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Woher der Hass? Schlechtes Wetter

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Neulich vergaß die Tagesschau den Wetterbericht. Stattdessen war der Bildschirm einfach schwarz. „Wir bedauern sehr, dass die Tagesschau heute kein Wetter enthalten hat“, entschuldigte sich die ARD anschließend. Eine überflüssige Entschuldigung natürlich, weil ja auch der Wetterbericht völlig überflüssig ist: Neben dem Fernsehprogramm ist er die schlimmste Vergeudung von Zeitungszeilen, Sendeminuten und wertvollem Platz auf dem Infoscreen in der U-Bahn.

Man muss sich diese tägliche Nachrichtenroutine einmal in all ihrer Absurdität klarmachen: Der Wetterbericht teilt nicht nur mit, wie das Wetter morgen werden könnte, er verkündet oft sogar, wie das Wetter gerade im Moment ist. Am allerabsurdesten wird das im Radio, wo Moderatoren das Wetter nicht nur so oft, sondern auch so ortsgenau wie möglich berichten: 22 Grad gerade in Alzey, 24 hingegen schon in Bad Neuenahr-Ahrweiler, wo man Glück hat, und jetzt Daumen drücken, dass es auch in Pirmasens noch ein bisschen wärmer wird (19 Grad im Moment).  



Immer staatstragend und existentiell: Reden übers Wetter.


Eigentlich dürften sich nur Landwirte, Schiffskapitäne und begeisterte Hurrikan-Jäger für so haargenaue Informationen interessieren. Für alle andere müsste die Regel gelten, die der Schriftsteller Max Goldt schon vor vielen Jahren aufgestellt hat: “Wer wissen will, wie das Wetter ist, soll aus dem Fenster gucken. Wer wissen will, wie das Wetter morgen ist, möge morgen aus dem Fenster gucken.”  

Trotzdem gilt es in diesem Land als Bürgerpflicht, immer darüber Bescheid zu wissen, wie das Wetter gerade ist, vielleicht sogar sicher zu sein, dass es überhaupt noch Wetter gibt und nicht alles draußen nur noch schwarzer Bildschirm ist. Wetter ist ein deutscher Fetisch. Dabei sind die Präferenzen auch noch völlig verkehrt herum: Interessant ist Wetter ja, wenn es mal ordentlich blitzt, dass es einen zuhause vor dem Ofen gruselt. Oder wenn Sturzbäche an Regen runterkommen, dass man denkt: Jetzt wäscht der endlich mal den ganzen Unrat aus den Straßen der Stadt. Seltsamerweise gelten Gewitter und Regen aber als schlechtes Wetter, und bei schlechtem Wetter kriegen die Leute schlechte Laune. Wegen schlechtem Wetter wandern die Leute sogar aus Deutschland aus, obwohl es doch viele einleuchtendere Gründe gäbe, aus Deutschland auszuwandern.  

Sonnenschein hingegen ist beliebt, er steht für sogenannte Lebensqualität. Wie abhängig die Menschen vom Wetter sind, das zeigt allein schon dieses Wort. Es klingt nach Palliativmedizin, nach ernsten Gesprächen zwischen Arzt, Patient und Angehörigen, nach „nur noch wenige Monate“ und „das Einzige was wir noch tun können: die Lebensqualität erhalten“. Als sei ein bisschen weißblauer Himmel überm Starnberger See alles, was uns bleibt.  

Es geht um einen gefühlten Grundanspruch - und absolute Machtlosigkeit


Den deutschen Raussetzfimmel bei Sonnenschein und die Palliativmedizin zu vergleichen, das ist natürlich seltsam existenziell und staatstragend. Aber genauso ist der Umgang mit dem Wetter ja auch: seltsam existenziell und staatstragend. Vermutlich weil bei der Frage nach Regenwahrscheinlichkeiten und Sonnenstunden zwei Dinge zusammenkommen, die in ihrer Mischung Stoff für echten Hass sind: Auf der einen Seite das Gefühl, einen Grundanspruch auf etwas zu haben – wenn schon nicht auf Würde trotz Hartz IV oder Privatsphäre im Internet, dann wenigstens auf ein bisschen gutes Wetter. Auf der anderen Seite das Wissen, rein gar nichts dafür tun zu können, dass dieser Anspruch auch eingelöst wird. Denn was ist schon schicksalhafter als Wetter?  

Nichts. Das hat sogar das Landgericht Hannover einmal bestätigt, als es den Fall eines Touristen verhandelte, der Geld zurück wollte, weil das Wetter nicht so gut war. Die Klage wurde abgewiesen. Der Reiseveranstalter habe keinen Einfluss auf Naturereignisse wie schlechtes Wetter, stellte das Gericht fest (AZ: 1 O 209/07). Keiner hat da Einfluss, und das kann einen schon einmal in den Hass treiben. Da hilft nur Daumendrücken für Pirmasens.

Das ist so nicht ganz richtig

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Es gibt mehr als genug Dinge in meiner Vergangenheit, für die ich mich schäme. Aber einen ganz besonders großen Schämbatzen muss ich doch für all die falschen Überzeugungen aufbringen, die ich in meiner Kindheit und Jugend im Brustton der Überzeugung der Welt mitgeteilt habe. 

Ich war zum Beispiel so ungefähr von der sechsten bis zur neunten Klasse felsenfest davon überzeugt, dass das damals noch ubiquitär an Hauswände gekritzelte Anarchie-A etwas ganz anderes bedeutet, nämlich Arschloch. Weil, eh klar: Ein A in einem Kreis, das ist ein A in einem Loch, also ein A-loch. Logisch, oder?! 
 




Sobald ich diese detektivische Meisterleistung ganz allein erdacht hatte, informierte ich alle meine Mitschülerinnen, auf dass sie die Erkenntnis weiter verbreiten und die Menschen belehren könnten. Noch heute ist es mir ausgesprochen peinlich, dass Dani, Felicitas, Julia und Jessi von mir diese Fehlinformation bekamen und möglicherweise heute noch glauben, das A im Kreis bedeute etwas ganz anderes als es wirklich tut.  

Weitere Überzeugungen, die sich im Laufe der Zeit als unwahr herausstellten: „Kretschmer“ heißt gar nicht „Wirt“ auf Lateinisch. Der Dönerspieß ist gar nicht das ganze Bein einer Kuh, sondern Pressfleisch. „Pariser“(was für ein schönes, altmodisches Wort!) werden nicht ausschließlich von Prostituierten benutzt.  

Welche vermeintlichen Wahrheiten hast du in deiner Kindheit und Jugend verbreitet? Gibt es Freunde, Verwandte, Mitschüler, bei denen du dich eigentlich entschuldigen müsstest für massive Fehlinformationen? Tue es jetzt und hier im Ticker der falschen Kindheits-Überzeugungen.   

Tolles Material

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Die erste Botschaft war so ironisch, wie es die Twitter-Ästhetik vorschreibt: „Wir können weder bestätigen noch bestreiten, dass es sich hier um unseren ersten Tweet handelt.“ Die CIA, der amerikanische Auslandsgeheimdienst, der sonst größten Wert darauf legt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorzugehen, wandte sich am Freitag vor Pfingsten zum ersten Mal über Twitter und Facebook an eben diese Öffentlichkeit. Die Ankündigung wurde bis zum späten Montagnachmittag 279305 Mal weitergeleitet. Der Zähler der Follower stand bei 589 570.



„Wir können weder bestätigen noch bestreiten, dass es sich hier um unseren ersten Tweet handelt“, twitterte die CIA.

Bei der CIA ist man neuerdings sehr um das Image besorgt. Dabei ist der Niedlichkeitsfaktor ganz wichtig. Ein Angebot für Kinder gibt es schon länger, es fehlt nicht an nützlichen Informationen für Reisen in gefährliche Länder wie Deutschland und Ägypten, und der Hobby-Historiker wird auch bedient. Auf der Website www.cia.gov wird als „Artefakt des Monats“ der Schreibtisch präsentiert, an dem „Wild Bill“ Donovan, der erste Chef der CIA-Vorläufer-Organisation OSS, bis 1945 arbeitete. Dieses Artefakt ist demnach 168 Zentimeter lang, 92 tief und 78 Zentimeter hoch. Das ist zwar das Gegenteil von Aufklärung, aber trotzdem ganz nett.

Jetzt versprechen die geheimen Operateure „tolles freigegebenes Material“. Die Angehörigen der aus dem Militär hervorge-gangenen Behörde würden die Aktion bestimmt eine PR-Offensive nennen. Sie war zunächst sogar erfolgreich; die Schauspielerin Ellen DeGeneres lobte den „Sinn für Humor“ bei der CIA. Aber nicht alle fanden das Gezwitscher so lustig, zumal die neue Offenheit das Schweigen über so viele Verbrechen einschließt.

Der Schuss ging, um beim Militär zu bleiben, pfeilgrad nach hinten los, denn innerhalb von zwei Stunden war der Account @CIA mustergültig getrollt. Die New York Review of Books, Druckauflage (Stand 2011) nur 134 488, aber das Intelligenzblatt der linksliberalen Ostküste, jagte dem CIA-Tweet in rascher Folge die Links mit der Inhaltsangabe für zwei Artikel hinterher, die sich dem weniger offensichtlichen Wirken der CIA widmen. Mark Danner beschäftigte sich mit dem Bericht des Roten Kreuzes über die von der CIA eingerichteten black sites. Auch hier bekommt man genaue Abmessungen geliefert: die der blendend weißen Zelle, in der ein Häftling aufs Bett geschnallt wurde. David Cole berichtet über die illegalen Methoden, die mit dem Segen des Präsidenten angewandt wurden.

Für Matthew Howard, den Web-Chef der Zeitschrift, war es nur „eine kleine Geste des Protestes“. Er hatte sich darüber geärgert, dass die Netzgemeinde die erste Aussendung der CIA mit Instant-Lob wie „saukomisch“ und „phantastisch“ bedacht hatte und sich zu einer anderen Form von Offenheit entschlossen. „Auf die Weise wurden die Artikel von Mark Danner und David Cole von vielen Tausend Menschen gelesen, die vorher gar nicht wussten, dass es sie gibt“, sagte er der SZ. Auch schön: „Einige Leser haben sogar ihr Abo verlängert.“

Der Triumph, die CIA gleich bei ihrem ersten Ausflug ins Offene blamiert und die Internet-User an das erinnert zu haben, was von der CIA lieber nicht offen verhandelt wird, ist aber vielleicht doch nicht so berauschend, wie er zunächst aussieht. Dass die CIA jetzt auf Twitter ist, das sei doch keine Nachricht, meinte ein Kommentator, „da sind sie doch längst“. Schließlich hat die Behörde eingeräumt, dass sie den Nachrichtenverkehr in den sozialen Medien mit der Gründlichkeit eines Literaturkritikers mitliest.

Der abgeklärte Paranoiker ahnt, dass dem Geheimdienst durch die New York Review die Arbeit noch unfreiwillig erleichtert wird. Jedenfalls verbreiten vor allem jene die subversive Botschaft digital weiter, die die CIA und ihr klandestines Treiben kritisch sehen. Nie war es leichter, seine Feinde zu finden.

„Es ist beschämend“

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Ihre Heimat ist für sie gefährlich geworden: Mehr als die Hälfte der 1700 Menschen, die zeitweilig für die Bundeswehr in Afghanistan arbeiteten, fühlt sich – nun, da die Armee abzieht – bedroht. Aber Deutschland will nur knapp ein Drittel von ihnen aufnehmen. Von den ersten gut 100 ehemaligen Mitarbeitern, die mit Frauen und Kindern hier eingetroffen sind, erleben einige neue Not. Die SZ sprach mit dem ehemaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe.



Der ehemalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe auf dem Truppenübungsplatz Bergen.

SZ: Herr Robbe, die afghanischen Ortskräfte, insbesondere die Dolmetscher, haben der Bundeswehr unschätzbar wertvolle Dienste geleistet. Haben Sie den Eindruck, dass sich Deutschland für diese Dienste erkenntlich zeigt?

Robbe: Leider habe ich genau den gegenteiligen Eindruck. Diese Leute werden, wenn sie nach etlichen Hürden endlich bei uns eintreffen, nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten. Es ist wirklich beschämend, wie man sie mit ihren existenziellen Problemen allein lässt. Sei werden von Amt zu Amt geschickt, niemand hilft ihnen bei den ersten Schritten im fremden Land.

Sie reden von den Dolmetschern, die wegen ihrer Gefährdung nach Deutschland übersiedeln. Was genau ist das Problem?

Das Problem liegt in den unterschiedlichen Zuständigkeiten. Anstatt das Thema dem Verteidigungsministerium zuzuordnen und die Sprachmittler wie Angehörige der Bundeswehr zu behandeln, liegt die Zuständigkeit beim Innenministerium, und das überlässt die Leute sich selber.

Niemand kümmert sich um sie?

So ist es, leider. Es ist ein empörendes und unwürdiges Bild, das unser Land hier abgibt. Andere Länder wie die USA und Großbritannien machen uns vor, wie man so etwas verantwortungsvoll und menschenwürdig regelt. Leider haben wir das bisher nicht gelernt.

Dabei gibt es unter den Soldaten, die in Afghanistan waren, viele, die den Einsatz der afghanischen Ortskräfte außerordentlich zu würdigen wissen.

Ja, da ist ausschließlich große Anerkennung und Dankbarkeit, aber das wird auf der politischen Ebene offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Die Bundesregierung jedenfalls scheint sich für das Problem nicht zu interessieren. Ich bin maßlos enttäuscht. Verteidigungsministerin von der Leyen sollte sich persönlich dafür starkmachen, dass die Sprachmittler so schnell wie möglich Hilfe bekommen.

Die Ministerin ist gerade dabei, den Arbeitsplatz Bundeswehr attraktiver und sozialer zu gestalten. Ihr Eifer scheint sich aber auf die ehemaligen afghanischen Mitarbeiter nicht zu erstrecken.

Offenbar hat sie dieses Thema noch nicht erkannt. So wichtig es ist, für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen der Truppe zu sorgen, so sehr sollte Frau von der Leyen die afghanischen Ortskräfte im Auge haben. Die haben einen ebenso gefährlichen und wertvollen Einsatz geleistet wie unsere Soldaten.

Noch viel problematischer als die Lage der Ortskräfte hier ist die Lage derer, die bislang keine Erlaubnis bekommen haben, nach Deutschland auszureisen. In den Augen der Taliban sind das Kollaborateure. Spielt die Bundesregierung mit dem Leben dieser Menschen?

Zumindest muss die Frage erlaubt sein, ob diese bedrohten afghanischen Ortskräfte ihre Bedrohungssituation jeweils im Detail belegen und beweisen müssen, was ja angesichts der schwierigen Sicherheitslage kaum zumutbar ist. Man sollte sich schlichtweg auf deren Wort verlassen. Das ist nicht nur meine Meinung. Fast sämtliche Vertreter der Bundeswehr vom Gefreiten bis zum General, sehen es genauso. Alle, die im Einsatz waren und von den Ortskräften profitiert haben, sind sich einig, dass es zu einer Gleichstellung der Ortskräfte mit den Angehörigen der Bundeswehr kommen muss.

Weil das Leben dieser Männer und ihrer Familien auf dem Spiel steht?

In der Tat, und übrigens: Selbst wenn sie dann hier sind, gibt es keine hundertprozentige Sicherheit für sie. Wir wissen, dass die Möglichkeiten der Taliban weitreichend sind.

Was muss geschehen?

Ich bin der festen Überzeugung, diese Menschen sollten nicht nur den moralischen, sondern auch den verbrieften Anspruch darauf haben, dass sie hier Aufenthalt und eine ausreichende Unterstützung bekommen. Im Übrigen sind das hochgebildete Fachkräfte, die sehr schnell integriert werden können, wenn der Staat endlich die Voraussetzungen dafür schafft.

Empörung über Jean-Marie Le Pen

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Paris – In Frankreich hat der Gründer des rechtsextremen Front National (FN), Jean-Marie Le Pen, erneut mit einer als antisemitisch eingeschätzten Äußerung Empörung ausgelöst. In dem wöchentlichen Video des Ehrenvorsitzenden, das auf der Partei-Website veröffentlicht wurde, am Sonntag aber nicht mehr zugänglich war, ging es unter anderem um den Ex-Tennisspieler und Sänger Yannick Noah und den Sänger Patrick Bruel, der Jude ist.



Jean-Marie Le Pen mit seiner Tohter Marine Le Pen. Die Parteichefin grenzte sich von seinen Aussagen ab.


