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Die Krux mit den Sanktionen

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Der Präsident wand sich ein wenig. Natürlich müssten die internationalen Prinzipien beachtet werden. Und natürlich sei der Erhalt einer souveränen Ukraine wichtig. Aber, so befand Zyperns Präsident Nikos Anastasiadis jüngst bei seinem Besuch in Berlin, es müssten eben auch die Auswirkungen möglicher Sanktionen gegen Russland für jedes Land der Europäischen Union abgewogen werden. Etwas später sprach der Präsident Klartext: „Leider ist es im Fall Zyperns so, dass dieses Land eine große Abhängigkeit von Russland hat.“



Prorussische Aktivisten feiern am Mittwoch die Rückeroberung der Stadtverwaltung in Mariupol von Kräften der ukrainischen Nationalgarde.

Schon in der Euro-Krise war die enge Verflechtung Zyperns mit Russland ein Thema. Die beiden Staaten haben ein Doppelbesteuerungsabkommen, das es für russische Firmen attraktiv macht, Gewinne nach Zypern zu schaffen, um sie dann in Russland zu reinvestieren. Außerdem verbringen viele russische Touristen ihren Urlaub auf der Insel, der Dienstleistungssektor ist stark vom Geschäft mit den Russen abhängig. Und die zyprische Armee bezieht Ausrüstung aus Russland.

Die gemeinsame Pressekonferenz von Anastasiadis und Bundeskanzlerin Angela Merkel war mithin ein lehrreicher Vorgeschmack auf das, was die Europäische Union erwarten könnte, wenn bei einer weiteren Eskalation der Ukraine-Krise über eine dritte Runde von Strafmaßnahmen gegen Russland verhandelt werden müsste. Zypern ist ein besonders heikler Fall, aber auch Staaten wie Bulgarien und die Slowakei sind besorgt wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen, die eine Verschärfung der Sanktionen für sie haben könnte.

Für Angela Merkel hat der Zusammenhalt der EU dabei Priorität. „Wir entscheiden im Europäischen Rat immer einstimmig“, antwortete die Kanzlerin auf die Frage, ob von Russland besonders abhängige Staaten von Sanktionen ausgenommen werden könnten. „Jedes Land stimmt mit, und kein Land kann überstimmt werden.“ Das gibt den kleinen Staaten Sicherheit – kann aber auch den Druck auf sie erhöhen, sich nicht zu isolieren. Ende vergangener Woche signalisierte immerhin US-Präsident Barack Obama beim Besuch Merkels in Washington Geduld mit den europäischen Partnern: In der EU müsse es „umfassende Konsultationen geben“, sagte der Präsident. „Sie haben 28 Länder. Manche sind für einen Vergeltungsschlag Russlands anfälliger als andere.“

Die Kanzlerin verweist immer wieder auf das Beispiel der Energie. Sechs EU-Staaten seien zu 100 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig. Es sind: Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Bulgarien und die Slowakei. Zwölf EU-Staaten bezögen mehr als 50 Prozent ihres Gases aus Russland. Merkel versucht, den entsprechenden Sorgen auch mit dem Blick auf die längerfristige Perspektive zu begegnen. Mit Einschränkungen der Energielieferungen schade Russland nicht nur sich selbst, sondern beschleunige auch den Trend in Europa, sich von Russland möglichst schnell unabhängig zu machen. Deshalb unterstützt Merkel nach anfänglichem Zögern inzwischen „im Grundsatz“ den Vorschlag von Polens Premier Donald Tusk für eine engere EU-Zusammenarbeit in der Energiepolitik.

In Berlin weiß man, dass gerade die von der Euro-Krise besonders hart getroffenen Staaten einen neuerlichen Rückschlag nur schwer verkraften könnten. Auch Zyperns Präsident verwies auf das Rettungsprogramm für sein Land und erste Erfolge bei der ökonomischen Erholung. Deshalb dürfe man den möglichen Schaden „nicht außer Acht lassen“. Ein weiterer Konfliktpunkt entsteht durch die unterschiedlichen Strukturen der einzelnen Volkswirtschaften. So hat zum Beispiel Großbritannien überhaupt kein Interesse an Sanktionen, die seinen Finanzsektor beschränken könnten. In Deutschland sorgt sich die Wirtschaft vor allem um ihre Exporte. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs hat deshalb die EU-Kommission gebeten, die Folgen von Sanktionen und möglichen Gegensanktionen für alle Mitgliedstaaten zu prüfen.

Für die Abstimmung mit Washington über mögliche Sanktionen reist seit einigen Tagen der Staatssekretär des US-Finanzministeriums, David Cohen, durch europäische Hauptstädte. In Deutschland könnte er dabei der Überlegung begegnet sein, die finanzielle Unterstützung für Russland-Geschäfte durch die Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung auszusetzen.

In Brüssel unterstrich derweil EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, die EU sei im Falle einer „weiteren Destabilisierung“ der Ukraine bereit, „zusätzliche Sanktionen“ zu erlassen. Am Rande eines Treffens mit Japans Premier Shinzo Abe sagte er, trotz der Übereinkünfte der Genfer Konferenz sei eine Verschlechterung der Lage in der Ostukraine unübersehbar. Die Ukraine sei ihren Verpflichtungen aus der Genfer Erklärung nachgekommen, von Russland könne man dies hingegen nicht sagen. Gleichwohl betonten sowohl Van Rompuy wie auch Abe, dass man mit der russischen Führung weiter im Gespräch bleiben müsse. „Das Fenster muss offen bleiben“, sagte Abe. Van Rompuy erklärte überdies, die EU wolle der Ukraine bei der Reform des „zivilen Sicherheitssektors“ helfen – also Polizei, Geheimdienste und Justiz.

Am Mittwoch einigten sich in Brüssel die EU-Botschafter in Vorbereitung des für Montag geplanten Außenministertreffens darauf, den Geltungsbereich für mögliche Sanktionen zu verbreitern. Auf diese Weise sollen insbesondere russische Unternehmen wirksamer bestraft werden können, die von der Annexion der Krim profitieren, berichteten EU-Diplomaten aus den Beratungen. Die Beschlüsse müssen noch von den Außenministern bestätigt werden. Bislang ist eine Bestrafung nur möglich, wenn Firmen direkt mit Personen in Verbindung stehen, „die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen“. Offen noch, wie es sich auf die Diskussion auswirken wird, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Separatisten in der Ostukraine aufgerufen hat, das für Sonntag geplante Unabhängigkeitsreferendum zu verschieben.

Neue Kölner Schule

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Es hat sich was verschoben im deutschen Fernsehen. Noch immer gibt es die Front zwischen Seriosität und Belanglosigkeit, allerdings scheinen die Parteien Plätze getauscht zu haben. Sehr schön konnte man das sehen, als das ZDF am Dienstag ein sogenanntes Duell zwischen Burger King und McDonald’s veranstaltete und im Großteil der Sendezeit kaum mehr lieferte als geschmäcklerische Zufallsbefunde, die zu Testergebnissen aufgeblasen wurden. Relevanz und Nachwirkung? Gleich null.



Alter Meister: Günter Wallraff bildet jetzt bei RTL aus – und lobt den Sender für seinen Mut.

Das wäre möglicherweise unbemerkt geblieben, hätte nicht ein Konkurrent eine gute Woche vorher einen ganz anderen Maßstab gesetzt. Da war RTL mit seinem „Team Wallraff“ losgezogen, um zu zeigen, welch katastrophale Zustände in einzelnen Burger-King-Filialen herrschen. Der RTL-Journalist Alexander Römer hatte undercover beim Fast-Food-Anbieter angeheuert und unter anderem entdeckt, wie abgelaufene Lebensmittel einfach umdatiert wurden. Die aus dem Film resultierenden Folgen waren so verheerend für Burger King, dass die Schnellimbisskette Schadensbegrenzung betreiben musste. Ein Geschäftsführer wurde abgelöst, und der Konzern gelobte Besserung. Man habe gelernt.

Was ist los im deutschen Fernsehen, wenn ein Privatsender dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen vormacht, wie man Missstände aufdeckt und wirklich was auslöst? Ein Besuch in der zuständigen RTL-Redaktion soll Antworten bringen.

Dort sitzen drei Undercover-Reporter. Caro Lobig hat beim Versender Zalando gearbeitet und die schlechte Behandlung der Mitarbeiter aufgedeckt, Alexander Römer war bei Burger King mit versteckter Kamera unterwegs, Pia Osterhaus hat als Praktikantin in Pflegeheimen gravierende Missstände gefilmt. Unter Anleitung von Undercover-Altmeister Günter Wallraff haben sie sich eingeschlichen und in bislang drei Filmen belegt, was schwer zu belegen ist.

Der Erfolg war groß und ansteigend. Von Folge zu Folge schauten mehr Menschen zu, und am Schluss, als es um Pflege ging, hatte „Team Wallraff“ mit 4,4 Millionen Zuschauern mehr Publikum erreicht als der vorher als Millionärs-Quizonkel firmierende Günther Jauch. Auch bei Facebook ging es steil bergauf. Wurden vor der ersten Folge 200 Facebook-Fans gezählt, so sind es gut zwei Wochen später mehr als 47 000. „Ich hatte mit einem solchen Erfolg nicht gerechnet“, sagt Wallraff. Er war erst skeptisch, was die Arbeit beim Privatsender angeht. Nun aber zollt er Respekt. „RTL hat Mut bewiesen und den Verlust von Werbeeinnahmen riskiert“, lobt er.

Wallraff spielt derzeit wie gewohnt auf vielen Feldern. Er hilft Gewerkschaften und muss sich gerade mit einem von der Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach wegen uneidlicher Falschaussage in einem Verfahren von 2012 gegen ihn beantragten Strafbefehl herumschlagen. „Ich gehe davon aus, dass das durchschaut wird und in sich zusammenfällt“, sagt er.

Dass er für das Team trotzdem von hohem Wert ist, bekräftigt Pia Osterhaus, die als Reporterin im Heim gearbeitet hat und dort mehrfach an ihre Grenzen kam. „Ich habe so oft menschenunwürdige Situationen erlebt, in denen ich stopp rufen wollte. Günter Wallraff hat mich darin bestärkt, meine Deckung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten“, berichtet sie. Sie freut sich über die enorme Resonanz mit guten Quoten und Tausenden E-Mails, sie weiß aber auch, dass der Effekt einer guten Reportage nur begrenzt haltbar ist. „Man wird mit einer Reportage nicht ein ganzes System ändern. Das kann nur der Anfang sein.“

Fragt man, wie es kommen kann, dass RTL mit den Undercover-Reportagen gerade die große Welle macht, kommt schnell die Rede auf die Altersstruktur. „Das liegt an dem jungen Publikum, das wir erreichen“, sagt Caro Lobig. Tatsächlich war die Heim-Reportage am Montag Marktführer bei den Zuschauern unter 50 Jahren. „Unsere Themen kommen aus der Mitte der Gesellschaft“, sagt Jan Rasmus, der zuständige Redaktionsleiter des Teams, und präsentiert stolz den stetig ansteigenden Quotenverlauf. „Bei uns geht niemand ins Bett“, sagt er, und man spürt, dass RTL dieses Projekt durchaus als etwas ansieht, das auf die Marke einzahlt. „Die Dinge, die wir tun, tun wir sehr konsequent. Wir lassen uns das was kosten“, sagt er und berichtet, dass momentan noch einige Reporter aus dem Hause undercover unterwegs sind.

Viel Geheimhaltung ist dafür notwendig. Wie das mit den Kameras funktioniert, will niemand aus dem Team verraten. Und das Thema vom nächsten Montag wird auch noch nicht ausgeplaudert. „Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, das Thema vorher nicht zu verraten“, sagt Rasmus.

Sie wirken ernsthaft, diese jungen Reporter. Sie reden von Leidenschaft, und sie nehmen das, was sie tun, sehr ernst. So ernst, dass man sie glatt für ein bisschen verbissen halten könnte. „Ich hoffe, es kam rüber, dass wir auch viel Spaß hatten“, sagt der Burger-King-Reporter Alexander Römer am Schluss des Gesprächs.

Nun ja, nach purem Spaß klingt es nicht direkt, wenn diese RTL-Nachwuchskräfte berichten. Aber vielleicht ist gerade das auch eine Art Markenzeichen für eine neue Richtung des Privatsenders. Denn wie man Spaß hat, wissen die beim ZDF inzwischen offenbar ohnehin besser.

Sollen wir wirklich so leben?

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Der Applaus braust auf, er hat es geschafft. Unten sind Hunderte, dort in der Halle am Gleisdreieck im Zentrum Berlins. Er hat sie beschimpft, sie Versager genannt, und doch bleiben sie auf ihren Sitzen und applaudieren.

Sascha Lobo, der wichtigste Internetfuzzi im Land, hat nicht gesprochen, er hat gewütet. Kontrollsucht, Sicherheitsesoterik, Spähradikale – das ist sein Vokabular. Er dreht auf, Abteilung Attacke. „Rede zur Lage der Nation“, hat Lobo seinen Wutanfall im Vorabendprogramm der Internetkonferenz re:publica getauft. „Ich halte es für eine Unverschämtheit, für eine Katastrophe, was im Moment an Nicht-Aufklärung in der NSA-Affäre passiert“, sagt er. Auch in den vergangenen Jahren schon hat er in solchen Reden die eigenen Leute, die Netzgemeinde, für ihre Zaghaftigkeit kritisiert. Aber dieses Jahr meint er es richtig ernst.



Deutschlands oberster Internetfuzzi spricht: Sascha Lobo hält auf der re:publica seine "Rede zur Lage der Nation".

Es dauert nicht mehr lange, ein paar Wochen noch, dann jährt sich der Beginn der Überwachungsaffäre zum ersten Mal. Obwohl das Thema seither weltweit eine breite Öffentlichkeit erfährt, hat sich grundsätzlich nur wenig geändert. Noch immer muss man davon ausgehen, dass außer Kontrolle geratene Geheimdienste sämtliche Kommunikation überwachen. Noch immer sind entscheidende Fragen zur politischen Verantwortung unbeantwortet. Je länger sich die Geschichte hinzieht, desto unwahrscheinlicher scheint es, dass noch mit Aufklärung zu rechnen ist. Wie also kann eine aufgeklärte Zivilgesellschaft nun reagieren?

Wer eine Antwort auf diese Frage sucht, findet sie in diesen Tagen am ehesten in Berlin. Auf der re:publica, der wichtigsten Internetkonferenz, die das Land zu bieten hat, redet nicht nur Sascha Lobo der Bundesregierung und Netzgemeinde ins Gewissen. Auch sonst ist die Konferenz so politisch wie nie. In Person der Snowden-Vertrauten Sarah Harrison, des Internet-Theoretikers Evgeny Morozov oder des Netzaktivisten Jacob Appelbaum sind einige der wichtigsten Deuter der aktuellen Krise zugegen. „Into the wild“, raus in die Wildnis, lautet das Motto der Veranstaltung. Aber war nicht gerade die Lehre der vergangenen Monate, dass das wilde, anarchische Internet nur eine Illusion ist? Dass in Wahrheit alles kontrolliert und überwacht ist?

Jacob Appelbaum ist einer derjenigen, der die Geheimdienste und Polizeibehörden am liebsten komplett aus dem Internet verjagen würde. Nur wie? Er ist Anarchist, Hacker und ein ganz ordentlicher Entertainer. Er kann einem die technischen Details der Festplattenverschlüsselung erklären. Doch deshalb ist Appelbaum nicht zur re:publica gekommen. Appelbaum will aufklären, politisch. Deshalb steht er nun da auf der Bühne am Dienstagnachmittag und reißt gemeinsam mit der Bürgerrechtsaktivistin Jillian York einen Witz nach dem anderen.

