Peglau) und Georg Groddeck (Galina Hristeva) nahmen die Auswüchse des Vereinslebens als zwanghafte Wiederholungen patriarchalischer Familienstrukturen unter die Lupe und legten die blinden Flecken der Disziplin frei, deren Folgen noch heute in undurchsichtigen Vereinsstrukturen fortleben. Wilhelm Reichs Untersuchung über die „Massenpsychologie des Faschismus“ und sein politisches Engagement berührten den kritischsten Punkt in der Geschichte der Disziplin: das von Freud geduldete, wenn nicht geforderte politische Abstinenzgebot, das für nichtjüdische Psychoanalytiker dann zum wohlfeilen Alibi eines Überwinterns wurde, das weder frei von opportunistischer Anpassung noch von Anbiederung an das NS-Regime war.

Die Zerstörung jener Legende, wonach in Deutschland und Österreich zurückgebliebene Zunftvertreter per se auf der Seite des Widerstands gestanden hätten und die Psychoanalyse als solche – und nicht nur ihre jüdischen Vertreter – unter Verfolgung gelitten hätte, trug Helmut Dahmer, dem damaligen Herausgeber des publizistischen Flaggschiffs Psyche, in den 80er-Jahren den Ruf des „Nestbeschmutzers“ ein. Die Zurückgebliebenen rächten sich durch Verdrängung und Vergessen aber auch an jenen exilierten jüdischen Psychoanalytikern, die sich wie die Wienerinnen Else Pappenheim und Marie Langer dem politischen Abstinenzgebot vor und nach 1933 energisch widersetzt hatten. Aus ihrem argentinischen Exil musste Langer in den 70er-Jahren erneut fliehen, als eine Todesschwadron ihr nach dem Leben trachtete. Von beider Briefwechsel berichtete der Grazer Historiker Karl Fallend.

Den Anspruch auf eine „Restitution der Psychoanalyse“ durch „Provenienzforschung“ und durch Rückbesinnung auf das vergessene „Junktim von Therapie und Kulturkritik“ vertrat Helmut Dahmer entschieden: In der „Medizinisierung“ der Psychoanalyse, ihrer Blindheit gegenüber der sozialen und politischen Außenwelt wirke das in die Nachkriegsära übertragene „heimliche Schweigeprogramm“ noch immer fort. Demgegenüber aktuell bleibe Freuds Projekt einer „Kultur, die keinen mehr unterdrückt“. Restitution der Psychoanalyse bedarf aber auch der Revision ihrer Irrtümer: Passé ist, wie Brigitte Boothe aus Zürich mit Humor und Ironie ausführte, die für die Psychoanalyse einst „geradezu peinliche Weiblichkeit“ im Sinne vermeintlich biologisch bedingter Versehrtheit und Vulnerabilität. Körperlich behindert fühlten sich heute eher Männer, wenn sie nicht schwanger werden könnten.

Ein lohnendes Terrain für eine kulturtheoretisch restituierte Psychoanalyse bietet die Erforschung der Fremdenfeindlichkeit. Oliver Decker, Ko-Autor der Leipziger Studie über aus der Mitte der Gesellschaft kommende rechtsextreme Einstellungen, revidierte das Konzept des „autoritären Charakters“ unter nachpatriarchalischen Verhältnissen. „Stabiler“ geworden sei die „Mitte“ im Jahr 2014 nur deshalb, weil unter der ökonomischen Insellage dieses Landes der Wohlstand als „narzisstische Plombe“ fungiere, worunter fremdenfeindliche Ressentiments verdeckt blieben und zurückgehalten werden. Gegenüber singulären Gruppen wie Asylbewerbern, Sinti und Roma sowie Muslimen ließen die Deutschen in ihrer Mehrheit aber einem „sekundären Autoritarismus“ freien Lauf. Im Flottieren dessen, was Freuds Traumlehre „sekundäre Bearbeitung“ nannte, sei jener beim Setzen entsprechender Impulse auch mit „sekundärem Antisemitismus“ kompatibel. Unter schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen könne dieser wiederum die Plombe bersten lassen.

Im Dunstkreis der Zigarettenschmuggler

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Es hätte frischer Fisch aus Griechenland sein sollen, aber das war nur die Tarnladung. Zöllner hatten einen guten Riecher, als sie den Lastwagen auf der A8 anhielten. Nachdem sie den Fisch beiseite geräumt hatten, entdeckten die Beamten die tatsächliche Ladung: In Kühlboxen hinter dem Fisch lagerten exakt 7286400 Stück unversteuerte und unverzollte Zigaretten der Marke „Jing Ling“. Allein die hinterzogene Tabaksteuer für diese Ladung betrug knapp eine Million Euro. Der Lkw-Fahrer wurde verhaftet, die Zigaretten mit dem klingenden Namen stellte der Zoll sicher. Den Fisch, dachten die Beamten, könnten sie dem Tierpark Hellabrunn überlassen, aber da waren sie zu optimistisch. Die Tiere wollten das Zeug nicht fressen, so frisch war die Tarnladung offenbar nicht gewesen. Der Fisch musste schließlich entsorgt werden.



Beschlagnahmte Zigaretten werden beim Zoll eingelagert und später zerstört.