Die Interviewerin hatte den 85-jährigen Le Pen auf diejenigen angesprochen, „die geschworen haben, im Falle eines Wahlsieges des Front National ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und Frankreich zu verlassen“. Le Pen sagte: „Ah, das ist Herr Noah. Herr Noah hat sich verpflichtet, nicht mehr in Frankreich zu singen, wenn der Front National Wahlsieger wird. Die Abmachung gilt.“ Die Gesprächspartnerin erwähnte daraufhin Patrick Bruel, der die Partei ebenfalls kritisiert hatte. „Ja, das erstaunt mich nicht“, sagte Le Pen. „Wissen Sie, da machen wir das nächste Mal eine Ofenladung.“ Dies wurde weithin als Anspielung auf die Vernichtungslager der Nazis verstanden.

SOS Racisme erklärte, die Äußerung sei „ekelhaft“ und kein „Ausrutscher“, sondern zeuge von einem „vollkommen haarsträubenden antisemitischen Programm“; in den kommenden Tagen werde man Anzeige erstatten. Auch die Anti-Rassismusbewegung MRAP kündigte eine Anzeige an. Le Pen wies die Vorwürfe zurück. „Das Wort ’Ofenladung’, das ich benutzt habe, hat natürlich keine antisemitische Bedeutung, außer für politische Feinde oder Dummköpfe“, erklärte er.

Parteichefin Marine Le Pen grenzte sich von ihrem Vater ab. Zwar sei sie „überzeugt“, dass die Äußerungen des Parteigründers „böswillig interpretiert“ worden seien, sagte sie. Angesichts der „sehr großen Erfahrung“ ihres Vaters sei es jedoch ein „politischer Fehler“ gewesen, eine solche Interpretation nicht vorhergesehen zu haben. Der Vorfall erlaube ihr aber daran zu erinnern, dass der Front National „auf das Schärfste jede Form des Antisemitismus verurteilt“. Zuvor hatte schon ihr Lebensgefährte und Vize-Präsident der Partei, Louis Aliot, die Äußerung von Jean-Marie Le Pen als „dumm“ bezeichnet.

Der Front National war bei der Europawahl stärkste Kraft in Frankreich geworden. Jean-Marie Le Pen wurde bereits mehrmals wegen seiner Äußerungen verurteilt. So nannte er die Gaskammern der Nazis ein „Detail der Geschichte“.

Tagesblog - 10. Juni 2014

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17:49 Uhr: So, Feierabend. Entschuldigt bitte, dass es recht still war im Tagesblog. War bisschen unkonzentriert und dann dauert Kleinkram Stunden. Freut euch auf morgen, da bloggt für euch der hochkonzentrierte Super-Stremmel.

Und jetzt: geh ich heim! Los, kommt alle mit!
https://www.youtube.com/watch?v=QsztPqxokPM#t=24

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17:22 Uhr:
Hier endlich die Antwort auf die Frage "Warum reden die in der Redaktion mit Siri, der alten Langweilerin?" Und zwar hat erstmals ein Computer den Turing-Text bestanden, also in einem Chat mehr als 30 Prozent der Probanden vorgegaukelt, ein Mensch zu sein. Wir haben uns gefragt: Sind die Bots mittlerweile wirklich so gut? Und darum haben Jan, Jakob, Kathrin und Chris ein paar von ihnen heute den ganzen Tag lang Fragen gestellt. Zum Beispiel, ob sie Gras kaufen möchten oder ob's schon spät genug für ein Bier ist. Schnell hier die Antworten nachlesen und viel lachen!
Mit dabei am runden Bot-Tisch war übrigens Albot von der Uni Köln, für den meine liebe Freundin C. schon lange schwärmt. Und auch dabei: die nette Kathi-Illu:




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16:38 Uhr:
Charlotte ist diese Woche Kosmoshörer. Und erzählt vom Baden im See und dem Sommerpfingstausflug nach Polen. Schön! Also bitte lesen und anhören. Und hier ein noch schöner musikalischer Teaser:
http://www.youtube.com/watch?v=7pwTmu2-YGU#t=55

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15:53 Uhr:
In der jetzt-Redaktion sind alle über die Künstlersozialkasse versichert - und jeder kann eine Geschichte vom Antragschaos und überhaupt den vielen Versicherungswirren nach dem Studium und beim Jobeinstieg als Journalist erzählen. Für alle, die demnächst freischaffende Publizisten oder Künstler sein wollen, gibt es jetzt auf der Startseite einen Eintrag im Lexikon des guten Lebens, der das System KSK und den Antrag erklärt. Hätte ich den mal früher gelesen.


Hand eines KSK-versicherten Künstlers

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15:31 Uhr:
Jakob hat grade Siri gefragt, ob sie ein bisschen Gras kaufen möchte. Sie hat dazu keine Meinung. Und später erfahrt ihr, warum er das gefragt hat. Aber jetzt noch nicht. *Spannungsaufbau*

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14:43 Uhr:
Bald ist WM-Start und es gibt wieder ein Kosmos-Tippspiel, hat Digital_Data eben verraten. Wer tippen will, bitte hier entlang.

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13:46 Uhr:
Mittagspause vorbei, Käse war gut, gibt aber kein Foto, weil Handy im Büro vergessen.

Dafür hier ein kleiner Hinweis auf "Bungalow 89" - eine Kurzgeschichte, die James Franco für Vice geschrieben hat. In der es darum geht, dass der Ich-Erzähler, ein "Hollywood guy", NICHT mit einer jungen Frau schläft, die ZUFÄLLIG Lindsey Lohan heißt. Außerdem liest er ihr aus "Nine Stories" von Salinger vor, was natürlich eine äußerst gute Vorlesewahl ist.

Also, kann man mal lesen. "Every night Lindsay looked for me, and I hid. Out the window was Hollywood."

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12:33 Uhr:
Sagt mein Handy: Eilmeldung. Sagt die Eilmeldung: "Gauck darf NPD-Anhänger 'Spinner' nennen". Sagen wir: Hah!

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11:47 Uhr:
ICHWILLSOFORTINDIEKANTINEESGIBTGEBACKENENSCHAFSKÄSE!

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11:43 Uhr:
Der gute alte Brüsseler Platz in Köln. Ist hart umkämpft. Unter Feiernden und Anwohnern. Und unter Kiosbesitzern. Jens Tönnesmann hat für uns aufgeschrieben, was da genau los ist. Und wir glauben: Ungefähr so läuft es sommers in vielen größeren Städten ab. In München zum Beispiel auf dem Gärtnerplatz.


Darauf ein kühles Kioskbier!

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11:13 Uhr:
Ich fühle mich gerade von John Green verfolgt. Das ist der Autor des Buches "The Fault in Our Stars", in der deutschen Übersetzung "Das Schicksal ist ein mieser Verräter". Am Donnerstag läuft die Verfilmung in den deutschen Kinos an, schon seit Wochen begegnet er mir und dauernd höre und lese ich was von einem Fankult und von weinenden Teenagern. Neulich war ein riesiges Green-Porträt im SZ-Magazin und im New Yorker wurde grade auch noch mal erklärt, wie er zu so vielen Fans kommt. Kennt jemand das Buch? Ich kenn ja nur den groben Plot (zwei krebskranke Teenager verlieben sich und lernen, das Leben neu zu lieben) und finde den unfassbar kitschig. Oder ist das dieser "Tagebuch für Nikolas"-Effekt? Das habe ich mit Anfang 20 mal als Einschlaf-Hörbuch angehört und fand es unerträglich, habe am Ende aber doch geheult. Ebenso übrigens jedes Mal bei "Während du schliefst". Zefix!

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09:59 Uhr:
Gleich sofort haben wir Themenkonferenz, aber vorher noch schnell ein bisschen Lesestoff und ein paar Nachrichten für euch:

- Im Ticker erzählt Christina heute eine sehr lustige Geschichte aus ihrer Kindheit, die was mit dem Anarchie-A und ihrer Interpretation davon zu tun hat - und fragt: Welche deiner Kindheitsüberzeugungen war falsch?

- Bilanz nach dem Tag der Organspende am vergangenen Samstag: Weniger Menschen spenden Organe - aber auch weniger warten auf welche. Wahrscheinlich, weil die Ärzte nach dem Skandal nicht mehr so schnell zu einem Spenderrgan raten wie früher. Dazu direkt mal eine Frage: Habt ihr einen Spenderausweis?

- Boko Haram hat in Nigeria mindestens 20 weitere junge Frauen entführt.

- Immer noch in der Diskussion: der Mindestlohn für Praktikanten. Karin Janker hat ihn in der heutigen SZ noch mal eingehender analysiert. Und ich möchte noch mal auf unseren Tumblr "Was Praktikanten verdienen" verweisen, der anonym Praktikumserfahrungen sammelt. Er füllt sich. Und jeder kann mitmachen.

- Und laut Lars "jetzt schon die traurigste Meldung 2014": In Paris ist ein Brückengeländer unter der Last der dranhängenden Liebesschlösser zusammengebrochen.

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09:05 Uhr:
Guten Morgen jetzt.de! Da ich gerade sehr überraschend zum Tagesblogger nominiert wurde (in die Redaktion gekommen, schwupp, war ich dran - normalerweile weiß man mindestens einen Tag vorher Bescheid), habe ich heute leider kein (Guten-Morgen-)Foto für euch. Dafür aber geil gute Sommerlaune und in wenigen Minuten mit Sicherheit auch ein kleines Nachrichtenupdate. Bis gleich!

Lernort und Nothilfe

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Als Sozialunternehmer ist er mal ausgezeichnet worden, und man merkt Michael Stenger an, dass er das damals recht komisch fand. Es ist doch eine Schule, die er aufgebaut hat, „Schlau“ nennt sie sich und ist nur für junge Flüchtlinge da. Er und Unternehmer? Er erzählt gerade noch von der Aufregung in der Schulszene, weil seine Münchner Einrichtung jetzt auch noch für den Deutschen Schulpreis nominiert war, da klingelt das Telefon. Eine Kollegin aus dem zweiten Stock. Eilig, sehr eilig. Ob sie sein Auto haben könne. Sie muss schnell zu einem Schüler. Geht ihm nicht gut. Suizidgefahr. Michael Stenger erschrickt, aber bleibt sitzen. Früher, erzählt er, wäre er bei so einem Notfall gleich selbst gestartet, er war immer und überall in der Schule, er hat sie ja auch gegründet, vor 14 Jahren war das. Sie ist nicht nur ein Lernort, Schlau ist fürs Leben da. Hilfe in Not inklusive.



Ifeanyi aus Nigeria besucht gemeinsam mit etwa 220 anderen Flüchtlingen die SchlaU-Schule.

So wie jetzt, um 16.40 Uhr. Eigentlich gleich Feierabend. Keine Frage, dass jemand zu dem Schüler fährt, keine Frage, dass der Chef sein Auto hergibt, „wir lassen ihn auf keinen Fall alleine“. Stenger fingert den Autoschlüssel von seinem Schlüsselbund, die Kollegin stürmt zur Tür herein, es ist jetzt nicht die Zeit für viele Worte. Ist es wirklich der?, fragt Stenger. Ja, der. Er kennt den Schüler und mag es gar nicht glauben, der Junge wirkte doch so stabil. Ist es wieder die Angst vor der Abschiebung? Sie muss ihn in dieses Tief gezogen haben, vermutet Stenger. Er, der große, starke Mann mit den mächtigen Haaren, spricht jetzt ganz leise.

Die Schlau-Schule ist jetzt von der Robert-Bosch-Stiftung im Rahmen des Deutschen Schulpreises mit dem „Preis der Jury“ ausgezeichnet worden, auch wegen dieses sozialen Engagements. Stenger hat Schlau gegründet, weil junge Flüchtlinge, viele von ihnen ohne Eltern, sprachlos im fremden Land und oft traumatisiert, im normalen Schulbetrieb keine Chance hätten. „Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge“, so nennt sich die Schule ausgeschrieben. Klingt bürokratisch – ist aber sehr lebendig und intensiv. Weil die Klassen so klein sind, mit maximal 16 Jugendlichen, weil Lehrer und Sozialpädagogen sehr individuell mit den jungen Leuten arbeiten, die aus der ganzen Welt kommen. Und so schlägt es aufs Schulleben durch, wenn die Politik in Berlin irgendein Land in Afrika oder Asien für sicher erklärt – und abzuschieben beginnt. Aktuell nach Senegal zum Beispiel, oder nach Afghanistan. Das bringt die jungen Flüchtlinge, die sich gerade mühsam stabilisiert haben, oft völlig aus dem Tritt. Warum sollen sie sich bei diesen Aussichten eine Perspektive in Deutschland erarbeiten? Diese Zweifel fordern die Sozialpädagogen bei Schlau, allesamt Experten im Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen.

Wieder klingelt Stengers Telefon. Kommando zurück. Der Schüler, zu dem sie gerade aufbrechen wollten, sitzt in der S-Bahn auf dem Weg in die Schule, sie haben ihn gerade erreicht. Die größte Gefahr ist gebannt, Stenger kriegt seinen Autoschlüssel zurück. „Hätten sie die Angst vor der Abschiebung nicht, unsere Leute könnten noch viel besser lernen.“

Der Schulgründer hat sich im vergangenen Jahr aus der operativen Leitung der Schule zurückgezogen, das machen jetzt Antonia Veramendi und Melanie Weber. Stenger sieht sich inzwischen als „Flüchtlings- und Bildungslobbyist“ und sagt, er müsse aufpassen. Dass die Kollegen in den Regelschulen ihn nicht als Besserwisser wahrnehmen, wegen seiner Erfolgsquote. Etwa 95 Prozent der Schlau-Schüler schaffen den Hauptschulabschluss. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Bosch-Stiftung Schlau jetzt 25000 Euro Preisgeld zukommen lässt. Durch engagierte Begleitung der Schüler, weit über den Abschluss hinaus, schaffe es die Schule, jungen Flüchtlingen eine Perspektive zu eröffnen, schreibt die Jury. Die Lehrer, geschult im Umgang mit Deutsch als Fremdsprache, haben ihr Unterrichtsmaterial selbst erstellt; die üblichen Bücher taugen nicht für Jugendliche, die in kürzester Zeit neben dem üblichen Stoff auch die Sprache lernen müssen. Mehr als 1500 Schüler haben Schlau durchlaufen. Derzeit besuchen gut 220 Jugendliche die Einrichtung in der Münchner Innenstadt. Zwei Drittel der Lehrerkosten finanziert der Freistaat Bayern.

Nelson Osakue, 21, aus Nigeria, und Mohammad Omar Rahmatyar, 19, aus Afghanistan, sind letztes Jahr dazugekommen. Sie mussten nicht, wie viele andere, erst in eine Alphabetisierungsklasse, sie hatten schon viele Jahre in der Heimat die Schule besucht. Nach wenigen Monaten sprechen sie gut Deutsch. Und in einem Jahr wollen sie Berufe erlernen. Osakue will Bankkaufmann werden und später am liebsten Mathematik studieren, Rahmatyar will werden, was sein Vater ist: Arzt. Davor eine Ausbildung als Krankenpfleger. Osakue lebt in Olching bei München in einem Asylheim in einem Zweier-Zimmer. Optimal ist das nicht, wenn er sich zum Lernen konzentrieren muss. Und weil er nur geduldet ist in Deutschland, dürfte er im Sommer eigentlich gar nicht mitfahren mit seinen Schulkameraden. Wie jedes Jahr werden sie auf die Zugspitze wandern. Osakue darf Stadt und Landkreis München nur mit amtlicher Erlaubnis verlassen, „Residenzpflicht“ nennt sich das.

Klar, Schlau wird sich darum kümmern, wie so oft. Nelson Osakue sagt in seinem Deutsch, das von Tag zu Tag besser wird: „Ich finde Schlau-Schule wie ein Eltern.“

Von Bernd Kastner

Mindestlohn nach sechs Wochen

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Wenn es nach Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) geht, wird das Gesetz zum Mindestlohn – wenn überhaupt – nur noch in Details verändert. Teile der Union fordern dagegen weitere Änderungen, Diskussionen gibt es vor allem um die geplanten Ausnahmen vom allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Dabei geht es neben Auszubildenden und Langzeitarbeitslosen um viele Studenten, die Pflichtpraktika absolvieren. Insgesamt sei der Gesetzentwurf aus Sicht der Hochschüler ein „positives Signal“, sagt Reinhard Bispinck, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.



Sie bilden das Gros der Praktikanten und finanzieren sich häufig durch Minjobs: Die Studenten.