Wer im Publikum nichts zu verbergen habe, will das Duo wissen. Ein Mann meldet sich, vermutlich halb im Spaß. „Kannst du deine Hose ausziehen?“, fragt Appelbaum. „Und kann ich deine Kreditkarten haben?“, sagt York. Ein Scherz, schon klar. Aber eben auch eine Demonstration, worum es in der Debatte eigentlich geht: „Glaubst du denn, dass du noch die Wahl hast, ob du deine Hose ausziehen willst?“, sagt Appelbaum. Das Duo kommt dann zur eigentlichen Pointe, einer Forderung: Verschlüsselt euer digitales Leben. Das sei keine Privatsache, sondern Bürgerpflicht. Je mehr Leute verschlüsselten, desto teurer wird es für den Staat. So lautet die Gleichung, die zumindest in der Theorie zurück in die Wildnis führt.

So oder ähnlich läuft das auf vielen Talks. Wer das ganze Jahr ohnehin an vorderster Front die digitale Debatte verfolgt, wird auf der re:publica nur wenig Neues erfahren. Doch darum geht es auch gar nicht. Viele Konferenzteilnehmer tragen auch jetzt nach Monaten der Enthüllung noch immer eine Wut im Bauch. Sie wollen ein Statement setzen, zeigen, dass das so nicht geht. Nicht alle tun das so lautstark wie Lobo. Der Netzaktivist und Konferenzorganisator Markus Beckedahl sagt am Mittwoch „Das Schlechteste wäre, jetzt aufzugeben und den Kopf in den Sand zu stecken“.

Der Kongress ist vor allem auch ein Vernetzungstreffen. Am Bierstand ist richtig was los. Der lustige Typ, den man ständig retweetet, ist ziemlich sicher da. Aber auch die Marketing-Chefin vom mittelständischen Unternehmen. Sogar unter den vor ein paar Jahren noch etwas skeptischen Journalisten hat die Veranstaltung inzwischen viele Verbündete. Auch Bild-Chef Kai Diekmann ist in diesem Jahr aus seinem Hochhaus rübergekommen, das ist ja auch das Mindeste für den voll digitalisierten Konzern, der Springer jetzt sein will.

Aus der Bloggerkonferenz ist tatsächlich eine Konferenz für die digitale Gesellschaft geworden. Doch das Bild hat einen Fehler. Der einzige Bundesminister, der auf der Konferenz hätte sprechen sollen, schickt seinen Staatssekretär. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller sei verhindert, heißt es aus dem Ministerium. Das Resultat: Die Berliner Spitzenpolitik hält sich raus aus Deutschlands wichtigstem Internetkongress. Dabei hätte es beim Aufeinandertreffen zwischen digitaler Gesellschaft und den Herrschern über die Geheimdienste ziemlich viel Gesprächsstoff gegeben.

Gemeinsam stark

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Es ist das aktuell größte Projekt der Bildungspolitik – und doch steht dahinter noch ein Fragezeichen. Die Inklusion, der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap, wird derzeit schrittweise umgesetzt: Jeder vierte Schüler mit Förderbedarf besucht schon eine Regelschule statt einer Förderschule. Zugleich sind viele Eltern verunsichert, ob nicht die Förderschule die besten Bedingungen für die Betroffenen bietet – eine Art Schutzraum mit weniger Leistungsdruck, abgespeckten Lehrplänen, kleineren Klassen? Eine Studie zeigt nun: Förderschüler, die in einer regulären Klasse lernen, profitieren sehr stark davon. Dies hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) festgestellt, die Forschungsstelle der Kultusminister. Die Autoren haben dazu bundesweite Leistungsvergleiche von Viertklässlern erneut ausgewertet. Die noch unveröffentlichte Studie liegt der Süddeutschen Zeitung vor.



Inklusion in Niedersachsen: Die 13-jährige Fenja (links) mit Down-Syndrom sitzt in Hildesheim während des Unterrichts in einer achten Klasse des Gymnasiums Marienschule neben Saskia (13).

Die Minister geben derlei Vergleiche in Auftrag, um ein einheitlicheres Niveau an Schulen zu erreichen. Für die IQB-Tests in Mathematik und Lesen wurden Kinder an regulären Schulen wie auch Förderschulen geprüft – und eben Schüler, die trotz eines festgestellten Sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in einer inklusiven Klasse sitzen. Kinder mit der Diagnose zeigen oft massive Verhaltensauffälligkeiten, Sprachdefizite oder Lernprobleme. Das Ergebnis der Analyse: Kinder mit einem SPF in Regelschulen haben einen deutlichen Vorsprung gegenüber ihren Altersgenossen, die in Förderschulen verblieben sind – im Durchschnitt etwa ein halbes Schuljahr. Bei weiteren Tests, in denen Kinder Gesprächen zuhören und diese verstehen mussten, liegen die Inklusionsschüler mit ihren Leistungen gar ein ganzes Jahr vorne. Unterschiede gibt es allerdings bei der Art des Förderbedarfs: Bei Lernbehinderten war der Vorsprung noch größer, bei Sprachbehinderten dagegen deutlich geringer.

Außerdem zeigen Zusatz-Befragungen, dass die Eltern von SPF-Schülern in Regelschulen höhere Ambitionen haben, wenn es um den Abschluss ihres Kindes geht. Sie streben öfter den Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife an. In Fördereinrichtungen verfehlt eine Mehrheit den normalen Hauptschulabschluss. Der Vorteil des integrierten Unterrichts ist „überraschend groß“, sie habe damit „nicht gerechnet“, sagte IQB-Direktorin Petra Stanat der Wochenzeitung Die Zeit, die in ihrer Donnerstagsausgabe ebenfalls die Studie behandelt. Gleichwohl erwähnen die Autoren methodische Probleme, sie möchten in der hitzigen Debatte offenbar ungern Patentrezepte bieten. Etwa habe man den Schweregrad nicht erfasst – so könnten Kinder mit geringerem Handicap, die wohl eher eine Regelschule besuchen, die Leistung ihrer Gruppe nach oben gezogen haben. Andererseits waren Kinder an Förderschulen mit sehr schwerer Behinderung gar nicht in der Lage, an den Tests teilzunehmen.

Ungeklärt bleibt eine weitere Frage der Inklusion: Könnten im Gegenzug alle Schüler unter den neuen Klassenkameraden leiden? Die Furcht, Letztere drückten das Niveau, gibt es. In einer Emnid-Umfrage sprachen sich Eltern klar für die Inklusion körperlich Behinderter aus; dass auch Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen reguläre Klassen besuchen, wollten nur 46 Prozent. Zweifelsohne muss sich für Inklusion der Unterricht ändern, Schule muss künftig stärker auf abweichende Lerngeschwindigkeiten eingehen. Das kostet Geld, etwa für zusätzliche Pädagogen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat daher keinen Zeitplan für die Inklusion erlassen. Auch will die Politik das Projekt nicht durch übereiltes Vorgehen gefährden. Aus dem KMK-Umfeld heißt es: Die Debatte über das achtjährige Gymnasium zeige, wie sensibel die Eltern sind, wie schnell sie Druck aufbauen können. „Das wollen wir bei der Inklusion vermeiden.“

klau|s|ens begrinst die kaeser-"neu"-aufstellung von SIEMENS als standardaktion des neuantreters

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klau|s|ens, die bei SIEMENS können einem nur leidtun.


gewiss: immer wenn da einer neu an die spitze kommt, dann wird wieder alles anders.


dann kommen wieder wortblasen in die räume und hallen.


dann werden management-handbücher neu vorgelesen: es sind immer dieselben worte, diese werden je nach neuem manager neu sortiert.


man muss ja unbedingt seine duftmarke setzen, wenn man neu antritt.


so läuft es tausendfach und zehntausendfach in deutschland und anderswo ab.


auf allen ebenen des managements.


hauptsache: neu, hauptsache: anders, hauptsache: alles mal umgemöbelt und durchgeräumt.


verschlanken, verfrischen, neu aufstellen, top-up-buttom-down-top-hurra-bling-bling.


wir können nur lächeln und grinsen und lachen und lospoltern.


wer glaubt das alles noch?


am ende glauben es die mitarbeiter, die aufgrund der “neupositionierung” des konzerns dann entlassen werden.


es sollte mal eine forschungsarbeit geben, die sich nur mit den ewigen umbauten und neuankündigungen von managern aller ebenen befasst … und dann kontrolliert, was a) nachher herauskam …. und was b) nachher davon überhaupt positiv wahr wurde.


positiv für die aktionäre oder für die mitarbeiter?


auch das ist eine gute frage.


SIEMENS: die sektoren vom vorgänger sind nun sind weg. (du musst immer alles anders machen, damit man weiß: hui, der greift durch! hui, der macht alles anders! hui!)


die “divisionen” bei SIEMENS leben neuer und blütender als je zuvor.


ich würde “bereiche” erfinden. und dazu “wings”, eventuell auch als “flügel” benannt. je nachdem.


ich würde “stationen” einbauen. und “stepstone-cleaner-targets”.


ich würde auf “etappen” setzen.


ich würde “entscheiderlinien” für gut halten. “actionborderlines” und “space-adder”.


ich nähme “direktorder” als baustein. und den “cling” als universalwort für alles und nichts. (wichtig ist immer, dass man englische … aber auch deutsche begriffe hat.)


ich nähme direkt die “bausteintheorie”, weil ja eh immer alles umgebaut wird.


ich würde den “umbaudirektivadministrator” erfinden. den UDA.


ich würde den “lean management control(l)er” einstellen. ein ELL absichtlich in klammern!


ich würde den “upgraderschlüssel” zum “markstein” von allem erheben.


bei mir wäre die “monatsoption” der genussschein auf “karriere-return-on-ballast”.


bei mir …


ach jetzt hören wir aber mit dem ganzen quatsch auf, du kleiner möchtegern-kaeser, du!


für mich liest sich das so, als wollten klau|s|ens und zweitklausens sich selber als vorstand eines topkonzerns in deutschland bewerben.


… um mal wieder alles neu “aufzubauumstellen”, ja, ja. (lang leben die aktionäre! ein hoch aufs kapital! und ein dank an alle management-handbücher und alle floskeln, die man aus diesen rausziehen kann!)


“we build the world: klausens!” (unser neuer spruch für die anzeigenwerbung.)


nee! “we will and are and have been building the world: WORDLKLAUSENS IS ALL OUR SPACE!” so! (ich muss aber jetzt noch schnell eine sparte zukaufen. mist, das habe ich über der plapperei ganz vergessen!)






HOMEPAGE VON KLAU|S|ENS:
http://www.klausens.com

Die Erste

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Christina, 24, Studentin

  „Ihr müsstet meinen Kalender sehen! Da steht riesig drin, dass heute das Freibad aufmacht. Ich sitze schon seit Viertel vor neun vor dem Eingang, nur für diesen Moment. Wenn du morgens die erste bist, die der Bademeister durchs Tor lässt, dieses Gefühl ist Wahnsinn. Du siehst das Wasser, spiegelglatt und ohne eine einzige Welle. Du springst rein. Und wenn dann die Sonne scheint und auf den Boden des Beckens fällt, auch wenn das nur ein winzig kurzer Moment ist – danach kann kommen, was will. Alles ist gut. Ich komme praktisch direkt aus dem Bett, ich wohne gleich um die Ecke. Den Badeanzug trage ich schon unter dem Trainingsanzug. So kann ich direkt vom Eingang zum Becken laufen, ohne mich umziehen zu müssen. Ich schwimme ungefähr sechs mal die Woche, zumindest versuche ich das, jeweils eine Dreiviertelstunde. Ab sofort bis zum letzten Tag der Sommerferien hier im Schyrenbad. Anderthalb Kilometer, meine Schwimmstrecke, entsprechen hier 30 Bahnen.
 
Das Besondere, wenn du der erste bist, der hier ist? Niemand stört dich. Die Bahnen sind ja unterschiedlich angenehm zu schwimmen, ich kraule am liebsten in Bahn sechs, die zweite von links, da sind an beiden Seiten Leinen gespannt – die helfen bei der Orientierung. Als erste kann ich mir also genau diese Bahn aussuchen. Wenn du nur eine Stunde später kommst, sind oft schon 30 Leute hier. Dann musst du dich durchwursteln und arrangieren, ständig kommen schnellere Schwimmer von hinten, das macht mich immer nervös. Die elf Grad heute sind eigentlich warm für den ersten Mai. Letztes Jahr war es am Eröffnungstag kühler . . . Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich reinspringen. Dahinten kommen schon die anderen!“

Irland

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"Ireland is a land of questions and very, very few answers. We're notorious for replying to a direct question with a question. It's like an inbred caution: never commit yourself. And it buys you time, lets you consider the implication of the query." Jack Taylor (Ken Bruen - Priest)

Nomaden der Globalisierung: Fallbeispiel Indien (Teil I)

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Auswirkungen transkontinentaler Arbeitsplatzmobilität am Beispiel deutscher Arbeitnehmer in Indien.


Vorbemerkung


Der vorliegende Artikel reflektiert die komplexen Folgen zunehmender Transmigration von hochmobilen deutschen Arbeitnehmern und ihren Familien ins Ausland – sogenannten Expatriates, kurz Expats genannt - im Zuge der globalen Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen. Er basiert auf einem entsprechenden Aufenthalt des Verfassers mit seiner Familie in der nordindischen Stadt Vadodara in der Zeit von April 2009 bis Mai 2011. Theoretisch vertieft wurde dieses sozialwissenschaftlich noch wenig bearbeitete Feld  der Transmigrationsforschung vom Autor dann im Zuge einer soziologischen Vorlesung an der Universität St. Gallen: „Nomaden der Globalisierung – Aktuelle Erscheinungsformen transnationaler Mobilität und Migration“  im Wintersemester 2011/2012, die  zu erweiterten Forschungsfragen und perspektivischen Klärungen, aber auch ganz neuen Einblicken führte.


Forschungsmethodologisch basiert der Artikel auf einer ethnographisch-soziologischen Untersuchungsperspektive, in der die Methode teilnehmender Beobachtung zunächst in die Form umfangreicher Feldnotizen gegossen wurde. Aus diesen Feldnotizen entwickelte sich dann eine Anzahl von soziologisch-journalistischen Essays, die noch von Indien aus online publiziert wurden. In einem dritten Schritt erfolgte schließlich die Sichtung bisheriger theoretischer Ansätze und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen vor dem Hintergrund der eigenen Feldforschung.


Der gesamte zeitliche und organisatorische Rahmen des Auslandsaufenthaltes des Verfassers und seiner Familie lag zwischen Oktober 2008 und August 2011. Grundlage des Auslandsaufenthaltes war ein sogenannter Entsendungsvertrag zwischen der Ehefrau des Autors und ihrem Arbeitgeber, eine in der Stadt Friedrichshafen angesiedelte größere mittelständische Firma für Anlagenbau. Ihre Aufgabe als Geschäftsführerin (Managing Director) sollte es sein, den Firmenstützpunkt in Indien auszubauen und den indischen Markt zu erschließen. Ein indischer Vertreter der Firma residierte dort zwar schon seit einigen Jahren in der Metropole Mumbai (früher: Bombay), doch sollte der weitere Ausbau aus unternehmerischen Gesichtspunkten nun in der nordindischen Stadt Vadodara erfolgen.  Folglich gehörte das Auffinden geeigneter repräsentativer Büroräume, aber auch eines geeigneten Privathauses für die Familie in dieser Stadt zu den ersten Aufgaben der entsandten Arbeitnehmerin. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, sich zunächst für die ersten Monate allein in das völlig andersartige soziokulturelle Lebensumfeld zu begeben, um diesen beiden Aufgaben zu bewältigen.


