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Schrauben gegen das System

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Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews wäre das nicht passiert. Die Detektive aus der Kinder-Hörspielreihe „Drei Fragezeichen“ hätten das Gerät beim Abholen genau unter die Lupe genommen und sofort gemerkt, dass das Kassettenfach kaputt ist. Tristan merkte es erst zu Hause. Der 27-Jährige hatte sich ein Radio mit CD- und Kassettenspieler über Ebay gekauft. 15 Euro, Selbstabholung. Das Radio funktioniert, CDs kann Tristan hören. Aber was nützt ihm das mit seinen vielen „Drei-Fragezeichen“-Kassetten? Deshalb sitzt Tristan jetzt in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg und hofft auf Hilfe.



Die 36-jährige Elisa Garrote-Gasch steht in dem von ihr organisierten 'Repair-Cafe' in Berlin-Kreuzberg.

Einmal im Monat veranstaltet die Spanierin Elisa Garrote-Gasch hier ein Repair-Café. Die simple Idee stammt aus den Niederlanden: Menschen, die Elektrogeräte reparieren wollen, treffen in gemütlicher Atmosphäre Menschen, die Elektrogeräte reparieren können. Ausgebildete Techniker tüfteln ehrenamtlich gemeinsam mit Laien an alten Radios, DVD-Playern und Mixern. Das Repair-Café ist nicht nur als günstiger Service gedacht. „Die Menschen sollen die Hemmung verlieren“, sagt die 36-jährige Elisa. „Sie sollen die Möglichkeit entdecken, Dinge zu reparieren, bevor man sie gleich wegschmeißt.“

Im Frühjahr 2013 startete die Künstlerin aus Valencia das Projekt in der Kreuzberger Hinterhof-Garage, die sie als Atelier nutzt. Viel Platz ist nicht. Gedrängt stehen die Tische, an denen die Techniker arbeiten. Eine Couch , ein Tischchen mit Kaffee und Snacks. Dass es mal so voll werden würde, war nicht abzusehen am Anfang. Als Elisa das Projekt startete, hatte sie das einzige Repair-Café in Berlin, heute gibt es sechs Cafés in der Stadt - und bei Elisa geht ohne Anmeldung gar nichts mehr. Warum ist Reparieren Trend?

Um einen Grund zu finden, bedarf es eines Ortswechsels. Zwei Kilometer östlich von Elisas Garage liegt das Museum der Dinge. Die Dinge hier sind vor allem Alltagsgegenstände aus dem 20.Jahrhundert, in Vitrinen ausgestellt. Christian Kreiß sitzt an diesem Abend zwischen alten Toastern, Gießkannen und Kaugummiautomaten. Er blickt in die Regale und sagt: „Viele Produkte aus den 1940er und -50er Jahren waren sehr haltbar. Das kann man von den Produkten heute nicht mehr sagen.“

Kreiß ist Wirtschaftsprofessor und beschäftigt sich mit geplanter Obsoleszenz. Obwohl der Begriff so sperrig ist, haben viele Menschen inzwischen eine Vorstellung davon, was darunter zu verstehen ist. Das ist auch der Verdienst von Kreiß: Im Frühjahr 2013 veröffentlichte er im Auftrag der Grünen eine Studie, die das Thema in die Medien katapultierte. Kreiß' Fazit: Unternehmen stellen Produkte absichtlich so her, dass sie schneller verschleißen. Sie bauen Schwachstellen ein oder verwenden schlechte Materialien, die die Lebenszeit verkürzen. Kreiß hat sich weiter mit geplantem Verschleiß beschäftigt und nun ein Buch dazu herausgebracht. Der Professor ist überzeugt, dass die Konzerne mit dieser Strategie nicht nur Kosten sparen. Ihm zufolge kurbeln sie so auch ihren Absatz an, weil die Menschen neue Produkte in kürzeren Zyklen kaufen müssen. An der Haltbarkeitsdauer zu schrauben sei eine Möglichkeit für die Konzerne, ihre Rendite zu erhöhen, sagt Kreiß. Eine „verkappte Preiserhöhung“, sei das. Er hat ausgerechnet: Mehr als 100 Milliarden Euro gingen den Verbrauchern in Deutschland jedes Jahr durch geplanten Verschleiß verloren. 110Euro pro Person, jeden Monat. Zudem würden Ressourcen verschwendet, jede Menge unnötiger Müll produziert.

Das klassische Beispiel Kreiß zufolge: der Tintenstrahldrucker, der dank eingebautem Zähler nach einer bestimmten Anzahl von Druckvorgängen den Geist aufgebe. Oder Kaffeemaschinen: Eine für die Großkantine, die ewig laufe, und eine für den Privathaushalt, die kurz nach Ablauf der Garantiezeit den Dienst verweigere – beide vom gleichen Hersteller. Die Ingenieure hätten eine Software, behauptet Kreiß, mit deren Hilfe sie die Teile so zusammensetzen könnten, dass die gewünschte Lebensdauer herauskomme. Und die sei häufig so ausgelegt, dass sie knapp über die Garantiezeit reiche.

Zigarettenpause mit Stefan. „Heute ist der Tag der alten Ost-Radios“, sagt der 50-Jährige und setzt sich an einen Tisch im Hof. Er ist selbständig und hilft seit ein paar Monaten in Elisas Repair-Café mit. Radios bringen die Leute häufig mit, auch neuere. Sehr oft mache das gleiche Teil Probleme, sagt Stefan: der Elektrolytkondensator. Er malt mit dem Finger Kurven auf den Tisch und spricht von Frequenzbereichen, für die die Kondensatoren gemacht seien. Es ist klar: Oft sind Kondensatoren gar nicht für die entsprechende Belastung gemacht und gehen schnell kaputt.

„Es macht wirtschaftlich keinen Sinn, Dinge mit langer Lebensdauer zu bauen“, sagt Stefan. Ein Mann und eine Frau am Tisch mischen sich ein, die auf Hilfe bei der Reparatur warten. Eine Debatte über das Wirtschaftssystem entwickelt sich, und darüber, wie viel die Menschen eigentlich über Produkte wissen können und wissen wollen. „Da könnte ich stundenlang drüber reden“, sagt Stefan und zündet sich noch eine Zigarette an.

Auch Buchautor Christian Kreiß redet über das Wirtschaftssystem. Die Weltkapitalmärkte seien das Problem, das ständige Streben nach Wachstum und Rendite. Er weiß aber auch, dass er mit seiner Kritik vielleicht ein bisschen zu weit oben ansetzt. Deshalb fordert er erst einmal: weniger Werbung, mehr Transparenz, längere Haltbarkeit von Produkten, am besten gesetzlich festgeschrieben. Er appelliert aber auch an den Einzelnen. Die Verbraucher müssten mehr auf Qualität achten, wieder eine Beziehung zum Produkt aufbauen.

Den Ansatz der Repair-Cafés findet Kreiß „sehr ermutigend“. Allerdings weiß er auch, wie Hersteller die Reparatur erschweren, manchmal sogar unmöglich machen können. Weil Akkus so verklebt sind, dass es unmöglich ist, sie auszutauschen. Weil es keine Ersatzteile gibt oder nur autorisierte Werkstätten für viel Geld weiterhelfen können. Oder weil sich das Gehäuse eines Geräts schon gar nicht öffnen lässt. „Die Sachen sollten reparierbar sein“, sagt auch Elisa. „Der Service ist aber oft total teuer oder die Service-Leute sagen: Das lohnt sich nicht.“

Viele ältere Menschen melden sich bei Elisa. Für sie ist es noch selbstverständlich, dass man Geräte reparieren kann, oder es zumindest versucht, bevor sie im Müll landen. Aber auch junge Leute kommen in das Café. Viele aus Überzeugung, einige, weil sie wenig Geld haben. „Hier wirft man eine kleine Spende in die Box und alles ist super“, sagt Tristan. Er ist gerade mit dem Studium fertig und auf Jobsuche.

Lange tüftelt er mit Techniker Jan an seinem Kassettenspieler. Der ist 34, hat Elektrotechnik studiert und erkennt sofort das Problem. Doch Tristan und er bekommen das Gehäuse nicht auf. Die Schrauben liegen zu tief, Jan hat dafür nicht das passende Gerät. „Die haben nicht daran gedacht, dass jemand das Gerät aufschrauben will“, sagt er schließlich. Tristan soll nächsten Monat noch einmal kommen. Dann, verspricht Jan, hat er einen längeren Schraubenzieher. Bis dahin schweigen Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews.

Hart wie ein Panzer

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Die Meldung müsste Sigmar Gabriel gefallen haben. Als die Bild am Sonntag am Wochenende berichtete, ein Panzergeschäft mit Saudi-Arabien sei durch den Wirtschaftsminister gestoppt worden, entsprach das genau der politischen Botschaft, die Gabriel seit Wochen verbreiten möchte. Rüstungsexporte, gar Panzerverkäufe, und das auch noch in Krisenregionen – für ihn soll all das nicht mehr in Frage kommen. So gesehen klingt es einleuchtend, dass er, wie nun berichtet, zu einem Geschäft über Panzerverkäufe an Saudi-Arabien den Daumen gesenkt habe.




Ein in Deutschland hergestellter Panzer vom Typ Leopard. Dieser gehört der türkischen Armee.

Hintergrund ist eine Vereinbarung zwischen der spanischen Regierung und dem saudischen Verteidigungsministerium über den Kauf von 150 Leopard-2-Panzern, die in Spanien in Lizenz gebaut werden sollen, aber für eine Lieferung an Riad auch einer deutschen Genehmigung bedürfen. Es heißt, Gabriel habe eine „Schlüsselrolle“ gespielt beim Nein der Deutschen.

Wenn man freilich genauer nachfragt, wird die Sache unkonkreter. Anders als suggeriert, hat es nämlich keine wirkliche Entscheidung Gabriels gegeben. Es gibt bislang nicht mal eine Voranfrage an die Bundesregierung, ob sie sich einen solchen Panzerexport vorstellen könnte. Richtig ist, dass Spanier, Saudis und Rüstungsunternehmen mit einem Nein Gabriels rechnen müssten. Richtig ist aber auch, dass er nicht gefragt und auch mit einer entsprechenden Entscheidung noch nicht konfrontiert wurde. Das bedeutet: Der Bericht sieht nicht schlecht aus für den Vizekanzler. Aber ein belastbarer Beleg, wie er sich die Balance zwischen Wirtschaftsinteressen und moralischen Überzeugungen vorstellt, fehlt damit weiter.

Als es darum ging, das Kabinett aufzustellen, hat sich Gabriel schnell für das Wirtschaftsministerium entschieden. Der SPD-Vorsitzende wollte (und will) den Beweis antreten, dass auch ein Sozialdemokrat ein guter Wirtschaftsminister sein kann. Gabriel weiß, dass viele der SPD in diesem Bereich wenig zutrauen. Und er weiß, dass sich das ändern muss, will die SPD, womöglich unter seiner Führung, jemals ins Kanzleramt einziehen.

Nur beim Thema Rüstungsexporte wollte Gabriel alles anders machen als seine Vorgänger. Hier wollte und will er nicht als Lobbyist von Wirtschaftsinteressen auftreten, sondern Werten und moralischen Fragen den Vorrang geben. So hat er es früh in seiner Amtszeit erklärt und in die Welt hinaus gerufen. In einem Stern-Interview im Januar sprach er gar von einer „Schande“ angesichts der deutschen Rüstungsexporte. Und er versprach, die Rüstungsexportpolitik transparenter zu gestalten.

Allein, so richtig viel ist seither noch nicht entschieden worden. Der Rüstungsexportbericht soll zwar künftig häufiger vorgestellt werden. Außerdem, so wurde angekündigt, soll der Wirtschaftsausschuss über endgültige Rüstungsexportgenehmigungen zeitnah informiert werden. Aber mindestens die Opposition aus Grünen und Linken ist damit unzufrieden und beklagt leere Versprechungen des Ministers. Zumal er im Februar einer Hermes-Bürgschaft für Patrouillenboote an Saudi-Arabien zugestimmt hatte. Gabriel verteidigte dies zwar, weil man mit Patrouillenbooten nicht die eigene Bevölkerung attackieren könne. Grüne und Linke warfen ihm trotzdem vor, dass er große Worte mache, aber in Wahrheit nichts ändern wolle.

Und dann? Dann kam der Bericht vom Wochenende.