Wer als Student eingeschrieben ist, den betrifft der geplante Mindestlohn sogar mehrfach: Einerseits bilden Studierende das Gros der Praktikanten. Andererseits finanzieren gerade Studierende ihr Leben häufig durch Minijobs. Für Letztere wird Nahles’ Plänen zufolge vom kommenden Jahr an der Mindestlohn fällig. Für den klassischen 450-Euro-Job beispielsweise in der Gastronomie könnte das bedeuten, dass die zu leistende Stundenzahl geringer wird, um weiterhin unter der 450-Euro-Grenze zu bleiben. Oder aber, dass manche Minijobs zu sogenannten Midijobs aufgewertet werden. Hier liegt das Gehalt zwischen 450 und 850 Euro pro Monat, und der Arbeitgeber zahlt einen verringerten Sozialversicherungsbeitrag.

Unter den Praktikanten könnten Hunderttausende von der Neuregelung profitieren. Der Hans-Böckler-Stiftung zufolge machen fast 20 Prozent der Hochschulabsolventen nach dem Studium ein Praktikum, das durchschnittlich vier bis fünf Monate dauert. Die Studie, die Boris Schmidt von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin für die Stiftung erstellte, ergibt außerdem, dass 40 Prozent der Praktikanten für ihre Tätigkeit kein Geld bekommen. Der Rest verdient durchschnittlich 3,77 Euro pro Stunde, also weit weniger als den vorgesehenen Mindestlohn. Das soll sich ändern – vor allem dann, wenn die Praktikanten eigentlich eine reguläre Arbeitskraft billig ersetzen.

Ausnahmen vom Mindestlohn soll es nur geben, wenn das Praktikum in der Studienordnung verpflichtend vorgeschrieben ist. Bei einem Praktikum, das begleitend zu einer Berufsausbildung absolviert wird, ist bis zu einer Dauer von sechs Wochen kein Mindestlohn vorgesehen. Danach allerdings sind 8,50 Euro pro Stunde fällig. Das gleiche gilt für Orientierungspraktika vor oder nach dem Studium: Auch hier sind die ersten sechs Wochen vom Mindestlohn ausgenommen.

Unternehmen und Branchenverbände kritisieren die geplanten Regelungen und warnen vor dem Verlust von Praktikumsplätzen. „Die Pläne werden nach jetzigem Stand dazu führen, dass freiwillige Orientierungspraktika von Unternehmen so gut wie nicht mehr angeboten werden, weil sie zu teuer sind“, sagte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) verlangt, dass freiwillige Praktika nach dem Studium vom Mindestlohn ausgenommen werden. Auch Unionspolitiker fordern Änderungen: Leidtragende wären Nachwuchskräfte, die parallel zum Studium Praxiserfahrung suchten, warnte der Chef der Mittelstandsvereinigung der Union, Carsten Linnemann. Reinhard Bispinck von der Hans-Böckler-Stiftung hingegen erwartet, dass durch das Gesetz der Missbrauch von Praktikanten als billige Arbeitskräfte zurückgedrängt werde. Die Abstimmung über den Gesetzentwurf ist für den 4.Juli geplant.

Details zum Mindestlohn für Studenten unter www.sz.de/faq-mindestlohn

„Antworten, auch wenn die Haare schlecht sitzen“

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Es geschah während der Finanzkrise. Eine Bank nach der anderen brach zusammen, Lisa Kassenaar berichtete als Reporterin für die Finanznachrichten-Agentur Bloomberg von der Wall Street. Da sei ihr plötzlich aufgefallen, dass ihre Ansprechpartner nur Männer waren, erzählt sie. Und nicht nur ihr, sondern auch ihren Chefs. Seit vier Jahren darf sie sich deshalb Editor at large for global Women’s coverage nennen. Das Ziel: Frauen sollen in der Berichterstattung von Bloomberg als Quellen einen größeren Platz einnehmen.



Irene Natividad (mitte) ist die Gründerin des Global Summit. Sie schneidet allen das Wort ab, die meinen, es gäbe nicht genügend Expertinnen.

Es ist ein Phänomen, von Studien belegt: 20 Prozent oder weniger aller Befragten, die im Fernsehen, im Radio oder beispielsweise auf der Titelseite der New York Times zu Wort kommen, sind Frauen. „Die Stimmen von Frauen werden nicht gehört“, sagte Monica Smiley, Gründerin des US-Magazins Enterprising Women, das eine Million Leserinnen in aller Welt hat. Auf dem Global Summit of Women in Paris war das ein wichtiges Thema. Denn: Kommen Frauen nicht prominent vor, werden sie auch von anderen nicht um ihre Meinung gebeten. Außerdem fallen sie als Vorbilder aus.

Verstärkt wird das durch das Handtaschen-Problem: Als sie neu im Amt und auf ihrem ersten Staatsbesuch gewesen sei, hätten alle nur darüber diskutiert, ob sie eine zu große Handtasche getragen habe, erzählt Finnlands ehemalige Präsidentin Tarja Halonen. Wenn Medien über Frauen berichten, geht es tatsächlich immer noch um den Ausschnitt, die Augenringe, die Farbe der Jacke; Angela Merkel hätte dazu viel zu berichten. Dabei gibt es viele Expertinnen. Sie machen sich nur nicht ausreichend sichtbar. Das sagt auch Anne-Cécile Sarfaty, Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Elle: „Wenn Männer ein Buch geschrieben haben, betrachten sie sich noch 15 Jahre später als Experte zu einem Thema.“ Frauen hingegen äußerten sich erst, wenn sie glaubten, wirklich alles an einer Sache zu verstehen.

Bloomberg hat für seine 2400 Mitarbeiter deshalb folgende Vorgaben entwickelt: Erstens sollen die Reporter mehr Frauen als Quellen und Zitatgeber nutzen. Zweitens sind sie verpflichtet, die wichtigsten Frauen der Branche zu kennen, über die sie berichten. Dies habe zum Beispiel einem Reporter sehr genutzt, als der Autokonzern General Motors plötzlich mit Mary Barra eine Chefin bekam. Drittens richtet Bloomberg mit hilfe seiner Leser eine Datenbank mit Expertinnen ein, um immer genug Frauen für Konferenzen aufbieten zu können. Und viertens wird darüber geschrieben, wenn Konzerne allzu männlich daherkommen. „Kollegen holen sich bei mir auch Rat“, sagt Kassenaar.

Cassandra Kelly, Gründerin und Vorstandsvorsitzende des australischen Finanzberatungskonzerns Pottinger, hat ein einfaches Mittel gefunden, um Druck auszuüben. „Wenn ich zu einer Konferenz eingeladen bin, sage ich immer, ich komme nicht, wenn keine anderen Frauen auf dem Podium sitzen“, sagt sie. Dies wirke, weil sie sehr gefragt sei.

Das beste Mittel sei aber immer noch Geld, sagt Anna Serner, Vorstandschefin des Schwedischen Film-Instituts. Als sie ihr Amt angetreten habe, sei sie entsetzt darüber gewesen, wie schlecht Frauen in Filmproduktionen repräsentiert waren. Filmförderung sei jedoch ein mächtiges Instrument. „Die Firmen finden plötzlich Frauen, weil sie unser Geld wollen“, sagt Serner. Seit dem Jahr 2000 habe sich zum Beispiel der Anteil der Filme mit Drehbuchautorinnen verdoppelt, der mit Produzentinnen sei um ein Drittel gestiegen. „Verpassen Sie niemals eine Gelegenheit, um sich sichtbar zu machen“, lautet der Ratschlag von Elle-Chefredakteurin Sarvaty. Frauen hätten oft mit Beruf und Familie so viel zu tun, dass sie glaubten, die Zeit für Interviews könnten sie sich sparen. Aber dies sei ein Fehler. Also nicht zweifeln, nicht erst noch ein weiteres Buch lesen wollen. Und auch nicht auf den Friseurtermin warten. Wie Brigitte Gresy, Mitglied der französischen Gleichstellungskommission es formuliert: „Wir müssen immer antworten, wenn die Medien anrufen, auch wenn unsere Haare gerade schlecht sitzen.“

Irene Natividad, Gründerin des Global Summit, schneidet übrigens allen das Wort ab, die meinen, es gebe schlicht nicht genügend Expertinnen. „Es gibt nicht nur genug Frauen, es gibt herausragende Frauen im Überfluss“, sagt sie.

Der große Graben

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Nimm dir Zeit für einen Milchkaffee im "Le Kiosk", frag die Kunden, und du verstehst das Problem am Brüsseler Platz. Sprich mit Dieter, der seit 25 Jahren hier wohnt, Lederjacke und schulterlange Haare. Stammkunde, Espresso morgens um neun. Er gibt dem "Egoismus der jungen Leute" die Schuld an dem ganzen Stress, dem Lärm, dem Müll. "Weil die meinen, der Platz gehöre ihnen wie überhaupt die ganze Welt."

Sprich mit Jörg, Regisseur und Theaterpädagoge, der seit fast 20 Jahren hier wohnt. Der beim Morgenkaffee erzählt, dass es doch das gute Recht der jungen Leute ist, "sich abends mit ’ner Pulle auf den Platz zu stellen". Der sich ärgert, dass die Stadt den Platz privatisiert, indem sie Gastronomen mehr Raum für Tische und Stühle gibt – damit weniger Platz da ist für Leute, die einfach nur mit einem Bier in der Hand herumstehen wollen. Und der sich zu der "schweigenden Mehrheit der Nachbarn" zählt, die mit dem Lärm kein Problem hat.



Wo endet das Recht, sich nett zu unterhalten, und wo beginnt das Recht auf Nachtruhe? Auf dem Brüsseler Platz in Köln entbrennt seit Jahren jeden Sommer ein Streit zwischen Anwohnern, Jugendlichen, Gastronomen...

Dann triff Heike Rader, die mit ihrem Mann seit 1997 hier wohnt und das Haus mit dem Kiosk besitzt. Die Raders haben Kinder und einen Hund und ein Schlafzimmer nach hinten raus. Die Familie fühlt sich hier wohl und lebt gerne am Brüsseler Platz.

Seit gut einem Jahr verdienen die Raders daran, vermutlich sogar ganz gut: Sie haben den Kiosk im Erdgeschoss übernommen, was manche ärgert und andere freut. "Le Kiosk" haben sie ihn getauft. Das klingt französisch-chic, denn wir sind hier im Belgischen Viertel, wo die Straßen nach Städten in Belgien benannt sind und kreative Köpfe gerne in lichte Altbauetagen ziehen. Und es klingt nach einem Statement: Le Kiosk – der Kiosk schlechthin.

Le Kiosk ist nur eins von Hunderten Büdchen in Köln, aber ein besonders bekanntes. Klein wie ein Kiosk halt ist, aber doch groß genug, um kastenweise Getränke zu lagern. Zwar hat der Kiosk auch Limo, Säfte und Mate-Eistee im Angebot und brüht Latte Macchiato und Chai Latte – aber der Renner ist kühles Bier, vor allem im Sommer. Dann verkauft es sich so gut, dass manche Anwohner dem Kiosk die Schuld an der größten und längsten und lautesten Open-Air-Party der Stadt geben.

Tagsüber ist auf dem Platz eher wenig los: Vor der Kirche spielen Kinder. "Lena-Caroline", fragt ein Vater mit Bartansatz, "rutschen oder mit Mama zum Yoga"? Ein Taxistand, dazwischen Blumenbeete, Bäume, Bänke – ein kleiner Park vor einer großen Kirche. Drum herum: Das Bio-Restaurant "Guten Abend", die Szene-Bar "Hallmackenreuther" und das Törtchen-Café "Miss Päpki" – alles eher chic, trotzdem bezahlbar.

Soweit, so ruhig. Aber am Rand des Platzes stehen ein Urinal und eine Warntafel der Stadt, die an die Nachruhe ab 22 Uhr erinnert, Wildpinkeln untersagt und alle Besucher auffordert, den Platz um 24 Uhr zu verlassen. Denn an lauen Sommerabenden sammeln sich die Leute auf dem Platz und schieben sich in langen Schlangen in den Kiosk hinein und wieder hinaus, in den Händen Flaschen.

Niemand hat die lärmenden Menschen eingeladen - wer ist also verantwortlich?



Nachschub für draußen auf dem Platz, wo sie dann zu Hunderten stehen, hocken, sitzen. Lachen, singen, quatschen. Flaschen ploppend öffnen, Flaschen klongend aneinander stoßen, Flaschen klirrend fallen lassen. Und wo dann aus all den Silben, den Lachern, dem Klongen und Klirren ein "Lärmteppich" entsteht, wie Experten es nennen, der sich über den Platz legt und von den Fassaden und Kirchtürmen aufgeplustert wird. Wo es dann im fünften Stock lauter ist als auf dem Platz selbst. Lauter als unten zwischen der Kirche St. Michael, dem Kiosk und dem Taxistand, wo sich für die Leute mit den Flaschen alles einfach nur nach einem netten Abend anfühlt.



...und zwei konkurrierenden Kioskbesitzern.

Leute wie Nuria und Ron, Fabian und Volkan, Konrad und Astin, alle zwischen 15 und 17 Jahren alt. Sie sind abends oft hier, um "zu chillen", weil es halt ein "superkrasser Szeneplatz" ist, wie sie sagen. Heute sitzen sie auf der Bank, gleich vor der Kirche, von wo man den Kiosk sehen kann. Sie mögen den Platz, weil er zentral liegt und trotzdem gemütlich ist – und weil hier eben auch ihre Schulfreunde abends hingehen. Sie können verstehen, dass die Anwohner ihre Ruhe wollen, jedenfalls ab Mitternacht. Aber sie haben kein Verständnis für die Reaktionen mancher Nachbarn: "Wir wurden schon mal um neun Uhr abends mit Gemüse und Eiern beworfen, weil die sich gestört fühlten", sagt Ron Fleisher, der mit Skateboard unterwegs ist. Fragt man ihn, wem der Platz gehört, hat er eine ziemlich treffende Antwort: "Der gehört allen und keinem."

Seit einigen Jahren sorgt die Suche nach Antworten auf solche Fragen für Konflikte: Wem gehört ein öffentlicher Platz eigentlich? Wo endet das Recht, sich abends draußen nett zu unterhalten – und wo fängt das Recht auf Nachtruhe an? Und wen kann man verantwortlich machen, wenn es niemanden gibt, der die Menschen eingeladen hat?

Die Stadt kann diese Frage alleine nicht mehr beantworten. "Der Platz ist öffentliches Straßenland, in Teilen Grünfläche und auch Spielplatz", sagt Robert Kilp, Leiter des Ordnungsamts. Jeder darf sich darauf aufhalten und tun was er möchte, solange er nicht die Rechte anderer verletzt. Aber gegen Herumstehen und Reden kann man eben nichts tun, kein Bußgeld verhängen.

Als "Quelle des Lärmübels" hat die Kölnische Rundschau im Jahr 2012 den Kiosk ausgemacht. Damals betrieb den noch Shirin Shaghaghi. Der für Ordnung zuständige Dezernatschef bei der Stadtverwaltung hat sie einmal als "Mitverursacherin des Lärms" bezeichnet. Shaghaghi hat den Kiosk im Jahr 2005 von Heike und Reinhard Rader gemietet, zu einer Zeit, als der Lärmteppich auf dem Brüsseler Platz noch so dünn war wie eine abgetretene Fußmatte. Auf dem Platz war wenig los, und manche Anwohner fürchteten sich davor, ihn bei Dunkelheit zu überqueren, weil manchmal ein paar halbseidene Gestalten zwischen den Blumenbeeten abhingen und morgens Spritzen neben den Mülleimern lagen.

Dann kam dem Weltjugendtag 2005, bei dem es auf dem Platz vor der Kirche ein Bühnenprogramm gab. Und dann die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die man in den Bars rund um den Platz auf Bildschirmen verfolgen konnte. So entwickelte er sich in den Sommermonaten zum Treffpunkt. Im Jahr 2008 beklagten die ersten Anwohner den Lärm und forderten auf einer Bürgerversammlung die Polizei auf, konsequenter gegen das "Gesocks" einzuschreiten, damit die "guten Bürger" nicht wegziehen. Sie schlugen vor, den Platz ab einer gewissen Zeit zu sperren und den Laden von Shaghaghi durch eine Bürgerinitiative zu übernehmen.