Die Frau des Verfassers lebte dann die ersten sechs Monate in einem Hotel der gehobenen Mittelklasse in Vadodara, bis ein entsprechendes Bürogebäude sowie ein Privathaus für die nachziehende Familie gefunden wurde. Der Autor und die Kinder lebten während dieser Zeit getrennt von ihr im gemeinsamen Heimatort in Deutschland, zur Unterstützung der Familienarbeit wohnte ein Au Pair aus Burkina Faso im Haus. Ende März 2009 folgte schließlich die Übersiedlung des Autors und der zwei Kleinkinder nach Indien (damals 5 und 3 Jahre), für die dort bereits ein Platz im Kindergarten einer privaten International School reserviert worden war.


1.    Zum Organisationsprofil deutscher Expats in der indischen Stadt Vadodara


Vadodara ist mit ca. 1,8 Mio. Bewohnern die zweitgrößte Stadt des indischen Bundesstaates Gujarat und seit mehreren Jahren bevorzugter Ansiedlungsort von zahlreichen deutschen und europäischen Industrieunternehmen und Konzernen. Grund dafür ist die für indische Verhältnisse äußerst wirtschaftsfreundliche Ausrichtung des Bundesstaates, dessen von der stark hindunationalistisch ausgerichteten Partei BJP (Bharatiya Janata Party) geführte Regierung mit langfristigen Steuervorteilen und vergleichsweise guter Infrastruktur seit Mitte der 90er Jahre erfolgreich investitionsbereite ausländische Firmen umwirbt. Die Stadt hat neben dem benachbarten Ahmedabad eine der höchsten Wachstumsraten an Bevölkerungszuwachs innerhalb Indiens.


Politisch gesehen gehört der Bundesstaat allerdings durch widerholte  moslemisch-hinduistische Unruhen, vor allem jene von 2003,  zu den unruhigsten Indiens. Der regierenden BJP und dem amtierenden Ministerpräsidenten Modi wird vorgeworfen, aus politischem Kalkül die Unruhen, bei dem seinerzeit über 3000 Moslems getötet wurden, gezielt geschürt zu haben. Gegen den Politiker wird aus diesem Grunde in Indien bereits seit Jahren vor dem Obersten Gericht ermittelt, die USA und die EU haben ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt.


Der Umstand rasant steigender ökonomischer Prosperität im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung seit Mitte der neunziger Jahre führte dazu, dass in Vadodara seitdem eine ebenfalls wachsende, mehrere Hundert Personen umfassende Gruppe von „foreigners“  lebt (der in Indien übliche Begriff für Ausländer), die für einen bestimmten Zeitraum, meist zwischen einem und drei Jahren, von ihren Firmen hierher entsendet wurden. Es handelt sich bei diesen Personen, sogenannten Expatriates, im folgenden kurz „Expats“ genannt, in der Mehrzahl um Angehörige aus verschiedenen europäischen Ländern, wobei  Staatsangehörige aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz überwiegen. Staatsangehörige anderer europäischer Länder sind ebenfalls vertreten, aber deutlich unterrepräsentiert.


Die meisten Expats leben vor Ort in sogenannten „gated communities“ am noch relativ unverbauten westlichen Stadtrand – hierbei handelt es sich um abgeschlossene, von speziellen privaten Sicherheitsunternehmen bewachte Siedlungen unterschiedlicher Größe, wobei in Vadodara diese u.a. „Nilambers“ genannten Areale jeweils eine Anzahl von 25-30 zweistöckigen Bungalows mit jeweils eigenem kleinen Garten umfassen. Das Areal umfasst auch kleinere gemeinsame Sport- und Freizeiteinrichtungen wie swimming pool, party garden und fitness room.


Diese gated communities sind entsprechend ihres Entstehungsjahres durchnummeriert, wobei die europäischen Expats anstreben, vorzugsweise in die aktuell jeweils neuesten, modernen Siedlungen einziehen, da die (zwar erst wenige Jahre) älteren Häuser aufgrund der klimatischen Besonderheiten des Landes (Monsun) und der vorherrschenden Bauweise (minderwertiger Beton, minderwertige Ziegel und sonstige häusliche Infrastruktur) einem rasanten Verfallsprozess ausgesetzt sind. Ein fünf Jahre altes Haus gilt in Indien deshalb bereits meist als sanierungsbedürftig.


Die „gated communities“ sind auch in Vadodara entgegen der landläufigen soziologischen Auffassung keine reinen „Expat-communities“, sondern werden sowohl von Expats verschiedener europäischer  Nationen wie von Indern der einkommensstarken „neuen Mittelschicht“ gleichermaßen bewohnt. Hier ist der Trend augenscheinlich, dass dieses Segment der oberen indischen Mittelklasse sich in einer offenkundigen Konkurrenzsituation mit den Expats um die jeweils aktuell „besten“ Siedlungen befindet. Hieraus lässt sich in klarer Abgrenzung zu Kreutzer und Roth (2005) die Erkenntnis ableiten, dass mit zunehmender Prosperität eines Landes die früher homogen strukturierten Expat-communities sich sukzessiv mit den ökonomisch starken Mittelschichten des Heimatlandes durchmischen, zumal im Zuge eines explosionsartigen Baubooms eine stets wachsende Vielzahl an angebotenen communities zur Verfügung steht. Auf die Besonderheiten des Innenlebens einer solchen „mixed community“ werde ich weiter unten noch eingehen. 


Bei dieser also kulturell durchaus heterogenen Gruppe der europäischen Expats sind dennoch einige sozialstrukturelle Besonderheiten zu beobachten, die übergreifend stark homogene Charakteristika aufweisen, ohne deswegen im Sinne einer Vergemeinschaftung von expatriates zu wirken, denen dann eine eigene neue „transnationale Identität“ zuwachse (Kreutzer: 2005, 50-56). So sind die meisten der Expats mit ihren Familien nach Vadodara gezogen, Alleinstehende oder Paare ohne Kinder sind zwar ebenfalls vertreten, sind aber deutlich unterrepräsentiert.


In fast allen Fällen waren es die Ehemänner oder männlichen Partner, die als „leader“ vor Ort im Arbeitsprozess standen, während die Frauen  als sogenannte „follower“ zu Hause bleiben und keiner Berufstätigkeit nachgehen (diese m. E. etwas antiquierte Formulierung so bei Kreutzer, 2005). Die Kinder der Expats sind meist im Alter zwischen zwei und acht Jahren und besuchen ausnahmslos eine der „besseren“ privaten International Schools im Ort, bzw. deren assoziierte Kindergärten, in denen die Unterrichtssprache Englisch ist. Der Typus der Zwei-Kind-Familie, die zum ersten Mal ins Ausland entsendet wurde, ist in diesem Kontext augenscheinlich deutlich überrepräsentiert. Den Typus „Dauer-Expats“, der zuvor schon seriell in anderen Drittländern gelebt hat und der von einem Land ins nächste zieht (im engeren Sinne wären sie als die eigentlichen „Nomaden der Globalisierung“ zu bezeichnen) , gab es zwar auch, sie bildeten aber in Vadodara die Ausnahme.


Ein weiteres herausstechendes Merkmal sozialstruktureller Homogenität innerhalb der Expat-„community“ jenseits der unterschiedlichen Staatsangehörigkeit, Sprache und Heimatkultur sind die Berufe, die die erwerbstätigen Männer ausüben. Fast ausnahmslos alle sind in zwei großen Berufsgruppen tätig: Entweder in gehobenen technischen Berufen (Ingenieur, Projektmanager) oder in Positionen des oberen oder mittleren Managements (Einkauf, Marketing, Projektabwicklung), für die zuvor in der Ausbildungsphase der Entsendeten ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule und entsprechende Berufspraxis notwendig war. Oft verwischen sich beide Ausbildungs- und Tätigkeitsbereiche in der konkreten Berufsausübung vor Ort.


Während sich die Akkulturationsprozesse der im neuen Residenzland berufstätigen Männer (und wenigen Frauen) überwiegend innerhalb der Unternehmenskultur der Dependance der entsendenden Firma abspielen, die der begleitenden Kinder in den drei Lebenswelten der International Schools, in den Expat-Haushalten selbst sowie in den peer groups der mixed communities, verlaufen die Akkulturations- und Integrationsprozesse der gleichsam mit-entsandten und nicht berufstätigen Partnerinnen/Ehefrauen (im Ausnahmefall wie der des Verfassers auch einmal die der Partner/Ehemänner) deutlich prekärer.


2.    Neue Konfliktlinien prekärer Akkulturation in „mixed communities“


Eine Entsendung als Expat bringt es mit sich, dass aus verschiedenen Gründen  meistens nur einer der Partner im Ausland berufstätig ist – in der Regel der Mann, der bereits im Heimatland eine gehobene technische oder wirtschaftswissenschaftliche Qualifikation erworben hat. Gegen eine Berufsausübung der mitreisenden Ehefrauen oder Partnerinnen sprechen administrative Hindernisse im Entsendeland (kein Vorliegen einer eigenen Arbeitserlaubnis), lebensweltliche Hindernisse im Gastland (Sprachbarrieren, Mentalitätsdifferenzen, administrative Hindernisse, Unkenntnis der branchenspezifischen Vor-Ort-Situation) oder die mehr oder weniger intensive Einbindung in die Familien- und Hausarbeit vor Ort (Betreuung der Kleinkinder, Beaufsichtigung des einheimischen Hauspersonals).  Das bedeutet, dass die nicht berufstätigen Partner von Expats, die in der Regel auch die Mütter der mitreisenden Kinder sind, sind auf andere Modi der Akkulturation verwiesen sind, um mit der Situation des „kulturellen Fremdseins“ klar zu kommen.


Akkulturation möchte ich hier zunächst einmal wissenschaftstheoretisch neutral verstanden wissen als einen Prozess der Veränderung, der für Personen durch einen länger währenden, direkten Kontakt mit einer andersartigen Kultur entsteht und bestimmte Folgen und Ergebnisse mit sich bringt (vgl. Weidemann, 2007,490; Berry 2002, 350, Berftz 2010,20). Die Auseinandersetzung mit den daraus resultierenden verschiedenen Akkulturations-Theorien erfolgt weiter unten.


Innerhalb der mixed community verhindern zum einen die unterschiedlichen Herkunftskulturen der Bewohner wirksame und nachhaltige Identitätsbildungsprozesse innerhalb der Siedlung. Zum anderen hat die häufige Fluktuation von Expats in den mixed communities zur Folge, dass sich im Siedlungsgebiet des abgegrenzten Areals zwei Gruppen von Bewohnern differenzieren lassen, die nicht immer konfliktfrei miteinander leben: Zum einen die Angehörigen der einkommensstarken neuen indischen Mittelschicht, die sich in die Siedlung in der Regel auf längere Zeit mit ihrer Immobilie einkaufen. Zum anderen die bereits genannten „foreigners“, bei denen aus indischer Sicht ein ständiges Kommen und Gehen ist. Prozesse der beiderseitigen vorsichtigen kulturellen Annäherung und anschließenden mehr oder weniger subtilen Wieder-Entfremdung gehen hier auf dicht gedrängtem Raum meist Hand in Hand und verstärken innerhalb der mixed community die gegenseitige Segregation durch Rückzug der Teilkulturen voneinander (dort die Expats – hier die Inder). Gelegentlich gemeinsame Aktivitäten wie abendliche community-partys oder gelegentliche gegenseitige Einladungen dienen in diesem Kontext eher der Bewältigung der kulturellen Andersartigkeit sowie der Begründung möglichst konfliktfreier Nachbarschaft und widersprechen der beobachteten Tendenz zur Segregation nicht.


Es besteht allerdings unübersehbar die Tendenz, dass sich baulich ältere gated communities gleichsam automatisch im Laufe der Zeit „ethnisch-kulturell homogenisieren“, da die Expats, in einer fast wellenförmigen Bewegung bevorzugt immer in die allerneuesten (und teuersten) Siedlungen ziehen, wo sie dann jeweils immer auf die aktuell einkommensstärksten und durchaus kulturell selbstbewusstesten Vertreter der oberen indischen Mittelschicht treffen.


Die überwiegende alltägliche Kommunikation der multinationalen westlichen Expats mit Vertretern des Gastlandes findet also nicht im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer vergleichsweise abstrakt beschriebenen „fremden Kultur“ des Gastlandes statt, wie in den älteren Prozessmodellen von Akkulturation stets behauptet wird (Oberg 1960; N. Adler 1975; C. Ward/S. Bochner/A. Furnham2001; W. Berry 1997), sondern meist in einem kleinen, überschaubaren konkreten geographisch-sozialen Raum,  der einerseits mit Vertretern der neuen oberen Mittelschicht Indiens geteilt wird, die im Rahmen der ökonomischen Globalisierungsdynamik ihrerseits zu schnellem Wohlstand gekommen sind (Leitende Manager, Immobilienspekulanten, Firmeninhaber), andererseits notwendigerweise mit dem eigenen einheimischen Hauspersonal (Fahrer, Haushälterin, Köchin und Gärtner), das morgens die mixed community betritt und abends wieder verlässt. Die indischen Mittelklasse-Bewohner der mixed communities leben in der Regel in einer Drei-Generationen-Familie in ihren Häusern, während es bei den Expats wie in ihren Heimatländern auch, stets nur die Kernfamilien sind, also Eltern und ihre (oft zwei) kleinen Kinder.   


3.    Einwände gegen die Akkulturationstheorien


Die von den Akkulturationstheorien behauptete Abfolge, hier vor allem von Berry - Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung  - wird jedoch neuerdings zunehmend kritisch hinterfragt.    Bertz  (2010, S. 77) zeigt, dass Tardiff-Williams und Fischer die allgemeingültige Grundidee von Berry’s Modell kritisieren und seine Annahme, dass es weltweit die gleichen psychologischen Prozesse seien, die die Akkulturation verschiedener kultureller Gruppen prägen. Berry und andere Forscher gehen darüber hinaus von einem essentialistischen Kulturbegriff aus, „indem sie Kultur als internes, relativ stabiles Merkmal betrachten, welches Menschen entsprechend des Landes, der Religion oder sozialen Schicht, in die sie hineingeboren wurden, definiert.“ (Bertz, 2010, S. 36).


Ein solcher reduktionistischer Kulturbegriff, der „Kultur“ fast schon monolithisch als starre Gebilde darstellt, entspricht allerdings kaum noch der Komplexität der globalisierten Welt. Er widerspricht zeitgenössischen Kulturdefinitionen und steht im Widerspruch zu der Multikulturalität moderner Gesellschaften. (Bertz, 2010, S. 78-79). Kultur ist ja nicht nur eine faktische und insofern zeitlose Größe der Differenz in Sprache, Herkunft, Religion, Sitten und Bräuchen, sondern ist ja stets auch ein Aspekt von Zuschreibung von Differenz (wie z.B. derzeit zwischen manchen Kulturen des „Westens“ und islamischen Kulturen). In den Aspekt der Zuschreibung kultureller Differenz reicht insofern immer auch eine politische Implikation, die den Aspekten der ökonomischen Integration durch Globalisierungsdynamiken oft hinterher hinken kann. Diese historisch-politische Dimension der Zuschreibung von kultureller Differenz blenden die gängigen Akkulturationstheorien bis heute durchgängig aus.