Beschlagnahmte Zigaretten zerstört der Zoll grundsätzlich. Während ein Ermittlungsverfahren läuft, müssen die Stangen aber zunächst eingelagert werden. Beim Zollfahndungsamt an der Landsberger Straße liegen deshalb meist Tausende Schachteln Zigaretten im Keller. Es gibt keine Ware, die so häufig nach Deutschland geschmuggelt wird. „Vom Volumen her sind Zigaretten unser Hauptproblem“, sagt Chefermittler Siegfried Wittwer. Und damit meint der Münchner Fahnder nicht die Urlauber, die zwei Stangen zu viel aus dem Ausland mit nach Hause nehmen und am Flughafen im Erdinger Moos am Zoll vorbei mogeln wollen. Wenn Wittwer über Zigarettenschmuggel spricht, dann redet er von hoch spezialisierten Banden, organisierter Kriminalität und Geldwäsche. Zigaretten sind für Schmuggler so interessant, weil die Gewinnspanne so hoch, für Medien und Öffentlichkeit der Drogenschmuggel aber spektakulärer ist. Zigaretten stehen nicht so im Fokus. „Dabei hat der Handel Dimensionen“, sagt Wittwer, „die man sich gar nicht vorstellen kann.“

Bis zu 20 Euro Gewinn machen die Täter pro geschmuggelter Stange Zigaretten. Da können pro Lkw-Ladung schnell mal ein paar hunderttausend Euro herausspringen. Der geschätzte Steuerausfall wegen Zigarettenschmuggels in Deutschland betrug 2013 geschätzt 4,3 Milliarden Euro. Obwohl die Gesetze immer strikter werden, rauchen die Menschen in der Europäischen Union etwa 420 Milliarden Zigaretten im Jahr. „30 Prozent davon sind nicht legal hergestellt oder legal versteuert“, sagt Wittwer. Die Marke Jing Ling zum Beispiel, die mit der Tarnladung Fisch in einem Lkw lagerte, gibt es hier offiziell gar nicht. Die Schachtel der Zigaretten aus Kaliningrad sieht aus wie die von der Marke „Camel“, statt eines Kamels aber ist eine Bergziege das Logo. In Deutschland gibt es für Jing Ling weder Werbung noch legale Vertriebswege. Die Zigaretten der Marke werden rein als Schmuggelware hergestellt und wechseln nur unter der Theke den Besitzer. Trotzdem gehören sie zu den Top Ten der meistgerauchten Zigaretten der Republik.

Doch bis Schmuggler überhaupt erst auf die Idee kamen, eigene Zigaretten herzustellen, war es ein weiter Weg. „Das Geschäft hat in den vergangenen Jahren einigen Wandel durchlaufen“, sagt Wittwer. Zu Beginn des Europäischen Binnenmarkts 1993 nutzten die Schmuggler zunächst einmal den Vorteil, den ihnen der neue Wirtschaftsraum bot. Sie merkten schnell, dass deutsche Zöllner sich zwar gut mit Dokumenten aus den Nachbarstaaten wie Österreich oder Frankreich auskannten. Die Stempel der Zollkollegen aus Spanien aber hatten deutsche Zöllner bis dahin so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Also besorgten sich die Täter gefälschte spanische Dokumente für ihre Lastwagen und gelangten auf ihrem Weg nach München oder zu anderen deutschen Zielorten relativ problemlos über die Grenze. Sie machten ein Riesengeschäft, in einem Lkw transportierten sie gut zehn Millionen Zigaretten, was einem Wert von 1,8 Millionen Euro entspricht. Die deutschen Behörden kamen den Schmugglern auf die Schliche, aber da hatten viele von ihnen die Transportwege schon in den Osten verlagert, wo sie viel billiger einkaufen können.

„Was Händler in Kirgisien zum Beispiel an Zigaretten kauften, da hätte jeder Einwohner 100 Zigaretten pro Tag rauchen müssen“, sagt Wittwer. Die Zigaretten aber wurden nicht alle dort verbraucht, sondern auf dunklen Wegen nach Deutschland oder andere westeuropäische Länder gebracht, wo die Preise hoch sind. Dort veräußerten sie ihre Ware mit hübscher Gewinnspanne.

Den EU-Staaten reichte es jetzt, sie nahmen die Tabakhersteller in die Pflicht. Im Jahr 2004 unterzeichnete Philipp Morris International als größter Tabakhersteller der Welt einen Vertrag, wonach das Unternehmen innerhalb von zwölf Jahren 1,25Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung des Schmuggels spendierte. Noch viel wichtiger aber war ein anderer Passus des Papiers: Philipp Morris verpflichtete sich, bei jeder verkauften Tabakladung den Abnehmer anzugeben. Andere große Tabakhersteller machen inzwischen dasselbe. Fliegt eine Schmuggelladung auf, können die Behörden also den ersten Abnehmer dieser Ware ausfindig machen – die Unternehmen verkaufen nie wieder etwas an ihn. Überhaupt haben die Tabakhersteller ziemlich hochgerüstet, sie verfügen heute über ein dichtes Netzwerk an Informanten und Detektiven, um Schmuggler zu entlarven. Es geht ums Image und darum, Strafzahlungen zu vermeiden. Es geht aber auch um die Markenidentität. Denn die Banden, die illegal mit Zigaretten handeln, gingen aufgrund des Drucks immer mehr dazu über, Zigaretten zu fälschen.

Die Schachteln sehen täuschend echt aus. Ganz vorne dabei bei diesem Trend waren die Chinesen, der Zoll stellte 2006 im Hamburger Hafen auf einen Schlag 110 Container sicher, jeder bis obenhin gefüllt mit gefälschten Zigaretten. Der Wert einer Container-Ladung betrug etwa 15000 Euro. Die Tabakhersteller unterhalten so etwas wie forensische Teams, die sichergestellte Ware untersuchen und sofort erkennen, was Original und was Fälschung ist.

Die Schmuggler hatten es plötzlich mit zwei Gegnern zu tun, mit Ermittlern wie den Zollfahndern in München, aber nun auch mit den Unternehmen. Also fanden sie einen Ausweg: Sie produzierten selbst. Es braucht nur zwei Maschinen, eine für die Herstellung der Zigaretten und eine für die Verpackung. Dazu ein paar Arbeiter. In einer Woche lassen sich so zehn Millionen Zigaretten herstellen. „Das begann in der EU so etwa im Jahr 2003“, sagt Wittwer. „Diese Ware ist allein für den Schmuggel gedacht.“ Die Täter produzieren zahlreiche Marken mit verschiedenen Fantasienamen in mehreren Ländern, dann machen die Zigaretten eine halbe Weltreise, etwa über Ägypten und Malaysia, um in die EU eingeführt zu werden – als Futtermittel oder Saubohnen deklariert.