Lust und Leistung

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Es sind erst einige Dutzend Studenten, die vor ihrem ersten Semester die Führerscheinstelle an der Hochschule Bremerhaven besuchen. Noch ist das Projekt ja recht neu, das Vize-Rektor Peter Ritzenhoff, zuständig für Studium und Lehre, und sein Team initiiert haben: den Studienführerschein. Mathekurse bietet die Hochschule im Norden ihren Studienanfängern schon lange an, um Lücken bei den angehenden Ingenieuren zu beheben, um alle auf einen gemeinsamen Stand zu bringen. Nun kamen Workshops dazu, jeweils einige Wochen vor dem ersten Tag im Hörsaal – Zeitmanagement, Lernstrategien, Persönlichkeitstrainings.



Im ersten Semester ist der Hörsaal meist noch voll. Später leeren sich häufig die Reihen.

Nach mehreren Kursen wird dann der Führerschein ausgestellt. Das Papier lässt sich für die Bewerbung auf Stipendien nutzen – vor allem aber, sagt Ritzenhoff , soll es „helfen, schnell im Studium anzukommen“. Inhaltlich und fachlich, aber auch in puncto Wohlfühlfaktor. Denn in Bremerhaven liegt der Anteil der Studienabbrecher etwa auf dem Niveau aller deutschen Hochschulen: bei mehr als einem Viertel, in bestimmten Fächern noch deutlich höher.

Bremerhaven ist jüngst zusammen mit fünf weiteren Standorten vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für diese „guten Ansätze“ geehrt worden. Andernorts rückt man dem Problem zum Beispiel mit Technik zu Leibe und versucht mit Hilfe von Datenanalysen, die Risikogruppen für Studienabbruch ausfindig zu machen. Die sechs Hochschulen sollen in einem „Qualitätszirkel Studienerfolg“ ihre Ideen weiterentwickeln und auch neue Konzepte finden. Ergebnisse werden wohl 2015 vorgestellt. Der Stifterverband, eine Initiative der Wirtschaft, spricht von einer „alarmierenden“ Lage, einem Schaden für das ganze Land: „Wenn wir so weitermachen und halbe Jahrgänge im Studium scheitern lassen, werden wir den Fachkräftemangel nie in den Griff bekommen.“

In diesen Tagen beginnt an den Universitäten die Vorlesungszeit. Blickt ein Studienanfänger dort zum Sitznachbarn links und rechts, dann wird statistisch gesehen einer von den beiden oder er selbst sein Studium hinwerfen. Denn bei Bachelorstudenten an Universitäten bricht jeder dritte wieder ab. Für 2014 rechnen die Statistiker erneut mit annähernd einer halben Million Erstsemester wie schon in den vergangenen Jahren, die Gesamtzahl der Hochschüler liegt auf Rekordniveau, gut 2,5 Millionen. Das ist im Grunde eine Momentaufnahme.

Umfassende Daten zum Thema Abbuch hat das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) erhoben. Demnach liegt die Abbrecherquote im Bachelor an Unis – ausgewertet wurde der Absolventenjahrgang 2010 – eben bei 35 Prozent, an den Fachhochschulen ist sie niedriger. In den universitären Ingenieurfächern gibt sogar fast jeder zweite auf, in Naturwissenschaften sind es 39 Prozent.

Die Gesamtquote wird nach unten gedrückt von Fächern mit Staatsexamen: Jura (26 Prozent), Medizin (neun Prozent) und Lehramt (sechs Prozent). Die DZHW-Autoren sehen die Ursachen für den Studienerfolg in diesen Fächern in der starken Identifikation mit dem Fach, im klaren späteren Berufsbild und der strengeren Struktur. Zudem gebe es oft Zulassungshürden, wie in Medizin ein Einser-Abitur und dadurch eine Leistungsselektion der Bewerber. Heißt das, dass die Abbrecher in anderen Fächern nicht leistungsstark genug sind und aus Überforderung abbrechen?

So einfach ist es nicht. In einer weiteren Studie des DZHW widmeten sich die Forscher den Motiven der Studienabbrecher. Ein Viertel von ihnen war durch Bedingungen, die nichts mit Leistung und Lehre zu tun haben, dazu gezwungen: Sie hatten massive Probleme bei der Studienfinanzierung, führten familiäre Gründe wie die Pflege von Angehörigen auf oder wurden durch Krankheit aus der Bahn geworfen. Größer ist die Gruppe derjenigen, die mit falschen Erwartungen ins Studium kamen oder schlichtweg scheiterten: 31 Prozent des analysierten Jahrgangs gaben auf, weil sie den Anforderungen nicht gerecht wurden oder zu häufig bei Prüfungen durchfielen. Im Bachelor-System kommt es häufiger zum Abbruch aus diesen Gründen als in den früheren Diplom- und Magisterstudiengängen. 30 Prozent gaben zudem auf, weil sie nicht mehr motiviert waren, ihre Vorstellungen sich nicht erfüllten oder die Studienbedingungen zu mies waren.

Zwei Aspekte zeigen sich demnach, an denen man ansetzen kann: bei der Studienwahl und Zulassung sowie später bei der Betreuung der Studenten. Aber reicht es aus, wenn Hochschulen – nicht nur die sechs in gesagtem Qualitätszirkel – nach Belieben Projekte auf den Weg bringen? Die Wissenschaftsminister versuchen den vielen Studienabbrechern schon länger Herr zu werden. Sie kosten Geld, da sie das erworbene Wissen nicht einsetzen können – und nicht als begehrte Fachkraft zur Verfügung stehen. Immer wieder haben die Länder Beratungsprogramme aufgesetzt, in Baden-Württemberg etwa sollen sich Studenten durch die Kampagne „Gscheit studiert“ besser für ein Fach entscheiden können; auch mit Preisen für gute Lehre hat man es schon versucht, zudem startete Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) 2012 ein Programm „Willkommen in der Wissenschaft“, das die oft trockenen Grundlagen zu Studienbeginn mit Ausflüge in Forschungsinstitute oder anschaulichen Erfahrungen, zum Beispiel in Laborwagen, aufpeppen soll. Laut Bauer verzeichnet ihr Land bundesweit die wenigsten Abbrecher, 84 Prozent studierten im Bachelor und Master bis zum Abschluss.

Nordrhein-Westfalens Ministerin Svenja Schulze (SPD) versucht es mit Vorgaben an die Hochschulen: Ihr geplantes Hochschulzukunftsgesetz soll die Rektoren zu einem Qualitätsmanagement verpflichten, das den Gründen für Erfolg oder Misserfolg der Studenten nachgehen muss. Und jede Hochschule muss demnach eine Gegenstrategie aufzeigen. Zudem will sie, dass Fristen bis zur Prüfung flexibler gehandhabt werden, damit das Ende wegen Zeitüberschreitung seltener wird.

Bundeswissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU) setzt bei denen an, die bereits abgebrochen haben. Sie will ihnen den Weg zu einer betrieblichen Ausbildung ebnen – unter anderem, indem Leistungen aus dem Studium für eine Lehre anerkannt werden. Auf Internetseiten wie Studienabbrecher.com lockt man bereits mit „Meister statt Master“. Beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) registriert man dies dankbar, da sich immer weniger Menschen mit Abitur für eine Lehre entscheiden. In den nächsten zehn Jahren suchten 200000 Handwerksunternehmer einen Nachfolger, sagt ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer. „Das Handwerk bietet jedem handfeste Karriereperspektiven, auch im zweiten Anlauf.“

Heißes Herz, kühler Kopf

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Leidenschaft oder Charisma sind nicht unbedingt naheliegende Begriffe, um das gegenwärtige politische Führungspersonal der Bundesrepublik oder benachbarter europäischer Demokratien zu beschreiben. Sicherlich, die kulturkritische Klage über Technokratie, das Regime des Sachzwanges und die Politikverdrossenheit ist über die Jahre derart konstant geblieben, dass man darin schon wieder ein stabilisierendes Element der repräsentativen Demokratie sehen kann. Immerhin erscheint friedliches Desinteresse und der bürgerliche Rückzug ins Private verträglicher als ein Übermaß an politischer Leidenschaft. Doch gerade der müde Bundestagswahlkampf 2013 rief schmerzlich in Erinnerung, dass nicht Parteiprogramme, sondern in erster Linie politische Führungsfiguren Mobilisierung und Integration bewerkstelligen. Was nützt die zutreffende Einsicht, dass viele gesellschaftliche, fiskalische und sozialpolitische Fragen der Klärung bedürfen, wenn Persönlichkeiten fehlen, die anstehende Aufgaben zu ihrer Sache, mithin ernstzunehmende Alternativen für den Bürger sicht- und wählbar machen.




Obama hat wenig Angst vor Leidenschaft, in den USA kommt das an

Welche Eigenschaften muss ein Politiker mitbringen, um „die Menschen draußen im Lande“ (H. Kohl) zu erreichen? Wann lässt sich in der Sphäre des Politischen wirklich von Charisma sprechen? Die Kulturjournalistin Julia Encke macht diese Fragen zum Ausgangspunkt eines ebenso geistreichen wie unterhaltsamen Essays, der eine wichtige Einsicht Max Webers noch einmal ins Zentrum stellt: Charisma entsteht nur im Wechselspiel politischer Begabung und gesellschaftlicher Umstände. Es ist nichts, das antrainierbar oder auszubilden wäre, wie die Ratgeberliteratur zur Persönlichkeitsoptimierung suggeriert, sondern bildet sich in einer Konstellation aus atmosphärischen Bedingungen, psychosozialen Stimmungen und kollektiven Sehnsüchten.

Für Encke gibt es keinen Grund mehr, sich vor politischen Charismatikern zu fürchten. In aufgeklärten demokratischen Gesellschaften sind die Chancen für populistische Menschenfänger gering. Ein Blender von der Harmlosigkeit eines Karl Theodor zu Guttenberg verschwindet von der Bildfläche, nicht nur weil er der Hochstapelei überführt, sondern weil schnell klar wurde, dass er politisch keine substanzielle Botschaft zu versenden hatte. Sein Appeal beruhte auf zur Schau gestelltem adligem Manierismus und den Trivia inszenierter Homestorys, denen eine politische Öffentlichkeit zunächst auf den Leim ging. Enckes Analyse dieses Charisma-Bluffs zählt zu den besten Passagen eines an Einsichten reichen Buches.

Zum positiven Exempel politischen Charismas kürt die Autorin Barack Obama. Wenn sich die Hoffnungen an politische Inhalte und Überzeugungen knüpfen, die der amerikanische Präsidentschaftskandidat glaubwürdig verkörperte, dann werden Kräfte aktiviert, die den politischen Alltag transzendieren. Freilich bleibt das Charisma eine fragile und vergängliche Ressource, deren Veralltäglichung zur Entzauberung führt. Es verblasst, sobald die politischen Ergebnisse keinen Vergleich mehr mit den einst geweckten Erwartungen aushalten. Der Charismatiker hat nicht nur „das gewisse Etwas“; er muss in der Lage sein, die ihm verfügbare politische Energiezufuhr virtuos zu nutzen – in manchen Fällen für Entscheidungen, die gegen die kurzfristigen Interessen der Wähler und das Kleinklein der Interessenverbände durchsetzbar werden. Ein solches charismatisches Momentum attestiert die Verfasserin Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die innen- und außenpolitische Weichenstellungen – Agenda 2010, Kosovo-Einsatz, Irak-Krieg – wirkungsvoll zu Charakterfragen stilisierten. Allerdings bieten die rotgrünen Veteranen ein Exempel dafür, wie rasch sich jedes Charisma mit dem Amtsverlust verflüchtigen kann. Anders als der Alterscharismatiker Helmut Schmidt, dessen noch so unsinnige Äußerungen über China und Russland stets auf Gehör stoßen, haben die Achtundsechziger ihren Nimbus als elder statesmen mit dem übergangslosen Wechsel in die Wirtschaft rapide verspielt.

Es scheint also, wie Schmidts Verwandlung vom ersten Angestellten der Republik zum Orakel von der Elbe nahelegt, neben dem politisch-dynamisierenden Charisma eines Führungspolitikers auch eine nachträgliche, durch geschichtliche Erfahrung beglaubigte Charismatisierung zu geben. Sie hat freilich weniger mit politischer Leidenschaft als mit musealer Verehrung zu tun, die einen Kontrast zur profanen Gegenwart inszeniert. Ob jede Personalisierung von Politik gleich mit dem Charismabegriff befrachtet werden muss, daran lassen Enckes Ausführungen zur Grünenpolitikern Petra Kelly und Piratin Marina Weisband zweifeln. Zwar stilisierte sich Kelly zur Jeanne d’Arc der Friedensbewegung, aber ihr Eingesponnensein in eigene Ängste und ihre leidenschaftliche monothematische Fixierung führte sie ins Abseits. Und war Weisband nicht eher eine Medien-Sternschnuppe als ein charismatisches Phänomen?