Aber auch nachhaltige sozialstrukturelle Veränderungen der Gesellschaften in den Residenz-  wie den Entsendeländern werden bisher kaum berücksichtigt. Zwar lässt sich das sogenannte „Interaktive Akkulturationsmodell“ (IAM) von Bourhis, als Weiterentwicklung des bi-dimensionalen Modells von Berry darstellen. Das IAM hat zusätzlich zu den Akkulturationsstrategien nach Berry, wie Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung noch die Strategie der Individualisierung mit einbezogen. Bourhis geht davon aus, dass Personen, die berufsbedingt für einen gewissen Zeitraum in einen anderen Kulturkreis wechseln, meist aus „westlichen“, individualisierten Gesellschaften stammen (zum komplexen Prozess der Individualisierung moderner Gesellschaften, vgl. hierzu Ulrich Beck) und es ihnen wichtiger sei, dass diese Individualisten die ihnen vorgegebenen (ökonomischen) Ziele im Gastland erreichen, als die Frage, in welchem Wechselverhältnis nun die eigene und die fremde Kultur sei. (Bertz, 2010, S. 81-82). Doch auch diese notwendige Differenzierung reicht m.E. nicht aus.  


Ein weiterer Aspekt ist, dass die Gastländer selbst immer schneller und umfassender die Elemente einer einheitlichen westlichen Konsumkultur übernehmen (lifestyle, music, film, brand), was klassische Akkulturationsprozesse nur noch partiell notwendig erscheinen lässt, zumal Transmigration meistens in große Metropolen hinein erfolgt, in denen auch die Wirtschaftsstandorte angesiedelt sind. Das was als „Kulturschock“ und Akkulturationsprozess beschriebenen wird, ist deshalb oft nur noch relativ und bezieht sich mehr auf die Protuberanzen einer hyperdynamischen urbanen Lebenswelt in riesigen Agglomerationen, etwa die damit verbundenen riesigen baulichen Verdichtungsräume (Hochhaussiedlungen), die ungewohnte Konfrontation mit Menschenmassen und Allgegenwart moderner Werbung – kurzum, rekurriert auf Urbanisierungsprozesse von Megacities, als auf den Begriffsrahmen „fremde Kultur“, die in diesen Metropolen schon längst von der westlichen Konsumkultur überlagert beziehungsweise synthetisiert wurde. Akkulturationsprozesse beziehen sich deshalb – so meine These – weniger auf kulturelle „fremde“ Inhalte, denn auf die komplexen Modiökonomischer und sozialer Modernisierung mit ihren immensen infrastrukturellen Herausforderungen in den urbanen Zentren. Ob man von Stuttgart aus für einen begrenzten Zeitraum nun in eine Megacity wie Shanghai oder Mumbai übersiedelt, stellt soziokulturell gesehen deshalb im Großen und Ganzen keinen grundlegenden Unterschied für behauptete Akkulturationsprozesse mehr dar.


Wird fortgesetzt (Teil II) 


 


Nomaden der Globalisierung: Fallbeispiel Indien (Teil II)

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  1. Auswirkungen transkontinentaler Arbeitsplatzmobilität am Beispiel deutscher Arbeitnehmer in Indien.
    Fortsetzung von Teil I:

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    4.  
    Einfluß der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien auf Prozesse der Akkulturation

Einen der wahrscheinlich nachhaltigsten Einflüsse auf zentrale Grundannahmen der Akkulturation hatte in den vergangenen zehn Jahren aber zweifellos die „digitale Revolution“ in Form der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK- Technologien (Internet, email, vor allem aktuell in Form von Skype und facebook). Sie reduzieren die Notwendigkeit alternativer Vergesellschaftungsformen im Gastland geradezu drastisch, da über diese Technologien der Kontakt zur Heimat per Video, Audio und Chat in Echtzeit möglich ist. Sie stärken die Bindung zu den eigenen sozialen Primärgruppen in der Herkunftskultur und wirken vor Ort tendenziell als Verstärker von Individualisierungsprozessen. Zwar lässt sich einwenden, dass der Einsatz der neuen IuK-Technologien auch bei Konstituierung einer eher kommunikationsorientierten denn räumlich definierten „Expat community“ vor Ort als online-gestütztes Instrument kultureller Eigenvergewisserung dienen kann (z.B. in Form von facebook). Doch ignorierte eine solche Annahme doch die methodischen Besonderheiten dieser Art fragmentarischer Kommunikation (Emoticons, Chat, Kurzbotschaften), die eher das befördert, was gemeinhin als „Tratsch“ (hier der Expat-Frauen) bezeichnet wird, als das hier eine neue Form kultureller Vergemeinschaftung vor Ort stattfinden würde.


Zu beobachten war auch eine abnehmende Relevanz der expat community mit zunehmender Dauer der Entsendung, in der die online-Kontakte zu den Freunden und Verwandten eher wichtiger wurden, da z.B. die Aspekte der Rückkehr zu planen sind. Die Expat communities haben also noch am ehesten eine soziale und kulturelle Relevanz im Anfangsstadium einer Übersiedlung von Expats. Sie dienen dazu, die neu Angekommenen mit den notwendigen Informationen vor Ort zu versorgen (Behördengänge, Ärzte, Kliniken, Einkaufsmöglichkeiten u.a.) und auch dahingehend zu sondieren, inwieweit mit diesen eine engere Beziehung im Sinne einer Freundschaft möglich ist oder ob der Kontakt aufgrund unterschiedlicher Interessen eher an der Oberfläche bleibt.


Es ist jedoch bezeichnend, dass die gängigen Akkulturationstheorien entweder aus einer Zeit stammen, in der die neue IuK-Technologien sozial noch nicht wirkmächtig war oder in aktuelleren theoretischen Ausprägungen die weitreichenden Folgen dieser technologischen Innovation bislang weitestgehend ignoriert haben.


Vor dem Hintergrund der globalen Vernetzung schwindet die Notwendigkeit nicht nur der Akkulturation in eine „Fremdkultur“, sondern auch jene zur Bildung klassischer, durch kulturelle Homogenität gekennzeichnete „expat communities“ immer schneller und wird vor dem Hintergrund bereits lange zuvor erfolgter Individualisierungsprozesse in der postmodernen Herkunftskulturen heute allenfalls optional. Wie weiter oben bereits aufgezeigt, unterliegen die  früher noch durchaus üblichen homogenen „expat communities“, hier verstanden als räumlich definierte Exklusionsorte („Inseln“) gegenüber der Umgebungskultur, schon seit geraumer Zeit einem Prozess der Diffusion durch einheimische Wirtschaftseliten, die trotz aller nach wie vor bestehenden kulturellen Differenz in Lebensführung, Religionspraxis und Ernährungsweisen eine gemeinsame kapitalistische Wirtschaftsethik und Konsumkultur teilen. Es läßt sich daher sogar die Frage aufwerfen, ob eine weiter bestehende kulturelle Differenz aus der Sicht der beidseitig von ihr Betroffenen nicht bereits eher als Frage des unterschiedlichen Lebensstils gewertet wird, denn als eine Frage „fremder“ versus „eigener“ Kultur“.


Die Frage, was unter Globalisierungsbedingungen für urbane Transmigranten heute noch wirklich „fremd“ ist, stellten sich die gängigen Akkulturationstheorien bisher nicht mal in Ansätzen.  


5.   „Transnationale Identität“ oder neuer kosmopolitischer Habitus?


Mehrmonatige  Aufenthalte in Hotels und Appartements im Ausland ersetzen immer mehr die einstmaligen „expat communities“, zumal aus Kostengründen von den Firmen zunehmend jüngere, karriereorientierte Einzelpersonen statt ganze Familien mit der ihnen eigenen komplexen sozialen Struktur entsendet werden.


Die Globalisierung macht Transmigration immer mehr zum biographischen „Normalfall“, die Exklusivität im Sinne des „Besonderen“ schwindet. Die  Aufenthaltsdauer von „Expats“ wird kürzer, damit korrelierend wird der Begriff selbst zunehmend unschärfer.  Längere Entsendezeiten ohne Entsendeverträge treffen auf  kürzere mit Vertrag. Bleibt noch die Frage, ob es unter diesen drastisch veränderten sozialen Rahmenbedingungen so etwas wie eine „transnationale, hybride Identität“ durch Transmigration geben kann, wie von Kreutzer und Roth behauptet, (2005), oder ob der Begriff „Identität“ nicht anders gefasst werden sollte.  

Hier ist eher zu vermuten, dass Transmigrationsverläufe genieren keine eigenständige, neue Identität generieren, da Phasen der Transmigration meist nur noch als  „Karrierebaustein“ verstanden werden. Allenfalls ein neuer, abgeklärter Habitus des Kosmopoliten könnte sich hier ausbilden, der sich durch eine routinierte Äquidistanz gegenüber den Alltagsformen der fremden Kultur auszeichnet, keinesfalls aber eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dieser Kultur impliziert. Den Habitus eines solchen weltweit agierenden flexiblen Arbeitnehmers dürfte auszeichnen, dass er sich eher mit anderen „Pendlern der Globalisierung“ über die beste Bar oder das beste Restaurant in Mumbai oder Peking austauscht, als über kulturelle Fragen des indischen Kastensystems oder den Konfuzianismus.

Vor diesem Hintergrund scheint es vielmehr wahrscheinlich, dass latente Herausforderungen an die Identitätsbildung sogar eher wieder auf tradierte Werte wie Familie, Partnerschaft, Heimatkultur rekurrieren und sie wegen den Zumutungen der Flexibilität sogar überhöhen können. Prozesse der Separation und Segregation erfolgen ja nicht erst im Ausland, wie von den Akkulturationsthoerie suggeriert, sondern sind das Resultat bereits erfolgter Individualisierungsprozesse im Heimatland (Bourhis).


6. Zur strukturellen Dimension sozialer Ungleichheit von Expat-Frauen


Einer solchen „kulturellen Entschärfung von Transmigrationsprozessen“ stehen an anderer Stelle neue Dynamiken sozialer Ungleichheit gegenüber, die scheinbar paradox tradierte und bereits überholte Konfliktlinien aufweisen. Frauen als „follower“ geraten potentiell in eine „Expat-Falle“, die ihnen für einen unter Umständen länger andauernden Zeitraum trotz oftmals akademischer Ausbildung die Möglichkeit einer eigenen beruflicher Karriere verbaut. Sie geraten deshalb in eine strukturelle Abhängigkeit vom alleinverdienenden Partner, die umso dramatischer ausfallen kann, als diese Situation in aller Regel nicht ohne partnerschaftliche Dissonanzen abläuft.


Die heterogene soziale Herkunft und das variierende Ausbildungsniveau der weiblichen follower macht vor dem Hintergrund der beruflichen Nichtbeschäftigung alternative  institutionelle Integrationsbemühungen innerhalb einer mixed community notwendig. In Vadodara leistet das ein „Verein der Expat-Frauen“, ähnlich, wie es die Unternehmenskultur der Firma vor Ort  für den berufstätigen Mann leistet. Dazu gehören auch strikte Exklusionsmechanismen dergestalt, dass nur Frauen, sie sich in derselben Position als Expat-Hausfrau befinden, aufgenommen werden. Eine Expat-Frau, die entgegen der üblichen Rollenaufteilung vor Ort ausnahmsweise als Managerin oder Geschäftsführerin arbeitet, wird bei den Vereinstätigkeiten ebenso wenig berücksichtigt, wie ein vor Ort zeitweise nicht berufstätiger Ehemann (Rollentausch). Eine abweichende Expat-Typenbildung stellt für viele Expat-Hausfrauen nach eigener Beobachtung offenkundig geradezu eine Provokation dar, was durch die spezifischen Kommunikationsmechanismen innerhalb des Vereins, aber auch durch die ja vor Ort verfügbaren online-Netzwerke (facebook)  die Distinktionstendenzen noch verstärkt. Insofern sind analoge Vergemeinschaftungs- und Identifikationsprozesse bei den mitreisenden Expat-Hausfrauen stark selbstreferentiell. Sie schließen nicht nur tendenziell die umgebende Gastkultur aus und adaptieren diese allenfalls häppchenweise nach Bedarf (indische Tanz- und Gesangsvorführungen, Literaturlesungen, Modepräsentation, touristische Kurzreisen im Land, u.ä.), sondern auch andersartige Expat-Rollen-Konfigurationen.


Inwiefern diese auffallend traditionell ausgerichtete Geschlechterdifferenz von Expat-Männern und Expat-Frauen auf ein schon vor der Entsendung existierendes konservatives Rollenbild der Beteiligten zurückzuführen ist oder vielmehr Resultat einer eher unfreiwilligen und damit potentiell konflikthaften Entwicklung ist, können erst nachfolgende Forschungen erhellen.


7. Zusammenfassung


Die vorliegenden Ausführungen thematisierten ein neues Muster von Arbeitsplatz-Mobilität von deutschen Arbeitnehmern, die für 1 bis 3 Jahre als sogenannte Expats nach Indien entsandt wurden. Es sollte hier deutlich gemacht werden, dass die gängigen Akkulturationstheorien für diese Gruppe von neuen, gut ausgebildeten Arbeitsnomaden kaum noch zutreffen, da vielschichtige soziale, kulturelle und technologische Veränderungen im Zuge der Globalisierungsdynamiken eine erratische Verwendung des „Kultur“-Begriffs zunehmend obsolet gemacht haben. Die Zumutungen, die für einen Expat und seine Familie aus einer längeren Entsendung nach Indien entstehen, resultieren weniger aus einer Konfrontation zweier angeblich homogenen „Kulturen“, sondern spielen sich, so meine These, unterhalb und jenseits dieses Leitbegriffes ab. „Entfremdung“ ist insofern eher das Resultat von vielschichtigen Individualisierungs- und kulturellen Beschleunigungsprozessen sowie der Abwesenheit des gewohnten persönlichen Lebensumfeldes in der Heimat, als ein behauptetes Unvermögen, sich auf eine „andere Kultur“ einstellen zu können.


Insofern dienten diese Ausführungen letztendlich auch dazu, einen kleinen Beitrag zu leisten, den bis heute erst ansatzweise hinterfragten Forschungsmythos von der „Akkulturation“ von seinem rostig gewordenen Sockel zu stoßen.    


(c) Alle Rechte dieses Textes beim Autor.


Dr. rer. soc. Andreas Kleemann
88212 Ravensburg
Zeppelinstr. 11 


 

Frauen aufreißen? Wie Wurst kaufen!

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Ich komme zu spät in das Café, in dem ich mit den beiden frisch geschulten Aufreißern Benjamin Holtschke und Martin Liema verabredet bin: „Sorry!“ Martins Blick streift mein Gesicht, dann meine Brüste. Er macht ein gnädiges Gesicht. Die beiden sind eigentlich Schauspieler bei der Gruppe „What You See is What You Get“. In der Roten Sonne führen sie gerade das Stück „Die Brunft“ auf. Es geht darin um die Pick-Up Community, also Menschen, die das Aufreißen mit manipulativen Mitteln zum Sport erhoben haben. „Kein Problem“, erwidert Martin auf meine Entschuldigung, „dein Anblick entschädigt für alles.“ Benjamin nickt. Ich ahne Schlimmes.
 
jetzt.de: Euer Stück „Die Brunft“ funktioniert ja quasi wie ein Workshop, bei dem die Zuschauer erleben, wie man Pick-up-Artist wird. Wie habt ihr das Abschleppen in der Vorbereitung trainiert?
Martin: Wir haben uns in das Regelwerk dieser Aufreiß-Nerds eingearbeitet. Das heißt, wir haben uns Youtube-Tutorials angesehen und uns die Tipps im Forum durchgelesen. Ich war am Anfang erstaunt, dass das alles so einfach sein soll. Dann haben wir im Feldversuch an der Isar und in Münchner Clubs getestet, ob wir damit wirklich gut bei Frauen angekommen.
 
Und?
Benjamin: Erstaunlicherweise ja. Am Anfang war ich noch richtig begeistert von der ganzen Geschichte, weil man recht schnell Erfolge hat. Meine Lieblingsregel ist die Drei-Sekunden-Regel.
 