Die geschmuggelten Zigaretten verteilen die Schmuggler an Leute, denen sie vertrauen. Die verkaufen die Ware dann am Arbeitsplatz oder im Sportklub. „In einem Werk von großen Firmen zum Beispiel“, sagt Wittwer, „das ist ein Riesenmarkt mit vielen Abnehmern.“ Seine Fahnder hatten schon Schmuggler, die Kleinanzeigen in Zeitungen schalteten und sich als Pizzaboten tarnten. Die „Lieferung frei Haus“ war dabei nur der Code, dass es gar nicht um Pizza, sondern um Zigaretten geht. Zu ermitteln ist so etwas nur schwierig. Früher benutzten die Täter noch Telefon oder Fax, so dumm ist heute kaum mehr einer. Die Schmuggler transportieren die Zigaretten inzwischen auch in viel kleineren Mengen über die Grenze, nicht mehr in riesigen Lkw-Ladungen. So verteilen sie das Risiko und mindern den Verlust, wenn der Zoll mal einen Transport hochgehen lässt. Die Gewinne reinvestieren die Schmuggler in ihre Ausstattung und Logistik, sie bezahlen korrupte Helfer. Und sie waschen das Geld, bringen es so in den legalen Wirtschaftskreislauf und gewinnen an Macht und Einfluss. Die Mafia und Terrorgruppen haben den Markt für sich entdeckt, mit Zigaretten lässt sich leichter Geld machen als mit Drogen.

Die Fahnder versuchen vor allem, den Schmugglern über Geldflüsse auf die Spur zu kommen. Für die Verfolgung von Steuerhinterziehung, wozu auch der Zigarettenschmuggel gehört, unterstehen Siegfried Wittwer beim Zollfahndungsamt München 53 Mitarbeiter. Der Chefermittler selbst ist gut vernetzt, er arbeitete lange beim Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung „Olaf“. Zusammen mit den anderen Münchner Fahndern will er nicht nur Transporte und die Handlanger erwischen. Die Ermittler versuchen, an die Strippenzieher des Schmuggels heranzukommen, weshalb die Verfahren oft langwierig sind. „Wenn wir einen Häuptling kriegen, sind viele Indianer blind“, sagt Wittwer. Die Täter, die in einer Organisation in verschiedenen Hierarchiestufen zusammenarbeiten, kennen sich oft gar nicht. So können die Ermittler nachhaltig Strukturen zerstören.

Anfang dieses Jahres haben die Münchner Zollfahnder in einer lange vorbereiteten Aktion 19 Wohnungen, Arbeitsstätten und Lagerräume einer Bande in Bayern durchsucht und gegen 24 Tatverdächtige Haftbefehl erlassen. Der Steuerschaden beläuft sich auf mindestens 350000 Euro. In einem anderen Fall kontrollierten sie einen Lastwagen aus Griechenland, der Papierrollen für Zeitungsdruckereien geladen hatte. Die Rollen waren innen hohl und vollgestopft mit Zigaretten. Die Schmuggelware ist sichergestellt. Auch diese Zigaretten liegen nun im Keller des Zollfahndungsamts an der Landsberger Straße und warten darauf, zerstört zu werden.

Unterwegs in Richtung Schicksal

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In der ersten Einstellung schwenkt die Kamera über eine riesige, nächtlich erleuchtete Baugrube. Ein Arbeiter in Helm, Schutzweste und Gummistiefeln verlässt die Baustelle, steigt in einen Geländewagen und fährt los. An der ersten Ampel blinkt er links, scheint dann aber in eine kurze Agonie zu verfallen. Er reagiert nicht, als es grün wird, hinter ihm hupt zweimal drohend ein Lastwagen, schließlich setzt er den Blinker rechts und biegt ab.



"No Turning Back" zeigt 85 Minuten Autofahrt. Star des Films neben Tom Hardy: Die Freisprechanlage.

Erst nach und nach begreift man, wie groß die Entscheidung war, die da gefallen ist. Ein Mann hat seine Wahl getroffen, für die einzige Möglichkeit, mit der er leben kann. Und wird dabei doch sein Glück, seinen Ruf und seine Existenz aufs Spiel setzen. Die nächsten anderthalb Stunden werden die Hölle für ihn, aber er wird nicht umkehren. Die Filmgeschichte ist voll von Männern, die vor irgendetwas davonfahren – dieser hier ist in die Gegenrichtung unterwegs.

Ähnlich entschlossen ist auch Steven Knight, der Autor und Regisseur. Er wird bei diesem Mann bleiben, der nun über die Autobahn von Birmingham nach London fährt und dafür exakt die anderthalb Stunden braucht, die der Film dauert. Im Wesentlichen wird man sein Gesicht sehen, ein wenig Straßenverkehr, nächtliche Lichter. Andere Menschen aber kommen nur als Stimmen am Telefon vor. Mehr ist da nicht. Es wird keinen Unfall geben und keine Explosionen, keinen Terroranschlag und keine Staatskrise, keine Aliens und keine Superhelden. Nur diesen einen Mann und seine Verantwortung. Für seinen Job, seine Familie – und für den Fehler, den er begangen hat. Und doch ist „No Turning Back – Locke“ schicksalhaft spannend, fast wie ein antikes Drama.