Enckes Plädoyer für mehr Leidenschaft in der Politik, ihre Positivierung des Charismabegriffs ist durchweg sympathisch. Man möchte ihr darin zustimmen, dass Begeisterung und Emotionalisierung ihren Platz verdienen in einer Demokratie, die genügend Möglichkeiten für kritische Kontrolle bietet. Aber die charismatische Flaute der Gegenwart ist vermutlich auch zeittypischen Vermeidungsstrategien geschuldet, keine politische Polarisierung zuzulassen und klaren Alternativen auszuweichen. Eine Konsenskultur nimmt Abstand von Charismatikern, vermeidet rhetorische Volten, überspielt Krisen und fährt auf Sicht. Der politische Visionär, dem der Alterscharismatiker Schmidt bekanntlich den Gang zum Arzt empfahl, taugt kaum als Erlösungshoffnung. Politiker erlangen charismatische Statur nur dann, wenn sie für Inhalte eintreten, die in einer lebendigen Bürgergesellschaft auf Resonanz stoßen. Dann kann mit „Leidenschaft und Augenmaß“ (M. Weber) gestritten werden. Mit Julia Encke sieht der Leser künftigen Vitalisierungsschüben der Demokratie freudig und intellektuell gerüstet entgegen.

"Privat höre ich Stevie Wonder"

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Fabio Cataldi, 31, Künstlername Bass Sultan Hengzt, galt jahrelang als einer der härtesten Rapper Berlins. Diese Zeiten sind vorbei. Gerade ist er mit Sido auf Tour, diese Woche erscheint sein Album "Endlich erwachsen".

jetzt.de: Normalerweise gehen Musiker mit ihren Alben auf Tournee. Was macht man, wenn man keinen Song öffentlich aufführen darf?

Bass Sultan Hengzt: Eine EP war ja nicht indiziert, vier oder fünf Songs durfte ich also spielen. Aber klar, damit kannst du nicht auf Tour gehen. Ich hab tatsächlich 2010 das letzte Konzert in Deutschland gegeben. Seither hab ich nur in der Schweiz oder in Österreich gespielt, da sind die Alben nicht indiziert. Aber dort habe ich dann auch gemerkt: Die Jugendlichen nehmen sich viel zu sehr zu Herzen, was ich damals gerappt habe!

Was meinst du damit?
Wenn ich nach einem Konzert Autogramme gab, habe ich immer öfter gemerkt, dass manche meiner Fans wirklich denken, dass ich Frauen hasse. Und die fanden mich deshalb gut! Neben den vielen netten Leuten standen da teilweise schlimm gewaltbereite Typen vor mir. Und deren Vorbild war ich!

Hattest du ein schlechtes Gewissen?
Und wie. Diese Typen hatten kein bisschen gepeilt, dass das mein Humor ist. Das war schlimm.

Den Humor haben auch andere nicht verstanden, deine Texte wurden als gewaltverherrlichend eingestuft.
Das klingt seltsam, aber das war Battle-Rap, da war das normal. Und ich habe ja nicht nur prollige Dinge gesagt wie "ich ficke deine Mutter". Nein, ich verliere auch noch gegen sie im Armdrücken! Solche Sprüche waren natürlich lustig gemeint, Battle-Rap ist ja im Grunde ein Spiel, bei dem du einen anderen Rapper möglichst kreativ beleidigst, wir haben uns totgelacht im Studio über die absurdesten Zeilen! Und ich hab schließlich nicht nur so harte Songs gemacht. Bloß reden alle immer über die indizierten.

Die haben deiner Glaubwürdigkeit nicht geschadet, oder?
Klar, damals hab ich mich geil gefühlt, wenn wieder ein Brief von der Bundesprüfstelle kam und ein Song auf dem Index landete. Und die Fans wollten natürlich genau die verbotenen Platten unbedingt haben. Bloß konnte ich so kein Geld mehr mit meiner Musik verdienen.

Schlimm, wenn dein neues Album auch indiziert wird?
Klar, aber das wird es bestimmt nicht. Ich hab aus meinen Fehlern gelernt. Ich bin in den letzten vier Jahren sehr viel reifer geworden, ich habe eine Tochter. Was ich vor zehn Jahren gerappt habe, hat mit dem neuen Album nichts mehr zu tun. Ich mache keine Prollscheiße mehr.

http://www.youtube.com/watch?v=---FVGq01Pk "Diese Ausdrücke sind nicht witzig": Ein Snippet des neuen Albums.

Gleich der zweite Refrain geht so: "Mann, komm fick dich, denn es bringt nichts, all diese Ausdrücke sind nicht witzig. Ich find’s unter aller Sau, komm lass die Mutter da raus." Versteht die Bundesprüfstelle die Ironie?
Das hoffe ich! Ich hab kürzlich bei denen angerufen und die neue Platte angekündigt, die klangen sehr nett.

Es gibt ein Video von dem Anruf: Du sagst, auf dem Album komme zwölf mal "Ficken" und drei mal "Arschloch" vor, ob das denn okay sei.
Ich wollte denen zeigen, dass ich ein netter Typ bin, mit dem man reden kann. Das letzte Mal wollten sie einen meiner Songs indizieren, weil darin ein Chef mit seiner Sekretärin Sex auf dem Schreibtisch hat. Das fand ich kleinlich.

Dein neues Album klingt reif, es ist sehr melodisch und aufwändig instrumental produziert. Deine Battle-Rap-Zeiten sind offenbar tatsächlich vorbei. Nehmen dich die Fans von früher noch ernst?
Es gab am Anfang schon fiesen Gegenwind, weil ich angeblich nicht mehr "real" sei. Aber diejenigen, die immer noch die Musik von vor zehn Jahren von mir erwarten, sind mir egal. Wenn die mir vorwerfen, Pop zu machen, finde ich das geil. Wenn für jemanden allen Ernstes "Pop" eine Beleidigung ist, soll er mich in Ruhe lassen. Gangsta Rap verkauft sich zur Zeit wie blöd. Wenn ich auf der Schiene weiterfahren würde, könnte ich sehr viel Erfolg haben. Aber das wäre nicht authentisch. Ich hab mich eben weiterentwickelt, das verstehe ich unter "real".

Du sagst, du wolltest endlich mal ein "musikalisches" Album machen. Was meinst du damit?
Ich habe eine Platte gemacht, die nicht auf das Genre Hip-Hop begrenzt ist wie früher. Ich höre privat ja gar keinen Hip-Hop – ich liebe Rock, Nirvana, Stevie Wonder. Ich wollte die Songs nicht wie früher in ein paar Stunden im Studio zusammenbasteln, sondern Wochen und Monate daran herumfeilen, mit neuen Produzenten. Das bedeutet für mich Musik machen!

Warum hast du nicht schon früher so gearbeitet?
Aus Gruppenzwang! Meine Freunde waren ja alle auf dem Hip-Hop-Film, da musste ich mitziehen. Wir haben am Computer Beats zusammengesampled, ein paar Streicher auf die Hook gelegt, den Text geschrieben und das war’s. Schon mit einer Gitarre hätte ich mich da lächerlich gemacht! Diesmal haben wir wochenlang Bläser, Geigen und Schlagzeug live eingespielt. Ich singe auf dem Album sogar! Früher hab ich mich nicht mal getraut, zu sagen, dass ich Metallica höre.

Das Auge

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Unbeobachtet leben viele Tiere irgendwo in der Natur. Doch auch sie kennen Fortpflanzung. Stellen Sie sich vor. Ein Diktatorisches Regime. Sie in einer Foltersituation. Ständiges Anstarren! Tagelang. Beobachtung ist mächtig. Doch wie ein Auge schaffen? Auch wenn wir wegschauen, werden wir beobachtet. Man kann Fragen an das Auge stellen und man kann Fragen stellen. Das Auge hat Erfinderkraft und kann nicht blind werden. Genug Anlass, sich auf jeden Fall beobachtet zu fühlen. Politische Verbrechen, Unterlassung, Verblendung. Die Eigenschaften des Auges, sind die aus Mensch und Kammera. Dazu kann man einen Film machen, Jetzt beginnt das Auge zu schauen. Was man denkt verbirgt man, doch was man sieht verbirgt man nicht. Doch das Auge ist weniger wählerisch-mehr erfinderisch. Bereits bei diesem Text.

  Michael Josef Sommer 


    

Der große Graben

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Flosi Jón Ófeigsson wird nicht Islands nächster Superstar. Er hat die Jury im Fernsehstudio in Reykjavik in der zweiten Runde nicht überzeugt, jetzt ist er aus dem Rennen. Hinter den Kulissen wartet sein Mann auf ihn. Die Kamera filmt die beiden, während sie sich umarmen, dann: Schnitt, der nächste Kandidat. Ein schwules Paar im Fernsehen – in Island ist das nichts Besonderes.

  Wie auch in vielen anderen Ländern wird in der isländischen Fernsehsendung "Ísland Got Talent" das vermeintliche Gesangstalent der Nation gesucht. Flosi ist großer Fan des Eurovision Song Contests, er singt den Song "Ég á líf", den isländischen Beitrag zum ESC 2013. Das Lied handelt von Hindernissen auf dem Weg zur Liebe. "Ich lebe ein Leben in schwerer Strömung, aber ich lebe, bin lebendig – deinetwegen", lautet eine Zeile. Es ist Poptrash, ein bisschen kitschig, das weiß Flosi. Aber für ihn gehören diese Zeilen in sein Jetzt, sind erlebter Pathos, festgehalten in Pop. Für Flosi ist das Lied die Hymne auf das neue, gemeinsame Leben mit seinem Mann, mit Tusan.

  Dessen Heimat ist das türkische Izmir, es ist von Reykjavik 4274 Kilometer Luftlinie entfernt. Oder, in einer anderen Maßeinheit: 42 Prozentpunkte auf der "Rainbow Map". Diese Karte visualisiert die Rechtslage für Lesben, Bisexuelle, Schwule und Transgender-Menschen (LGBT) in allen Ländern Europas. Herausgegeben wird sie vom weltweiten Dachverband der LGBT-Organisationen ILGA. Je mehr Gleichstellungsgesetze ein Land umgesetzt hat, desto mehr Prozent erreicht es. Deutschland liegt mit 54 Prozent im oberen Mittelfeld, Großbritannien mit 77 mit Abstand an der Spitze. Auffällig ist die Färbung der Karte. Während der Norden und der Westen von Spanien bis hinauf nach Schweden hauptsächlich grün ist, leuchten Südosteuropa und die Türkei in Gelb bis Rot.



Die "Rainbow Map" zeigt, wie groß die Unterschiede in Sachen Gleichberechtigung von Homosexuellen in Europa sind.


  Flosi, heute 29 Jahre alt, wuchs im grünen Bereich auf. In einem Dorf in Island. Der 21-jährige Tusan dort, wo das Rot der Karte nur noch von Russland, Aserbaidschan oder Armenien übertroffen wird. Beide fühlen sich als Europäer. Jetzt sitzen sie gemeinsam beim Abendessen, in der Küche ihrer Souterrainwohnung, zehn Minuten vom Stadtzentrum Reykjaviks entfernt, und erzählen von dem Weg, der sie hierher gebracht hat. Ihre Geschichten könnten kaum unterschiedlicher sein.

  Flosi wurde in der Schule häufiger mal gehänselt. Aber eher, weil er ein dickes Kind war, sagt er, "nicht aufgrund meiner Homosexualität". Die Menschen im isländischen Hinterland bewerten Dorfmitglieder aufgrund ihrer Leistungen für die Gemeinschaft. Flosi spielte lange Fußball und trainierte Kindermannschaften. Dass er als Kind auch gerne tanzt und Lippenstifte sammelt, kann er damals selbst nicht einordnen – und die Erwachsenen kümmert es nicht. Sein Coming-out hat er mit 20. Als er auf dem Abschlussball seiner Schule "I will survive" von Gloria Gaynor singt, kapieren es auch die letzten. Ein Bekenntnis auf der Bühne.