Was besagt die?
Benjamin: Wenn du eine Frau siehst und sie gut findest, darfst du nicht länger als drei Sekunden zögern, bis du sie ansprichst. Sonst fängst du an zu denken und deine Ängste kommen hoch. Außerdem wirkt es nicht besonders zielstrebig, wenn du länger zögerst.
Martin: Wenn du auf die Frau zugehst, ist aber wiederum wichtig, wie du dich ihr näherst. Am besten seitlich. Stell dich neben sie. Auf keinen Fall Frontalangriff. Sonst fühlt sie sich umzingelt und bedrängt.
 
Während er das sagt, beugt er sich plötzlich frontal zu mir und guckt mir in die Augen. Er hat Recht.
 



Alter Witz aus der Metzgerei. Kunde: "Ich will was von der groben Fetten." Verkäufer: "Die hat heute Berufsschule." Die Pick-up-Community bewegt sich auf ähnlichem Niveau - angeblich mit Erfolg ...

Wie sprichst du sie denn am besten an?
Martin: Wichtig ist, dass du das Target . . .
. . . meint „das Target“ die Frau?
Benjamin: Richtig. Die Pick-up-Artists haben da so eine eigene, etwas absurde Sprache mit vielen Anglizismen entwickelt. Die sind wie Hardcore-Computernerds, nur dass sie nicht LOL und ROFL sagen, sondern Target und approachen. Approachen heißt soviel wie anbaggern. Am Anfang waren wir da auch etwas peinlich berührt.
 
Wie approacht man am besten?
Martin: Die Pick-up-Artists haben verschiedene Opener, also Standardsprüche entwickelt, mit deren Hilfe du quasi jede Frau anquatschen kannst.
 
Zum Beispiel?
Benjamin: Wir waren zum Beispiel verkabelt mit Mikrofon und versteckter Handykamera in der Roten Sonne. Dieser Teil wird auch im Stück zu sehen sein. Da habe ich unter anderem den Bundeswehr-Opener ausprobiert. Das heißt, ich bin in ein Zweier-Set gegangen, also zwei Frauen, und hab gesagt: Mädels, Entschuldigung, wir diskutieren da gerade ein Problem und kommen nicht weiter. Meine Cousine hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie unbedingt zur Bundeswehr gehen will. Ich finde das irgendwie seltsam. Als Frau, mit ’ner Waffe und ’nem riesigen Rucksack, ich weiß ja nicht. Wie seht ihr das?
 
Und darauf sind die Frauen eingestiegen?
Benjamin: Ja, die haben dann ausführlich mit mir darüber diskutiert.
 
Ist München eine gute Stadt, um so etwas zu testen?
Martin: Ich glaube, je zufriedener die Menschen mit ihrem Leben sind, desto besser klappt es. Und hier in München sind die Menschen sehr zufrieden – also landet man auch ganz gut.
Martin: Es geht darum, dass man sofort ein Thema hat, über das man reden kann. Die Pick-up-Artists geben dir halt genau vor, wie du dich im Game verhalten sollst. Es gibt drei Phasen: Number Close, Kiss Close und Fuck Close. Wir haben vor allem Number Close trainiert, also wie man die Telefonnummern von möglichst vielen Frauen kriegt.
 
Was ihr erzählt, klingt etwas, als hätten eure Rollen auch Einfluss auf euer Privatleben.
Martin: Klar: Wenn man sich die ganze Zeit mit diesem Thema beschäftigt und alles auch noch im Feldversuch ausprobiert, flirtet man im Alltag viel bewusster. Am Anfang dachten wir einfach nur: „Wow, geil!“ Mit der Zeit haben wir dann gemerkt, dass man es auch ganz schön übertreiben kann, und sind etwas kritischer geworden.
Benjamin: Wenn man nur noch nach diesen Regeln handelt, fühlt sich das fast an, als sei man in einer Sekte. Aber viele Sachen klappen einfach. Gerade bei Leuten, die völlig ungeübt im Flirten sind.
 
In der Beschreibung eures Stücks steht, dass ihr an dem Thema arbeitet, weil ihr die heutige Ökonomisierung der Liebe untersuchen wollt. Heißt das, wenn man nach Pick-up-Artist-Regeln Frauen aufreißt, ist das so, wie wenn man sich an der Fleischtheke Wurst aussucht?
Martin: Ja, gewissermaßen ist Frauen aufreißen für die Pick-up-Artists wie Wurst an der Theke kaufen. Nur dass du im Gegensatz zur Fleischtheke nicht hingehst und sagst, dass du gerne ein Stück von der Fetten da oben haben willst.
Benjamin: Stimmt, das ist auch ein Pick-up-Artist-Prinzip: Du sortierst die Frauen auf einer Skala mit maximal zehn Punkten. Unter fünf Punkten solltest du gar nicht erst loslegen.
 
Also bewertet ihr in der Rolle der Pick-up-Artists ständig das Aussehen der Frauen?
Benjamin: Ja, kann man so sagen.
 
Er fängt an, mit sehr deutlichen Blicken und Gesten zu zählen, wie viele der anwesenden einer Sieben entsprechen.
 
Kommt ihr euch dabei nicht bescheuert vor?
Martin: Ja, ich denke auch manchmal: Junge, guck dich mal selbst an. Aber es ist halt so bei den Pick-up-Artists. Es geht nicht darum, wie man selbst aussieht, sondern nur darum, mit welchem Bewusstsein man rumläuft.
Benjamin: Eine der Regeln der Pick-up Artists lautet auch: Du kannst eh niemals alle Frauen auf der Welt bumsen, also bist du nie auf eine einzige Frau angewiesen.
 
Ich greife mir an den Kopf.
 
Martin: Ja, ist schon bitter. Aber so denken die halt.
 
Findet ihr das, was Pick-up-Artists machen, denn moralisch verwerflich?
Martin: Was heißt verwerflich? Ich selbst würde es nicht ständig machen. Ich finde es aber okay, wenn man beim Flirten auch mal lügt, das macht man in anderen Lebenslagen auch, zum Beispiel bei der Arbeit. Aber wie du ja auch schon festgestellt hast, handelt es sich bei den Pick-up-Artists teilweise auch einfach um arme Würstchen, die einem leidtun können.
 
Habt ihr denn das Gefühl, dass ihr euch über die Recherche auch etwas in Richtung „arme Würstchen“ entwickelt habt?
Martin: Das glaube ich nicht. Aber im Laufe des Theaterabends werden wir uns an der ein oder anderen Stelle auf der Bühne in arme Würstchen verwandeln.
 
Gut, danke, dann wär’s das.
Benjamin: Okay. Und was machen wir drei jetzt mit dem angefangenen Abend?

Das Stück "Die Brunft" läuft noch am Sonntag, 11., Montag, 12., und Dienstag, 13. Mai 2014, jeweils ab 20.30 Uhr in der Roten Sonne. Einlass ab 18 Jahren.

Die jetzt.de-Kettengeschichte, Teil 3

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Den ersten beiden Teile der Kettengeschichte kannst du hier nachlesen. Und hier kommt Teil 3 von jetzt-User rod_kieselfuercht:



„Ich kenne diese Frau aus dem Fernsehen!“, sagt Anna. So sind die jungen Leute, denkt Dorian Steinhoff, statt zu lesen, schauen sie fern. Statt seine Begleiterin von ihren Büchern her zu kennen, kennen sie sie aus dem Fernsehen. Nicht ihren Gedichtband „Assoziative Tankstellenbeschreibung“ lesen sie, sondern die Übertragung der Grillparzer-Preisverleihung, die doch nur aufgrund des Gedichtbandes „Assoziative Tankstellenbeschreibung“ stattgefunden hat, haben sie verfolgt. Die Physiognomie des kreativen Kopfes seiner Begleiterin erinnern sie, nicht aber vom Inhalt des kreativen Kopfes seiner Begleiterin lassen sie sich beeindrucken, der den Gedichtband „Assoziative Tank-Stellenbesch-reibung“, wie es korrekt heißt, erst hervorgebracht hat, denkt Dorian Steinhoff.  

Er wirft einen Blick in seinen vom Eckpfeiler total verformten und zerbeulten himmelblauen Porsche, aber seine Begleiterin ist verschwunden, wie Dorian Steinhoff bemerkt. Vor lauter Philosophieren über inhaltliche Dinge hat er den Inhalt seines Porsches vergessen, wie Dorian Steinhoff bemerkt, als er sich umwendet und seine Begleiterin, die eben noch im Porsche saß, mit der Tankwärtin Anna auf einem Dieseltraktor, der eben noch neben der Tankstelle stand, davonfahren sieht, in Richtung Standesamt, wie Dorian Steinhoff denkt.   Fürwahr, die beiden Frauen fahren und fahren, hektisch zur Tankstelle blickend und wieder in Fahrtrichtung und wieder Dorian Steinhoff nachsehend, ob er sie verfolgen würde. Mit rotierendem Kopf fahren und fahren sie, den entgegenkommenden Verkehr lassen sie unbeachtet, der hupend und reifenquietschend den beiden Frauen auszuweichen versucht, die auf der Flucht sind vor Dorian Steinhoff, der noch immer sinnierend neben dem himmelblauen Porsche steht, mit einem Bleistift in der Hand und einem Zettel in der anderen und im Tankstellenlicht eine Träne nicht unterdrücken kann, wie die beiden Frauen aus der Ferne erleichtert festzustellen glauben.  

Mit Dorian Steinhoff, der eigentlich Dorian Steinhaff heißt, wie die beiden Frauen kongenial auf dem Traktor sitzend denken, sich aus Gründen seiner optimistischen Weltanschauung aber einst selbst umbenannt hat in Dorian Steinhoff, wie Anna sich erinnert, ein Umbenennungsberserker, wie sie ihn fortan nennen will, wie auch ihre Begleiterin, die Anna vom Fernsehen her kennt, denkt, mussten sie aufs Entschiedenste und auf die am deutlichsten erkennbare Weise brechen.  

Der Name Kunigunde ist Anna natürlich widerwärtig gewesen, wenig exotisch, also uninteressant, also unattraktiv. Tatsächlich hat Anna der Name an ein ihr verhasstes Kartoffelgericht erinnert, förmlich riechen konnte sie das Kartoffelgericht, als Dorian Steinhoff den Namen aussprach. Damit war es ein Vorschlag gewesen, der beiden Frauen zugleich die Augen geöffnet hat, wie es heißt, für Dorian Steinhoffs nicht nur fahrerische Untragbarkeit, sondern auch seine gefährliche Nähe zu Kartoffelgerichten, von denen es bekanntlich ja nur ein winziger Schritt zum Antisemitismus ist.  

Wie Dorian Steinhoff sie noch einige Momente zuvor durch seine angenehme Physiognomie über seinen infamen Kopfesinhalt hatte täuschen können, ist den beiden Frauen somit deutlich bewusst geworden. Den Zettel, auf den Dorian Steinhoff den Anna zugedachten Namen Kunigunde geschrieben hat, haben sie somit gar nicht erst entgegen genommen und den Vorwand, der Kosmos hätte diese Namensänderung durchgedrückt, als einen solchen, nämlich als einen Vorwand schamlosester Art, der er war, entlarvt. Und die beiden Frauen fahren und fahren, weg vom steinhoffschen Alptraum, der an der Tankstelle auf sie wartet, den Gegenverkehr ignorierend, nur immer weiter und weiter mit immer höherer und höherer Geschwindigkeit fort von Dorian Steinhoff, der eigentlich Dorian Steinhaff heißt, aber sich einst umbenannte. Untertauchen, weg, fort. Zum Standesamt, ein neuer Name wird helfen. Vielleicht Esther, denkt Anna.

Du willst wissen, wie es weitergeht? Teil 4 der Kettengeschichte erscheint am Donnerstag, den 15.05.

Können vs. Wollen

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Ein Thema, das uns Singles oft beschäftigt, ist das Alleinsein. Wo es sonst so viele Themen gibt, die bei Frauen und Männern unterschiedlicher nicht sein könnten, ist das Alleinsein ein Thema, das scheinbar beide Geschlechter gleichermaßen beschäftigt. Ich höre immer dieses "Ich kann einfach nicht alleine sein" und frage mich, was es tatsächlich bedeutet.


Alleine sein

Wenn wir sagen, wir könnten nicht alleine sein, meinen wir im Grunde nicht das echte Alleinsein. Wir meinen eigentlich, wir könnten nicht ohne einen Partner in unserem Leben sein. Denn alleine, wenn wir mal ehrlich sind, sind wir wohl alle nicht. Wir haben Freunde, wir haben Familie, der eine mehr, der andere weniger, aber alleine sind wir nicht wirklich. Die Aussage "ich kann nicht alleine sein" fällt überraschender Weise meistens dann, wenn wir etwas tun, das irgendwie nicht so ganz koscher ist. Wenn wir uns auf eine Liebschaft einlassen, die uns im Grunde nicht glücklich macht. Wenn wir in einer Partnerschaft verweilen, die uns nicht gut tut. Wenn wir durch die Clubs und Bars ziehen und jeden Morgen neben jemand anderem aufwachen. Aber warum tun wir das, wenn wir doch eigentlich wissen, dass es uns nicht gut tut? Wirklich nur, weil wir nicht alleine sein können?


Eine Geschichte über das Alleinsein

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da konnte ich auch nicht alleine sein. Ich musste unbedingt zu Hause ausziehen, obwohl ich es mir eigentlich gar nicht wirklich leisten konnte. Also habe ich im Grunde sieben Tage die Woche gearbeitet und das verdiente Geld gleich wieder zum Fenster rausgeschmissen. Für Rechnungen war nichts mehr übrig, und ich wusste, dass ich zu Hause im Briefkasten die Realität finden würde. Sobald ich zu Hause auf dem Sofa saß, fühlte ich mich schrecklich. Also ging ich aus, traf Freunde und gab quasi alles, um nur nicht zu Hause sein zu müssen - alleine. Ich konnte nicht alleine sein. Riesengroßer Blödsinn. Klar konnte ich alleine sein, jeder Mensch kann alleine sein. Niemand geht zu Grunde, wenn er mal ein bisschen alleine ist. Ich wollte schlichtweg nicht alleine sein. Denn wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich ja quasi gezwungen gewesen, mich mit den Problemen, die da in meinem Briefkasten lauerten, auseinanderzusetzen. Und Auseinandersetzung ist ziemlich Kacke.


Angst

Dieses "nicht alleine sein können", das wir einfach um uns werfen, sagt also im Grunde nichts anderes aus als "ich habe Angst". Ich habe Angst, mich den Problemen zu stellen, die da irgendwo lauern. Ich weiß, dass sie da sind, aber für den Moment fühlt es sich um einiges besser an, sie durch Ablenkung jeglicher Art von mir wegzuschieben. Und so ist es auch in Beziehungsdingen. "Ich kann nicht alleine sein" hält als wunderbare Entschuldigung her. Ich bleibe bei dem Mann, der mich eigentlich nicht glücklich macht, denn ich kann nicht alleine sein. Warum? Würde ich mir eingestehen können, dass ich sehr wohl alleine sein kann, müsste ich logischerweise auch erkennen, dass ich mich meinen Problemen stellen muss - und das bedeutet Auseinandersetzung. Und davor haben wir Angst, denn meistens ist Auseinandersetzung erst einmal unschön. Kann es eine Lösung sein, immer mit einem großen Sack Probleme auf den Schultern durchs Leben zu gehen? Haben wir nicht etwas Besseres verdient?