Denn kaum ist der BMW auf der Autobahn, kommt die Freisprechanlage zum Einsatz. Sie wird ein echter Star dieses Films. Ivan Locke, so heißt der Mann, telefoniert nun fast ununterbrochen, während das Ausmaß seines Dilemmas erkennbar wird. Schnell ist klar, dass er auf dem Weg zu einer Geburt ist, und das Kind ist seins. Aber offenbar kennt er die Mutter kaum, sie ist auch fast schon zu alt, um Kinder zu haben, dazu eine sehr fragile, furchtsame Person. Nach einem verunglückten One-Night-Stand sieht sie in dieser Schwangerschaft ihre letzte Chance. Ivan Locke aber ist Familienvater, er liebt seine Frau und seine beiden Söhne, und man glaubt ihm, wenn er beteuert, dass dies in all den Jahren sein einziger Fehltritt war.
Was nun die Albträume von Familienvätern betrifft, ist das in der Tat so ziemlich der Super-GAU: Auf stillere Weise fast so peinigend wie die Kaninchen meuchelnde Glenn Close in „Fatal Attraction“, die den Machos der Achtzigerjahre den Schreck ihres Lebens beschert hat. Nur dass hier, das macht die Sache noch quälender, nicht einmal wirkliche Attraktion im Spiel war.

Ivan Locke hat nun beschlossen, dieser Frau keine Lügen von Liebe und Zuneigung zu erzählen, aber trotzdem für das Kind da zu sein, auch bei der Geburt. Weil er ein anständiger Mensch sein möchte. Und weil er nicht wie sein eigener Vater werden will, den er als Kind und Jugendlicher nicht kannte – und dafür immer gehasst hat. Wie hoch der Preis für Anständigkeit sein kann, das begreifen er und alle anderen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, allerdings erst in dieser Nacht.

Denn wie es der Teufel will, fallen die Wehen – zwei Monate zu früh – exakt mit dem bisher wichtigsten Job seiner Karriere zusammen. Er ist Bauleiter auf Englands größter Baustelle, am nächsten Morgen um fünf Uhr fünfundvierzig werden Transporter aus allen Teilen des Landes anrollen, um 355 Tonnen Frischbeton in die Grundfesten seines Wolkenkratzers zu pumpen – bei solchen Zahlen ist Locke exakt.

Weil er aber seine Entscheidung getroffen hat, wird er in diesem Moment, in dem tausend Dinge schiefgehen können, nicht dabei sein. Eine Ansage, auf die sein Assistent und sein Chef erst ungläubig und fassungslos reagieren, schließlich mit nackter Panik. Erkennbar gibt es nur einen Menschen im ganzen britischen Königreich, der die Verantwortung des morgigen Tages tragen kann, und der fährt gerade in die falsche Richtung.

Wie er nun gefeuert wird und beschließt, seinen Assistenten am Telefon trotzdem durch die nötigen Vorbereitungen zu lotsen, während immer neue Probleme auftauchen; wie seine Frau auf die Enthüllung reagiert, dass er sie betrogen hat und noch einmal Vater wird; wie seine Söhne ihn bitten, heimzukommen; und wie die Fremde, die sein Kind gebären wird, am Telefon zunehmend jede Fassung verliert – das ist schon die ganze Handlung des Films. Aber sie erzeugt trotzdem mehr Druck, als ein einzelner Mensch innerhalb von anderthalb Stunden ertragen kann.

Ivan Locke jedoch starrt in den Abgrund, der sich da vor ihm auftut, und bleibt ruhig – getrieben von einem unerschütterlichen Glauben daran, dass man selbst die Apokalypse durchstehen kann, wenn man nur die Nerven nicht verliert. Man versteht, warum er der beste Bauleiter Englands geworden ist, und begreift den Film immer mehr als eine Art Titanenkampf: Hat das Schicksal, in all seiner Willkür und Bösartigkeit, hier endlich einmal einen würdigen Gegner gefunden?

Jedenfalls würde man nicht darauf wetten, dass dieser Mann zerbrechen wird – und das liegt zuallererst an Tom Hardy. Man kennt ihn als Muskelschurken Bane aus „The Dark Knight Rises“, nächstes Jahr wird er Mel Gibson als „Mad Max“ beerben. Einer dieser britischen Alphamänner, etwa in der Tradition Richard Burtons. Allerdings setzt Hardy seine Mittel sparsam ein, arbeitet vor allem mit der Stimme, der man stundenlang zuhören könnte. Diese Performance lässt wenig Zweifel daran, dass er zu den Großen seiner Generation gehören wird.

Die Frage schließlich, ob ein Film im Innenraum eines BMW-Geländewagens entstehen kann und trotzdem die Kraft hat, das ganze Leben zu umfassen, muss man nach „No Turning Back“ mit einem klaren Ja beantworten. Steven Knight, der als Autor für Stephen Frears und David Cronenberg bekannt wurde, hat seine Geschichte brillant geschrieben und inszeniert, und er beweist einmal mehr, wie sehr die Suggestionskraft des Kinos gerade dann wächst, wenn sie sich die härtesten Beschränkungen auferlegt.

Locke, GB 2013 – Regie und Buch: Steven Knight. Kamera: Haris Zambarloukos. Schnitt: Justine Wright. Musik: Dickon Hinchliffe. Mit Tom Hardy, Ruth Wilson, Andrew Scott. Studiocanal, 85 Minuten.

Superbanane

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Der Begriff des „genmanipulierten“ Lebensmittels provoziert in Deutschland meist Ablehnung oder sogar Abscheu. Was aber, wenn es um das Wohl von Kindern in den Entwicklungsländern geht? Zumindest Forscher denken da oft, sie hätten keine andere Wahl, als in den biotechnologischen Werkzeugkasten zu greifen.



Ab 2020 könnten gentechnisch veränderte Kochbananen in Uganda angebaut werden.