  Wenn Tusan über seine Jugend redet, fallen häufig Wörter wie: verstecken, verprügeln, ausgrenzen. Er wirkt hager, seine dünnen Arme machen zaghafte Bewegungen, wenn er spricht. Vor jeder Antwort nimmt er sich eine Bedenkzeit. Es ist eine konzentrierte Suche nach Worten, die seine neu gewonnene Stärke vor den alten Groll setzen sollen.

Wöchentlich muss er mit einem Priester über seine "Sünde" reden: die Liebe für Männer



  Er ist der Sohn eines protestantischen Pfarrers mit griechischen Wurzeln. Allein deshalb sei er der "totale Außenseiter" in der muslimisch geprägten Türkei gewesen, sagt Tusan. Schon mit 14 erzählt er seinem Vater, dass er schwul ist. Und dessen Reaktion überrascht ihn: "Wenn Gott dich liebt, warum sollte ich das dann nicht auch können?", sagt der Vater. Nur kurze Zeit später überreden Kirchenmänner den Vater, Tusan in eine geistliche Einrichtung in der Osttürkei zu schicken. Er soll seine Kontakte zu schwulen Männern kappen, das soll ihn "heilen".

Tusan ist wütend. Er stürzt sich wieder ins Nachtleben von Izmir, ist kaum noch zu Hause. Es sei gar nicht darum gegangen ihn vom "Schwulsein" zu heilen,"sondern vom Anderssein", sagt er. Weil sein Vater und die anderen Geistlichen aber nicht locker lassen, willigt er kurz darauf ein, zumindest einmal wöchentlich mit einem Priester über seine "Sünden" zu reden, wie es die Kirchenmänner nennen. Eigentlich geht es darum, ihn davon zu überzeugen, dass es falsch ist, schwul zu sein. Um in Izmir bleiben zu können, lässt Tusan es über sich ergehen. Er trifft weiterhin seine Freunde und trägt auch weiterhin seine bunten Hemden mit Hosenträgern und Fliege, dazu ein Piercing in der Unterlippe. Auf der Straße zieht er damit häufig die Aufmerksamkeit von selbsternannten Verfechtern der Männlichkeit auf sich. Es sind Jungs von seiner Schule, meist kaum älter als er, die ihn auf dem Weg zur Schule immer wieder verprügeln. "Was die Offenheit für Andersartigkeit angeht", sagt Tusan, "läuft in der Türkei etwas mächtig falsch."

  Tatsächlich gibt es in der Türkei keine in der Verfassung festgeschriebene Gleichheit von Bürgern anderer sexueller Orientierung und keinen Schutz als Arbeitnehmer. Der Staat löst immer wieder öffentliche Versammlungen mit Polizeigewalt auf, bei denen für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft demonstriert wird. Im Vorfeld des Christopher Street Day in Istanbul, der im vergangenen Jahr in die Zeit der Proteste im Gezi-Park fiel, soll die Polizei gezielt schwule und lesbische Bürger verhaftet haben, um sie einzuschüchtern. Zwar ist Homosexualität in der Türkei bereits seit 1858 nicht mehr verboten. Aber innerhalb der Armee gilt sie noch immer als Geisteskrankheit, schwule Rekruten werden abgewiesen. Und der türkische Ministerpräsident Erdogan bezeichnet die Homosexualität als "mit dem Islam unvereinbar".



Tusan (links) hat den roten Bereich der Karte verlassen und ist aus seiner Heimat, der Türkei, zu Flosi nach Island gezogen. Seither droht ihm sein Bruder mit Gewalt.


  Die grüne Europapolitikerin Barbara Lochbihler ist seit 2011 Vorsitzende im Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments. Sie befasst sich vorrangig mit Nicht-EU-Staaten wie der Türkei, wo es 2012 allein elf Morde aus Hass gegen Homosexuelle gab. Sie kann erklären, warum die Farben der Rainbow Map immer stärker ins Rot tendieren, je weiter man nach Südosten blickt. Generell verfolgen osteuropäische Staaten "aus traditionellen und religiösen Gründen" eine konservativere Politik als die Nordstaaten, sagt sie. In den EU-Fortschrittsberichten über die Türkei seien die Umstände wiederholt angeprangert worden. Aber die EU könne nicht viel mehr ausrichten, als mehr Fördermittel für zivilrechtliche Organisationen in der Türkei zur Verfügung zu stellen.

  Flosi fliegt im Sommer 2012 vom grünen Bereich in den roten. Er arbeitet für ein isländisches Touristikunternehmen in der Schweiz und will Urlaub in Izmir machen. Tusan arbeitet zu dieser Zeit als Lobbyboy in einem großen Hotel am Strand. Als sie sich kennenlernen, ist Tusan bereits klar, dass er aus der Türkei weg will. Ein Jahr zuvor war er im Auslandssemester in Kanada, diese Zeit hat ihn spüren lassen, wie einfach es sich in einem Land lebt, in dem Homosexualität keine große Sache ist. Als er aus Kanada zurückkommt, beginnt er, die Türkei erst richtig zu hassen. Er erzählt nur wenigen Freunden von seinen Plänen, Izmir zu verlassen.

  Zuerst fährt er einen Monat lang zu Flosi in die Schweiz. "Es ging darum, auszuprobieren, ob unsere Beziehung wirklich mehr ist als ein Urlaubsflirt", sagt Flosi in seiner Küche. Tusan stellt in der Schweiz einen Antrag auf ein Visum, um länger bleiben zu können. Als der Antrag zum zweiten Mal scheitert, beschließen die beiden nach Island zu ziehen. Tusan muss nicht lange darüber nachdenken. Die Tür zurück in die Türkei ist in seinem Kopf bereits geschlossen.

Sein Exfreund schlug ihn - er kannte nur das Rollenbild des starken Hetero-Mannes.



  In Island angekommen, hat er mit ganz anderen Dingen zu kämpfen. Er versteht die Sprache nicht, der anfängliche Mut ist verflogen. Tusan vermisst seine Freunde. Trotzdem weiß er, dass er sich richtig entschieden hat. Die Frage nach den großen Unterschieden zwischen Nord- und Südeuropa sei ohnehin nicht mit dem geltenden Recht zu beantworten, sagt er. Die größte Hürde im türkischen Alltag war für ihn ein Wertesystem, das von religiöser Moral durchsetzt ist. Das zeige sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Während sich die einstige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Islands, Jóhanna Sigurdardóttir, für ein Eherecht für Homosexuelle einsetzte und am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes ihre langjährige Partnerin heiratete, bestimmen in der Türkei Männer wie der islamisch-konservative Ministerpräsident Erdogan das gesellschaftliche Klima. "Ich glaube nicht an Geschlechtergleichheit", ist eine seiner viel zitierten Äußerungen, die die Gleichberechtigung in einem Satz zur Glaubensfrage macht. Eine Diskussion über Heiratsrecht, Adoptionsfragen oder einen generellen Aktionsplan zur Gleichstellung der Geschlechter oder der sexuellen Orientierung kann dadurch nicht die politische Sphäre erreichen.

  Was junge homosexuelle Türken dringend bräuchten, seien Rollenvorbilder, sagt Tusan. In einer Talentshow als homosexueller Mann aufzutreten, wie Flosi es tat, sei in der Türkei kaum denkbar. Das Fehlen dieser alltäglich vorgelebten Homosexualität führt zu absurden Verhaltensweisen. Tusans Ex-Freund in der Türkei, der älter als Tusan war und ihm physisch überlegen, verbat ihm das Ausgehen. Er schlug ihn. Im Gespräch mit heterosexuellen Freunden merkt Tusan später, dass es das erlernte Rollenbild des vermeintlich starken Mannes ist. Der Normalzustand in der Türkei. Tusan erkennt, dass sein schwuler Freund ihn so behandelte, wie einige seiner heterosexuellen Bekannten ihre Frauen. Er hatte es nicht anders gelernt.

  Für Tusan sind es deshalb subtile Situationen, die ihm seine neu gewonnene Freiheit aufzeigen. Derzeit lernt er Isländisch und ist vor allem von einer Sprachwendung begeistert: "Man spricht hier davon, einen Partner zu haben. Nach dem Geschlecht wird gar nicht erst gefragt."

  Im Juli 2013 heiraten Flosi und Tusan in Egilsstadir, Flosis Geburtsort in Ostisland – auch um Tusan den dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen. Seine türkische Familie bleibt der Zeremonie fern. Als er wenig später Hochzeitsfotos bei Facebook hochlädt, wird sein älterer Bruder wütend. Was sollen die Leute denken, fragt er. Er rät seinem kleinen Bruder, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren, sonst werde er "es bereuen".

  Zum Schluss erzählt Tusan von dem Moment, in dem er sich in seiner neuen Heimat wirklich richtig angekommen fühlte. Es war auf der Gaypride Parade in Reykjavik, Tusan steht damals auf einem Umzugswagen. Er trägt eine Wikingertracht mit türkischer Flagge als Kostüm. Neben ihm auf dem Wagen steht Flosi, aber auch heterosexuelle Isländer mit ihren Kindern. Sogar der Bürgermeister ist dabei. Vor der Frikirkjan, der Freikirche, taucht auf einmal ein Pastor auf. Er schwenkt eine Regenbogenfahne und feiert mit der Masse. Als Tusan und Flosi auf ihrem Umzugswagen an ihm vorbeifahren, stellt er die Fahne ab, lacht den beiden freundlich zu und segnet sie wortlos.

Damals™.

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Es gab mal eine Zeit, in der ich mir ziemlich viel mit dir hätte vorstellen können. Es gab mal eine Zeit, da wäre nahezu alles möglich gewesen. Es gab mal eine Zeit, lange vor dieser, eine Zeit, dicht verknüpft und verwoben mit dem Konjunktiv, in der jeder Gedanke, jeder Satz, jeder Moment eine Chance, eine Möglichkeit, eine Eventualität bereithielt. Es gab mal eine Zeit, damals, in der ich eine Idee von dir hatte, eine Idee von dem, was du tust und wie du es tust und warum. Eine Zeit, in der ich eine Idee von deinem Leben hatte, weil ich mir wie ein Teil davon vorkam, ein kleiner, ein nichtiger, ein Nebenbei-Teil, aber trotz allem doch ein Teil. Es gab diese Zeit, einmal, für kurz und manchmal frage ich mich, wohin sie verschwunden ist, wann sie mir oder dir oder uns beiden durch die Finger geronnen ist, als wäre sie Nichts, ich frage mich, wann wir angefangen haben, sie loszulassen, diese Zeit und mit ihr all die Chancen, die Möglichkeiten und die Eventualitäten, wann wir uns verabschiedet haben vom Konjunktiv, vom Hätte, Könnte und Würde, und wir uns entschieden haben, uns dem Ist zuzuwenden oder in unserem Fall: Dem Ist-Nicht. Haben wir uns überhaupt dazu entschieden? War das bewusst und absichtlich und wenn ja, von wem? War das Nachlässigkeit oder Desinteresse? Oder war es einfach das Leben, wie so oft? Ich weiß es nicht. Aber es gab mal eine Zeit, lange vor dieser.

Und sie fehlt mir.

Und du fehlst mir.

Hier.

Manchmal.

Zu oft.

Haut.

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Ich habe nachgesehen.

Unter meiner Jacke.
Unter meinem Pullover.
Unter meinem T-Shirt.


Aber da war nichts.


Da war kein Superheldenkostüm, da prangerte kein großes, rotes “S” auf meiner Brust, da war kein Wonderwoman-BH in Sicht, da war nichts, was mich dazu hätte bringen können, mich super zu fühlen oder stark, da war einfach nichts. Da war nur Haut. Haut wie Seidenpapier, die jeden Moment einzureißen drohte, wenn jemand zu sehr piekte, Haut, die fast transparent war – dünne Haut, gehüllt um ein zerberstendes Herz.

Ich hätte mir gewünscht, dass da mehr gewesen wäre, etwas, auf das mehr Verlass ist, etwas, das einem ein besseres Gefühl gibt und nicht so verletzlich ist, weil mich das vielleicht ein bisschen beruhigt und mir ein Stück Sicherheit verpasst hätte. “So, hier, hey – unter der Oberfläche, unter den Klamotten, bin ich noch immer Supergirl, tat ja alles gar nicht weh, die Uniform ist unversehrt und wenn hier und da doch mal eine Naht aufgerissen ist, dann wird die geflickt, so einfach ist das!”