Dein Leben - deine Entscheidung

Irgendwann, mit einem Brief meiner Bank in der Hand, kam damals der Moment, in dem ich es satt hatte, nicht alleine sein zu können. Also habe ich mich meinen Problemen gestellt, sie gelöst, und auf wundersame Weise ging es mir plötzlich besser. Klar war es eine ziemlich bittere Zeit, aber mal ehrlich - ein Problem-Sack auf dem Rücken verursacht auf Dauer fiese Rückenschmerzen. Wenn ihr daran denkt, in welchen Situationen ihr sagt "ich kann nicht alleine sein", vor was lauft ihr weg? Welche Probleme sind ungelöst? Je mehr wir uns die Unfähigkeit alleine sein zu können einreden, desto mehr Angst bekommen wir vor dem Moment, in dem wir es tatsächlich sind. Hinsichtlich der Tatsache, dass wir zwar sicherlich irgendwann einmal ohne Partner, jedoch bestimmt niemals alleine sein werden - ist es das wert? Keine Frage: Alleinsein will gelernt sein, jedoch ist es kein Hexenwerk. Es erfordert lediglich den Willen, sich darauf einzulassen. Und auf einmal kommst du in einen Zustand, in dem du im Reinen mit dir selbst bist. Erstrebenswert, sage ich euch. Vor allem können wir uns selbst dafür entscheiden.


Können vs. Wollen

Erst können wir nicht alleine sein, weil wir es nicht wollen. Dann lernen wir, alleine zu sein. Ich für meinen Teil habe es sehr zu schätzen gelernt. Die Fähigkeit, alleine sein zu können heißt auch, in der Lage zu sein, sich mit sich selbst beschäftigen zu können - und das auch gerne zu tun. Mittlerweile genieße ich es sehr, einfach mal einen Tag nur für mich zu haben. Wenn es Dinge gibt, über die ich nachdenken will, tue ich das; wenn nicht, mache ich einfach, was mir gut tut. Und dann kommt der Punkt, an dem ich zwar alleine sein kann, und nicht zwingend einen Partner in meinem Leben brauche, der mich rund um die Uhr bespaßt, es aber nicht will. Im "für mich sein" bin ich für meinen Geschmack nun geübt genug. Ich stehe im Leben, bin mir meiner selbst bewusst und bin mit mir selbst absolut in Ordnung. Quasi bin ich jetzt irgendwie bereit, einen zweiten Menschen in mein Leben zu lassen. Allein sein können, es aber nicht wollen - an einem Lösungsvorschlag für diesen Zustand arbeite ich noch.


 


photo credit: foka kytutr via photopincc



Wie das Internet...Tomaten schneidet

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Das Problem:

Ist dein Salat. Den isst du nämlich gerne mit Tomaten und zwar mit Cocktailtomaten, die tausend Mal besser schmecken als die großen, wässerigen. Weil sie nämlich viel würziger sind. Also hast du dir eine ganze Tüte voll gekauft. Das Blöde ist, dass sich kleine Tomaten ungleich schwerer schneiden lassen als große. Es dauert sehr lange, sie alle ordentlich zu halbieren und das In-den-Finger-schneide-Risiko ist auch höher. Und während du seufzend Tomätchen für Tomätchen halbierst, denkst du: „Gäbe es doch eine Möglichkeit, alle Tomaten auf einmal zu schneiden!“  

Die Lösung:
Hast du auf jedem Fall im Haus. Sie heißt: zwei flache Teller. Auf dem einen drapierst du die Tomaten, den anderen stülpst du drüber. Jetzt leichten Druck auf den oberen Teller ausüben, damit nichts verrutscht (aber auch nicht zu viel, sonst platzen die Tomaten) und dann das (bitte recht scharfe) Messer zwischen den beiden Tellern hindurchführen. Zack – schon hast du lauter halbierte Tomaten. Und kannst dich endlich ums Dressing kümmern. Guten Appetit!

Und hier noch mal zum Angucken:
http://www.youtube.com/watch?v=CTK0mpniqPw

Die Welt in meinem Kopf

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Was?
Was hast du gesagt?
Hm?
Wie bitte?

Mein Tag. Jeden Tag. 

Meine Konzentration ist wie ein loser Faden, der im Wind flattert.
Ich kann dem Gespräch nicht folgen, meine Gedanken wandern an die unterschiedlichsten fantastischsten Orte in meinem Kopf. Ich wünschte, du könntest es sehen, dann würdest du verstehen.

Vielleicht bin ich einfach nur richtig zerstreut im Moment. 
Aber was, wenn es nicht nur im Moment ist? Wenn ich in meinem Inneren beschlossen habe, dass diese Welt nicht das ist, was ich möchte. Wenn ich in meinem Kopf eine neue Welt baue, nur für mich allein. 

Wäre ich verrückt?

Und ich schreie dich in meinem Kopf an: "Du weißt doch gar nicht, ob das alles überhaupt real ist!" Ja, was, wenn die Welt wie wir sie kennen einfach nur eine Projektion ist? Wenn daran gar nichts reales ist, wenn nichts wirklich ist, alles nur Einbildung. Woher willst du es wissen?
Wenn du alles tun könntest, wenn du alles sein könntest?
Wenn alles, was dir im Weg steht, gar nicht real ist?

Ein leichtes Lächeln hüpft mir übers Gesicht, du hast die ganze Zeit geredet, ich habe kein Wort verstanden. Du denkst ich stimme dir zu, ich lasse dich in dem Glauben.
Soziale Interaktion ist mir jetzt zu anstrengend.

Vielleicht bin ich verrückt. Aber das macht nichts, das habe ich jetzt beschlossen.

 

Was ist dein Würzburg Randersacker?

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Als Mensch, der sich hauptsächlich in Großstädten bewegt, vergisst man manchmal, wie viel Provinz es in Deutschland gibt. Es ist nicht alles Berlin und Köln und München. Da ist viel mehr Neckartenzlingen und Ochtrup und Bad Fallingbostel.  



Danke Autobahn, dass du uns den Verkehrsfunk schenkst - und damit so viele Ortsnamen für unsere Fantasie!

Wahrscheinlich würde man das als Großstädter irgendwann vergessen, gäbe es nicht etwas, das einen regelmäßig aus der dummen Scheuklappensicht herausreißt: das Radio. Genauer: die Verkehrsmeldungen im Radio. Denn da tauchen sie regelmäßig auf, die Orte, die man niemals kennenlernen würde, wenn es dort nicht öfter mal Staus, stockenden Verkehr oder Gegenstände auf der Fahrbahn gäbe. „Fünf Kilometer Stau am Kreuz Feuchtwangen / Crailsheim.“ „Ein Unfall am Kreuz Frankenthal.“ „Baustelle auf der A8 zwischen Aichelberg und Wendlingen.“  

Manche dieser Orte sind uns besonders vertraut. Weil sich dort seit Jahren der Verkehr durch ein Nadelöhr zwängen muss und diese Orte deshalb Stammgäste in den alle 30 Minuten ausgestrahlten Verkehrsmeldungen sind. Wer regelmäßig Radio hört, hört die Ortsnamen tausendfach, obwohl sie eigentlich kaum eine Bedeutung für ihn haben.  

Ich war zum Beispiel noch nie in Erlangen-Tennenlohe. Auch nicht in Erlangen-Frauenaurach. Aber der Klang dieser Ortsteile ist mir so vertraut wie der Name meiner Mutter, weil es dort eine Dauerbaustelle gibt. Mehr noch: Ich habe irgendwann begonnen, mir diese Orte im Kopf auszumalen. Wenn ich höre, dass auf der A3 bei Würzburg Randersacker wieder mal acht Kilometer Stau sind, sehe ich es vor mir, dieses Randersacker: einen Ort zwischen Dorf und Kleinstadt. In leicht hügeliger Landschaft gelegen. Es gibt zwei Kirchen und einen Gasthof „Zur Post“. Auf dem größten Hügel steht eine alte Villa, auf dem Weg von der Autobahn kommt man an einem neuen Gewerbegebiet mit einem Container-Aldi und einem Container-Getränkemarkt vorbei. Auf dem frisch umgepflügten Feld daneben knattert ein etwas in die Jahre gekommener Traktor und übertönt den Soundteppich der 30-Tonner auf Asphalt, der von der Autobahn herüberweht und bei Südwind immer ein bisschen lauter ist als sonst.  

Ich wüsste jetzt gerne, ob du das auch hast: einen Ort, den du vor allem aus dem Verkehrsfunk kennst und dir auch schon vor dem inneren Auge ausgemalt hast, vielleicht auch unbewusst. Erzähl uns von deinem Würzburg-Randersacker!

Tagesblog - 9. Mai 2014

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17:55 Uhr: Und wisst ihr was? Damit verabschiede ich mich. Spinnst du, bin ich müde. Ein schönes Wochenende euch allen.

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17:40 Uhr:
Ja sag mal! Gleich wieder. Selbes Problem. Scusi! Aber dafür hab ich hier jetzt noch eine geile Jungsfrage zu grauen Haaren. Natürlich mit George Clooney, aber zum Beispiel auch mit Helen Mirren und dem Film "Im August in Osang County".

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16:00 Uhr:
Ui, jetzt war's ruhig hier, gell? Musste leider ganz viel anderen Kram schreiben noch. Und zack: Schon ist eine Spielfilmlänge rum und nix passiert. Aber dafür kommt's jetzt: Die Kollegin Kolber ist für uns ganz viel über die re:publica gewieselt. Und hat von dort fünf Erkenntnisse mitgebracht, wie's dem Internet so geht.





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14:25 Uhr:
Ein Wort der Warnung: Am Sonntag ist Muttertag! Just sayin' ...

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13:25 Uhr:
Konnte was, der Hackbraten. Und wo wir schon mal in diesem ästhetischen Kosmos sind, schnell noch was mit NPD und AfD. Aus welcher Partei, würdet ihr sagen, stammt zum Beispiel dieses Zitat:

"Multikulti hat die Aufgabe, die Völker zu homogenisieren und damit religiös und kulturell auszulöschen."

Mehr Hassraten gibt's hier.

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12:38 Uhr:
Ich gehe jetzt essen! Zur Überbrückung mal wieder dies:

http://www.youtube.com/watch?v=_7_6hPDDXGc

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11:56 Uhr:
Ein Glück, dass Lykke Li so viel Pech in der Liebe hat. Für uns. Denn nur deshalb kann sie so dunkelschöne Musik schreiben - erzählt sie uns in einem recht herzergreifenden Interview.





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11:33 Uhr:


Wie diese Fußballer auf Schmäh-Tweets reagieren wäre auch dann schon witzig, wenn man Lukas Podolski nicht mal wieder Englisch sprechen hörte!

http://www.youtube.com/watch?v=VP7k1QkkhZk#t=48

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10:22 Uhr:
Jackpott! Hackbraten mit Kartoffelpüree heute in der Druckerkantine!





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9:45 Uhr:
Kurzes Spiel: Ich sage mal ein paar Ortsnamen und ihr, woran ihr spontan dabei denkt.

Und los:

Würzburg Randersacker
Erlangen-Tennenlohe
Kreuz Feuchtwangen / Crailsheim

Und? Auch Verkehrsfunk? Und wenn ja: Wie stellst du dir diese Orte vor? Und wenn nein: Wie heißen die Stau-Berühmtheiten bei dir? All das will der Kollege Helten heute im Ticker wissen.




Noch ein Grund, warum wir einen Tunnel unterm Meer brauchen!

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9:35 Uhr:
Die widerlichsten Sätze fangen an mit "Darf ich dich mal was fragen ...", "Ganz ehrlich ..." - oder "Als ich heute Morgen laufen war ...". Als ich jedenfalls heute Morgen laufen war, habe ich dies entdeckt:





Und zwar mitten in der Stadt. Wo genau, sage ich nicht, weil: Erlaubt ist das ja bestimmt nicht. Toll aber schon!

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9:20 Uhr:
Ein später guter Morgen allerseits. Das Telefon hielt mich lang auf. Mein erster Tipp: Vorm Wochenende noch mal an die Karriere denken! Die NSA schreibt eine Stelle für Cyberintelligence in Honolulu aus. Da kann man weit kommen - sage ich.

Zweite Möglichkeit, weit zu kommen: Wenn sie bei der Daily nicht gerade auf sehr schlechtem Koks sind, plant China offenbar, eine Zugstrecke zu bauen, die Russland, China und - Achtung - die USA verbindet. 13.000 Kilometer soll die lang sein. Und wer jetzt schon wach genug war, um mitzudenken: Ja, sie soll unterm Meer verlaufen ...

Aufschwung Ost

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Es sind die Menschen, die Polen so attraktiv machen, vor allem die jungen Leute. Solche wie Justyna Celińska, die gerade lässig und präzise ihre Zahlenreihen herunterperlen lässt. Sie nennt Beispiele, gibt Analysen, zieht Schlussfolgerungen. Justyna Celińska ist dezent geschminkt, ihre Kleidung hat, wie bei fast allen Polinnen, den gewissen Chic, ihr Englisch ist perfekt. Sie spricht auch fließend Russisch und hat Grundkenntnisse in Ukrainisch und Französisch. „Es gibt hier einen Haufen talentierte Leute, die schnell etwas Neues lernen“, sagt die 27-Jährige.



In Danzig befindet sich das Büro der jungen Personalberaterin Justyna Celińska. Natürlich nicht in der Marienkirche, sondern in einem Neubau aus Chrom und Glas.

Sie kennt ihre Altersgenossen nicht nur aus privatem Umgang. Als leitende Mitarbeiterin im Danziger Büro der internationalen Personalvermittlungsagentur Hays befasst sie sich auch beruflich mit jenen jungen Leuten, die bei internationalen Investoren in Polen heute so sehr gefragt sind. Und sie ist spezialisiert auf Business Services, Geschäftsdienstleistungen also.

Das blasse Wort bezeichnet ein Phänomen, das bei Konzernplanern in Westeuropa und den USA derzeit hohe Konjunktur hat. Dahinter kann sich zum Beispiel die Verlagerung des Rechnungswesens in ein Shared Services Center (SSC) in Danzig verbergen. Oder die komplette Ausgliederung eines Teils der Buchhaltung nach Krakau durch Business Process Offshoring (BPO). Was bisher am Stammsitz eines deutschen, niederländischen oder britischen Unternehmens ressortierte, wird dann billiger und effizienter von jungen Polen in einem hypermodernen Geschäftsdistrikt an der Weichsel erledigt. Die Folge ist: Am alten Ort fallen Arbeitsplätze weg, in Polen entstehen neue, ja, es entsteht ein ganzer Wirtschaftszweig: Business Services.

Schon seit geraumer Zeit ist diese Art von Transfer in vollem Gange. Nach Angaben des zuständigen Fachverbands gibt es in Polen schon mehr als 450 solcher Servicecenter mit rund 120000 Beschäftigten. Wobei dazu auch ausgelagerte IT- oder Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gehören. Die Branche wächst stürmisch, und zwar mit zweistelligen Raten, und nach den Worten von Justyna Celińska hat Polen in dieser Disziplin schon jetzt den dritten Rang in der Welt erreicht, nach China und Brasilien.

Das Büro der jungen Personalberaterin befindet sich in einem neuen Geschäftszentrum aus Chrom und Glas im Danziger Stadtteil Oliwa, gleich neben dem Campus der Universität. Aus dem Besprechungsraum im neunten Stock geht der Blick über Neubauten auf die Ostsee und den neuen Hafen an der Westerplatte. Zu den jungen Leuten, die Tag für Tag im Erdgeschoss die Einlassschranken passieren, gehören auch 80 Beschäftigte des deutschen Bayer-Konzerns, die hier seit vorigem Jahr einen Teil des Rechnungswesens erledigen. Bis 2015 wird ihre Anzahl auf mehr als 200 aufgestockt, und nach den Worten des Leverkusener Firmensprechers Christian Hartel ist das „keine simple Verlagerung“. Gleichzeitig plant man Abläufe effizienter und flexibler, schafft neue Strukturen, fasst Aufgaben zentral zusammen – und lässt sie in Polen erledigen.