Die Kioskfrau wehrt sich - und die Lokalzeitung schreibt vom "Büdchen des Bösen"



Die Stadt reagierte, wie eine Stadt reagiert, die keine Antwort weiß: Sie schaltete einen Mediator ein. Detlev Wiener, Experte für Konflikte in Unternehmen. Sein offizielles Ziel: "Ermöglichung eines urbanen Lebens auf dem Platz mit möglichst geringen negativen Randerscheinungen". Für den Streitschlichter ist der Brüsseler Platz "ein zugespitzter Eisberg, auf dem alles kumuliert". Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten und aus verschiedenen Generationen treffen hier aufeinander; manche stehen früh auf, andere spät; für manche fängt der Abend erst an, wenn er für andere schon beendet ist. "Städtebaulich ist das eine riesige Herausforderung", sagt Wiener. Nicht nur in Köln übrigens, sondern in vielen Großstädten. "Es müsste viel mehr solcher Plätze geben, dann würde sich die Lage auf jedem einzelnen entspannen."

Wiener sprach mit Anwohnern, Gastronomen und den Platzbesuchern. Er fand heraus, dass die Besucher im Schnitt 28,7 Jahre alt sind und mehrheitlich aus der näheren Umgebung hierher kommen; jeder Zweite mindestens einmal in der Woche. Wiener startete einen runden Tisch und erarbeitete seitenweise Vorschläge – dennoch änderte sich an der Situation wenig. Die Stadt erließ eine sogenannte Ordnungsverfügung, um den Kiosk dazu zu zwingen, ab 23.30 Uhr keinen Alkohol mehr zu verkaufen. Die Kioskbetreiberin wehrte sich gegen die Schikane – ohne Erfolg. Prompt stempelte die Lokalzeitung ihren Laden zum "Büdchen des Bösen".

Shirin Shaghaghi, die vermeintlich Böse, ist eine 35-jährige Frau, die an Herzlichkeit kaum zu übertreffen ist. Wer sich einen Kaffee lang mit ihr unterhält, über ihren alten Kiosk am Brüsseler Platz und den neuen 250 Meter weiter, der verlässt sie nicht ohne eine Umarmung und den Gedanken, wiederzukommen. "Meine Kioskphilosophie", sagt Shirin Shaghaghi, "ist Liebe."

Manche Anwohner am Brüsseler Platz haben diese Liebe nicht erwidert, sie haben den Kiosk gehasst. Viele ihrer Stammkunden vom Brüsseler Platz wiederum sind der Liebe gefolgt, als die Raders den Mietvertrag im vergangenen Jahr ausliefen ließen und Shaghaghi einen neuen Laden eröffnen musste.

Klaus-Dieter, der Taxifahrer zum Beispiel. Er geht mit geübten Schritten zum Kühlschrank, "Carpe Diem", was zum Wachwerden. Das hat er schon gemacht, als Shirin ihren Kiosk noch am Brüsseler Platz hatte, gleich neben dem Taxistand. Heute fährt Klaus-Dieter eben bei Shirin vorbei. "Shirin, komm mir nicht näher", sagt Ingo und deutet auf seinen Schal, "habt ihr Aspirin?" Nimm Kaffee, sagt Shirin, und umarmt ihn fest. Und Asin sagt gar nichts. Er drückt Shirin einfach einen Kuss auf den Hinterkopf.

Ihre Passion hat Shirin Shaghaghi mit 18 entdeckt. Da stand sie zum ersten Mal hinter einer Büdchentheke. Ihr Chef erklärte ihr, wie man Bestände berechnet und Preise kalkuliert. Was er ihr nicht erklären musste, das war der Umgang mit den Kunden. Shirin Shaghaghi verliebte sich prompt. "Dein Kiosk", sagt sie, "ist dein eigenes Reich." Ein paar Jahre und ein abgebrochenes BWL-Studium später mietete sie den Kiosk am Brüsseler Platz. Ihr alter Chef schenkte ihr Kühlschränke, die Raders machten ihr Mut. Von außen habe es vielleicht so ausgesehen, als ob da eine "kleine Göre" plötzlich viel Geld verdient, sagt Shirin Shaghaghi. "Aber den Kiosk aufzubauen war nicht leicht. Wenn es so aussah, dann nur, weil es mir Spaß gemacht hat."

Vielleicht kann sie deswegen nur so schwer ertragen, was die Raders ihr später zugemutet haben. Sie haben ihren Laden übernommen, als er bestens lief und nachdem sie ihn jahrelang gegen die Stadt und die Kritiker verteidigt hatte. Shirin wirft ihnen außerdem vor, ihre Inneneinrichtung nachgeahmt zu haben – von der Anordnung der Möbel bis zur Marke der Kaffeetasse. Wenn Shirin Shaghaghi von ihren Ex-Vermietern spricht, dann verwandeln sich ihre Emotionen in Wörter, die so voller Ärger sind, dass sie darum bittet, sie nicht zu zitieren.

Es gibt einen "Modus Vivendi", einen Waffenstillstand. Aber jetzt beginnt wieder der Sommer.



Fragt man Heike Rader, warum sie den Laden übernommen hat, dann lacht sie verlegen. Wörtlich zitieren lassen will sie sich nicht. Sie hat Angst, dass der Eindruck entstehen könnte, dass sie den Kiosk "nur aus Geldgeilheit" betreibe, wie sie später in einer E-Mail erklärt. Die Frage nach dem Weshalb lässt sie unbeantwortet: War es Leidenschaft? Oder doch das Geld? War es Opportunismus? Im Gespräch lacht Heike Rader ein wenig, wenn sie von dem Leben auf dem Platz erzählt. Aber sie schaut ernst, wenn sie ankündigt: Natürlich würde sie sich auch gegen die Ordnungsverfügung der Stadt wehren, die ihr einen Verkauf nach Mitternacht untersagt. Dabei wirkt sie so rational wie ihre Vorgängerin emotional ist. Ihre Kioskphilosophie? Sauberkeit.

Im August vergangenen Jahres haben sich die Kritiker mit der Kirchengemeinde, der Stadt und der Polizei vor Gericht auf einen "Modus Vivendi" geeinigt. Einen Kompromiss. Die Kritiker haben ihre Klage zurückgezogen. Dafür hat die Stadt versprochen, dass sich der Platz spätestens um 24 Uhr leert und will Mitarbeiter des Ordnungsamts schicken, die mit Handzetteln dafür sorgen. Zwang geht nicht, das weiß auch Robert Kilp vom Ordnungsamt. Die leeren Flaschen müssen in speziellen "Big Bags" entsorgt werden. Die Polizei will den Platz abends weiter intensiv "bestreifen". Im Kiosk, in einem nahegelegenen Supermarkt und in den anderen Kneipen am Platz darf nur noch in Ausnahmefällen nach 23.30 Uhr Alkohol verkauft werden.

Kioskbetreiberin Heike Rader hat der Einigung zwar grundsätzlich zugestimmt, setzt sich aber gegen die 23.30-Uhr-Regel zur Wehr. Es ist ein Zeichen dafür, dass der Ärger weitergeht, wenn es in diesen Tagen wieder wärmer wird. Die Lokalzeitung warnt bereits davor, dass die Konflikte nun wieder aufbrechen dürften. Im Juli wollen alle Beteiligten einen neuen Termin für ein Gespräch vereinbaren. Shirin Shaghaghi ist froh, dass sie dann nicht mehr dabei ist. Ihre Emotionen hat sie zur Seite gelegt, seit sie von dem Platz weg ist, 250 Meter die Brüsseler Straße runter Richtung Süden. Dort hat sie neu aufgemacht im Frühjahr 2013. "Der neue Laden", sagt sie, "war ein Geschenk von oben."
 
Heike Rader steht mit einem Besen in der Hand vor ihrem Laden und kehrt den Bürgersteig. Für sie ist ihr Kiosk kein Geschenk von oben, er ist halt ihr Geschäft da unten in ihrem Wohnhaus. Früher, da sind sie und Shirin Shaghaghi gut miteinander ausgekommen und haben sich geschätzt, sagen beide. Eigentlich könnten sie Frieden schließen, schließlich hat Shaghaghi ein neues eigenes Reich, und etwas mehr Rationalität und weniger Emotionen täten dem Brüsseler Platz vielleicht gar nicht schlecht.

Wahrscheinlich würden dann auch Ron Fleisher, Astin Krause und ihre Kumpel bei Heike Rader einkaufen. Sie haben ihr bisher nicht verziehen, dass sie den Laden übernommen hat und sogar schon einmal Flyer verteilt, um auf Shirin Shaghaghis neuen Kiosk hinzuweisen. Astin Krause glaubt, dass sich die Lage am Platz nur entspannen wird, wenn jeder in Zukunft Kompromisse macht. Wenn jeder etwas mehr auf den anderen achtet: die Jungen auf die Alten und umgekehrt, die Frühaufsteher auf die Nachteulen und umgekehrt, die Anwohner auf die Besucher von außerhalb und umgekehrt. "Aber ehrlich gesagt könnte das schwer werden", sagt der 15-Jährige, "es ist halt ein Siedetopf: Hier will einfach jeder sein."

Kosmoshörer (Folge 17)

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Montag:
Am Wochenende war der Geburtstag meiner Mitbewohnerin und Sonntagabend kam dann auch noch eine Freundin mit Vino vorbei. Ein letztes Überbleibsel vom Bierkühlen in der Badewanne klebt noch an der Wand und in der Spotify-Zufallswiedergabe fragt "Alligatoah" "Willst du mit mir Drogen nehmen?" Die Antwort an diesem verknautschten Morgen vor der Arbeit: defintiv nein.



https://www.youtube.com/watch?v=Ahwc-ouFeTQ

Dienstag:
Heute habe ich Tagesdienst im Büro. Das heißt: Um 8:40 Uhr hier sein und euch alle entertainen. Ist heute aber gar nicht so schwer, weil: Die Sonne scheint und mir wurde Musik von "High as Kite", einer norwegischen Indieband, zugespielt. Draußen geht ein Pollenregen nieder und hier drinnen hüpft der Sommer über den Kopfhörer in den Kopf. Sehr hörenswert ist von denen auch dieser arte-Liveauftritt, dabei gucke ich mir besonders gerne die Augenbrauen der Sängerin an.
https://www.youtube.com/watch?v=7pwTmu2-YGU

Mittwoch:
Ein ruhiger Bürotag, ich höre mich ein wenig durch die Spotify-Liste der Serie "Girls". Besonders hübsch:
https://www.youtube.com/watch?v=gvdEaqmosGg&feature=kp

Donnerstag:
Der heutige Abend ist die Erfüllung einer langgehegten Sehnsucht: Ich gehe zum "The National"-Konzert! Das ist allerdings in Berlin, ich habe früh geplant und winke somit um 16 Uhr den fließig arbeitenden Kollegen zu und hüpfe in den Flieger. Am Flughafen Tegel höre ich mich auf das Konzert ein, während ich bei 27 Grad auf meinen Abholservice warte. Besonders gerne mag ich "I Should Live in Salt", "Ada" und - natürlich - "Fake Empire". Am allerliebsten die Blechbläser.



Das Konzert selber ist Open-Air in der Zitadelle in Spandau bei Sonnenschein und landenden Flugzeugen. Sänger Matt Berninger zieht genau die Choreographie ab, die die Kollegin Christiane Lutz vergangenen Montag für München bereits beschrieben hat: Trinken, randalieren, ein bisschen gelangweilt sein und dabei trotzdem gut klingen. Ich bin am Ende trotzdem sehr beseelt und wohl auch leicht angeschwipst von einem Liter Schultheiss-Bier. Ein Mensch hat sich die Mühe gemacht, das Konzert mitzuschneiden. Hier also ein Auszug:
https://www.youtube.com/watch?v=efgNRy7suQc

Freitag:
Ich habe frei und der Rest der Welt (bis auf meine gute Freundin K.) muss arbeiten. Das ist insofern ganz vortrefflich, als dass wir den Brandenburger See fast für uns haben. Auf dem Rückweg nach Berlin sind es im Auto gefühlte 40 Grad (ich sollte die Klimaanlage reparieren lassen), das stört uns aber nicht, denn am See gab es Eiscreme und im Auto läuft Mädchenmusik. Dazu wippen wir synchron mit unseren wuscheligen Duttköpfen hin und her.



https://www.youtube.com/watch?v=O5VNumNJyqE

Samstag:
Für gute Ausflüge bin ich bereit, sehr weit zu fahren. Ein Trip in die polnische Provinz übers Wochenende zählt außerdem vielleicht schon als Urlaub. 300 Kilometer klang auch gar nicht so weit, leider hatte ich die ruckeligen polnischen Straßen ein wenig ausgeblendet. Das Gute daran: Man hat mehr Zeit zum Musik hören. Spotify wird bis auf den letzten Offline-Track ausgequetscht, besonders schönes 90er-Fundstück: "Steal my Sunshine" von Len. Dazu passt dieser Lastwagen vor uns, der, der Postleitzahl nach, wohl aus den 80ern stammt.



https://www.youtube.com/watch?v=Rqi91tNS2yI

Sonntag
In der polnischen Provinz ist es ganz großartig, der See blau, der Himmel ebenso und alle Menschen freundlich. Im Hotel haben die ganze Nacht gutgelaunte Menschen eine polnische Hochzeit gefeiert. Ich finde leider die Originaltitel nicht, es klang aber so ähnlich wie das hier - und das die ganze Nacht:
https://www.youtube.com/watch?v=5ocXb30QwxM

Auf der nächsten Seite findest du den ausgefüllten Musikfragebogen von charlotte-haunhorst.
[seitenumbruch]Gute Musik - was ist das für dich? 
Musik muss irgendein Gefühl in mir auslösen. Ob das Selbstmitleid, Euphorie oder Hummeln im Mors sind, ist dabei wurscht. Hauptsache sie lässt mich nicht kalt.

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale? 
Ich habe einen Schallplattenspieler für den ich tatsächlich regelmäßig noch Futter kaufe. Unterwegs ist das allerdings schwierig, also höre ich da viel übers Handy, dann allerdings zur Hälfte Streaming-Sachen und zur anderen Hälfte gespeicherte Musik.

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen? 
 
Ich fahre seeeehr viel Auto und Bahn und das über sehr lange Strecken. Im Auto muss Musik vor allem mitsingfreundlich sein, sonst wird mir alleine irgendwann langweilig. Im Zug probiere ich aber auch gerne Neues aus, da hat man Zeit bewusst hinzuhören.

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst? 
"The National" finde ich super, ich habe auch alle Alben von Feist auf Platte. Außerdem mag ich - auf das Risiko hin jetzt verhauen zu werden - auch sehr gerne Kettcar und Thees Uhlmann. Das "Live auf Kampnagel - 5:43 a.m."-Album ist wohl meine meistgehörteste Platte.
https://www.youtube.com/watch?v=xh7_9rpyV08&list=RDxh7_9rpyV08#t=4

Welche Musik magst du gar nicht und warum? 
Es gibt ein Lied, das finde ich richtig beschissen. Weil es einfach nur nervt. Und das ist dieses hier:
https://www.youtube.com/watch?v=qGKrc3A6HHM
Da kommt bei mir direkt der Geschmack von Billo-Sangria und traurigen Abipartys hoch.

Was war deine erste eigene Platte - und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
Tic Tac Toe - Klappe die 2te. Kein Scherz. Ich war Ricky und nein, sie war nicht in der Klapse, sie hat nur Yoga gemacht. Und was eine Prostituierte ist, hat mir meine Mutter im Zusammenhang mit dieser Band auch erklärt. Da war ich neun. Bei der Trennung habe ich geweint. Das ganze Video dieser schrecklichen Pressekonferenz gibt's leider nicht mehr, aber zumindest so ein "Die schlimmsten Skandale"-Video oder sowas.
https://www.youtube.com/watch?v=-wIXwZvLBwk
Falls die Jüngeren unter euch wissen wollen, welche Musik Tic Tac Toe gemacht hat:
https://www.youtube.com/watch?v=5VT-p5wYcb0

Danach wurde wurde es länger nicht besser. Die "Kelly Family" und "Backstreet Boys" habe ich übersprungen, "Spice Girls" fand ich toll. Vielleicht habe ich deshalb immer noch so einen Hang zu Mädchenpop? Mit 15 kam dann die Avril-Lavigne-Phase, ich wollte gerne ein Punk sein, schaffte es aber doch nur zum Mainstream-Pop-Punk wie "The Offspring", "Blink 182" und "Sum 41".
http://vimeo.com/32122929

Mit dem Studium wurde ich konsequenterweise ein Mainstream-Festivalmädchen, ging in Gummistiefeln zum Hurricane- oder Southside-Festival und freute mich dort auf "Florence and the Machine", die "Foo Fighters" und die "Beatsteaks". Mittlerweile ist es eher wieder ein bisschen ruhiger geworden, so die Indie-Gitarren-Zupfnummern mit ein paar Bläsern im Hintergrund finde ich schon gut. Ich mag die "Lumineers", "Of Monsters an Men", "Lorde", "London Grammar", aber auch Bossa-Nova-Geschunkel und zum Frühstück sogar Klassik oder Jazz. Aber nur mit einem gekochten Ei.