Aber so einfach ist das eben nicht. So einfach war das eben nicht. Weil da schon immer nur Haut war und noch nie ein Superheldenkostüm. Weil die Dinge schon immer mich getroffen haben, mich, nur mich, mich ganz alleine, weil da noch nie ein Puffer war oder ein Schutzschild, weil man mir das nie wirklich mitgegeben hat und ich mir das nie angeeignet habe, weder einen Panzer, noch ein dickes Fell. Da war schon immer nur Haut. Ehrliche Haut.

Wenn man dann so da steht und begreift, dass da auch nie mehr sein wird als das, dann lernt man irgendwann, dass man sein eigener Held sein muss, in dieser Haut, dass das das Superheldenkostüm ist, das man nun mal mitbekommen hat, als man auf diese Welt geworfen wurde. Dass man sich manchmal eben selber retten muss, irgendwie – auch wenn man nicht fliegen, sich nicht unsichtbar machen oder die Zeit anhalten, langsamer laufen lassen oder zurückdrehen kann. Irgendwann lernt man, dass es an einem selber liegt, ob es besser wird oder nicht; ob man sich dem Kryptonit weiterhin aussetzt oder ob man es meidet. Dass man das selber entscheiden kann, für sich, das alles.


Ich habe nachgesehen.


Unter meiner Jacke.
Unter meinem Pullover.
Unter meinem T-Shirt.


Aber da ist nichts.


Da ist nur Haut.
Und das reicht vollkommen aus.

Berliner Gespräche Teil 3

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„Ich wäre gern mal wieder verliebt. Ich hab vergessen, wie sich das anfühlt. Wenn es so richtig echt ist, ohne Einschränkungen, kompromisslos.“ Paula tippte mit dem Filter ihrer Zigarette auf die Tischplatte und fuhr fort: „Ich war schon viel zu oft aus den falschen Gründen mit jemandem zusammen. Einfach, um die Einsamkeit durch Zweisamkeit zu ersetzen. Aber das funktioniert nicht auf Dauer.“ Sie machte eine Pause, zündete sich die Zigarette an und lehnte sich zurück. „Und dann konnte ich nicht loslassen, weil alles außen rum so scheiße war. Und er war eben da.“ Ein Krankenwagen raste am Café vorbei und sie lauschten eine Weile der immer leiser werdenden Sirene.
Paula erinnerte sich an Lukas, der ihr drei Jahre lang treu, beinahe schon einfältig, zur Seite gestanden hatte. Wie er alles über sich hatte ergehen lassen, sämtliche Tragödien mitgemacht hatte und wie nur das sie zusammengehalten hatte. Wie er ihr im schlechtmöglichsten Moment sagte, dass er sie liebt und wie sie es auch irgendwann gesagt hatte. Es war nicht einmal gelogen gewesen, sie hatte ihn geliebt. Weil sie ihn gebraucht hatte. Sie waren voneinander abhängig gewesen. Sie von seinem Beistand und dem Sicherheitsnetz, das er für sie gewesen war. Er von ihrer Liebe, von der er gehofft hatte, dass sie aufrichtig sei. Doch am Ende hatte es nicht gereicht.


Georg hatte ihr fasziniert zugehört. So viel hatte sie den ganzen Abend noch nicht geredet. Manchmal klang Paula wie eine Frau in den Vierzigern, ein wenig verbittert und abgeklärt, desillusioniert. Vielleicht hatte sie auch einfach schon zu viel erlebt, dachte Georg. „Trinken wir noch eins?“, fragte er, um auch etwas zu sagen und bestellte mit einer lässigen Handbewegung eine neue Runde. Er überlegte, ob er auch in so einer Beziehung steckte, wie die, die Paula soeben beschrieben hatte. Und ob nicht jede Beziehung früher oder später nur noch durch die gemeinsame Routine zusammengehalten wird. Am Anfang war es sicher Liebe gewesen. Er erinnerte sich, wie er sie mit klopfendem Herzen am Bahnsteig empfangen und mit Tränen in den Augen am selbigen verabschiedet hatte. Und er dachte daran, wie sie jetzt nur noch selten miteinander schliefen und sich häufiger anschwiegen. Wie wütend er manchmal über diese Monotonie war. Und dann dachte Georg an Paulas Busen und versuchte angestrengt, dem Blick ihrer Augen standzuhalten.


„Hast du sie schon mal betrogen?“, fragte Paula gerade heraus. Georg mochte es, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm, und trotzdem zögerte er. „In Gedanken hab ich das wohl schon oft gemacht. Aber zählt das?“ Sie hatte angefangen, ihre Serviette in kleine Stücke zu reißen und schob diese zu einem Haufen zusammen, während sie nachdachte. „Ich weiß nicht... Nein, nicht im eigentlichen Sinne. Ich denke, das ist normal. Nach einer gewissen Zeit, wenn der Reiz verflogen ist... Das ist okay.“ Sie trank einen Schluck Bier und fragte: „Also hast du nicht?“ „Nicht was?“ Georg hatte den Faden verloren. „Sie nicht betrogen. So richtig, außerhalb deiner Gedanken.“ Er fuhr mit dem Daumen über das Kondenswasser an seinem Glas und leckte sich den feuchten Finger ab. „Ja. Ist schon vorgekommen.“ Er runzelte die Stirn und überlegte, wie viel er erzählen sollte. Aber er fürchtete, sie abzuschrecken und so schwieg er.


„Ich hab das schon oft gemacht. Aber das war immer am Ende. Ich nenne es gern ein Symptom der erkrankten Beziehung. Danach hab ich es meistens selbst beendet. Das war dann wohl einfach der letzte Nagel für den Sarg, oder wie das heißt.“ Paula verstummte. Georg schaute sie an. In seinen dunklen Augen lag Unsicherheit und vielleicht ein wenig Scham. Er tat ihr leid. Paula ergriff seine Hand und drückte sie. Sie wollte nicht, dass er sich mies fühlte, ertappt und bloßgestellt. Als sie die Hand wieder wegnehmen wollte, hatten seine Finger sich bereits zwischen ihre gelegt und ließen sie nicht mehr los. Und so saßen sie dort, in Neukölln, in seinem Kiez, in Toms Kiez, in einem Café und hielten sich an den Händen.



„Wie war dein Exfreund so?“ Ein Kellner kam, um ihren überfüllten Aschenbecher gegen einen leeren auszutauschen und Paula wartete mit ihrer Antwort, bis er sich wieder den anderen Tischen zugewandt hatte. „Er war...“, es fiel ihr schwer, Lukas zu beschreiben. Er war sicherlich einer von den Guten, aber er bedeutete ihr nichts mehr. Wenn sie an ihn dachte, wurde sie nicht rührselig oder melancholisch. Schon als er sie überredet hatte, aus ihrer lockeren Affäre etwas festes zu machen, war ihr klar gewesen, dass Lukas nur der Mann für den Moment sein konnte. „Er war sehr nett... Oh Gott, das klingt furchtbar. Aber er war nett! Er hat alles für mich getan, sich um mich gekümmert, wenn ich krank war, mir Cola gekauft, wenn ich einen Kater hatte und mir immer gezeigt, dass er mich anziehend findet.“ Sie schloss die Augen und überlegte, ob das wirklich die einzigen positiven Dinge waren, die ihr zu Lukas noch einfielen. Sie konnte die Gefühle nicht mehr zurückholen, sich nicht mehr an sie erinnern und so redete sie über seine Kehrseite: „Aber er war überfordert, völlig. Ich mein, wer wäre das nicht gewesen. War schon scheiße. Er hat wirklich die geballte Ladung mitgemacht, da war ja alles, in diesen drei Jahren. Aber er konnte sich nicht damit auseinandersetzen und nicht so für mich da sein, wie ich es vielleicht manchmal gebraucht hätte. Als mein Vater mir zum Beispiel gesagt hat, dass er Krebs hat, ist Lukas mit seinen Kumpels saufen gegangen. Er wollte sich nicht damit beschäftigen müssen.“ Sie erinnerte sich, wie rührend Matthias sich um sie gekümmert hatte, als bei ihrer Mutter Lungenkrebs diagnostiziert worden war. Er hatte das Internet nach Behandlungsmethoden durchforscht und ihr Mut gemacht. Aber Matthias war ganz anders gewesen als Lukas. „Und Lukas war irgendwie... langweilig? Darf man sowas sagen? Mein Vater meinte immer, er wäre die weiße Leinwand, in deren Umgebung ich noch heller erstrahlen könnte.“, sie lachte. „Er hat einfach zu wenig Angriffsfläche geboten, weil er immer zu allem, was ich gesagt oder gemacht habe, Ja und Amen gesagt hat, um bloß keinen Streit zu provozieren. Und irgendwie hat mich das wohl herausgefordert und ich hab ihn wirklich ziemlich schlecht behandelt.“ Jetzt war es Georg, der ihre Hand losließ und die Arme vor der Brust verschränkte. „Inwiefern?“ „Ich hab ihn ausgenutzt. Ich wusste, ich müsste nur ganz lieb Bitte sagen oder auf die Tränendrüse drücken und er würde alles tun, was ich von ihm verlangte. Ich wurde richtiggehend dominant. Und er hat sich gefügt.“ Paula schämte sich ein wenig für ihr damaliges Verhalten. Es war ihm gegenüber nicht fair gewesen.
In der Therapie, die sich selbst auferlegt hatte, um so ausufernd wie sie wollte über ihre Traumata sprechen zu können, hatte sie verstanden, dass Männer wie Lukas sich von Frauen wie ihr angezogen fühlten, weil sie sich nach einer starken Persönlichkeit an ihrer Seite sehnten. Und dass sie es in dieser Konstellation zwar einfach hatte, den Ton angeben und die Beziehung nach ihrem Gusto zuschneiden konnte, längerfristig aber nur glücklich werden konnte, wenn ihr Partner ihr auf Augenhöhe begegnete. „Ich glaube, durch ihn bin ich auch auf den Trichter gekommen, dass ältere Männer für mich interessanter sind.“ „Glaubst du wirklich, dass das den Unterschied macht?“ „Nein... Vielleicht doch. In gewisser Weise. In meinem Kopf sind Männer über 30 stärker, stehen fester im Leben und wissen, was sie wollen.“ Georg lachte spöttisch. „Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Ich bin jetzt 34 und, abgesehen von der Arbeit, die ich mache, hab ich keine Ahnung, wohin das alles führt mit mir. Ich stecke in einer unglücklichen Beziehung fest und denke schon den ganzen Abend darüber nach, mit einer 25-jährigen zu schlafen. Findest du das erwachsen?“ Paula grinste ihn an und leckte sich über die Lippen, bevor sie antwortete. „Naja, immerhin sagst du, was du willst. Zumindest zu mir. Und du würdest wahrscheinlich auch nicht jeden Scheiß mit dir machen lassen, oder?“ Georg sah ihr fest in die Augen und sagte: „Ich will mit dir schlafen, Paula.“ Sie drehte den Kopf und sah aus dem Fenster, hinaus auf die belebte Straße und erwiderte, beinahe traurig: „Ich weiß.“ 

100 Dinge, die ich an Dir hasse.

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Mein Bruder, mein Vater und ich haben uns gestern auf ein Getränk getroffen und das erste was ich mir von meinem Vater anhören muss ist, was das jetzt für eine Haarfarbe sein soll. Moosgrün? Geschimmeltes Blond? Haha. Das ist sehr witzig wenn man a) sowieso schon versucht den Grünstich zu entfernen und es b) nicht wahnsinnig auffällig ist und c) die Haarfarbe schon zwei Treffen vorher das Lieblingsthema des Spottes war.

Mein Vater findet das natürlich witzig und seine Kreativität vermutlich grenzenlos. Mein angepisstes Gesicht und ein galantes Übergehen der Situation meines Bruders, der eigentlich ein Herz für flache Witze hat, hätte ihm beweisen müsse, dass das eventuell nicht der beste Opener seines Lebens war.
Ich antworte mit einem "haha sehr witzig, haben wir jetzt alle genug gelacht?" und bin natürlich nicht gerade fröhlich aber auf der anderen Seite macht es mir auch nichts weiter aus.