Das jüngste Produkt dieser Bemühungen wird nun sechs Wochen lang an Menschen getestet. Mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Stiftung haben Wissenschaftler eine afrikanische Kochbanane entwickelt, die große Mengen von gelb-orangem Betacarotin enthält, einem Provitamin, das der Körper in Vitamin A umwandelt. Normale Kochbananen sind nahrhaft, enthalten aber nur wenig Betacarotin. Erst mit weiteren Genen anderer Bananen gelang es James Dale von der Technischen Universität in Queensland, Australien, die blasse Frucht in eine Superbanane zu verwandeln. Die Tests werden zeigen, wie das zusätzliche Provitamin vom Körper aufgenommen wird. Falls die Vitamin-A-Versorgung durch die Pflanze verbessert werden kann, soll sie von 2020 an in Uganda angebaut werden. Kochbananen sind in dem Land die wichtigste Ackerfrucht, nirgends auf der Welt wird mehr davon geerntet.

Zugleich gehört Uganda zu den Vitamin-A-Mangelgebieten der Erde. Betroffen sind vor allem die Jüngsten. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden 250 Millionen Schulkinder weltweit an einem Vitamin-A-Mangel. Mindestens 350000 von ihnen erblinden, fast doppelt so viele sterben jedes Jahr. Die „Superbanane“ oder auch „Goldene Banane“ ist deshalb nicht der erste Versuch, durch genetisch veränderte Feldfrüchte Kinderleben zu retten. Es gibt den Goldenen Mais, goldene Süßkartoffeln, rotes Palmöl. Am bekanntesten dürfte der „Goldene Reis“ sein. Vor 14 Jahren stellten Forscher ihn vor, längst sollte das Gentech-Getreide große Flächen in Südostasien bewachsen.

Wer aber den Reis auf den Feldern sucht, ist lange unterwegs. Nur die Philippinen und Bangladesch haben sich auf Freilandversuche eingelassen, die dann von Gentechnik-Gegnern zerstört oder bedroht wurden. Und das ist nicht der einzige Widerstand. Selbst Forscher warnen vor theoretischen Überdosierungen an Vitamin A, dem Auslaugen der Reisfelder, der Ablenkung von den allgemeinen Ernährungsproblemen und deren Ursachen. Noch immer ist nicht absehbar, ob Asiens Kinder jemals gelbe Reiskörner in ihren Schüsseln finden werden. Sterben aber tun sie weiterhin.

Rückschläge rauben dem Australier Dale nicht den Optimismus. „Golden Rice war bahnbrechend für uns“, sagt er. „Eines Tages wird dieser Reis verfügbar sein und die Last des Vitamin-A-Mangels schultern helfen.“ Immerhin weiß der Forscher die Regierung in Kampala auf seiner Seite. „Die Nationale Forschungsorganisation wird das Projekt selbst umsetzen. Wir steuern nur die technische Hilfe bei“, sagt der Biotechnologe. Erste Feldversuche in Afrika laufen seit drei Jahren. Dale zählt zudem auf die Empathie der Menschen. Genetisch veränderte Pflanzen seien nicht der Feind. „Ich glaube fest daran, dass das Mitgefühl für die Ärmsten der Armen auf dieser Welt die Oberhand gewinnt.“

Wie geht Feiern ohne Alkohol?

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Freitagabend. Schluss mit Arbeiten, Lernen, Stress. Laptop zu, Musik an, Bier, Wein, Sekt auf. Alkohol, mal mehr, mal weniger, gehört für uns zur Freizeitgestaltung immer wieder automatisch dazu, vor allem abends, vor allem am Wochenende. Findet eine Party statt, findet sie mit Alkohol statt. Gehen wir mit Freunden in Bars, Clubs oder nur in die WG-Küche, haben wir schnell Gläser und Flaschen in den Händen. Weil wir wissen, Alkohol entspannt uns. Macht uns irgendwie locker. Alkohol enthemmt und bewirkt, dass wir eine gute Zeit haben.

Wir meinen, unser Trinkverhalten kontrollieren zu können: anfangen zu können, wenn der Anlass passend ist und aufhören zu können, wenn es nötig ist. Dabei vergessen wir, was allein die Regelmäßigkeit unseres Alkoholkonsums bewirken kann. „Wenn ich immer zu bestimmten Zeiten Alkohol konsumiere, gehe ich den ersten Schritt in die Gewohnheit“, sagt Diplom-Sozialpädagogin Bärbel Würdinger, Leiterin der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle des PROP e.V. in Freising. Wer gezielt trinke, um entspannter zu werden, verleihe dem Trinken eine riskante Funktion. Würdinger sagt: „Ein regelmäßiger Rausch am Wochenende oder die tägliche Weinschorle stellt per se noch keine Abhängigkeit dar, kann aber bei unreflektiertem Dauerkonsum zu einer Abhängigkeit führen.“ Eine konsumfreie Zeit sei nicht verkehrt, um die Muster zu durchbrechen.

Natürlich gibt es Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen überhaupt nicht trinken und im Laufe der Jahre ihre ganz eigenen Feier- und Entspannungsrituale kultiviert haben. Sie vermissen den Alkohol nicht. Aber den meisten von uns, die - ob aus einer gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahme, wegen Fahrerpflichten oder nur aus Neugier - das Trinken für eine gewisse Zeit sein lassen, fehlt etwas. Auch weil wir die Freunde sehen, die weitermachen wie bisher, und die irgendwie anders sind als wir, wenn sie trinken und wir nicht. Und weil wir vielleicht auch ein bisschen Angst haben, dass wir nüchtern nicht nur weniger Spaß haben, sondern den Nichtnüchternen auch weniger Spaß machen, also nicht mehr so gut ankommen wie sonst. Wie kriegen wir es also hin, auch ohne entspannende alkoholische Getränke entspannt zu sein? Wie geht der Freitagabend anders?