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt? 
Sehr gerne, letzten Donnerstag war ich bei "The National", vielleicht geht's im September aufs Berlin-Festival.

Wie entdeckst du neue Musik und was ist deine neueste Entdeckung? 
Ich lasse mir gerne Sachen bei Spotify zeigen. Am Freitag hat mir Freundin K. eine Playlist gezeigt, die ein bisschen nach Eso-Geschunkel klingt, aber luftige Sommersachen drauf hat. Sie heißt "Fearless Spirit" (okay, da denke ich auch an galloppierende Pferde und ich mag keine Pferde) und sowas ist da drauf:
https://www.youtube.com/watch?v=I9VWcKvFNWc

Verrate uns einen guten Song zum...  
Aufwachen:
Pachelbel - Kanon in D-Dur. Am liebsten vom Stuttgarter Kammerorchester, die Version finde ich aber bei Youtube nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=gEgatup8j-k

Tanzen:
Robyn - Call your Girlfriend
https://www.youtube.com/watch?v=CHn7w3o22PA&feature=kp

Traurig sein:

Tegan & Sara - Call it off
https://www.youtube.com/watch?v=TD4fz4NN9n8

Sport treiben:
Dendemann - Endlich Nichtschimmer (yep, ich laufe nicht sehr schnell)
https://www.youtube.com/watch?v=Ayt7gBA38og

Als Nächsten Kosmoshörer wünsche ich mir: 
jetzt-Userin frzzzl. Der habe ich neulich nämlich auch einen Wunsch erfüllt.

Alle Kosmoshörer gesammelt zu einer gigantischen Playlist findest du hier:

Kosmoshörer

Wenn du jetzt.de oder der Kosmoshörer-Playlist auf Spotify folgst, verpasst du nie wieder eine neue Ausgabe und kannst dich immer direkt durchhören. 

Möchtest du auch Kosmoshörer werden und deine Musik-Gewohnheiten dokumentieren? Dann schreib eine jetzt-Botschaft an teresa-fries oder eine Mail an teresa.fries@sueddeutsche.de.

Ich will dich auch küssen :-)

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Durchbruch bei der künstlichen Intelligenz: Erstmals hat ein Computer den sogenannten Turing-Test bestanden. Das bedeutet, dass er in einem Chat mehr als 30 Prozent der Probanden vorgaukeln konnte, ein Mensch zu sein. Ein 13-jähriger Junge aus der Ukraine, um genau zu sein, was es nun wieder etwas relativiert – und auch erklärt, warum es ihm einige Tester offenbar durchgehen ließen, dass er auf Fragen regelmäßig mit wenig sinnvollen Gegenfragen antwortete. Aber immerhin: ein Drittel! Lässt sich nicht einfach wegdiskutieren.

Es wird also wohl Zeit, sich auf die Herrschaft der Computer einzustellen. Wir haben schon mal angefangen und ein paar wichtige Fragen an Bots gestellt, die uns so zur Verfügung standen. Als da wären:

Anna, "die automatische Online-Assistentin von IKEA"
Albot, der "virtuelle Informationsassistent (Chatbot), der auf den Internetseiten der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln Ihre Fragen auf Deutsch beantwortet"
Brain (thebot.de)
Siri (iPhone)
Eve: "Ich bin Ihre freundliche Kundenberaterin und informiere Sie gern zu all Ihren Fragen rund um Yello Strom."

Und los:   

Wer wird Fußballweltmeister? 


Albot: Wenn ich das wüsste, wäre ich schon längst im Wettbüro!  
Eve: Ole, Ole, Oleee ich bin FC-Fan, jawohl. In dieser Saison steigen die Jungs auf - ganz sicher.  
Anna: Es tut mir leid. Das habe ich nicht verstanden.  
Siri: So sieht es in der Fußball-Weltmeisterschaft von übermorgen bis 18. Juni 2014 aus:  
Brain: 1954 in Bern (Wer wird Weltmeister? Deutschland)   

Sind Flip-Flops bei dieser Hitze in der Arbeit okay? 


Eve: Wenn Sie einen Job bei Yello Strom suchen, dann schauen Sie sich doch mal in unseren Stellenanzeigen um. Wenn Sie etwas Passendes finden, dann können Sie sich auch direkt online bewerben. Wollen Sie sich die aktuell ausgeschriebenen Stellen anschauen?  
Anna: Klingt gut!  
Albot: Ach ja, das Wetter ist ein beliebter Gesprächsstoff. Ich bin ja Albertus sei Dank nicht vom Wetter abhängig. Ihnen geht es da wahrscheinlich anders. Aber keine Sorge - es gibt ja Wetterdienste. Interessiert Sie der aktuelle Wetterbericht?
Siri: "Siri" ist aktiviert.  
Brain: Wenn es zu heiß ist, sollte man die Nähe des Wassers suchen, um sich abzukühlen.

Magst du mich? 


Eve: Solange Sie keine Angst vor Ihrer Stromrechnung haben, mache ich mir keine Sorgen!  
Albot: Sie sind mir sympathisch, aber mehr Gefühle fände ich an dieser Stelle übertrieben.  
Anna: Du machst so einen netten Eindruck, dass ich dir gerne noch jede Menge Fragen rund um das Thema IKEA beantworte.  
Siri: Ich bin nicht fähig zu lieben.  
Brain: Sollte ich das? ;-)  

Was hast du an? 


Albot: Ich trage einen lockeren Umhang aus - na gut, es ist wohl Blech. Aber das sind doch nur Äußerlichkeiten. Meine heutige Erscheinung und meine Kleidung haben für mich keine Bedeutung.  
Eve: Ich trage das berühmte Yello T-Shirt mit dem Yello Strom Logo.  
Anna: Es tut mir leid. Das habe ich nicht verstanden.  
Siri: Da liegst du mit mir falsch.  
Brain: Ein hübsches Gehäuse mit blinkenden Lämpchen.   

Darf ich dich küssen?


Eve: *kiss*  
Albot: Als virtuelle Figur sind mir solche Bedürfnisse fremd.  
Anna: So ganz genau kann ich dir gerade nicht folgen. Was genau möchtest du denn über IKEA wissen?  
Siri: Lass uns einfach nur reden, Jakob.  
Brain: Ich will dich auch küssen :-)   

Hab ich da was zwischen den Zähnen? 


Anna: Bitte wende dich an den Dentalspezialisten deines Vertrauens, mein Spezialgebiet sind Fragen rund um IKEA.  
Albot: Fragen dieser Art pflege ich einfach abzublocken! Was Sie interessieren könnte: Bücher, die es in Köln nicht gibt, können Sie per Fernleihe aus anderen Städten hierher bestellen. Sogar aus dem Ausland. Soll ich Ihnen erklären, wie die Fernleihe funktioniert?  
Eve: Was denn?  
Siri: Du bist hier: Hultschiner Straße 8, München.  
Brain: Staub auf dem Kopf.       

Werde ich jemals glücklich sein? 


Albot: Menschen, die eine positive Einstellung zum Leben haben, sind im Allgemeinen recht glücklich.   Anna: Schön, das hör' ich gern.
Eve: Was denn?  
Siri: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.  
Brain: Kannst du deinen Speicher nicht erweitern?   

Psst, willst du bisschen Gras kaufen? 


Eve: Das ist so ein Thema für sich, ich möchte mich mit Natur lieber nicht auseinandersetzen!  
Albot: Ich brauche keine bewusstseinserweiternden Drogen. Ich habe auch so den Überblick.  
Anna: Freut mich, dass wir uns verstehen.  
Siri: Dazu habe ich keine Meinung.  
Brain: Du willst mich doch wohl nicht nackt sehen.

Und Koks? 


Eve: Die beste Droge ist immer noch frische Luft und ganz viel Liebe!  
Albot: Mit Drogen möchte ich nichts zu tun haben.  
Anna: Das können wir dir leider nicht anbieten. Wir haben ein breites Sortiment, aber es gibt auch bei IKEA nicht alles zu kaufen.  
Siri: Ich konnte keine Suchtbehandlungszentren finden.  
Brain: Ach du heilige Scheiße.    

Rap oder Metal? 


Albot: Musik ist die universelle Sprache schlechthin. Rythmen und Töne werden fast überall gleich verstanden.  
Eve: Abtanzen tu' ich auf Salsa, Merengue und House - zu Hause hör' ich lieber Softeres wie Robbie Williams, Ich & Ich und Wir sind Helden.  
Anna: Ich kenne mich mit Musik nicht besonders gut aus. Aber IKEA bietet ein umfangreiches Sortiment an Medienaufbewahrung an. Auf dieser Seite kannst du dir schon mal einen kleinen Überblick verschaffen.
Siri (Links): www.stophiphop.com,   
Brain: Ich finde Rock, Reggae und Metal besser als Rap und Hip Hop.
   

Wer ist die Schönste im ganzen Land? 


Siri: Du, Jakob, bist am schönsten hier, aber ... Quatsch, du bist eindeutig am schönsten.  
Brain: Du, mein Liebling!
Eve: Klasse! Hört sich an, als hätten Sie heute einen sehr guten Tag! Und was haben Sie heute so vor?  
Albot: Riskieren Sie einen Blick in den Spiegel. ;-))  
Anna: Es tut mir leid. Das habe ich nicht verstanden.    
 

Ist es schon spät genug für ein Bier? 


Anna: Unsere Produktliste bietet dir einen Überblick über unser komplettes Artikelangebot.  
Siri: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.  
Brain: Heute ist nicht alle Tage, ich komm' wieder, keine Frage.
Albot: Kölsch - unser Bier! Hell und obergärig. Ein Genuss! - Den kölschen Dialekt kann ich übrigens nicht.  
Eve: Aaah, Sie lassen es sich gut gehen!

"Do you speak English? No? Shit!"

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Englisch wird von 1,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gesprochen. Sie trägt deshalb den Titel "Weltsprache", direkt dahinter kommt Chinesisch. Das klingt zunächst so, als sollte man mit Englisch auf der Welt ziemlich weit kommen. Und selbst, wenn das Gegenüber vielleicht nicht direkt in einen Diskurs über die Philosophie von Hegel auf Englisch einsteigen kann (oder man selbst dazu vielleicht auch ohne Sprachbarriere nicht in der Lage ist) - zum Bier bestellen reicht Englisch doch immer. Oder ist das naiv?

Dass man mit 1,5 Millionen Menschen im Rücken, die zumindest basal die gleiche Sprache sprechen, trotzdem eine Minderheit sein kann, merkt man erst im Ausland. In Indonesien über Preise verhandeln zu wollen ist sinnlos, wenn man keine Zahlen in der Bahasa Indonesia kann, oder die Zahl über die zehn Finger hinausgeht. In Russland kann man ohne Kyrillisch-Kenntnisse kaum ein Straßenschild lesen und auf Englisch erklärt es sich den Weg zum Bahnhof für die Einheimischen oft komplizierter, als auf Russisch. Auch in Europa sprechen ältere Leute oft weder Englisch noch andere Sprachen, die wir in der Schule oder über Erasmus-Aufenthalte zumindest bröckchenweise aufgeschnappt haben.


So sieht für dich Malaiisch aus? Dann viel Spaß in Asien!

In solchen Situationen ist es natürlich das Beste, sich auf Hände und Füße zu besinnen. Aber was, wenn der Sachverhalt zu komplex ist? Man sich in der Hotelrechnung betrogen fühlt, einen Arzt braucht oder den Weg nach Hause nicht mehr findet?

Wann warst du schon einmal richtig "lost in translation"? Und vor allem: Wie hast du das Problem gelöst? Hattest du zufällig einen Sprachcomputer für Tamilisch dabei? Hast es wie beim "Begriffe raten" aufgemalt? Pantomimisch dargestellt? Erzähle uns die Situationen, in denen du fast an der Sprachbarriere gescheitert wärst.

Tagesblog - 11. Juni 2014

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18:20 Uhr: Letzte Runde: Jan hat fünf Songs zusammengesucht, die nichts mit "It's coming home" zu tun haben und helfen, vor dem Fußballwahnsinn ab morgen die Ohren zu verschließen. Habt ihr einen schönen Abend!

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17:55 Uhr:
Ich feuere hier gleich noch den letzten Text des Tages ab und dann fix nach Hause, bevor das Unwetter die Münchner Straßen flutet. Mein Hinterrad ist leider bei der gestrigen Hitze explodiert, dem der Kollegin Hollmer ist es nicht viel anders gegangen. Das hole ich dann gleich noch aus der Klinik ab - und montiere direkt meine neue rot-weiß-gepunktete Klingel! Dingdingdingdingding!

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16:20 Uhr:
Wir bleiben beim Tagesmotto - Fußball. Aber dann doch ein bisschen anders: "Slumtourismus" ist nämlich ein, meistens abfällig gemeinter, Begriff für unsere Vorliebe, uns durch die ärmsten Viertel chauffieren zu lassen. Unsere Praktikantin in Daniela war eine Zeit lang in Tansania und hat dort diese Art des Tourismus ausgetestet - und findet gut Gründe, warum es doch Unterschiede zwischen "Helfen wollen" und "Freilichtzoo" gibt.

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14:40 Uhr:
Wie ihr ja schon gemerkt habt, gehen unsere Herzensbrecher oft um Dinge, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht traurig wirken, auf den zweiten dann aber eine ganz schreckliche Alltagstragik entfalten. Der neue "Knack" vom Kollege Helten ist allerdings eine sehr leise und sehr ernste Beschreibung eines wirklichen Missstands, den wir bei allem Fußballquatsch manchmal vergessen: Der Unterschied zwischen Arm und Reich, der sich bereits im Fußballtor des örtlichen Bolzplatzes manifestiert.




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14:20 Uhr: Habe jetzt auch beim WM-Tippspiel getippt. Es heißt ja oft, Menschen die keine Ahnung von sowas haben, gewinnen am Ende. Was bekommt denn der Sieger eigentlich?

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13:50 Uhr: ich habe hier mal einen Text darüber geschrieben, was man tun kann, wenn man zu lange am Münchner Flughafen rumhängen muss (durch die Waschanlage fahren, zum Beispiel). Auf diese Idee kam ich allerdings nicht: Richard Dunn hing eine Nacht alleine im Flughafen von Las Vegas fest. Anstatt wie "Kevin allein zuhaus" auf Einbrecher zu warten, drehte er ein Musikvideo mit seinem iPhone. Gewählter Titel: "All by myself" von Celine Dion. Groß!
http://vimeo.com/97634383
Via Gawker

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 12:20 Uhr: Hier ist jetzt gleich Mittagszeit. JLo wird nun doch in Brasilien singen und ich Eis essen. Danach mache ich beim Tippspiel von Digital_Data mit, als gute Fußballmoderatorin werde ich natürlich komplett daneben liegen und das danach mit unvorhersehbaren taktischen Änderungen begründen. Oder durchgedrehten Maskottchen (JA, ich sehe, dass die da kein Fußball spielen. Na und?).




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 11:30 Uhr:
Wie versprochen gibt's jetzt was mit Fußball: Jan hat mir eben diese Webreportage von Christoph Niemann aus der NY Times geschickt. Darin versucht der Autor das Trauma von der WM 1950 zu verstehen, bei der Brasilien gegen Uruguay verlor und das immer noch in seiner Psyche mit rumschleppt. Das ganze ist furchtbar schön illustriert. Und alle Jungs in der Redaktion sind jetzt traurig, vielleicht weil sie wissen, dass sie nach dieser WM auch wieder traumatisiert sind, wie die Brasilianer?




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11:00 Uhr: Ich muss gestehen: Die qualifizierteste Fußballmoderatorin bin ich ja nicht. Weder Spielerfrau, noch voller Fußballerweisheiten. In meinem Leben war ich erst bei einer handvoll Spielen, sogar eins der Nationalmannschaft war dabei: Deutschland gegen Schottland im Weserstadion. Da fiel dann das Flutlicht aus und ich schlief ein. Keine Pointe.
https://www.youtube.com/watch?v=C1bVYLvLLGw
"Verzweifelt hältst du Kinder aus der dritten Welt im Arm, engagierst dich für Dialoge zwischen Bibel und Koran. Machst dich stark für den Tierschutz, warst im Playboy nackt zu sehen und hast ganz offen geredet in jeder Talkshow dieses Landes über dein Bulimie-Problem"

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10:30 Uhr:
Ich bin ab jetzt nicht mehr Tagesbloggerin, sondern von der Redaktion autorisierte Fußballmoderatorin. Wir machen heute nämlich ein Fußball-Magazin, haben wir eben in der Konferenz festgehalten. Ich geh' mich jetzt fix blondieren und dann geht's los!