Ich bin viel zu geschafft von der Woche, denn die Hospitanz im BR ist zwar großartig, aber wird natürlich auch nicht gerade vergoldet. Deswegen kellner ich noch nebenher, denn mein Vater hat mir zwar versprochen mich bei meinem zweiten Praktikum zu unterstützen, macht es aber letztendlich nicht. Er ist der Meinung, dass es "mal an der Zeit ist für mich zu arbeiten". Dabei übersieht er ganz gerne, dass ich schon immer nebenher arbeite. Ich habe aber keine Lust mit ihm zu streiten, da ich es auch so schaffen werde, es war ja noch nie so als hätte mir sein Geld jemals zum leben gereicht. Für ihn soll ich aber am Besten für den Pflichtunterhalt seine Schuhe ablecken.

Thema 2 des Abends ist die Abgabe meiner Bachelorarbeit. Wann die denn endlich stattfinde. Ich kämpfe gerade mit der Anrechnung in Wien und abgesehen davon, habe ich einfach neben den 60 Stunden Arbeit die Woche sehr wenig Zeit um auch noch daran zu schreiben. Das sieht mein Vater aber auch nicht. Ist auch egal. Ich erkläre es ihm und mache ihm auch keine Vorwürfe, dass er es war der mich gezwungen hat vor Ende meines Studiums ein Praktikum in einer anderen Stadt zu beginnen.


Thema 3: Er spricht von seinen Ängsten. Seine Praxis läuft nicht so gut wie gedacht. In seinen Augen droht der Hungertod. er denkt darüber nach wieder lukrative Bank-beraterjobs anzunehmen. Vor meinem inneren Auge spielt wieder einmal, wenn ich meinem Vater zuhöre die Szene aus "the wolf of wall street"  wo Leonardo di Caprio von Matthew McConnaughey geraten wird, sich täglich mehrmals auf einenGeldschein einen zu wichsen.


Geld und Koks... 

Witzigerweise macht mir das alles nichts weiter aus... ich lavriere mich durch den Abend, lehne ein zweites Getränk ab und bin einfach nur froh heim zu kommen um für die Woche vorzuschlafen. Klar bin ich entnervt aber ich habe mich gefreut meinen Bruder zu sehen. Mit meinem Vater gibt es sowieso immer Hochs und Tiefs. Am besten läuft es wenn ich die Klappe halte und alles mache, wie er es sich vorstellt. 


In der Nacht wache ich auf und habe eine Nachricht von meinem Vater auf whatsapp: "Hab dich heute als sehr aggressiv empfunden und wüsste nicht warum ich das verdient hätte. Bin ich empfindlich oder müssen wir sprechen?" Eigentlich war der Abend für mich gegessen aber so bricht um 1.30 so viel Hass über mich herein wie schon lange nicht mehr. Natürlich bin ich im Moment superempfindlich, da ich einfach kaum Zeit für mich habe, geschweige denn um mich auszuruhen und er fühlt sich dadurch angegriffen. 


Das Verhältnis zu den Eltern bleibt wohl eine ewig währende Hassliebe. Beide Seiten voller Erwartungen, die letztendlich nur enttäuscht werden können. Am Ende kann man also nur auf die Fresse fallen. So oder so. Eine etwas ältere Freundin von mir hat mir erzählt, sie sei erst richtig frei gewesen als ihr Vater gestorben ist. Ich denke darüber nach und auch wenn die Formulierung heftig erscheint ist es tatsächlich so. Bei jeder Person. Egal ob das Verhältnis gut oder schlecht war.    

Es bleibt: Ich hasse so viele Dinge an ihm. Mindestens 100! An meiner Mutter auch. Aber letztendlich bleibt nur das eine: versuchen sich wieder zu beruhigen, denn auf Dauer ist es noch ungesunder den Hass herumzutragen. 

   
    

Writing exercise gone deep.

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Why did I write about you breaking up with her? It makes me feel weird.


I don’t want you to break up with her. I don’t care anyway. I know what this is.


So why was your relationship the first one that came to my mind when I had to write about someone trying to dump somebody? That is scary.


“U up for fun” – that is what we do. And I wouldn’t want you to be my boyfriend anyway. “Once a cheater always a cheater” and all that. I guess I just want you to care a little bit. About me.

In the breakup dialogue I wrote you tell her that you don’t care about her anymore. Maybe that is just me realising that you don’t care for me. Don’t get me wrong though, I don’t care for you very much either. But I do a little. Maybe I shouldn’t see you anymore.
End this before someone gets hurt.
Every time you come over there is a chance that she will find out.


There has to be something wrong with your relationship if you are cheating on her. That’s what everyone tells me anyway. I don’t know if that is true and who am I to judge. I know about her and I still let you into my bed. 

Kosmoshörer (Folge 11)

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Montag:
Frühnebel liegt über der Stadt. In der Ferne erhebt sich der erwachende Koloss. Das Strecken seiner Glieder klingt wie Donnergrollen. Langsam setzt er sich in Bewegung und verschwindet aus meinem Blickfeld.

http://www.youtube.com/watch?v=ZmZc2LNN6HE

Im Laufe des Tages klärt sich der Himmel auf und gleichermaßen erhellt sich meine Stimmung. Auf dem Heimweg höre ich den aktuellen Soziopodüber Karl Jaspers und Konsorten:

Dienstag:
Schlecht geschlafen, weil schlecht geträumt. Weder Kaffee noch Frühstücksapfel helfen. Also mäandere ich geistig einfach weiter in Zwischenwelten und höre ich das Twin Peaks Archive

http://www.youtube.com/watch?v=DQg5WUhMP90

Mittwoch:
Heute muss ich sehr früh aufstehen und es steht ein Termin mit wichtigen Menschen an. Ich bin arg nervös. Zur Beruhigung höre ich deswegen Ólafur Arnalds. Dadurch werde ich zwar auch etwas melancholisch, aber das macht nichts. Arnalds hab ich einmal live gesehen, da saß er am E-Piano plus Notebook mit einem Streichquartett. Eines meiner schönsten Konzerterlebnisse. Sein aktuelles Album „For now I am winter“ gefällt mir leider nicht mehr so gut. Zuviel Gast-Gesinge. Hoffentlich wird das nächste wieder ein reines Instrumental-Album.

http://www.youtube.com/watch?v=K6u5D-5LWSg

http://www.youtube.com/watch?v=qRc8ewuF-sk

Donnerstag:
Ich freue mich schon seit dem Aufwachen auf den Abend. Denn dann hab ich endlich die Gelegenheit, den vor zwei Wochen gekauften „Dune“-Film von David Lynch zu kucken! Dazu gibt’s was Leckeres zu Essen.





Ich find ja Science-Fiction gar nicht tumb und bin dem Genre quer durch alle Medien sehr zugeneigt. Eines der wohl besten musikalischen Sci-Fi Werke ist „Parallax“ von Between the Buried and Me. Der erste Teil „Hypersleep Dialogues“ ist eine halbstündige EP, die aus drei Songs besteht. Sie erzählt die Vorgeschichte um zwei Figuren, die Lichtjahre von einander getrennt leben, ohne voneinander zu wissen, aber eine seelische Verbindung aufweisen. Der zweite Teil „Final Sequence“ bringt die beiden Charaktere zusammen und sie ergründen gemeinsam ihre Rolle im Universum.

http://www.youtube.com/watch?v=Xi_TafYAcd8&noredirect=1

Der Dune Film war übrigens eine kleine Enttäuschung. Zuviel Religionsgedöns. 

Freitag: 
Gestern Sci-Fi heute Fantasy: Game of Thrones geht in die vierte Staffel und eigentlich müsste ich total hibbelig sein, weil ich am Abend endlich die neue Folge schauen kann. Die Arbeitswoche steckt mir aber noch so sehr in den Knochen, dass ich den ganzen Tag nur nach Hause will. Um mich auf dem Nachhauseweg etwas einzustimmen höre ich das Labyrinth Album von Fleshgod Apocalypse. Mehr Epik geht wohl kaum. Die Italiener sind aktuell die beste Symphonic Death Metal Band, die es gibt.

http://www.youtube.com/watch?v=A4yC6MgUd6g

Samstag:
Die Sonne scheint und es ist auch wieder deutlich wärmer als die Vortage. Also mache ich einen Spaziergang auf dem Tempelhofer Feld.

http://www.youtube.com/watch?v=WA5__PilSMs

Abends gibt’s ein Chris Evans Kino-Double-Feature: Zuerst Captain America The Winter Soldier und danach Snowpiercer. Beide auf ihre Art gut. 





Sonntag:  
Lange schlafen, gemächlich aufstehen und gemütlich frühstücken. Dazu höre ich immer einen Soundtrack. Passt irgendwie immer am besten. Außerdem ist Sonntag eigentlich mein Kinotag. Da ich aber ja bereits gestern im Kino war und mein Kreislauf auch nicht so ganz mitspielt bleibe ich zu Hause. Erst nehme ich ein heißes Bad und dann kuschel  ich mich unter die Flauschidecke und lese. Heutiger Soundtrack stammt von dem wunderbaren The Last of Us 

http://www.youtube.com/watch?v=i_JiW6lIywA&noredirect=1


Auf der nächsten Seite: Der ausgefüllte Musik-Fragebogen von JosephineKilgannon.
[seitenumbruch]
Wie wichtig ist dir Musik?
Wenn ich mich zwischen Hören und Sehen entscheiden müsste, ich würde Hören nehmen.

"Gute Musik” - was ist das für dich?
Ich bin keiner dieser „Irgendwie alles, solange es mich emotional berührt“-Menschen. Solche Leute machen mich fertig. Das ist diese Feigheit des Konjunktivs. Bloß nichts ausschließen, sich bloß nicht festlegen. Man könnte ja was verpassen! Nein, ich verpasse in vielen Genres nichts! So wie ich weiß, dass ich Romantic Comedies bei Filmen bescheuert finde, so weiß ich das auch bei bestimmter Musik. (Details dazu unten) Die Leute, die „eigentlich alles“ hören, sind auch „irgendwie gläubig“, lesen „irgendwie alle Bücher“ und finden auch „jedes Thema spannend“. Solche Leute haben für mich keinen Musikgeschmack. Solche Leute schauen auch tape.tv – dessen Chef meint nämlich, es fehle jemand, der den Menschen sagt, was ihnen gefällt. Danke, das entscheide ich gerne selbst. Ich find vieles schlecht und nur wenig gut und ich hab kein Problem damit, mich da festzulegen. Ich mag viel Death Metal, Soundtracks, ein wenig Klassik, ein wenig Rock und ein paar Solokünstler. Apropos Künstler: DJs sind für mich keine Musiker.

Wie hörst du Musik: Klassisch im CD-Spieler, auf dem Handy, über Streaming-Portale?
Streaming Portale nutze ich gar nicht. Als Last.fm noch kostenlos war, hab ich das mal ausprobiert. Nicht mein Fall, erst recht nicht kostenpflichtig. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und auf Deutschlandfunk gerade nichts Interessantes läuft, schieb ich eine CD rein. Ansonsten hab ich meinen mp3-Player für unterwegs. Zu Hause hab ich meine CD-Sammlung auf der Playstation 3, weil ich meine Musikanlage daran angeschlossen hab.

Wo hörst du Musik? Vor allem unterwegs, nur daheim, zum Einschlafen?
Vor allem unterwegs (Auto/Bahn). Daheim zum Aufstehen, Aufräumen, Putzen, Abwaschen, Bügeln. Zum Einschlafen – und zum Lesen – kann ich keine Musik haben, das lenkt mich nur ab. Das war als Kind schon blöd, wenn jemand bei mir übernachtet hat und zum Einschlafen noch eine Folge „Alf“ oder „Ducktales“ hören wollte. Da konnte ich erst schlafen, wenn die Kassette bis zum Ende gelaufen war und das erlösende Klick vom Kassettenspieler kam.

Hast du eine Lieblingsband oder Musiker, von denen du alles hörst?
Mehr als eine. Opeth haben eine der spannendsten Diskographien, die ich kenne. The Black Dahlia Murder liefern konstant hohe Qualität. Rory Gallagher hat meiner Meinung nach auch kein einziges schlechtes Lied geschrieben.  Between the Buried and Me, The Faceless, Tom Waits, Gojira, Protest the Hero. Das liegt weniger an einer bedingungslosen Loyalität meinerseits gegenüber Bands, die ich gut finde. Von einigen Bands hab ich auch nur ein Album, weil ich den Rest langweilig oder bescheuert finde (Huhu, Abigail Williams).