Würdinger meint, es komme vor allem darauf an, das zu tun, was wir sowieso gerne tun – ob mit oder ohne Alkohol. Ihr Tipp: „sportliche, gewagte und kreative Aktivitäten.“ Sachen, die dem Hirn signalisieren: Da passiert etwas, das uns glücklich macht, auch ohne Alkoholzusatz. Klar, dass diese Dinge dann eher eine Runde Beachvolleyball, Fußball, Frisbee-Werfen im Park, ein Tipp-Kick-Turnier oder ein Spielchen Stadt-Land-Pornotitel am Küchentisch sind als in der Lieblingsbar direkt vor dem Zapfhahn rumzuhängen. Was uns sonst nur mit Alkohol Spaß macht, müssen wir in Alkoholauszeiten nicht zwingend ausprobieren – wobei es auch für dieses Problem Lösungen geben kann. Wer den Spaßverlust am Tresen in der Abstinenzzeit fürchtet, kann statt der üblichen Fertig-Limos auch mal selber mixen. Nein, keine komplizierten Cocktails, für die man Shaker, Crushed Ice und sieben verschiedene Sirupe braucht. Sondern zum Beispiel einfach nur ein Glas Orangensaft und ein Fläschchen Bitter Lemon. Kann zusammen genauso gut schmecken und durch den Abend führen wie Fassbier, Weißwein oder Hugo. Und geht natürlich auch mit Tonic Water oder Ginger Ale statt Bitter Lemon.

Ebenso gut: Softdrinks pimpen. Mit frischer Minze. Oder mit Obst. Oder mit Brausepulver. Denn schon kleine Besonderheiten können den Spaßfaktor beim Trinken erhöhen – auch ohne Alkohol. Alkoholfreies Bier hingegen ist nur so halb sinnvoll in der alkoholfreien Zeit. Denn laut Lebensmittelrecht darf auch dieses bis zu 0,5 Prozent Alkohol enthalten (auch in Malzbier kann ein Alkoholrest sein, hundertprozentig alkoholfrei ist nur der Malztrunk) und ist deshalb auch eine Gefahr für trockene Alkoholiker. Nicht, weil 0,5 Prozent sie sofort wieder in die Sucht stürzen würden. Vielmehr, weil der Alkohol lange Zeit ein wichtiger Begleiter und Freund war. Die Psyche kann diese Freundschaft schnell wieder beleben – es reicht schon das Geräusch des abhebenden Kronkorkens. Heißt: Wenn wir das Rahmenprogramm so unterhaltsam gestalten, dass uns der Spaß, der dabei entsteht, ausreicht und deshalb nicht künstlich verstärkt werden muss, haben wir nüchtern automatisch nette Momente.

Autor Erik Brandt-Höge, 31 Jahre alt, trinkt unter der Woche wenig bis gar keinen Alkohol, freitagabends dafür fast immer. Ob das sein muss, fragt er sich gerade.


Fünf Tipps für Spaß ohne Alkohol

1. Das eigene Trinkverhalten hinterfragen. Einsicht und Ehrlichkeit sind die besten Mittel, um eine Entscheidung zur Abstinenz – kurz oder lang – zu treffen und sich damit zu arrangieren. Würdinger nennt hier den Check-Punkt des „schädlichen Gebrauchs“, das heißt: ob man nach dem Alkoholtrinken schon mal einen Unfall hatte und nun an körperlichen Folgeschäden leidet. Ob Beziehungen scheitern, weil die Freundin oder der Freund mit einem bestimmten Trinkverhalten nicht klarkommt. Oder ob auch Depressionen durch das Trinken verursacht wurden.

2. Spaß bleibt Programm, und das kann man selbst bestimmen. Zum Beispiel, indem man die Freunde fürs nächste Wochenende nicht in die WG-Küche oder die Bar um die Ecke schickt, sondern mit reichlich Equipment in den Park oder an den See. Wann war eigentlich das letzte Mal Nackt- und Nachtbaden angesagt?

3. Jede Stadt hat spezielle Getränkeläden mit nationalen und internationalen Highlights. Ein Besuch lohnt sich, denn dort gibt’s bekannte und unbekannte Getränke in nicht für möglich gehaltenen Farben, Formen und natürlich allen denkbaren Geschmacksrichtungen. Exotisches ersetzt Alkoholisches.

4. Essen bleibt wichtig – und soll weiter Spaß machen. Ein Top-Abendessen plus Top-Nachtisch plus Top-Espresso oder Eiskaffee danach kann den einen oder anderen Drink bestens ersetzen.

5. Auf Vieltrinkerpartys auch viel trinken – und experimentieren. Alles, was die anderen mit Wodka, Gin und Rum auffüllen, mixen, Eis und Strohhalm rein – fertig.

Kosmoshörer (Folge 19)

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Der Kosmoshörer von jetzt-Userin kthrnmeyer:




Montag:
Es ist Pfingsten, das heißt: frei. Eigentlich wollte ich mir am Samstag ein Fahrrad kaufen - und habs dann doch wieder auf unbestimmte Zeit verschoben. Bisher fand sich immer noch ein Gepäckträger, um Wettrennen zum Grillen/Schwimmen/Tanzen zu fahren. Heute allerdings habe ich Pech. Der Fahrradladen hat geschlossen, der See, an dem sich die Freunde von Lianen in die Fluten stürzen, ist zu weit entfernt für Ausritte als Beiladung. Deswegen gehe ich stattdessen mit meinem Mitbewohner in den Park um die Ecke (in dem das Rasenbetreten streng verboten ist und keiner sich dran hält), lese die Zeitung vom Vortag, schmolle ein bisschen und lasse mir, mit einer Gabel und einem Feuerzeug als Protagonisten, politische Phänomene und das Leben erklären. Zwischendurch schlafe ich mit der Seite 3 auf dem Kopf und Kopfhörern auf den Ohren kurz ein - zu diesem Lied, das genau den Mix zwischen Melancholie und Wohligkeit widerspiegelt, der diesem Tag innewohnt. The Dig - I already forgot everything you said
https://www.youtube.com/watch?v=ffOCFTuDE5Y

Dienstag:
Meine Freundin M. fragt, ob ich trotz Sonne Lust auf geschlossene Räume habe und sie ins Theater begleite. München hat Gastspiel im DT und auch wenn René Pollesch (der heute Gasoline Bill inszeniert) mich eigentlich nervt, weil seine Dialoge manchmal klingen, als seien sie nur zum Twittern erfunden: Sie sind zumindest gut in Theoriedisco und in einen manisch durchchoreographierten Soundtrack eingebettet. Die Cowboys tanzen mit Lacan und Zizek-Versatzstücken vor einem Glitzervorhang den Interpassivitätsdiskurs - und erklären, warum man zwar Delfine mit Greenpeace retten kann, aber gesamtgesellschaftlich betrachtet trotzdem immer trauriger wird.