In gleicher Weise gehen auch andere Großunternehmen vor, und wie Bayer machen sie die Standortentscheidung von einem ganzen Bündel von Kriterien abhängig, beispielsweise der Qualität der Infra-struktur und der Höhe der Gehälter. Vor allem aber zählt die Verfügbarkeit „der richtigen Leute“, wie Hartel sagt. Sie sollen möglichst eine Universitätsausbildung und Berufserfahrung haben, außerdem noch Fremdsprachen beherrschen, Englisch in jedem Fall, am besten auch Deutsch oder andere Sprachen.

Gerade diese Anforderung erfüllen junge Polen besonders gut. „Polen ist sehr gut mit Hochschulen gesegnet“, sagt Michael Kern, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der deutsch-polnischen Industrie- und Handelskammer. Eine Umfrage bei seinen Mitgliedsfirmen ergab 2013 nicht nur, dass 94 Prozent der Unternehmer in Polen wieder investieren würden, sondern auch dass dabei die Qualität der Universitäten und die hohe Qualifikation der Arbeitnehmer zu den wichtigsten Kriterien zählen.

Junge Polen gelten als kommunikativ und flexibel. Außerdem zeigen sie, wie der leitende Manager einer deutschen Firma sagt, mehr Einsatzfreude und Motivation als ihre westeuropäischen Altersgenossen: „Die sind einfach noch hungrig.“ Und mobil, also auch zum Umzug bereit, und zwar zu 85 Prozent, wie die Personalberaterin Justyna Celińska hinzufügt. „Dieser Platz wird gewählt wegen dieses Talent-Pools.“

Dies gilt nicht nur für die Metropolregion Danzig mit den Nachbarstädten Zoppot und Gdingen, die nach Anzahl der Business Service Centers hinter Krakau, Warschau und Breslau auf dem vierten Platz rangiert. Im schönen Krakau, wo 170000 Studenten von 18 Hochschulen das Stadtbild noch stärker prägen als die ebenfalls sehr zahlreichen Touristen, ist fast ein Viertel dieser neuartigen polnischen Geschäftsdienstleister ansässig, darunter Ausgründungen internationaler Firmen wie Hitachi, Google, Electrolux, Shell oder Philipp Morris.

Auch die Deutsche Lufthansa betreibt in Krakau schon seit 2003 ein Shared Services Center, je ein anderes übrigens auch in Bangkok und Mexiko-Stadt. Die Krakauer Dependance „wird jetzt im Rahmen einer konzernweiten Bündelung von Administrativfunktionen weiter ausgebaut“, wie der Lufthansa-Sprecher Christoph Meier in Frankfurt sagt. Die Anzahl der Beschäftigten soll von 550 auf 800 steigen. Sie sind künftig nicht nur für die Lufthansa, sondern auch für deren Töchter Austrian Airlines, Swiss, Germanwings und Lufthansa Cargo tätig und zwar in den Bereichen Einkauf, IT und Personalwesen. Schon jetzt wird in Krakau auch die Buchhaltung besorgt, beispielsweise die Abrechnung der Flugscheine. Und wo immer in der Welt ein Lufthanseate eine Dienstreise abzurechnen hat – er scannt die Belege ein und schickt eine E-Mail los, es öffnet und bearbeitet sie ein Kollege der Lufthansa Global Business Services in Krakau.

Auf die Dauer hat dies Folgen. Abteilungen in Deutschland werden zugemacht, zum Beispiel bis 2019 am Standort Norderstedt. Der Grund für diesen Wandel ist vor allem der hohe Konkurrenzdruck, der zur Kostensenkung zwingt, wie Lufthansa-Sprecher Meier sagt. „Der Passagier zahlt nicht fünf Euro mehr, weil wir das Ticket in Deutschland abrechnen.“ Ähnlich argumentiert auch Ingo Alphéus, Geschäftsführer der RWE Group Business Services GmbH in Essen. RWE ist durch die deutsche Energiewende in Bedrängnis geraten, nun sollen bis 2018 die Kosten in den Servicebereichen Rechnungswesen, Personal und Einkauf um 100 Millionen Euro gesenkt werden. Deshalb wurde unter anderem im Oktober 2013 im Krakauer Geschäftszentrum Bonarka ein Shared Services Center eröffnet, inzwischen sind dort schon rund 70 Mitarbeiter beschäftigt. Sie bearbeiten für verschiedene RWE-Gesellschaften Rechnungen, prüfen Reisespesen, führen buchhalterische Arbeiten und Zahlungen aus. Dabei ist auch hier die Verlagerung mit einer konzernweiten Neugestaltung und Rationalisierung der Abläufe verbunden, die zugleich die Qualität verbessern soll.

Der angestrebte Spareffekt ergibt sich vor allem daraus, dass die Fachkräfte in Polen, grob gerechnet, „um zwei Drittel billiger sind als in Deutschland, in manchen Bereichen auch mehr“, wie Ingo Alphéus sagt. Die Personalberaterin Justyna Celińska in Danzig hat konkrete Zahlen zur Hand. Demnach verdient ein junger Buchhalter in Polen am Anfang umgerechnet 900 bis 1200 Euro, nach ein paar Jahren dann als Fachkraft 1500 bis 2000 Euro. Ist man vor diesem Hintergrund auf Kostensenkung aus, so macht die Verlagerung nach den Worten von Alphéus „nur dann Sinn, wenn man im gleichen Zug in Deutschland Arbeitsplätze abbauen kann“. Dies geschieht bei RWE derzeit hauptsächlich im Rheinland und im Ruhrgebiet, nach und nach, in Abstimmung mit den Betriebsräten. In weiteren Schritten werden auch Prozesse aus ausländischen RWE-Gesellschaften nach Krakau verlagert.

Für Krakau ist hingegen der Ausbau das Ziel. Personalprobleme gibt es kaum, auch der RWE-Mann Alphéus singt ein Loblied auf die jungen Polen: „Was mich begeistert, ist nicht nur die Qualifikation, sondern auch das Engagement, die Motivation, der Hunger dieser jungen Leute, schnell zu lernen und etwas zu bewegen.“ Das neue Polen wird zur Konkurrenz auch für die Nachbarn im Westen.

Luftnummer

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Sie haben zweifellos einen guten Job gemacht, die Mitarbeiter der Putzkolonne. Der helle Steinboden des Terminal-Gebäudes glänzt makellos, alle Mülleimer wurden geleert, die Tische des Bistros „Up and Away“ haben neuen Blumenschmuck erhalten und in den Waschräumen wurden die Spender für die Papierhandtücher neu befüllt. So akkurat wie in Kassel-Calden geht es wohl an keinem anderen deutschen Flughafen zu. Und genau da zeigt sich das Problem, das dieser Airport hat: Denn an den meisten Tagen ist einfach niemand da, der diese nordhessische Idylle durcheinanderbringen könnte. Der Verkehrsflughafen Kassel-Calden ist ein Airport fast ohne Passagiere. Eine Lachnummer, ätzten die Kritiker damals, 271Millionen Euro Baukosten in den Sand gesetzt. Wird schon werden, sagten viele aus der Umgebung, gebt dem Flughafen etwas Zeit. Und nun? Wie steht es heute um den umstrittenen Airport, gut ein Jahr nach seiner Eröffnung?



Gut ein Jahr nach der Eröffnung: Es ist nicht viel los am Regionalairport Kassel-Calden.

Erste Antworten liefert ein Rundgang durch den neuen Terminal. Im Bistro sind alle Tische leer, nur an einem sitzen zwei Gäste, eine Frau mittleren Alters und ihre Enkelin. Wohin geht die Reise? „Nirgends, wir sind nur zu Besuch hier und wollen uns den Flughafen mal anschauen“, sagt die Frau. Und wie ist er so? Lange Pause. „Er ist halt da. Jetzt müssen wir damit leben.“ Wenn sie mal mit dem Flugzeug verreist, sagt die Besucherin noch und greift schon nach dem Mantel, dann fliege sie ab Paderborn, da gebe es viel mehr Verbindungen. „Mit dem Auto ist das gerade mal eine Stunde von hier.“

Als der neue Airport Kassel-Calden im April 2013 nach mehrjähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet wurde, sprühten die hessischen Politiker vor Optimismus. „Nordhessen hat Flügel bekommen“, sagte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). „Für die Region wird sich der Flughafen lohnen“, meinte Finanzminister Thomas Schäfer (CDU). Und als „eine vernünftige Investition“ pries Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) den Airport. Damals rechnete die Betreibergesellschaft – sie gehört zu zwei Dritteln dem Land, darüber hinaus halten auch Stadt und Landkreis Kassel sowie die Gemeinde Calden Anteile – mit 100000 Fluggästen bis zum Jahresende. Zwischen April und Dezember kamen dann lediglich 44000. Einer der ersten Linienflüge musste abgesagt werden, weil zu wenige Passagiere gebucht hatten – sie wurden in Taxen gesetzt und nach Paderborn gefahren. 6,6 Millionen Euro Verlust soll der Flughafen im ersten Jahr gemacht haben, 2014 soll das Defizit noch einmal größer ausfallen. Die Gemeinde Calden kann ihren Anteil am Verlust nach eigenen Angaben nicht einmal ansatzweise stemmen, und in Kassel wollen Kritiker des Airports mit einem Bürgerbegehren erreichen, dass sich die überschuldete Stadt aus der Betreibergesellschaft zurückzieht, damit auch sie nicht mehr anteilig für die Verluste aufkommen muss. 858000 Euro im ersten Jahr, das Geld kann man besser ausgeben, so der Tenor.

Dass man in Kassel mit Blick auf den Flughafen womöglich schon immer eine Nummer zu groß geplant hat, zeigt sich im Kleinen auch im Flughafen-Shop. In mehreren Ausführungen gibt es dort ein einziges Flugzeugmodell aus Plastik zu kaufen: den Airbus A380. Im Original ist der A380 das größte Passagierflugzeug der Welt, mehr als 500 Passagiere passen hinein. Niemals wird ein solcher Jet Kassel-Calden ansteuern, dafür ist allein schon die Landebahn viel zu kurz. Immerhin ist seit Anfang Mai ab und zu mal ein kleinerer Airbus A319 auf dem Rollfeld zu sehen – die Fluggesellschaft Germania fliegt derzeit jeweils zweimal pro Woche nach Antalya und Palma de Mallorca. Damit ist Kassel-Calden aus einem monatelangen Winterschlaf erwacht, denn zwischen Oktober und April soll sich laut Flugplan kein einziges Verkehrsflugzeug in die nordhessische Provinz verirrt haben. Die Geschäftsleitung soll Durchhalteparolen an die etwa 140 zur Untätigkeit verurteilten Mitarbeiter ausgegeben haben.

Von den knapp 23000 Starts und Landungen, die der Airport im vergangenen Jahr verbucht hat, gehen die meisten sowieso auf das Konto der Allgemeinen Luftfahrt – dazu gehören Flüge von Hobbypiloten, kommerzielle Rundflüge, Starts von Chartermaschinen sowie der Betrieb der ortsansässigen Flugschule. Sie halten den Airport am Leben, nicht die großen Jets.

Um wirklich zu erfahren, wie die Bilanz in Kassel-Calden nach dem ersten Jahr aussieht, muss man den Ort wechseln.

Ein paar hundert Meter Luftlinie vom neuen Terminal entfernt ragt eine alte Wellblechhalle in die Höhe. Der Hangar gehört zum alten Flughafen Kassel-Calden, gebaut 1970, geschlossen 2013 im Zuge des Neubaus. Es ist eine sonderbare Parallelwelt dort drüben: Noch immer haben einige Luftfahrtunternehmen am alten Flughafen ihre Büros, weil Gewerbeflächen auf dem neuen Gelände knapp sind. Die Flugzeuge mussten umziehen, die Menschen bleiben. Das sagt auch einiges darüber aus, für wen der neue Flughafen gebaut wurde – und für wen nicht.

Am alten Airport nutzt die Firma Aero-Fallschirmsport zwei Gebäude. Es ist ein kleiner Betrieb: ein Flugzeug, drei Festangestellte, einige freie Mitarbeiter. Fallschirmsprünge und Lehrgänge, damit verdient das Unternehmen sein Geld, pro Jahr veranstalten sie fast 15000 Sprünge. „So als Steuerzahler denke ich, war es eine Fehlentscheidung, diesen neuen Flughafen zu bauen“, sagt Matthias Maushake, Inhaber und Geschäftsführer der Firma. Der Neubau habe für sein Unternehmen sogar fast das Aus bedeutet, sagt er, denn Fallschirmspringer und kommerzielle Luftfahrt, das vertrage sich nicht so gut. Am Ende stand ein Kompromiss: Die Springer starten am neuen Flughafen, aber die Landezone bleibt die Wiese am alten Airport. Für jeden Sprung müssen die Luftsportler darum erst mit einem Bus vom alten zum neuen Flughafen gebracht werden. Das ist umständlich. Was wäre für Kassel die bessere Lösung gewesen? „Auf die Ferienflieger verzichten und für die anderen einen kleinen, feinen Provinzflughafen machen“, sagt er. „Die Allgemeine Luftfahrt hat doch Potenzial. Rundflüge, Flugschulen, dafür ist Kassel gut.“

Ein paar Meter weiter, ein anderer Wellblechhangar. Nico Knabe lässt die Autotür ins Schloss fallen und kramt nach dem passenden Schlüssel für die schwere Metalltür. Drinnen hat der Inhaber einer Charterflug-Firma noch immer sein Büro, obwohl seine beiden Propellermaschinen längst in einem Hangar am neuen Flugplatz stehen. „Die Planungen für unser eigenes Bürogebäude laufen noch“, sagt Knabe, so lange macht er den Papierkram von seiner kleinen Bude am alten Flugplatz aus. „Wir brauchen einen Dialog darüber, wie man zusammen etwas für den Flughafen bewirken kann“, sagt Knabe. „Wir müssen für Flugbewegungen sorgen, im Kleinen wie im Großen.“ Fünf Minuten dauert die Autofahrt vom alten hinüber zum neuen Flughafen, die Straße endet auf einer Wiese im Nirgendwo, ein Stück abseits des Passagier-Terminals. „Hier soll mal unser Bürogebäude stehen“, sagt Knabe.

Ein Unternehmen hat durch den Neubau des Flughafens sichtbar profitiert: der amerikanische Flugzeugbauer Piper. Die deutsche Generalvertretung ist für halb Europa zuständig, in Kassel-Calden hat sie schon seit 1970 ihren Sitz. Mit dem Umzug hat sich das Unternehmen eine moderne Halle unweit des Towers gebaut. Mehr als zwei Drittel des Umsatzes macht Piper mit dem Handel von Ersatzteilen, der Rest entfällt auf den Verkauf von Piper-Maschinen sowie auf die Wartung von Flugzeugen fast aller Fabrikate. In der hellen Halle stehen unzählige Maschinen eng zusammengeschoben, ein paar von ihnen werden zum Kauf angeboten, die meisten jedoch sind zur Wartung da. Die Flugzeuge kommen von überall her, gerade steht Peter Borkowski, Leiter der Technikabteilung, vor einer einmotorigen Maschine, die in Libanon stationiert ist. Der Umzug habe dem Unternehmen genutzt, meint Borkowski. „Die neue Halle entspricht unseren Anforderungen, auch die längere Startbahn kommt den Piloten entgegen.“ Einen „Riesenvorteil“ wird Wilfried Otto, der Geschäftsführer der Niederlassung, den neuen Airport später am Telefon nennen. „Wirtschaftlich wird sich das natürlich erst in einigen Jahren auszahlen, vielleicht in zehn.“ Am Ende, davon ist Otto überzeugt, werden die Leute aber sagen, dass es richtig war, Kassel-Calden neu zu bauen.