Welche Musik magst du gar nicht und warum?
Hiphop/Rap kann ich nichts (mehr) abgewinnen. Der Großteil der Texte ist Mist und das ganze Gehabe ziemlich lächerlich. Auch die wenigen sozialkritischen Ausnahmen können mich nicht überzeugen. Genauso verhält es sich auch mit R’N’B. Ganz schwer hat es bei mir auch Raggae. Steht ja auch emotional auf der anderen Seite. Instrumental ist es sowieso total fad und inhaltlich…naja, das bisschen Inhalt ist dann meistens auch Schwachsinn. Rockmusik mit deutschen Texten ist auch Quark. Ansonsten find ich so ziemlich alles, was aus der Elektro-Ecke (Dubstep, House, Minimal usw.)kommt fad bis nervig. Kann ich aber glücklicherweise meistens ausblenden.

Was war deine erste eigene Platte - und wohin ging dein Musikgeschmack von da aus?
Puh, das weiß ich gar nicht mehr so genau. Meine erste selbst gekaufte CD Single dürfte „Cosmic Girl“ von Jamiroquai gewesen sein. Ich hab ja enorm viele CDs von meinem älteren Bruder gehabt, da musste ich mir selbst kaum was kaufen. Das war vor allem Skatepunk und deutscher Hiphop. Das erste selbst gekaufte Album dürfte „Life on a Plate“ von Millencolin gewesen sein. Nach dem Untergang der deutschen HipHop Szene (Beginner, EinsZwo, Blumentopf) blieb ich noch eine ganze Weile beim Punk Rock. Neben Millencolin waren NoFX, NUFAN, No Fun At All, Pennywise, The Hives, Refused die Bands meiner Wahl. Davon hat sich Millencolin am längsten gehalten, aber die höre ich heute auch nur noch einmal im Jahr. Dann kam eine kurze (Indie-) Rock Phase. The Strokes, The Vines, The Hellacopters und so Geschichten. Danach ging es über Rage Against the Machine, Tool und KoRn recht fix in die Metal Richtung.

Gehst du gern auf Konzerte, und auf welche zuletzt?
Ich liebe Konzerte! Da entsteht irgendwie immer eine ganz besondere Atmosphäre und ich verlier‘ mich da völlig drin. Mein letztes Konzert war Kataklysm/Krisiun/Fleshgod Apocalypse. Ich war nur wegen letzterer Band da, die aber leider als erstes und damit am kürzesten gespielt hat. Aber diese wenige Zeit war der Hammer! Symphonic Death Metal vom Feinsten, inklusive Opern Sängerin und Pianist. So perfekt und auf den Punkt, ich stand oft fassungslos da und hab ganz vergessen zu headbangen! Hach war das schön! Mein nächstes wird Katatonia „Unplugged &Reworked“ in der Passionskirche.

Wie entdeckst du neue Musik und was ist deine neueste Entdeckung?
Empfehlungen von anderen Leuten, Konzerte und das Internetz. Aber ich lese keine speziellen Underground-Blogs oder Magazine.

Verrate uns einen guten Song zum...
Aufwachen: 
Obscura – The Anti-Cosmic Overload 
http://www.youtube.com/watch?v=wJvnex0qRxQ

Tanzen:
Protest the Hero – Palms Read oder Violent Femmes – Blister in the Sun oder Godsmack - Voodoo

http://www.youtube.com/watch?v=Ra8VTlXVqUQ

http://www.youtube.com/watch?v=pdZzJurpSOw

Traurig Sein:
Tom Waits – Tom Traubert’s Blues
http://www.youtube.com/watch?v=XrkThaBWa5c

Ich weiß nicht, warum, aber ich muss immer heulen, wenn ich das höre.

Sport:
Hängt von der Sportart ab. 
Snowboarden: 
Wolves in the Throne Room - Wanderer Above the Sea of Fog 

http://www.youtube.com/watch?v=6CTu_MhIsGg

Laufen: 
Meshugga – Demiurge 
http://www.youtube.com/watch?v=zg2076b5Lqc

Als Nächsten Kosmoshörer wünsche ich mir:
felina, gisamaluke, 20s_Depression

Hier gibt es alle Kosmoshörer auch als Playlist zum Am-Stück-Durchhören:
Kosmoshörer

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Muss i denn?

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Ich weiß nicht mehr, wie das Schullandheim hieß. Aber ich erinnere mich noch genau an den Geruch: Bohnerwachs, drückender Sommer, klinisch lackierter Pressspan, Küchendunst in schweren Vorhängen. Ich sehe noch den seltsam farblosen Linoleumboden vor mir und die rosa-braun-pastellfarbenen Wände im Gang zum Speisesaal. Und ich weiß noch, wie ein Klassenkamerad dort auf mich zukam – irritiert, besorgt, verwirrt – und fragte, was denn los sei, als erst mein Kinn anfing zu zittern, die Augen sich dann zu Schlitzen verengten, kämpften und schließlich doch Tränen freigaben. Ich stand einfach da. Machtlos, gelähmt, schluchzend. Schon seit Minuten hatte ich gespürt, wie das Gefühl meine Brust langsam ausfüllte. Wie es in die Arme und Beine wanderte, in den Hals, in den Kopf, bis zu den Haarspitzen.





Thomas Mann kannte ich da noch nicht. Dabei hat er in seiner Erzählung „Tonio Kröger“ wunderbar beschrieben, was mich damals peinigte: „Und plötzlich erschütterte das Heimweh seine Brust mit einem solchen Schmerz, dass er unwillkürlich weiter ins Dunkel zurückwich, damit niemand das Zucken seines Gesichtes sähe.“ Damals, in der fünften Klasse, war da nirgends ein Dunkel. Keine Rückzugsmöglichkeit. Also log ich, sagte etwas von plötzlichen Kopfschmerzen. Auch am zweiten Tag. Am dritten wechselte ich zu schwerer Übelkeit. Dann holten mich meine Eltern ab.

Es gibt bessere Starts ins erste Jahr auf dem Gymnasium. Heimweh war schon damals verlacht. Heimweh, das hatten Muttersöhnchen.

Heute ist Heimweh tot. Das Wort klingt aus der Zeit gefallen wie „Zugehfrau“ oder „Tanzkarte“. Vorabendserien haben es besetzt, Heimatfilme und Vertriebenenverbände. Abseits davon fordert unsere Gesellschaft den Verzicht auf Heimweh. Mobilität ist gefragt: Auslandssemester, Auslandspraktika, Sprachkenntnisse, Lebenslauf. Später für den Job Stadt, Land oder Kontinent wechseln. Und überall vom Fleck weg funktionieren. Nicht nur allzeit bereit sei der Mensch, sondern auch allzeit und allüberall zu Hause. Ein sozialer Druck, den wir auch beim Bier mit den Kumpels längst spüren: Wer nie im Ausland war oder es wenigstens für höchst erstrebenswert hält, dort einmal hinzugehen, gilt schnell als Stubenhocker. Ist wieder das Muttersöhnchen aus dem Schullandheim. In einer globalisierten Welt, in der jeder jeden jederzeit wenigstens auf Computer- oder Smartphone-Bildschirmen sehen kann, ist dem Heimweh doch die Grundlage entzogen. Pah!

München im Mai vergangenen Jahres: Die Pressekonferenz ist beinahe vorbei. Aber einen wichtigen Punkt hat Johan Simons noch auf der Agenda: seine Zukunft. Der Mann ist ein geübter Redner, hier liest er jedoch lieber von einem Zettel ab. Er werde seinen Vertrag als Intendant der Münchner Kammerspiele nicht über die Spielzeit 2014/15 hinaus verlängern, erklärt der Niederländer. „Danach muss ich wieder nach Hause.“ Simons hat Erfolg in seinem Job, und er liebt, was er tut. Aber er hat Heimweh: Er komme jeden Abend in seine Wohnung, ohne seine Frau, seine Kinder dort anzutreffen – und „das Leben ist endlich“.

Nur Liebeskummer ist ähnlich schlimm und zeitlos.


Heimweh muss längst nicht nur die Sehnsucht nach einem Ort sein. Dafür hat sich unser Verständnis von Heimat viel zu sehr gewandelt. Es geht schlicht um Vertrautes. Und das wird es immer geben. Wer den Schmerz also für ein bloßes Relikt hält, der unterschätzt seine archaische Kraft. Und seine Zeitlosigkeit. Der hat wohl auch noch niemals erlebt, wie der Schmerz Farbe und Kontraste aus der Umgebung saugt. Die Leichtigkeit. Und auch die Freude. Nur Liebeskummer ist ähnlich schlimm und zeitlos. Weil beides Verlust betrauert.Christopher Thurber, Psychologe an der Bostoner Phillips Exeter Academy, ist Heimwehforscher. Einer von sehr wenigen. Er schätzt, dass jeder fünfte Schüler an Internaten und Universitäten in den USA mit starkem Heimweh kämpft. Bei ihnen sei etwa das Risiko, dass sie die Ausbildung abbrechen, dreimal höher. Forscher in Deutschland vermuten bei Migranten eine höhere Anfälligkeit für Depressionen und psychosomatische Erkrankun­gen. Das ist das allerdings empirisch noch nicht ausreichend belegt.

Wer über den Komplex spricht, spekuliert. Er ist immer noch wenig erforscht. Und wo er in der Forschung einmal auftauchte, wurde es schnell abenteuerlich: Für den Elsässer Mediziner Johannes Hofer, der den Begriff in seiner Dissertation 1688 erstmals ausbuchstabierte, handelte es sich noch um eine Krankheit mit potenziell tödlichem Ausgang. Die „Schweizer Krankheit“ soll damals vor allem helvetische Söldner befallen haben. In Frankreich, wo die Mietsoldaten unter anderem kämpften, war es deshalb bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unter Todesstrafe verboten, den „Kuhreihen“, ein bekanntes Hirtenlied, zu singen oder auch nur zu pfeifen. Die Söldner seien, von der Melodie ergriffen, reihenweise desertiert. Ende des 18. Jahrhunderts häuften sich Fälle, in denen Dienstmädchen Häuser niedergebrannt und Kinder getötet haben sollen, um heimzudürfen. Die Gerichte sollen milde geurteilt haben. Danach geriet das Heimweh als Krankheit in Vergessenheit.

Aber als Gefühl tauchte es immer wieder auf. In Schüben, getarnt als Glaube an eine angeblich bessere Vergangenheit. Als Nostalgie. Als Ostalgie. Als Zeitgeist. Wer es finden will, muss ihm nachspüren, in der Kunst zum Beispiel. Oder in der Unterhaltung. Freddy Quinns „Heimweh“ war der meistverkaufte Song der 1950er-Jahre. Weitere seiner Hits: „Heimatlos“, „Unter fremden Sternen“, „Weit ist der Weg“, „Junge, komm bald wieder“. Alle Nummer eins oder zumindest Millionenverkäufe, begründet auf eine diffuse kollektive Sehnsucht im Nachkriegsdeutschland. In den Achtzigern war es „E.T.“. Steven Spielbergs Film über einen gestrandeten Außerirdischen, der – „nach Hause tele­fonieren“ – vor Trauer beinahe eingeht, spielte weltweit etwa 800 Millionen Dollar ein.

Ob Skype E.T. geholfen hätte? Oder ein Facebok-Account? Heimwehforscher Thurber bezweifelt das. Natürlich simuliere ein Gespräch, bei dem man sich am Bildschirm sieht, Nähe. Aber es ersetze sie nicht. Tägliches Skypen könne sogar verhindern, dass man in der neuen Welt ankommt. Das neue Leben lebt. Kontakte knüpft. Soziale Medien wären in dieser Lesart der „Kuhreihen“ 2014. Nur ohne Todesstrafe.

Love in Translation

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In meiner Kehle sitzt ein kleiner Horst Schlemmer, der in besonderen Momenten den Hebel ansetzt. Wenn mein Zeh mit dem Türrahmen tauchen übt, entwischt mir deshalb manchmal ein „Boah nä!“ oder auch ein herzhaftes „Wat is dat denn?!“ Seit einem halben Jahr lebe ich in England. Wenn sich meine Porridge-Packung mit einem zufriedenen „Pffscht“ auf britische Schachbrettfliesen entleert, kommentiere ich das auf Ruhrpottdeutsch. Der Mann, der neben mir auf ebendiesen Fliesen steht und sich irritiert an seine Kaffeetasse klammert, kennt weder Horst Schlemmer noch Bottrop: mein Freund. Er spricht kein Deutsch. Und gerade von ihm wünsche ich mir doch, dass er mich bis in die hinterste Pottfaser versteht.