Das alles auf die Tonspur von "Canned Heat" von Jamiroqai. Empfehlen würden wir das Stück trotzdem nicht. Beschließen wir beim Spritz.
https://www.youtube.com/watch?v=_Sedt2LhOmc

Mittwoch:
Heute besichtige ich zum ersten Mal das Gemeinschaftsbüro, in dem ich hoffentlich bald einen Stuhl habe. Die modern umstrukturierte Arbeitswelt hat bei mir dazu geführt, dass ich meine Jobs meistens von der heimischen Küche aus jongliere. Dummerweise habe ich nach dem Uniabschluss meinen Schreibtisch in den Hinterhof geworfen, weil ich fand, dass es eines Rituales bedürfe, diese Lebensphase abzuschliessen. Und nun brauch ich ihn doch wieder. Bisher war der kurze Weg zur Arbeit sehr angenehm, aber es ist dann doch lustiger, wenn man den Videobuzz des Tages nicht zu remote verschicken muss und vom Sitznachbarn auch eine Reaktion bekommt. Ich mag den Zustand sehr, in dem Neues sich ankündigt, aber noch nicht richtig angefangen hat. Mein Musikstreamingpremiumaccountalgorithmus empfiehlt mir, während ich verzückt die Team-Küche und die künftigen Co-Worker betrachte, zum Gefühl folgenden Soundtrack: die Spotify-Playlist- Kreativitätsschub

Kreativitätsschub

Donnerstag:
Nochmal Arbeitsbezogenes. Grillen mit meinem Lieblings-Konferenz-Team. Der Termin fällt zusammen mit dem Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft (Auf der Mailingliste leichtes Rumoren). Das Grillgut drängt sich noch nicht auf dem Rost, da ist schon von Zauberhand ein veritables Public-Viewing Szenario samt Sofas und Beamerwand mit monströser Diagonale aufgebaut. Dass einem flau im Magen wird, liegt leider nicht nur am Hunger, sondern auch an der spätstalinistischen Eröffnungs-Stadionchoreographie aus menschlichen Blumen, JLo's glitzerndem Hintern sowie dem glitzernden Hintern ihres Klons. Und an dem politischen Wahnsinn, der an dieser WM hängt und komplett ausgeblendet wird. Aus den Boxen dröhnt, überraschend dialektisch Deichkind&Das Bo - "Ich hab eine Fahne":
https://www.youtube.com/watch?v=T9oo7wb7cw8

In der Halbzeitpause plane ich mit meinen Kolleginnen unseren gemeinsamen Festival-Ausflug zu Fusion. Wir haben ein Wohnmobil gemietet, und nennen das Konzept: „Altern in Würde". Das Hippietum muss sich ja nicht zwangläufig am Duschen oder Nicht-Duschen festmachen. Auf dem Weg hören wir bestimmt u.a.:

https://www.youtube.com/watch?v=EShhs67O0BU

Freitag:
Der Bruder meiner Freundin I. ist aus Übersee zu Besuch und nutzt den Abend, um gemeinsam mit seiner musikalischen besseren Hälfte sein DJ-Kollektiv wiederaufleben zu lassen. Alle sind da - nur die 28 Grad plus nicht, die für Open-Air-Tanzen angemessen wären. Wir drängen uns um die brennenden Feuertonnen, nippen an unseren Drinks und wippen die Kälte weg. Um zwei steige ich aus und gehe lieber schlafen. Zu früh, wie ich am nächsten Tag vernehme. Das Beste kam zum Schluss, unter anderem wurde die Frage geklärt, wann in der musikalischen Auswahl der Rubikon des jeweils anderen DJ-Parts überschritten ist: Offensichtlich bei No Diggity.
https://www.youtube.com/watch?v=1ymZLKz7mac

Samstag:
Das mit dem Tanzen muss besser werden. Mit French Pop und Wein bereiten wir uns in der Küche von M. auf eines der nächtlichen Highlights der Stadt vor: Es ist Engtanzparty. Sämtliche Hipster werfen ihre ironische Distanziertheit ab, die Glitzerfummel über und alle Bedenken über Bord. Der Club ist voller Herzen und Konfetti und vom Band kommt nur das Beste der 80er und 90er. Wie ein niemals endendes La Boum winden sich verschwitzte Körper umeinander, die Hände in der Luft zu dem alle drei Stunden wiederkehrenden „Bed of Roses". Um sechs Uhr und bei schönster Morgenröte schallt uns unser persönlicher Farewell-Song "Ohne Dich" hinterher. Wir halten kurz inne und sehen uns selig in die rosigen Gesichter. Selbst wenn man beim Refrain kurz an die letzte verflossene Liebe erinnert wurde, nirgends in der Stadt glaubt man ganz unzynisch mehr daran, dass es immer eine Neue geben wird. Und auch sonst alles gut wird, irgendwie. Musikalisches Highlight des Abends:

http://vimeo.com/50677844

Sonstiges Highlight des Abends: Plötzlich stand der alte Mathe-Nachhilfelehrer auf der Tanzfläche vor mir. Passt ja auch ins Setting.