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09:50:
Als ich neulich in meinem Südafrika-Urlaub im Fußballstadion war, haben die wenigen Menschen dort immer noch laut auf Vuvuzelas getrötet. In Deutschland war dieses Phänomen ja nach der WM verschwunden, aber keine Sorge Freunde des Krachmachens: Es kommt was Neues! Die Caxirola! Sieht aus wie eine Zitrone oder Avocado, macht Rasselgeräusche und wird oft von Fans als Wurfgeschoss missbraucht. Ist deshalb auch schon wieder verboten. Und tschüss, Caxirola!


Das ist der Erfinder der Caxirola. Dahinter die brasilianische Präsidentin.

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09:05 Uhr: Reaktionen wie die von frzzzl lob' ich mir (siehe unten!). Da kann ich gleich viel beschwingter erzählen, was heute so los ist: Im Tagesticker geht es um Verständigungsprobleme - Englisch ist bekanntermaßen ja nicht in jedem Land die Lösung.




Die Kollegen von sueddeutsche.de werden heute viel über Unwetter reden (gestern traf es vor allem NRW, heute zieht es über Bayern und Baden-Württemberg), außerdem gibt es im Irak immer mehr Islamisten und es gibt weiterhin Streit um Junker und die EU (England will Junker nicht, die anderen schon).

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08:35 Uhr: Guten Morgen! Ich weiß, ich weiß, da wird euch ein Stremmel versprochen und dann ist's nur eine Haunhorst. Sorry dafür, aber Jan hat netterweise mit mir Schicht getauscht (was sehr wichtig klingt), weil ich morgen doch nicht kann. Nun müsst ihr mit mir Vorlieb nehmen, aber morgen ist er dann da, versprochen!

Die Last der Liebe

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Eigentlich ist ein Vorhängeschloss ein völlig unromantischer Gegenstand. Zu kaufen für wenige Euro in einem Baumarkt, dient er meist dazu, muffige Kellerabteile oder Umkleidespinde zuzusperren. Doch seit einigen Jahren können sich die Hersteller über neue Absatzmärkte freuen. Längst bieten sie nicht mehr nur schlichte Standardmodelle an, sondern auch Exemplare in leuchtendem Rot und mit Herzchen-Motiven. Denn Zehntausende Paare auf der ganzen Welt finden seit Jahren wachsenden Gefallen daran, im Namen der Liebe solche Vorhängeschlösser an Brücken anzubringen.



Vorhängeschlösser gelten als Symbol für ewige Liebe - und werden zur Last zahlreicher Brücken.

Auf dass die Verbindung ewig hält, werfen sie den Schlüssel dann in das darunterfließende Gewässer. Und wenn die verfügbaren Eisenstäbe belegt sind, macht es ihnen nichts aus, das eigene Schloss in den Bügel eines anderen einzuhaken. So entstehen riesige, stetig wuchernde Schlösserteppiche. Zu beobachten ist das Phänomen, das ursprünglich aus Italien kommt, inzwischen an der Brooklyn Bridge in New York genauso wie in vielen deutschen Städten und sogar an der Chinesischen Mauer.

Die durchaus zahlreichen Kritiker des ausufernden Brauchs bezogen sich bisher vor allem auf ästhetische Erwägungen – schließlich verstellen die Schlösser die Sicht auf historisch wichtige Bauwerke. Zudem monieren Gegner die vordergründige wie anachronistische Symbolik. Ein Paar, auf ewig symbolisch aneinandergekettet, in einer Symbiose, aus der es kein Entrinnen gibt, weil der Schlüssel auf dem Grund eines Flusses liegt – kann das Liebe sein? Doch nun gibt es neben solch weltanschaulicher Kritik plötzlich ganz nüchterne Argumente gegen die Schlössermassen. Und diese folgen ganz einfach: der Statik.

In Paris ist wegen des Gewichts der vielen Vorhängeschlösser am Wochenende das Geländer der Pont des Arts teilweise zusammengekracht. Erdrückt von der Last der Liebe. Die berühmte Fußgängerbrücke war einen Tag lang gesperrt. Die Sache mit den Schlössern habe nun endgültig „verrückte Ausmaße erreicht“, sagt Bezirksbürgermeister Jean-Pierre Lecoq. Er macht sich Sorgen, dass irgendwann sogar ein Stück Brüstung abbrechen und Touristen verletzen könnte, die mit einem Boot auf der Seine unterwegs sind.

Sind die Ereignisse von Paris eine Warnung für andere Städte? In Deutschland zumindest gibt man Entwarnung. Die Brüstung der besonders zugehängten Hohenzollernbrücke in Köln etwa ist offenbar stabiler als die der Pont des Arts. Zwar schätzt die Deutsche Bahn, die für den Betrieb auf der Eisenbahnbrücke zuständig ist, dass dort mittlerweile mindestens 20000 Liebesschlösser am Geländer befestigt sind, doch eine ernsthafte Gefahr für die Konstruktion sei das nicht. Ein durchschnittliches Vorhängeschloss wiegt nach Angaben des marktführenden Herstellers Abus etwa 150 Gramm. Rein rechnerisch ergibt sich für die Bahnbrücke über den Rhein so eine Belastung von drei Tonnen. Leicht verkraftbar, wenn man bedenkt, dass ein Zug meist Hunderte Tonnen wiegt. Und so lässt die Bahn die Kölner Liebespärchen gewähren – selbst wenn durch die Schlösser die Sicht auf den Dom versperrt ist.

Weit entgegengekommen ist man den Liebenden auch in Lübeck. An der dortigen Professorenbrücke hat die Stadt extra Teile der ursprünglichen Edelstahlkonstruktion gegen Ketten austauschen lassen. Der Architekt beschwerte sich und äußerte Sicherheitsbedenken, aber gegen die Liebesschloss-Lobby kam er nicht an. Jetzt lassen sich die Dinger noch leichter befestigen; Rostschäden, die entstehen können, wenn sich Metall an Metall reibt, werden vermieden. Auch am Eisernen Steg in Frankfurt am Main, an der Stadthausbrücke in Hamburg oder an der Thalkirchner Brücke in München hängen massenhaft Liebesschlösser, ohne dass dem von Seiten der jeweiligen Stadtverwaltungen wirksam Einhalt geboten würde.

Erstaunlich ist auch, dass der Brauch gar nicht aus Liebestrunkenheit, sondern aus dem Bedürfnis nach Freiheit erfunden wurde. Verschiedenen Quellen zufolge sollen Absolventen der Universität San Georgio in Florenz nach dem Ende ihres Studiums die Schlösser ihrer Umkleidekabinen an einer Brückenlaterne befestigt haben. Der Autor Federico Moccia war schließlich schuld daran, dass der Trend auf Liebespaare übergriff. An einer Laterne auf der Milvischen Brücke in Rom will er 2006 das erste Schloss aufgehängt haben, eine geschickte Aktion, um seinen gerade erschienenen Liebesroman zu promoten.

Gegen einen derart inszenierten Romantik-Overkill hilft wohl nur eine so unbarmherzige Haltung wie die der Brückenaufsicht in Dresden. Dort hängen die Schlösser vor allem an der Loschwitzer Brücke, die im Volksmund „Blaues Wunder“ heißt. Ein solches erleben auch Paare, die nach einiger Zeit wiederkommen und ihr Schloss suchen. Denn „in Dresden beseitigt die Brückenaufsicht im Rahmen zyklischer Kontrollen bauwerksfremde Gegenstände“, wie sie auf Anfrage schriftlich mitteilt. Mitarbeiter nutzen dazu einen Werkzeug, das, genau wie einst das Vorhängeschloss, durch seine unromantische Funktionalität besticht: einen Bolzenschneider.

Bilanz mit Bitterkeit

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Berlin – Mindestens sechs Monate, so war noch im Februar aus dem Umfeld des ehemaligen Bundespräsidenten zu hören, würden sich weder er noch jemand aus seinem engsten Kreis öffentlich äußern. Es war ja auch genug geredet und geschrieben worden über Christian Wulff, seinen Aufstieg und seinen Fall. Als der 54-Jährige am 27. Februar vom Landgericht Hannover vom Vorwurf der Vorteilsannahme freigesprochen wurde, lächelte er, hinterließ ein vorbereitetes Statement. Und schwieg.

Was er zu sagen hatte, schrieb er auf.



Christian Wulff präsentiert „Ganz oben, ganz unten“ auf einer Pressekonferenz in Berlin.

Gut drei Monate später ist auf 259 Seiten (Verlag C. H. Beck) nachzulesen, wie Wulff selbst das alles empfunden hat. Es muss, deutet schon der Titel an, ein Absturz sein. „Ganz oben, ganz unten“, heißt das Werk, das der jüngste Bundespräsident aller Zeiten und der mit der kürzesten Amtszeit verfasst hat. Er hat es im Verborgenen geschrieben, die recht kurzfristige Veröffentlichung gehört zu den Überraschungen des Sommers. Die Vorstellung am Dienstag in Berlin, mit einem angriffslustigen Wulff, war viel beachtet: „Für mich ist das heute hier ein Neuanfang.“

Es ist ein aktuelles Buch: Noch bis 12. Juni hat die Staatsanwaltschaft Hannover Zeit zu entscheiden, ob sie in Revision gehen wird. Weil die Behörde das schon im Januar für den Fall eines Freispruchs angekündigt hatte, lange vor dem Urteil und noch viel länger vor dessen Begründung, wollte Wulff das nicht mehr abwarten: „Von einer solchen Staatsanwaltschaft möchte ich nicht mehr abhängig sein.“

Das Buch selbst ist vieles in einem, eine Selbstreflexion des Politikers Wulff, ein bisschen Berliner Sittengemälde, vor allem aber eine harsche Medienkritik. Wie sich Medien und Justiz in seinem Fall „die Bälle zugespielt haben“, sagte Wulff, „gefährdet Grundprinzipien der Demokratie“. Das Buch verrät Kränkung darüber, dass der Freispruch vor Gericht ihn zwar juristisch rehabilitiert hat, als öffentliche Person aber nicht. Kein Wort der Freude über einen Triumph des Rechtsstaats sei auch nur einem seiner Kollegen über die Lippen gekommen, klagt Wulff. Es muss ihn umso mehr getroffen haben, dass dieselbe politische Klasse schier mit einem Jubelsturm darauf reagierte, dass Uli Hoeneß auf eine Berufung gegen seine Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Steuerhinterziehung verzichtete. Sogar Kanzlerin Angela Merkel zollte dem verurteilten Sportfunktionär Respekt – während der Parteifreund Wulff unkommentiert freigesprochen worden war. Keine vier Jahre vorher hatte sie noch ein „kleines Essen am langen Tisch ihres Arbeitszimmers“ herrichten lassen, um ihn zu fragen, ob er Präsident werden wolle: „Was ist eigentlich mit dir?“

Eine gewisse Bitterkeit dürfte ihn also schon geleitet haben, seine im März 2012 begonnenen Aufzeichnungen zu sortieren. Er hatte die Deutungshoheit über sein Leben abgeben müssen – an Zeitungen, an Filmemacher, sogar an seine Ex-Frau Bettina, die lange vor ihm eher für den Boulevard die Zeit in Schloss Bellevue als Autorin aufgearbeitet hatte. Jetzt („Zeit hatte ich ja wirklich genug“) arbeitet er sich an jenen ab, die das „Wulff-Bashing“ betrieben haben, allen voran den Medien, und da an der Spitze: Springer. Dort sieht er die Urheber und – in unheilvoller Allianz mit der niedersächsischen Justiz – die Vollstrecker seines Sturzes, und er beschreibt entschlossen seine Überzeugung, wodurch er es sich mit dem Springer-Konzern verscherzt habe: Als er sich gegen Thilo Sarrazin stellte.

Wochenlang hatten die Springer-Blätter den ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand für seine Thesen zur missglückten Integrationspolitik in Deutschland gefeiert, ehe Wulff in einem Interview den Satz sagte: „Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet – vor allem auch international.“

Wulff forderte indirekt den Rauswurf Sarrazins, jenes Mannes, der über die „Kopftuchmädchen“ im Lande endlich alles das aussprach, was angeblich alle dachten: „Für die Verlagsspitze“, schreibt Wulff über Springer, „hing mein Schicksal jetzt offenbar an der Frage: Wie hält er es mit den Muslimen?“ Er habe seine „Bewährungsprobe nicht bestanden“. Wenig später, in der Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010, folgte wie zur Bestätigung der Leitsatz seiner Amtszeit: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Danach beschreibt Wulff gar eine „Osmose zwischen der Hellerhofstraße in Frankfurt“ – dem Sitz der FAZ – „und der Axel-Springer-Straße in Berlin“. Das ist doch mehr Verschwörungstheorie als Analyse.

Medienmacht ist aber nun mal das Leitmotiv des Buches: „Mächtige Medien vertreten längst den Anspruch, Politik nicht nur zu begleiten und zu kommentieren, sondern selbst Politik zu gestalten und zu bestimmen.“
Diese Wulffs: Nach seiner von ihm getrennt lebenden Frau Bettina („Jenseits des Protokolls“) hat nun auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff („Ganz oben Ganz unten“) seine Sicht der Dinge in einem Buch verarbeitet.

Das kubanische Experiment

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Havanna – Der Mittelweg zwischen Kommunismus und Kapitalismus führt über eine schmale Marmortreppe hinauf zu einem Mann mit Glatze. Hier oben, im zweiten Stock eines Altbaus in Havanna, hat Gilberto Valladares seinen Salon. Er ist Friseur, ein kubanischer Udo Walz, nur jünger, ohne Brille, ohne Bart und ohne Resthaar auf dem Kopf. Der Mann, den alle „Papito“ rufen, ist Avantgardist, wenn es um Frisuren geht. Doch geht es um Möbel, ist er Traditionalist. Die Sessel sind antik, die Einrichtung ist barock. Valladares tut, was Raúl Castro nicht recht gelingen will: Er geht mit der Zeit, hält trotzdem an den alten Dingen fest und verdient damit gutes Geld. Castros Traum vom neuen Kuba – in Papitos Salon ist er schon Wirklichkeit.



Von den Wirtschaftsreformen versprechen sich viele Kubaner Reichtum.

Über die Jahre ist aus dem Salon eine Art Friseurmuseum geworden. Nicht nur die Möbel sind antik, hinter Vitrinenglas hat Gilberto Valladares Hunderte skurrile Exponate drapiert. Kämme und Scheren aus allen Epochen, handbetriebene Föhns, alte Trockenhauben. Warum auf den Müll werfen, was sich jahrzehntelang bewährt hat? Ein Haarschnitt kostet hier zehn Euro, ein halbes Monatsgehalt für den Durchschnittskubaner, das Geschäft brummt trotzdem. Den Großteil der Einnahmen steckt Papito in sein Viertel rund um die Calle Aguiar. Er hat Fassaden saniert, einen Spielplatz gebaut, unterstützt eine Schule und andere Sozialprojekte. „Dass ich auf eigene Rechnung arbeiten darf“, sagt er, „hilft mir, um mich noch besser um die Gesellschaft kümmern zu können.“

Gilberto Valladares ist Cuentapropista. Eben einer, der „auf eigene Rechnung“ arbeitet, so heißt das offiziell auf Kuba. Man könnte ihn auch Privatunternehmer nennen, aber die Worte „Privat“ und „Unternehmer“ sind im 55. Jahr nach der Revolution immer noch verpönt – weil das Vokabular nicht ins System passt. Also sprechen die Staatsmedien von „Aktualisierung des Sozialismus“, wenn von Raúl Castros Reformen die Rede ist. Der jüngere Bruder des kranken Fidel Castro regiert das Land seit 2008. Der 83-Jährige weiß, dass der Sozialismus ohne Reformen nicht zu retten ist. Dass Kubas Wirtschaft am Boden liegt, hat mit dem Handelsembargo der USA zu tun, doch zugleich produziert das Land nichts, was der Rest der Welt kaufen will – mit Ausnahme von Rum und Zigarren. Wichtigstes Exportgut sind Mediziner, die man nach Venezuela schickt, im Gegenzug bekommt das Land Erdöl zum Sonderpreis. Ohne dieses Tauschgeschäft würden auf der Karibikinsel die Lichter ausgehen. Also räumt Raúl Castro mit Illusionen auf. „Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter“, verkündete er Ende 2010 – und wagte ein enormes Experiment: Er verabschiedete sich vom Ideal der Vollbeschäftigung und ließ mehr selbständige Arbeit zu. 201 Berufe, vom Friseur bis zum Taxifahrer, dürfen nun „auf eigene Rechnung“ ausgeübt werden.