Zurück im Passagier-Terminal. Es ist plötzlich voll geworden. Vier Schalter sind geöffnet, in zwei Stunden soll Germania-Flug ST 8056 in Richtung Antalya abheben. Es ist der erste Linienflug in diesem Jahr, sogar das Fernsehen ist gekommen. Fünf Frauen vom Kasseler Kegelklub „Joggi“ haben gerade ihre Koffer abgegeben. Eine Woche werden sie in der Türkei bleiben, ihre Männer lassen sie daheim. Gisela Ananiadis fliegt das erste Mal in Kassel ab. „Klein und knuddelig“ findet sie den Flughafen, „man muss nicht lange suchen und verläuft sich nicht.“ Knapp zwei Stunden später hebt der Airbus ab.

Der nächste Flug geht in drei Tagen.

„Am Ende profitieren alle davon“

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Blickt Ulrich Wilhelm, 52, aus seinem Büro im 15. Stock des Funkhauses zur Theresienwiese, sieht er ein Riesenrad. In München ist Frühlingsfest. Ein Rummel bietet vieles, was aus der Zeit gefallen scheint – und ist doch weiter attraktiv. Dafür müssen die Betreiber der Fahrgeschäfte in Neuheiten investieren. Dem Intendanten des Bayerischen Rundfunks geht es ähnlich: Er muss das Radio modernisieren, damit es weiter geschätzt wird. Darum setzt Wilhelm sich für die Umstellung auf eine digitale Verbreitung ein. Weil dem Sender zudem junge Hörer fehlen, soll BR-Klassik seine UKW-Frequenzen 2016 an die Jugendwelle Puls abtreten und nur noch ein Digitalsender sein. Der Protest ist deutlich.



Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm (Mitte), steht hier bei der Jubiläumsgala zum 25-jährigen Bestehen des Radiosenders Antenne Bayern. Im Interview spricht er über seinen Plan, statt Klassik eine Jugendwelle zu senden.

SZ: Wenn man verfolgt, mit welcher Konsequenz Sie BR-Klassik um seinen UKW-Platz bringen wollen, könnte man annehmen, Sie mögen keine Klassik.
Ulrich Wilhelm: Im Gegenteil. Ich komme aus einer klassikbegeisterten Familie, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht klassische Musik höre. Über CD und natürlich bei uns im Programm. Ich versuche auch, viel in Konzerte oder die Oper zu gehen.

Bereits 50000 Menschen sprechen sich in einer Petition gegen die Verlegung des einzigen richtigen Klassiksenders der ARD ins Digitale aus. Irren die alle?
Viele sind – so meine Befürchtung – nicht umfassend informiert. Wenn Menschen aus Kalifornien oder Hamburg protestieren, wundere ich mich schon: Über UKW wird BR-Klassik dort nicht verbreitet, sondern bereits heute digital. Ich stehe dafür, dass wir dieses großartige Klassikerbe, das der BR über Jahrzehnte aufgebaut hat, weiter pflegen. Deshalb schmerzt es mich, wenn es für möglich gehalten wird, dass wir mit diesem Weg eine Kulturvernichtung auf den Weg bringen. Ich habe, seit ich ins Amt gekommen bin, enorm in die Klassik investiert. Sie ist der einzige Bereich, der vom Sparkurs unseres Hauses ausgenommen ist und mehr bekommt.

Dennoch kommt Kritik selbst aus dem BR. Sogar der Chefdirigent Ihrer Symphoniker, Mariss Jansons, ist dagegen.
Mit Maestro Mariss Jansons bin ich seit einem halben Jahr in einem intensiven Gespräch. Er und seine Musiker setzen auf mittlere Sicht ganz entschieden auf die Digitalisierung. Wo sie zunächst noch skeptisch sind, ist, ob es uns gelingt, in den nächsten Jahren schon die Zuhörer mitzunehmen.

Ihnen muss es erst einmal gelingen, den Rundfunkrat mitzunehmen, der darüber entscheiden muss. Haben Sie den schon von Ihrem Plan überzeugt?
Wir werden in den kommenden zwei Wochen intensiv alle Aspekte erörtern. Selbstverständlich respektiere ich, dass es da unterschiedliche Auffassungen gibt. Am Ende werden wir zu einer guten, wohlbegründeten Entscheidung kommen.

Seit 20 Jahren wird das digitale Antennenradio DAB entwickelt, Millionen D-Mark und Euro wurden von öffentlich-rechtlicher Seite investiert. Das Netz mag ausgebaut sein, akzeptiert ist noch gar nichts. Wie kann das sein, dass in Deutschland heute nicht einmal fünf Prozent der Radiohörer ein DAB+-Gerät haben?
Was wir brauchen, ist der digitale Dreiklang von Netzabdeckung, Geräteversorgung und Inhalten. Nur wer Digitalradio auch wirklich empfangen kann, wird sich ein entsprechendes Gerät zulegen. Noch größer ist der Ansporn, wenn ich dabei auch einen echten inhaltlichen oder qualitativen Mehrwert bekomme. In allen drei Punkten haben wir jetzt – anders als früher – entscheidende Erfolge erreicht. Unabhängig davon erleben wir einen schnell voranschreitenden Netzausbau beim mobilen Internet, das ist der größte Wachstumstreiber der Digitalisierung. Jetzt haben wir es in der Hand, dem guten alten Radio auch in der digitalen Welt eine echte Zukunft zu geben.

Wenn das Internet besser wird, wozu braucht das Radio ein eigenes Netz?
Wir wollen zum Beispiel nicht, dass ein Internetdienst unser Programm auseinanderpflückt und nur die populärsten Sendungen bringt. Wir glauben fest an die Notwendigkeit eigener Netze. Die Rundfunktechnologie über DAB+ ist auch im digitalen Zeitalter eine sehr wirtschaftliche Lösung, um Audio-Inhalte möglichst kostengünstig an möglichst viele Menschen zu bringen. Diskriminierungsfrei nutzbar von jedem, ohne Eingriffsmöglichkeiten für Dritte und auf maximal möglichem Datenschutzniveau.

Es könnte sein, dass das Klassikhörern in diesem Moment sehr egal ist.
Wir bieten ihnen doch auch etwas, vor allem den Mehrwert einer guten Klangqualität. BR-Klassik wird auf DAB+ in einer Qualität ausgestrahlt, die vom menschlichen Ohr im Allgemeinen nicht von CD-Qualität zu unterscheiden ist und weit über der von UKW liegt, selbst bei günstigen Geräten, solange diese gute Lautsprecher haben.

Experten zweifeln das an.
Das ist eine Frage der Bandbreite, die wir senden. BR-Klassik ist hier bewusst besonders komfortabel ausgestattet. Ich höre im Auto und Zuhause DAB+, es überzeugt mich, auch im Vergleich zu UKW. Nicht zufällig ist BR-Klassik schon heute der BR-Sender mit dem höchsten Digitalisierungsgrad. Mehr als 40 Prozent der Nutzung läuft schon über digitalen Satellit, digitales Kabel oder über DAB+.

Gesetzlich darf der BR nur fünf UKW-Stationen belegen. Der Staatsrechtler Christoph Degenhart sagt, dass der Rundfunkstaatsvertrag Ihnen verbiete, einen Digitalsender auf UKW zu heben.
Unser juristischer Direktor Albrecht Hesse ist einer der führenden Rundfunkrechtler in Deutschland, der die Frage sorgfältig geprüft hat. Zusätzlich haben wir ein Gutachten des Staatsrechtlers Joachim Wieland, der es auch für zulässig hält. Entscheidend ist dabei die verfassungsrechtlich gewährleistete Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der die Möglichkeit haben muss, sich programmlich und technisch weiterzuentwickeln, um seinen Auftrag für die gesamte Gesellschaft erfüllen zu können.

Haben Sie als öffentlich-rechtliche Anstalt nicht die Pflicht, den Zugang zum Kulturgut Klassik zu schützen?
Wir schützen sie doch, indem wir in sie investieren, eine bessere Klangqualität liefern. Die Netzabdeckung auf DAB+ für BR-Klassik wird in Bayern 2016 besser sein als über UKW. Darüber hinaus machen wir Zusatzangebote wie eine digitale Konzerthalle, in der Aufführungen abgerufen werden können. Wir erschließen der Klassik damit neue Hörerkreise. Wir schieben die Klassik nicht ins Nirwana, wie manche behaupten. Das wichtigste Argument für den Frequenztausch mit Puls ist der besorgniserregende Generationenabriss – für uns eine Existenzfrage. Auch junge Leute müssen bei uns eine Heimat finden. Die Verfassung schreibt uns vor, ein Angebot für die ganze Bevölkerung und alle Altersgruppen zu machen.

Die Privatsender fürchten die Konkurrenz, wenn Sie mit Puls auf UKW senden.
Puls ist kein Hitradio, wie viele Private eines betreiben. Puls ist kein Mainstream, sondern ein anspruchsvolles Programm für Hörer unter 30 mit mehr als 25 Prozent Wortanteil und Musik, die man sonst nirgendwo hört. Bei vier von fünf Sendern des BR sind die Hörer älter als 50, selbst bei Bayern 3 sind sie im Schnitt 43. Puls ist keine Konkurrenz für die Privaten, aber ein ideales Zugpferd für junge Marken im Programm des BR. Ich habe mit vielen Verantwortlichen beim Privatradio gesprochen, ich kenne keinen, der grundsätzlich gegen den Ausbau von DAB+ ist. Sie sagen mir aber schon, dass die öffentlich-rechtlichen Sender der Schrittmacher sein müssen, damit der Durchbruch kommt. Das sind wir. Am Ende profitieren alle davon, DAB+ kostet die Sender ein Drittel weniger als UKW und ist volkswirtschaftlich 40 Mal effektiver als eine Verbreitung über Mobilfunk.

Viele Jugendliche hören sowieso nur noch Radio über das Internet.
Das ist falsch. Jugendliche hören noch immer sehr viel UKW-Radio, während die Fernsehnutzung deutlich zurückgegangen ist. Ohne Verbreitung auf UKW werden wir für Puls nie die erforderliche Grundbekanntheit schaffen. Das ist die Erfahrung aller Sender der ARD, von denen heute einzig der BR keine junge Welle auf UKW anbietet. Wenn die Marke bekannt ist, wird sie auch im Netz gefunden. BR-Klassik hat dagegen schon jetzt eine ganz starke Gemeinde und ist eine Marke, die ihre Hörer ins Digitale mitnehmen wird. Bei dem Tausch geht es für uns um eine existenzielle Frage, wir heben einen Jugendsender auf UKW, weil wir uns nicht die Zukunft verbauen wollen.

Man hat das Gefühl, dass sich neben Ihnen nur Willi Steul, der Intendant des Deutschlandradios, für DAB+ einsetzt.
Ich glaube, das täuscht. Der MDR und der SWR sind sehr weit, auch der WDR hat heute schon eine Netzabdeckung von über 90Prozent in Nordrhein-Westfalen. Wir haben einen Grundsatzbeschluss der Intendanten aus diesem Jahr, dass wir alle auf DAB+ setzen. Wir werden also alle unser Netz ausbauen, das ist kein Lippenbekenntnis. Es wäre auch Unsinn, es nicht zu tun. In Europa wird DAB+ mittelfristig Standard sein. Die BBC setzt darauf, die Schweiz und Polen, Norwegen schaltet UKW voraussichtlich 2017 ab. Ich glaube nicht, dass Deutschland einen Alleingang geht und sagt: Wir verschließen uns dem Fortschritt. Die Millionen, die wir schon in die Digitalisierung investiert haben, vergessen wir jetzt mal.

Herr Steul schlägt 2025 als Abschaltdatum vor. Was ist Ihre Vision?
Die ARD ist eine Gemeinschaft, da ergibt es keinen Sinn, wenn jeder Intendant ein eigenes Abschaltdatum nennt. Bayern wird im Laufe des Jahres 2016 an der Spitze des Netzausbaus in Deutschland liegen. Wir werden die Zahl unserer DAB-Sender in den kommenden zwei Jahren nahezu verdoppeln. Das hängt auch damit zusammen, dass Radio hier einen besonders hohen Stellenwert hat. Die Bayern hören mehr Radio als der Bundesdurchschnitt, sie sehen dafür aber weniger fern.

Sie könnten 2016 also UKW abschalten?
Darum geht es nicht. Wir können nicht irgendwelche Abschaltdaten nennen. Das ist eine nationale Frage. Aber 2016 werden die Menschen in Bayern DAB+ praktisch überall empfangen können wie UKW und dies zu schätzen wissen.

Befragung ja, Deutschland nein

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Der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des NSA-Datenskandals hat sich am Donnerstag darauf verständigt, den früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden als Zeugen vorzuladen. Einem entsprechenden Antrag stimmten im Ausschuss Vertreter aller Parteien zu. Die Ladung des Ausschusses soll in der kommenden Woche an den Anwalt Snowdens in Deutschland übermittelt werden. Angestrebt wird, ihn noch vor der parlamentarischen Sommerpause zu befragen. Anvisierter Termin ist der 3. Juli.



Kommt er oder kommt er nicht? Ob Snowden in Deutschland aussagen wird, ist noch nicht entschieden.

Heftig umstritten bleibt dagegen die Frage, ob Snowden für die Befragung nach Deutschland kommen kann. Grüne und Linke fordern dies seit Wochen und verlangen zum Schutz Snowdens Garantien der Bundesregierung. Während SPD-Obmann Christian Flisek betonte, er sei in dieser Frage für alles offen, lehnt sein CDU-Kollege Roderich Kiesewetter die Forderung der Opposition aus juristischen und politischen Gründen strikt ab. Kiesewetter erklärte, er gehe fest davon aus, dass Snowden, sollte er nach Deutschland kommen, bei der Einreise verhaftet und dann an die USA ausgeliefert werden müsse. Entsprechend könne er sich nicht vorstellen, dass die Grünen unter diesen Umständen wirklich eine Einreise Snowdens anstrebten.

Die Grünen widersprechen dieser Sicht der Dinge vehement und sprachen am Donnerstag von einem „Winkelzug“ der Koalitionsvertreter, weil diese die Frage, ob man Snowden vorlade, von der Frage nach dem wann, wie und wo getrennt hatten. Aus diesem Grund behalten sich die Vertreter von Grünen und Linken nach wie vor auch eine Klage vor der Bundesverfassungsgericht vor. Die Linken-Abgeordnete Martina Renner, Obfrau ihrer Fraktion, zeigte sich verärgert über die Haltung der Koalitionsvertreter und betonte, sie werde auf alle Fälle darauf pochen, Snowden in Deutschland zu befragen. Wie der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist Renner der festen Überzeugung, dass Snowden nur hierzulande wirklich offen sprechen kann. Ströbele sagte, in Moskau müsse Snowden „sich so verhalten, dass weder die Russen noch die Amerikaner daran Anstoß nehmen“. Deshalb könne er nicht alle seine Kenntnisse umfassend ausbreiten.

Der Obmann der Grünen, Konstantin von Notz, betonte zudem, dass die von Kiesewetter favorisierte Video-Befragung den Grundsatz der Unmittelbarkeit verletze. „Nur wenn man einen Zeugen tatsächlich in Augenschein nehmen kann, kann man ihn wirklich beurteilen und einschätzen.“ Der CDU-Politiker Kiesewetter vermutet allerdings, dass die Grünen eine Vernehmung in Deutschland anstreben, um Snowden die Chance zu geben, auf deutschem Boden einen Asylantrag stellen zu können.

Am späteren Nachmittag entschied der Ausschuss noch über eine umfangreiche Zeugenliste. So sollen neben Kanzlerin Angela Merkel auch zahlreiche Mitglieder des derzeitigen Kabinetts und die Chefs der Geheimdienste aussagen.
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