Sonntag:



Zu Ehren des besagten Bruders aus Übersee findet zum Abschluss der Woche noch ein mondänes Dinner statt. Allein das Arrangieren des Blumenschmucks dauerte Stunden, so hört man. Nach drei Gängen hängen alle Gäste selig in den Seilen. Ich schleppe mich mit letzter Kraft zu Fuß nach Hause, weit nach Mitternacht, und eigentlich auch nicht zu M83, aber das Plakat hing mir den Abend gegenüber.

https://www.youtube.com/watch?v=M2IPU05tZ2k
[seitenumbruch]
Gute Musik - was ist das für dich?
Gute Musik funktioniert vor allem darüber, dass sie mich irritiert, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad. Meinen jahrelangen vierhändigen Klavierunterricht (gegen die Langeweile und damit man nicht allein durch die Etituden muss) habe ich zum Beispiel eingestellt, weil mein Mitspieler T. anfing Jazz zu komponieren - und weder meine Hände noch mein Ohr folgen konnten - dafür traf ihn beim inbrünstigen Begleiten jetzt häufiger mein rechter Ellenbogen. Bei Medien generell finde ich: es gibt nichts Schlimmeres, als sich nicht drauf konzentrieren müssen, weil das Ergebnis so banal ist bzw gar keinen Charme hat.

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale?
Meist höre ich Musik jetzt über mein Handy. Mit Kopfhörern und genügend Speicherplatz ist das einfach praktisch. Bis ich zu Hause ausgezogen bin (also so vor 8 Jahren) hatte ich eine Minianlage, die ich unter anderem dann voll aufgedreht habe, wenn ich (in der Oberstufe) eine neue Musikexpress etc. mein Eigen nannte, da klebte vorne nämlich immer eine CD mit Indie-Neuerscheinungen drauf. Das war toll. Getriggert wurde diese Indieliebe sicher auch von meinem damaligen Lieblingsbuch: Soloalbum. Der weibliche Hauptcharakter trug meinen Namen und das Musikredakteursleben klang wild und funkelnd.

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen?
Ich höre Musik: Unterwegs, dann aber gemixt mit Podcasts, auf der Arbeit, denn nur dann kann ich mich konzentrieren - interessanterweise oft sogar laut, so eine Filterbubble scheint nicht nur ähnliche Ansichten zu produzieren, sondern auch konsensfähigen Musikgeschmack - zum Sport, denn nur dann halte ich nicht an beim Joggen. Und ansonsten ziemlich viel zu allen Gelegenheiten, zu denen man sich ohne weitere Tätigkeit - oder zumindest fast - in seiner Wohnung aufhält.

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst?
Dieses Phänomen hat sich bei mir schon mit dem Ende der Boyband-Ära eingestellt. Klar, ich mag Beirut und klar, ich mag Mumford&Sons und eh viel Singersongwriter-Kram, aber diese ganzen Bands funktionieren auch oft nach so einem vorhersehbaren Melodieprinzip, dass es schon fast wieder langweilig ist. Auch bei Konzerten ist mir schnell fad - da spielt ja immer nur eine Band.

Welche Musik magst du gar nicht und warum?
Ich mag eine ganze Menge Musik nicht, aber generell kann man das vielleicht am Phänomen Frank Farian oder so festmachen. Oft ist genau die Musik am schrecklichsten, die die Produzenten sich nach harter Analyse des Marktes ausgedacht haben, und nicht die Band. Kann man immer noch sagen „Aber das ist doch schöner POP!", aber ich finds nicht. Das hat ja dann gar nichts mit Gefühlen zu tun oder allem,was Musik sonst besonders macht.

Was war deine erste eigene Platte - und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
An meine erste Platte kann ich mich gar nicht erinnern, wohl aber an mein erstes Konzert. Das war Gentleman in einem rauchschwadigen Club in Bremen. Ich durfte allein mit einer älteren Freundin hingehen und wankte beseelt im bekifften Publikum zu Dem Gone usw., wie eine Palme auf Jamaica im karibischen Wind.
Dann - wie schon angedeutet - folgte relativ nahtlos die Indiemädchenphase, flankiert von Konzertbesuchen bei südamerikanischen Skabands. In meinem Gesicht ploppten an unterschiedlichen Stellen Piercings auf, ich färbte mir die Haare türkis (meine liberalen Eltern fanden nur, das schmeichele meinen grünen Augen) und mein erster Freund lieferte den Soundtrack zur Rebellion - oder das, was wir dafür hielten: Die gesammelten Werke von Metallica. Und System of a Down.

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt?
Ich geh nicht besonders oft auf Konzerte und es gibt auch selten welche, die mir im Gedächtnis bleiben. Zuletzt zum Beispiel von der höchsten Eisenbahn. Das ist sowas wie eine deutsche Supergroup aus lauter Indiehelden die schöne Sachen mit ihren Stimmen und Gitarren machen. Wenn, dann auch eher kleiner Club als großes Stadion. Sehr gerne mag ich auch Festivals. Man kann wie ein Goldschürfer de Spreu vom Weizen trennen. Und wenn man keine Lust mehr hat, verkriecht man sich ins Zelt oder spielt Trinkspiele.

Wie entdeckst du neue Musik und was ist deine neueste Entdeckung?
Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, dass ich gerade tatsächlich vor allem mit dem „Stöbern"-Button meines Streamingdienstes arbeite, also vollkommen dazu übergegangen bin, mich mit der Analogie-Decke einzumummeln „Wenn dir das Lied gefallen hat, könnte dir auch das gefallen" usw. Stimmt meistens auch, ist aber gelebte Monotonie. Ich habe mir vorgenommen, jetzt wieder mehr in Musikblogs etc. zu stöbern. Und klar, Freunde sind auch ein großer Einfluss. Egal wo ich was Gutes höre (auch in Cafés), ich frage, wie die Band heißt und notier es mir. Und habe es im Zweifel zu Hause schon wieder vergessen.
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