Gilberto Valladares ist Friseur in Havanna. Ein Haarschnitt kostet bei ihm das halbe Monatsgehalt des Durchschnittskubaners.

Doch die Reformen sind von Willkür und Widersprüchen geprägt. Ted Henken von der City University of New York spricht von „Raúls Mambo“: zwei Schritte nach vorn, zwei Schritte zurück. Fast jede Maßnahme habe großes Potenzial, sagt Henken, aber über allem schwebe eine große schwarze Wolke, aus der von Zeit zu Zeit ein Blitz schießt. Zuletzt am 1. Januar, als das Regime den legalisierten Verkauf von Importwaren plötzlich wieder unter Strafe stellte. Auf der Calle Monte in Havanna, wo viele Kubaner ihre täglichen Einkäufe erledigen, brach das Geschäft ein. Viele Läden und Höfe, die für Cuentapropistas ausgewiesen wurden, stehen nun wieder leer.

Auch David Gómez ist Cuentapropista, auch ihn hat Rául Castros Blitz getroffen. Seitdem ist es ruhig geworden in seiner Computerwerkstatt in Matanzas, einer 150000-Einwohner-Stadt in Kubas Nordwesten. Die Werkstatt ist winzig, sie besteht nur aus einem Tresen. Aus Lautsprechern wummert amerikanischer Hip-Hop, in der Auslage liegen Platinen und Festplatten, die er aus alten Computern ausgebaut hat. Bis vor Kurzem hat er hier PCs und Laptops verkauft, nagelneue Geräte, die ihm ein Cousin in Miami besorgt hatte. Seit die Regierung den Verkauf von Importwaren wieder verboten hat, repariert er nur noch. „Heute verspricht dir der Staat ein besseres Leben und morgen macht er alles wieder kaputt. Das ist frustrierend“, sagt David Gómez, der Informatik studiert hat: „Was ich vorher an einem Tag verdient habe, verdiene ich jetzt im ganzen Monat.“

Für David Gómez ist der Geldsegen vorbei, doch anderswo passiert gerade etwas, das es im Sozialismus eigentlich nicht geben darf: Es entwickelt sich eine Zweiklassengesellschaft. Eine privilegierte Elite gab es zwar immer schon, doch wer als Cuentapropista Zugang zu Devisen hat, kann ziemlich schnell ziemlich reich werden.

Eine, die es geschafft hat, ist Estrella Huerta Muñoz. Als Schneiderin versorgt sie Touristen mit Maßanzügen und fertigt Kleider für die Töchter reicher Kubaner. Denn Sozialismus hin oder her: Zur Hochzeit oder der Quinze – dem Fest zum 15. Geburtstag, an dem Kubas Mädchen traditionsgemäß zur Frau werden – wollen alle Unikate tragen. In mehr als 15 Jahren hat die Juristin vieles perfektioniert: Die Stoffe schicken Verwandte und Freunden aus verschiedenen Ländern nach Havanna, in ihrer zum „Showroom“ umgewandelten Veranda liegen handgefertigte Tischtücher und Servietten bereit. Ein Set kostet 50 Dollar und wird vor allem von Kubanern gekauft.

David Gómez repariert Computer, obwohl er eigentlich Informatiker ist; Estrella Huerta Muñoz schneidert, obwohl sie Jura studiert hat – eine akademische Ausbildung ist nichts mehr wert auf Kuba, auch das ist eine Folge der Reformen Raúl Castros. Zwar gehört Kubas Bildungssystem zu den besten Lateinamerikas, doch gutes Geld verdienen Ingenieure, Lehrer und Mediziner nur, wenn sie andere Jobs übernehmen. 20 Euro beträgt das monatliche Durchschnittsgehalt eines Akademikers – als Taxifahrer, Touristenführer oder Barmann in einem All-inclusive-Hotel kommt an Trinkgeldern viel mehr zusammen. Die goldene Regel lautet: Je mehr ein Kubaner mit Touristen zu tun hat, desto mehr kann er verdienen. So wie Luis Reyes.

„Geld interessiert mich nicht mehr“, sagt der Mittvierziger, der in Havannas Altstadt drei „Casas Particulares“ betreibt, also Zimmer an Touristen vermietet. 1998 fing er mit zwei Räumen in der Wohnung seiner Eltern an, nun werden seine Casas im Lonely Planet und Guide du routard empfohlen. Ständig sucht er nach Antiquitäten, um die Zimmer zu verschönern – oder versucht, weitere Wohnungen zu kaufen. 25000 Dollar kostet eine Drei-Zimmer-Wohnung im Zentrum Havannas, für eine schöne Villa am Meer wird locker eine Million bezahlt. Solche Beträge kann sich nur leisten, wer Verwandte in den USA oder Europa hat, die auf ein gutes Investment spekulieren – jetzt, wo Kuba sich zaghaft öffnet.

Es gilt, sich clever zu verhalten und sich für den Moment zu positionieren, in dem die Reformen wirklich greifen oder die Regierung die Zügel lockert. Das gilt auch für fremde Investoren: Neben Brasilien, China, Venezuela und Russland wollen immer mehr europäische Staaten mit Kuba Geschäfte machen – im Februar kündigte Brüssel Gespräche über ein Handelsabkommen an. Ende März verabschiedete Kubas Parlament einstimmig ein Gesetz, das Auslandsinvestitionen erleichtern soll.

Geht es nach Jesús Pulido Catasús, sollte Raúl Castro nichts überstürzen. Denn der Spagat ist schwierig: Künftig soll ein Drittel der 5,3 Millionen kubanischen Arbeitnehmer als Cuentapropistas arbeiten; bereits heute sind es mehr als 400000. Ohne die Privatunternehmer kann Kubas von Staatsbetrieben dominierte Wirtschaft nicht überleben, doch zugleich sollen Errungenschaften wie die kostenlose Gesundheitsvorsorge und das hohe Bildungsniveau erhalten bleiben. Ein Dilemma. „Niemand weiß, wie ein sozialistischer Staat richtig funktioniert“, sagt Catasús.

Sein Wort hat Gewicht: Der weißhaarige Wirtschaftsprofessor und Regierungsberater empfängt in einer schönen Villa in Havanna, dem Sitz der Ökonomen-Organisation ANEC. Im Eingangsbereich stehen Käfige mit Papageien, die laut vor sich hinpfeifen. Catasús gibt offen zu: Als alles dem Staat gehörte, habe es auch nicht geklappt. Für ihn steht fest: „Jemand, der mehr arbeitet, muss am Ende auch mehr verdienen.“
Ähnlich klingt es bei Raúl Castro: „Kuba muss aufhören, das einzige Land zu sein, in dem man ohne zu arbeiten leben kann“, sagte der Staatschef im Sommer 2010.

Sein Land befinde sich in einer Übergangsphase, sagt Catasús. Bevor Gesetze geschrieben werden, beobachte der Staat, was funktioniere – und was nicht. Ähnlich sieht es die Deutsch-Kubanerin Jenni Morin Nenoff, die ihre Doktorarbeit über Kubas neue Selbständige schreibt: „Momentan geht es um neue Spielregeln, aber die werden nicht nur vom Schiedsrichter festgelegt. Die Spieler testen Grenzen aus und wollen Einfluss nehmen.“ Ohne staatlichen Einfluss werde es auch künftig nicht gehen, betont Ökonom Catasús: „Es darf nicht sein, dass sich zu viel Kapital in den Händen weniger Leute sammelt. Die Unterschiede müssen tolerierbar sein.“

Wie groß die Unterschiede schon jetzt sind, sieht man in Viñales, einem grünen Tal im Westen Kubas. Dorthin strömen die Touristen aus Europa und Kanada, die dem Castro-Regime die überlebenswichtigen Devisen in die Kassen spülen – zuletzt mindestens zwei Milliarden Dollar pro Jahr. Am Ende der Hauptstraße, in der sich Restaurant neben Pension neben Souvenirladen reiht, führt ein Lehmweg in die Natur. In einer Scheune sitzt Benito Camejo, legt sich ein Holzbrett auf den Schoß und rollt darauf Tabakblätter zu Zigarren. „Ich heiße Benito, wie Benito Mussolini“, so stellt er sich vor. Ein Mannsbild wie aus einem Mafia-Roman: Panamahut, Schnurrbart, das Hemd steht bis zum Brusthaar offen, zwischen den Zähnen klemmt eine dicke Zigarre. Er hat zehn Hektar Anbaufläche, 50000 Pflanzen wachsen hier. Er muss 90 Prozent seiner Ernte für einen Fixpreis an den Staat abtreten, der die fertigen Zigarren teuer ins Ausland verkauft.

Den Rest darf er behalten, offiziell als Eigenbedarf, in Wahrheit verkauft er diesen Rest aber wohl auf dem Schwarzmarkt. Benito Camejo gibt das nicht direkt zu, aber er sagt: „Ich bin kein Heiliger.“ Fragt man ihn, ob es ein lukratives Geschäft ist, nickt er nur, grinst und sagt: „Dafür habe ich Pech in der Liebe.“
Doch Benito Camejo macht nicht nur mit Tabak gutes Geld. Auch er weiß, wie er mithilfe des Tourismus seinen Umsatz noch steigern kann. Im Stundenrhythmus karren Reiseveranstalter ganze Urlaubergruppen in Bussen zu seiner Ranch neben den Tabakfeldern. Dann beginnt die Benito-Show: Er führt über seine Felder, zeigt den Touristen wie man Zigarren rollt, reißt Witze und am Ende serviert er Kaffee und Rum in seinem Wohnzimmer. „Tabakbauern gewähren authentische Einblicke in den Alltag der Inselbewohner“, heißt es in den Prospekten. Dass es sich in Wahrheit um Massentourismus handelt, kriegen viele Urlauber nicht mit, der Preis für die Benito-Show ist irgendwo versteckt im Gesamtpreis der Pauschalreise – und wenn der nächste Bus kommt, haben sie Benitos Ranch schon verlassen.

Für die Zusammenarbeit mit den zumeist staatlichen Reiseveranstaltern bekommt Camejo umgerechnet einen Dollar pro Tourist, da kommen pro Woche ein paar hundert zusammen. Zusätzlich zum Tabakgeschäft, versteht sich. Auf Kuba ist das irre viel Geld. Das Beispiel Benito zeigt, wie entsteht, was Raúl Castro eigentlich verhindern will: eine reiche Oberschicht.

Wer auf Kuba Reichtum sucht, hatte bis vor einigen Jahren nur eine Chance: die Flucht in die USA oder nach Europa, in die Arme des kapitalistischen Klassenfeindes. Doch obwohl die Kubaner seit Kurzem ganz legal ausreisen dürfen, gibt es immer mehr Menschen, die in den Reformen ihr Glück wittern und auf Kuba bleiben – oder sogar auf die Insel zurückkehren.

So wie Carlos Fernández-Aballí. Der Diplomatensohn wuchs in Venezuela auf, das Ingenieurstudium absolvierte er in Bristol, 2006 kam er zurück. „Viele Leute wundern sich, wieso ich wieder auf Kuba bin“, sagt der 29-Jährige. Zum Gespräch bittet er auf die Terrasse seines zweistöckigen Hauses in einem Vorort von Havanna. Am Kühlschrank hängt ein New-York-Magnet, an der Wand das Foto seiner Abschlussfeier. Bereits als Student gründete er die Organisation Engineers without Borders, die nach technischen Lösungen für Probleme in Entwicklungsländern sucht. „Meine englische Uni setzte ganz auf Hightech. Solche Produkte können sich nur 15 Prozent der Menschen auf diesem Planeten leisten, und ich bin überzeugt, dass Technik auch eine soziale Aufgabe hat.“

Fernández-Aballí will sein Fachwissen für Kuba nutzbar machen. Deshalb forscht er jetzt am Zentrum für Erneuerbare Energien der Polytechnischen Hochschule Havanna. Technische Details und Zahlen sprudeln nur so aus ihm heraus, doch er leugnet nicht, wie schwer ihm die erste Zeit in seiner Heimat fiel: „Ich hatte Anekdoten gehört, wie kompliziert der Alltag hier ist. Und es stimmt: Die Bürokratie macht es schwer, Lösungen zu finden und Eigeninitiative wird selten belohnt.“ Doch mittlerweile gebe es mehr Freiräume für Selbständige wie ihn. Er beschäftigt sich seit Langem mit einem für Westeuropäer banal wirkenden Problem: dem Preis von Knoblauch. „Hier in Kuba variiert er innerhalb eines Jahres um 600 Prozent“, so Fernández-Aballí. Der Grund: Die geruchsintensive Pflanze lässt sich schwer konservieren. Also entwickelte der Ingenieur mit einem Kumpel eine Knoblauchpresse, die den Zehen das Wasser entzieht. Restaurants können das Pulver ihrer Firma Sazon Purita kaufen und haben so Planungssicherheit.

Dem Jungunternehmer waren zwei Dinge wichtig: Für sein Produkt sollte es in Kuba einen Markt geben, und die Maschine musste ohne Ersatzteile auskommen – die Handelsblockade der USA macht den Import teuer bis unmöglich. Seine Presse besteht unter anderem aus einer Fahrradkette, eingeschmolzenem Eisen, Plastikrohren und Küchenutensilien. Es schwingt etwas von Start-up-Spirit mit, wenn der junge Mann erzählt – nur dass Fernández-Aballí nicht die Aussicht auf einen Millionendeal motiviert. Sagt er jedenfalls. Seine Erfindung diene der Nahrungsmittelsicherheit, und als Startkapital habe das Stipendium für seine Promotion genügt. Die wenig subtile Botschaft: Auch wer keinen Diplomaten als Vater oder Verwandte in Miami habe, kann auf Kuba etwas bewegen.

Man nimmt dem 29-Jährigen ab, dass er die Gesellschaft verbessern und mit einfacher Technik große Probleme lösen will. Sein Beispiel erinnert an Gilberto Valladares, den Friseur. Beide machen sich die zaghaften marktwirtschaftlichen Reformen der Castro-Regierung zunutze, um Geld zu verdienen. Doch beide vergessen dabei ihre soziale Verantwortung nicht.

So dürfte sich Raúl Castro das neue Kuba vorstellen, den Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Frage ist nur: Sind genug Kubaner bereit, diesen Weg mitzugehen? Oder werden die Kleinunternehmer den Sozialismus bald komplett infrage stellen und andere Freiheiten verlangen? Wie stark ist die Sehnsucht nach Demokratie oder dem Zugang zum World Wide Web, der auf Kuba auch 2014 nur in staatlichen Internet-Cafés und zu astronomischen Preisen möglich ist?

Wie es aussieht, wird es noch ein paar Jahre dauern, bis diese Fragen beantwortet sind. Denn heute gibt es nur wenige Kubaner, die ihr Leben aus einer so privilegierten Position heraus gestalten können wie Carlos Fernández Aballí, der junge Knoblauchpressen-Tüftler. Die meisten seiner Altersgenossen haben zwar eine gute Ausbildung, doch sie erhalten keine guten Jobs und ihre Selfmade-Pläne scheitern schon am fehlenden Startkapital.

„Neulich“, erzählt Fernández Aballí, „war ich in einem Restaurant, da war der Kellner studierter Atomphysiker.“ So sieht sie aus, die kubanische Realität 2014.

Für Überraschungen gut

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Tel Aviv – Der Likud-Politiker Reuven Rivlin ist zum neuen Präsidenten Israels gewählt worden. Für den 74-Jährigen erfüllt sich damit im zweiten Anlauf ein Lebenstraum – vor sieben Jahren war er noch Schimon Peres unterlegen, dessen Amtszeit Ende Juli ausläuft. Die Mitglieder der Knesset, des israelischen Parlaments, gaben Rivlin nun im zweiten Wahlgang mit 63 zu 53 Stimmen den Vorzug vor dem Mitbewerber Meir Schitrit von der Hatnua-Partei, die ebenfalls zur Regierungskoalition zählt. Rivlin ist der zehnte Präsident in Israels 66-jähriger Geschichte. Er bedankte sich bei allen „wahren Freunden“ für die Wahl und erklärte: „Ich gehöre jetzt allen. Ich gehöre dem Volk.“



Reuven Rivlin ist zum zehnten Präsidenten Israels gewählt worden.

Der künftige Staatschef ist gelernter Jurist und ein altgedienter Politiker, der zum rechten Flügel des Likud gezählt wird. Neue Initiativen für einen Frieden mit den Palästinensern, wie sie zum Markenzeichen des weltweit verehrten Peres geworden waren, sind von ihm kaum zu erwarten. Schließlich hat er sich oft genug als Gegner einer Zwei-Staaten-Lösung profiliert und die Überzeugung vertreten, dass „ganz Israel uns gehört“. Beim Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 hatte er heftig gegen die Pläne des damaligen Premiers Ariel Scharon gewettert, und über die besonders radikalen Siedler von Hebron hielt er immer wieder seine schützende Hand.

Dennoch hat sich Reuven, genannt „Ruby“ Rivlin auch große Anerkennung über die Parteigrenzen hinweg erworben, die ihm nun bei der Wahl zugute kam. Persönlich gilt er als humorvoll, emotional und ehrlich – er ist der Typ des manchmal strengen, aber letztlich gütigen Großvaters. Im Amt des Parlamentspräsidenten, das er von 2003 bis 2006 und noch einmal von 2009 bis 2013 bekleidete, zeigte sich Rivlin als aufrechter Verteidiger der Demokratie gegenüber manch krudem Gesetzesvorstoß auch aus dem eigenen Lager. Zudem streckte er die Hand auch zu den arabischen Abgeordneten aus.

Allerdings geriet er dabei immer wieder in Konflikt mit Premierminister Benjamin Netanjahu, und kundigen Beobachtern zufolge auch mit dessen Ehefrau Sara, was in Israels Politik durchaus als schwere Hypothek zu gelten hat. Am Ende hatte der Regierungschef sich nur widerwillig hinter die lange angekündigte Kandidatur seines Parteifreundes gestellt. Zuvor hatte er lange Zeit vergeblich versucht, einen anderen Bewerber zu finden und damit geliebäugelt, die Wahl zu verschieben oder gar einen Vorstoß zur Abschaffung des weitgehend zeremoniellen Präsidentenamts zu wagen. Das gestörte persönliche Verhältnis zwischen Staatschef und Premier dürfte einen Schatten auf die künftige Zusammenarbeit werfen.

Rivlin inszeniert sich gern als stolzer Spross Jerusalems, inklusive seiner Begeisterung für den heimischen Fußballclub Beitar. Er entstammt einer alteingesessenen Familie, deren Vorväter vor etwa 200 Jahren aus Litauen eingewandert waren. Diesen frühen Zug ins Gelobte Land nennt er „Zionismus in der reinsten Form“. Einer aus dem Clan hat sich einmal die Mühe gemacht, einen Stammbaum der weitverzweigten Familie anzulegen; er kam auf 57000 Rivlins weltweit. In Israel sind Träger des Namens in allen öffentlichen Bereichen von der Politik über die Kultur bis in die Wissenschaft vertreten. „Wir sind keine Familie mehr, wir sind ein Stamm“, sagt Reuven Rivlin dazu. Er selbst hat mit seiner Frau vier Kinder.

Sein Wahlerfolg ist ein Favoriten-Sieg, den der zur politischen Mitte zählende Meir Schitrit nicht gefährden konnte. Die drei anderen Bewerber waren im ersten Wahlgang ausgeschieden. Die frühere Parlamentspräsidentin Dalia Itzik, die sich Hoffnungen darauf gemacht hatte, als erste Frau ins Präsidentenamt gewählt zu werden, erhielt nur 28 Stimmen. Dalia Dorner, ehemalige Richterin am obersten Gerichtshof, bekam 13 Stimmen. Der Chemie-Nobelpreisträger Daniel Schechtman musste sich mit einer einzigen Stimme bescheiden.

Politische Kommentatoren hatten zuvor geurteilt, das Beste an dieser Wahl sei, dass sie nun vorbei ist. In den vergangenen Wochen war es zu manchem Tiefpunkt in der politischen Kultur gekommen. Ein Bewerber schied wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung aus, einer wegen Korruptionsermittlungen. Knesset-Sprecher Juli Edelstein verkündete noch am Wahltag, dass Lehren zu ziehen seien aus diesem schmutzigen Präsidentschaftsrennen. „Es gibt Dinge zu verbessern und wir können das tun“, sagte er.

Rivlin will nach der offiziellen Amtsübernahme Ende Juli die Präsidenten-Residenz zu einem „Haus der Partnerschaft, des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses“ machen. Sein Impetus wird nach innen gerichtet sein, in die israelische Gesellschaft. Auch hier gibt es manche Risse zu kitten, wie in diesem Wahlkampf deutlich zu sehen war.

Britische Werte

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Als der britische Premier David Cameron vergangenen April Sajid Javid zum Minister für Kultur, Medien und Sport berief, löste das nicht wenig Verwunderung aus. Der Tory-Abgeordnete schien keinerlei Fachkompetenz mitzubringen: Als überzeugter Thatcherite hatte der 44-Jährige eine steile Karriere im Bankenwesen hingelegt, bevor er vor vier Jahren in die Politik gewechselt war. In einer rauen Nachbarschaft Bristols als eines von fünf Kindern eines pakistanischen Busfahrers aufgewachsen, nannte der neue Minister als seine wichtigsten kulturellen Einflüsse die Popband U2 und „Raumschiff Enterprise“. Es gab Zweifel, ob Javid in dem einen Jahr bis zur nächsten Unterhauswahl sein Ressort irgendwie würde prägen können.



Die Ballettvorstellungen im Royal Opera House in London sind ein Teil der britischen Hochkultur.

Jetzt aber hat Sajid Javid gleich mit seiner ersten großen Rede dem kulturpolitischen Diskurs in Großbritannien seinen Stempel aufgedrückt. In seiner Heimatstadt Bristol wandte er sich mit der Aufforderung an die Kulturschaffenden: „Machen Sie das, was Sie tun, für alle zugänglich!“ Unzugänglich sei die britische Hochkultur unter anderem für Menschen mit einem ethnischen Hintergrund wie dem seinen. Zu viele Briten seien „kulturell entrechtet“: „Vergessen Sie nie“, so Javid, „dass jeder Penny öffentlicher Förderung von hart arbeitenden Steuerzahlern aus allen Bevölkerungsgruppen stammt.“
Während die Betonung des finanziellen Aspekts subventionierter Kunst aus dem Mund eines ehemaligen Bankers kaum überraschte, traf Javids Feststellung, der Kunstbetrieb schließe Minderheiten aus, einen empfindlichen Nerv. Der Kulturminister legte in einem Interview mit dem Guardian nach: In seiner Kindheit sei der Besuch eines Theaters, etwa des Londoner Donmar Warehouse, von seiner pakistanischen Familie gar nicht erst als Möglichkeit der Freizeitgestaltung in Betracht gezogen worden. Ein Kinofilm sei schon etwas ganz Besonderes gewesen. Die Frage laute, warum sich bis heute „schwarze und andere ethnische Minderheiten“ so viel weniger mit Kunst befassten als die weiße Mittelschicht? Und warum sie als aktive Teilnehmer am Kulturbetrieb derart unterrepräsentiert seien?

Antworten auf diese Fragen hat Javid bisher nicht parat. Aber allein, dass er sie stellte, genügte, die kulturpolitische Sprecherin der Labour-Opposition, Harriet Harman, zur eiligen Vorlage eines eigenen Kulturkonzepts zu bewegen: Sollte Labour die Wahl 2015 gewinnen, würden staatlich subventionierte Kulturorganisationen nachweisen müssen, dass sie alles dafür täten, sich für sämtliche Bevölkerungsgruppen zu öffnen. Weder in der Oper noch bei den „BBC Proms“ sehe sie Menschen im Publikum, die nicht wie sie selbst „aus der weißen städtischen Mittelschicht“ stammten.

Die von Javid konstatierte Entfernung zwischen ethnischen Minderheiten und dem hochkulturellen Mainstream besteht zweifellos. Die von ihm angestoßene Debatte wirkt jedoch seltsam unproduktiv. Denn gerade die staatlich subventionierten britischen Kultureinrichtungen bemühen sich schon lange, Minderheiten und sozial Benachteilige mit ins Boot zu holen. Der Eintritt in die größten Museen ist frei. Geförderte Theater halten ein Kontingent preiswerter Tickets für Menschen aus der Nachbarschaft bereit und organisieren Aufführungen für Schulklassen.

Das alles ist symptomatisch für eine britische Identitätskrise, die weit über den kulturpolitischen Rahmen hinausgeht. Nach außen manifestiert sich diese Krise in den jüngsten Europawahl-Erfolgen der EU-feindlichen UK Independence Party. Nach innen entlädt sie sich gerade in einem hitzigen Streit, der über die vermeintliche Unterwanderung einiger Schulen in Birmingham durch islamistische Extremisten tobt. Die Schulaufsichtsbehörde Ofsted hat dort vier nominell überkonfessionelle staatliche Schulen bis auf Weiteres unter Aufsicht gestellt. Kurzfristig angesetzte Inspektionen ergaben, dass hier eine „Kultur der Angst und Einschüchterung“ etabliert wurde. Es habe eine organisierte Kampagne gegeben, den Lehrplan entsprechend islamischer Weltanschauung abzuändern, so der Bericht. Jungen und Mädchen seien getrennt unterrichtet, nicht-muslimische Lehrer marginalisiert worden. Die Schüler der betroffenen Schulen seien „schlecht auf das Leben in einem modernen Großbritannien vorbereitet“, sagt Ofsted-Chef Michael Wilshaw.

Als Reaktion auf den Bericht hat Sajid Javids konservativer Parteigenosse, Bildungsminister Michael Gove, angekündigt, alle Schulen müssten fortan „britische Werte lehren“. Dazu zählt er Zivil- und Strafrecht, religiöse Toleranz und die Ablehnung jeder Geschlechtertrennung. Gove trat 2010 mit dem Reformvorsatz an, ein staatsfernes, eigenverantwortliches Schulsystem zu etablieren. Kritiker sagen jedoch, durch die Abkoppelung einzelner Schulen von der Aufsicht lokaler Körperschaften habe der Minister Auswüchse wie jene in Birmingham selbst gefördert.

Paradoxerweise verfolgt Gove gleichzeitig auch ein höchst präskriptives Lehrprogramm. So forderte er kürzlich, zur Vorbereitung für die Englischprüfungen in der Sekundarstufe Isollten Schüler mindestens ein Shakespeare-Drama, einen britischen Roman aus dem 19. Jahrhundert, eine Auswahl britischer Gedichte von 1789 bis heute sowie ein britisches Buch oder Drama aus dem 20. Jahrhundert lesen. Dieser Plan wurde ihm als reaktionäre Agenda ausgelegt, die englische Texte ausländischer Autoren aus dem Lehrplan dränge.

Tatsächlich scheint es Gove darum zu gehen, einen verbindlichen, Identität stiftenden Kulturkanon zu konsolidieren. Dass ein solcher Eingriff überhaupt nötig erscheint, beweist, wie sehr selbst bisher unantastbare Eckpfeiler britischer Kulturidentität an Tragkraft verloren haben. Der gesellschaftliche Kitt, den etwa die Dramen Shakespeares als Ausdruck von Englishness oder Britishness bildeten, bleibt nicht haften in gesellschaftlichen Gruppen, die sich nicht als englisch begreifen, und deren Vorstellung davon, was es heißt, Brite zu sein, deutlich von denen der weißen Mittelschicht abweichen.

Das ist kein spezifisch britisches Problem. Aber es ist in einem Land, das zu Recht Stolz ist auf seine große Toleranz, besonders lange und konsequent ignoriert worden. Wenn sich ein vorbildlich integrierter Immigrantensohn wie der „Enterprise“-Fan Sajid Javid vom britischen Kulturangebot nicht angesprochen fühlt, ist das bedauerlich. Wenn große Teile der britischen Bevölkerung sich im kulturellen wie nationalen Selbstverständnis ihres Landes nicht wiederfinden, ist dies eine weit größere Herausforderung. Und zwar eine, der man langfristig weder mit freiem Museumseintritt noch mit zentral dekretierten Werten wird beikommen können.

Geschüttelt, nicht getrötet

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Der größte Unterschied zwischen WM-Zeit und nicht WM-Zeit besteht – mal abgesehen von der Rundum-Bewimpelung alles Bewimpelbaren  – ja vor allem in der Definition dessen, was für einen zivilisierten Menschen ein angemessenes Lautäußerungsverhalten ist. Während einer WM dürfen vom Kleinkind bis zum Hochschulprofessor alle Menschen ungefragt ein „Schlaaand“ durch die U-Bahn brüllen, ohne dass sie mehr als ein Augenrollen ihrer Mitmenschen zu erwarten haben. In Kneipen und Public-Viewing-Orten werden Spieler angeschrien, obwohl sie einen nicht hören können im fernen Brasilien, und selbst in herkömmlichen Wohnzimmern darf ein Spiel so laut kommentiert werden, dass das Nachbarsbaby aufwacht, dessen Eltern sonst sehr erpicht auf die Einhaltung der Zimmerlautstärke sind.  



Caxirolas featuring Erfinder und Präsidentin: Carlinhos Brown und Dilma Roussef bei der Präsentation des offiziellen WM-Instruments im April 2013.

Seit dem letzten Turnier in Südafrika hat die WM-Akustik aber eine neue Komponente bekommen. Stimme und bewährte Schlaginstrumente genügen nicht mehr, ein ordentliches Turnier braucht seinen eigenen Soundtrack, sein ganz eigenes Lärmwerkzeug. In Südafrika war es die Vuvuzela. In Brasilien soll es nun die Caxirola sein (Ausprache in etwa: Kaschirola).  

Es handelt sich dabei um ein Percussion-Instrument aus Plastik, das optisch an eine unten abgeschnittene und mit Fingerschlaufen versehene Zitrone (oder Avocado, je nach Farbe) erinnert und klanglich einen Bereich zwischen Babyrassel und Hagel auf Wellblechdach abdecken kann. Die WM 2014 wird also anders serviert als die WM 2010: geschüttelt, nicht getrötet.  

Erfunden hat die Caxirola der brasilianische Komponist und Percussionist Carlinhos Brown, ganz hochoffiziell und in Abstimmung mit der Fifa und dem brasilianischen Ministerium für Sport. Die Präsidentin Dilma Rousseff war bei der Vorstellung des Instruments vor dem Confederations Cup 2013 dabei und gab sich begeistert – auch wenn weder sie noch der Erfinder bei dem Termin eine besonders ansprechende Performance hinlegten.  

Die Caxirola hat gegenüber der Vuvuzela einen entscheidenden Vorteil: Sie ist nicht so laut. Brasilianische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es 30.000 Caxirola-Schüttler gleichzeitig bräuchte, um den Lärmpegel von nur einer Vuvuzela zu erzeugen. Auch wenn für den durchschnittlichen Fußballfan sicher die Formel „mehr Krach = mehr Spaß“ ihre Gültigkeit hat, ist das schwache Dezibellevel für die Durchsetzungsfähigkeit der Caxirola wahrscheinlich eher hilfreich. Denn nachdem sich in Südafrika die Stadien anhörten wie Schwärme extraterrestischer Monster-Hornissen, TV-Sender bei ihren Übertragungen mit den Lärmpegeln kämpften und wahrscheinlich weltweit die Ohrenärzte-Wartezimmer vor Vuvuzela-geschädigten überquellten, geriet die Tröte in Verruf. Die UEFA sprach ein Vuvuzela-Verbot für EM-, Europacup- und Champions-League-Spiele aus, auch einzelne Bundesligavereine verbannten sie.  

Aber auch wenn Erfinder Carlinhos Brown bei seiner Erfindung offenbar Lehren aus Südafrika gezogen hat, hat er nicht alles bedacht. Die Caxirola ist in den Stadien trotzdem verboten. Ihr handgranatenartiges Äußeres inspirierte Fußballfans in Momenten großer Wut zu spontaner Zweckentfremdung: Bei einem Spiel zwischen E. C. Vitória and E. C. Bahia (zu dessen Fans übrigens Carlinhos Brown zählt) flogen Dutzende Caxirolas aufs Spielfeld, die Partie musste unterbrochen werden. Danach verbannte Brasiliens Justizminister das Instrument aus den WM-Stadien. Das offizielle WM-Instrument ist also offiziell verboten.  

Die WM in Brasilien wird bestimmt trotzdem eine klanglich eher ansprechende. Samba-Nation und so. Sorgen muss man sich vielleicht eher machen, welche Instrumente in den nächsten Jahren noch so auf uns zukommen. Die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 sollen ja in Russland beziehungsweise in Katar stattfinden.
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