Dialekt ist nur ein kleiner Teil von dem, was in einer Fremdsprache verloren geht: Lieblingsworte oder Humor, Streiten oder Liebesfloskeln, all das funktioniert in einer anderen Sprache anders. Das kann spannend sein, legt aber einen alten Dauerbrenner der Paarkommunikation neu auf: Wir verstehen uns nicht. Sprache ist das Medium, über das sich individuelle und kulturelle Eigenarten begegnen. Kann Liebe zwischen Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache dann überhaupt funktionieren? Zunächst ist die Sprachbarriere nicht Quelle von Frust, sondern Teil der Anziehungskraft, erklärt die Sprachwissenschaftlerin Ingrid Piller, die seit zwei Jahrzehnten zu bilingualen Partnerschaften forscht: „Die positiven Stereotypen, die man mit anderen Sprachen und Kulturen verbindet, projiziert man auch auf den Partner. Das kann sicherlich dazu beitragen, dass man sich verliebt.“ Das Klischee, dass Liebe alle Differenzen überbrücken kann, stellt junge Paare in Zeiten von Erasmus, Auslandspraktika und Work and Travel besonders auf die Probe. Dass Liebe zwischen den Welten funktionieren kann, zeigt, dass „sich verstehen“ mehrere Ebenen hat: „Mit der Zeit werden die Kultur- oder Sprachunterschiede immer weniger wichtig, da man sich im Alltag gemeinsam zurechtfinden muss. Dann geht es um gemeinsame Interessen und individuelle Charakteristika“, sagt Ingrid Piller. Wenn die erste Phase grenzdebilen Anschmachtens vorbei ist, machen bilinguale Paare also genau das, was andere Paare auch machen: Sie versuchen, ihre eigene Sprache zu finden. Und zu lernen, dass man sich trotzdem nicht immer versteht. So is dat.

Auf den nächsten Seiten liest du: Protokolle von Paaren mit unterschiedlicher Muttersprache.
[seitenumbruch]
ALBERTO, 23 UND GAETAN, 30,
ITALIENER UND SCHWEIZER,
LEBEN IN CAMBRIDGE UND SPRECHEN DREI SPRACHEN MITEINANDER.




ALBERTO
Gaetan stammt aus der französischen Schweiz, ich komme aus Italien. Gaetan hat eine Zeit lang in Italien gelebt, ich habe Französisch studiert. Obwohl wir uns in England kennengelernt haben,könnten wir also drei Sprachen sprechen. Es gibt Sätze wie „I love you“, die auf Englisch einfach weniger Bedeutung haben. Mit Italienisch und Französisch können wir vieles auf einer tieferen Ebene ausdrücken. Ich habe definitiv das Gefühl, dass ohne die anderen Sprachen etwas fehlen würde. Wenn ich mit Engländern zusammen war, war ich immer sprachlich unterlegen. Mit Gaetan ist es egal, wenn ich Fehler mache. Wir kennen beide die Schwierigkeiten, aber auch die Vorteile, zwischen mehreren Ländern zu leben, und können uns darüber austauschen. Es ist nicht gerade alltäglich, dass man drei Sprachen teilt. Ich fühle mich ihm dadurch noch mehr verbunden. Man verliert zwar ein Stück, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht, aber man gewinnt auch was dazu. Ich finde es schön, weil ich weiß, dass wir am Ende mehr teilen können. Wir haben vielleicht nicht eine Kultur, dafür aber von vielen etwas.





GAETAN
Ich finde es wichtig, dass Alberto und ich uns beide gleich sicher auf Englisch fühlen. Würden wir Französisch oder Italienisch sprechen, dann wäre immer einer im Vorteil. Englisch ist für uns beide eine Fremdsprache, ein neutraler Raum. Im Streit kann das gut sein, man reagiert nicht so überhitzt und denkt mehr nach. Jede Sprache, auch die eigene, schränkt ein. Dadurch, dass wir noch zwei weitere Sprachen sprechen, haben wir viel mehr Möglichkeiten, Dinge auszudrücken und uns zu erklären. Je emotionaler ich werde, desto mehr falle ich ins Französische zurück. Alberto kann mich dann trotzdem verstehen. Ich bin in der Schweiz zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen und will auf jeden Fall mit jemandem zusammen sein, dem das auch wichtig ist. Das habe ich an Alberto sofort anziehend gefunden. Ich glaube nicht, dass uns die verschiedenen Hintergründe voneinander distanzieren oder ich ihn nicht als ihn selbst erlebe. Ich weiß nicht, ob man seinen Partner überhaupt jemals zu einhundert Prozent kennen kann. Sprache ist nur ein kleiner Teil davon.


[seitenumbruch]KIT, 24, und ISABEL, 25, AUSTRALIER UND DEUTSCHE, WOHNEN ZUSAMMEN IN BRIGHTON UND SPRECHEN ENGLISCH MITEINANDER.




KIT
Isabel und ich haben uns vor vier Jahren auf Reisen in Südamerika kennengelernt. Dass sie aus einem anderen Land kam, fand ich am Anfang auf jeden Fall sehr anziehend.
Sie hatte erst Angst, dass ich sie vielleicht nur mag, weil sie einen süßen Akzent hat. Sie hat es gehasst, dass wir nicht auf Deutsch streiten konnten, weil sie es unfair fand. Mittlerweile ist ihr Englisch aber so gut, dass sie fast immer gewinnt. Ich denke, am Anfang einer Beziehung sieht man sowieso alles rosarot, das richtige Kennenlernen kommt erst später. Die Sprache macht dann weniger Probleme, sondern eher kulturelle Unterschiede. Ich habe nach einiger Zeit angefangen, Deutsch zu lernen. Ich finde es wichtig, dass ich mit ihrer Familie und ihren Freunden kommunizieren kann. Für uns als Paar ist das nicht so wichtig, wir haben Missverständnisse meistens mit Humor überbrückt, daraus sind dann Insider geworden. Zum Beispiel „creaming myself“ für „eincremen“ oder „all the best“ für „alles Gute“ – das hat sie mir am Anfang unserer Beziehung zum Geburtstag auf die Facebook-Wall geschrieben. Auf Englisch heißt das aber eher „auf Nimmerwiedersehen“. Ich dachte, die macht jetzt mit mir Schluss! Mittlerweile kennen wir uns so gut, dass die Sprache eigentlich keine Rolle spielt.





ISABEL
Als Kit und ich uns kennengelernt haben, konnte ich mich auf Englisch noch nicht richtig ausdrücken und kam mir schon manchmal dämlich vor. Ich bin beeindruckt, wie viel Geduld er mit mir hatte. Er lernt gerade Deutsch, und ich bin schnell genervt davon, ihm alles zu erklären. Bei ihm ist es mir trotzdem wichtig. Er soll nicht das Gefühl haben, dass er an meinem Rockzipfel hängt, wenn wir irgendwann in Deutschland leben. Mit jemandem aus einem anderen Land  zusammen zu sein erweitert den Horizont, aber es gibt auch negative Seiten. Wenn wir irgendwann Kinder haben, gibt es da einen Teil, den wir nicht zusammen vermitteln können, das macht mich ein bisschen traurig. Als wir noch eine Fernbeziehung hatten, habe ich ihm über Skype „Ronja Räubertochter“ auf Englisch vorgelesen und er mir englische Kindergeschichten zum Einschlafen. Dass er sich Mühe gibt, meine Kultur zu verstehen, ist wichtig für mich. Ich glaube schon, dass wir auch der Sprachunterschiede wegen viel mehr in die Beziehung investiert haben. Wir mussten uns schon viel mehr aufeinander einlassen. Dadurch würde ich die Beziehung nicht mehr so schnell aufgeben. Es hat eine andere Tiefe. Man muss in jeder Hinsicht genau hinhören.


[seitenumbruch]
JASPER, 26, UND LUCIA, 23, DEUTSCH-NIEDERLÄNDER UND DEUTSCHE, STUDIEREN IN LONDON UND OXFORD UND SPRECHEN ENGLISCH UND DEUTSCH MITEINANDER.




JASPER
Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter Niederländerin, ich bin in England aufgewachsen. Ein bisschen teilen Lucia und ich also unsere Kultur. Es war beides, das mich an ihr angezogen hat, das Fremde und das Vertraute. Als ich sie während des Studiums in Amsterdam kennengelernt habe, konnte sie schon ziemlich gut Englisch. Mit ausländischen Exfreundinnen hatte ich teilweise sehr große Verständnisprobleme, das hat auch zur Trennung beigetragen. Ich habe am Anfang schon mehr darauf geachtet, wie ich mich ausdrücke. Ich hatte aber immer das Gefühl, dass sie auch auf Englisch sie selbst war. Später hat sie mir gestanden, dass sie mich gar nicht immer verstanden hat. Als ich sie dann zum ersten Mal mit ihren deutschen Freunden gesehen habe, war sie schon anders. Sie hat auf einmal wahnsinnig schnell geredet, das kannte ich auf Englisch gar nicht. Ich denke, man ist generell mit Freunden anders als mit dem Partner.





LUCIA
Dass Jasper und ich uns wenig missverstehen, liegt dran, dass wir generell viel kommunizieren. Ich glaube, mir fällt es leichter, auf Englisch über Beziehungsdinge zu reden, weil ich mehr Abstand zur Sprache habe. Er hatte Angst, dass „Ich liebe dich“ für mich auf Englisch nicht das Gleiche bedeutet. Es ist schon etwas anders, aber mit ihm hat es sich trotzdem total intensiv angefühlt. Ich finde es schön, dass er derjenige ist, der die Sprache komplett beherrscht, und ich von ihm lernen kann. Ich wollte anfangs trotzdem nicht, dass er alle meine Fehler hört. Er fand es total süß und hat manchmal extra nichts gesagt oder Dinge falsch ausgesprochen, damit ich sie beibehalte, zum Beispiel „bisquit“ statt „biskit“. Das wurden dann auch unsere Wörter, unsere eigene Sprache. Manche Dinge sagen wir auf Deutsch, so zum Beispiel „Geborgenheit“, „Vorführeffekt“ oder „Asi“. Man hat eine ganz andere Ebene von Spaß und Kommunikation durch das, was aus den Sprachen entsteht. Es ist eigentlich keine Barriere, sondern eine Bereicherung.



Die Ja-Sager

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Ein kleiner Professor mit wirren grauen Haaren und weißem Kittel schlurft durch den bis zum letzten Platz gefüllten Hörsaal. Die Paare von Studentenaugen verfolgen ihn, bis er vorn an der Tafel angelangt ist und nach einem Kreidestück greift. Ein Mädchen in der ersten Reihe japst vor Aufregung. Als der Professor zur Seite tritt, lesen die Studenten in sorgfältig geschriebenen Buchstaben: „Die Formel der ewigen Liebe“.

Ein Seminar, das einen endlich einmal eine Lektion fürs Leben lehren könnte: das Geheimnis einer langen und gesunden Beziehung. An der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois gibt es einen solchen Kurs schon seit vierzehn Jahren. Ohne wirren Professor natürlich und auch ohne die eine, alles erklärende Liebesformel. Aber sich dieser Formel annähern, das will man dort schon.

„Marriage 101“ heißt das Seminar. Der Titel klingt, als würden hier prüde Amerikaner gegen Sex vor der Ehe und Verhütung predigen. „Auf gar keinen Fall“, sagt Professor Alexandra Solomon, die den Kurs an der amerikanischen Privatuniversität leitet. Das Seminar habe keine religiösen Grundlagen oder Absichten. „Es geht auch nicht nur um Ehe, sondern um alle Arten von längeren, intimen Beziehungen.“ „Marriage 101“ klinge halt besser als „Long Term Intimate Relationship 101“, erklärt Solomon. Sie hatte vor vierzehn Jahren das Ziel, einen akademischen und emotional erfahrbaren Kurs anzubieten. Was ihr wohl gelungen ist – die Studenten reißen sich um die Plätze. Solomon musste die Liste in diesem Frühjahr auf hundert beschränken. Die ersten Plätze bekommen die Studenten ihrer Fakultät „Human Development and Psychological Services“, theoretisch darf aber jeder teilnehmen.

Charlie Cogan studiert Medizin und Deutsch an der Northwestern University und war im vergangenen Jahr dabei. Der 22-Jährige würde den Kurs jederzeit wieder belegen. Er habe sehr viel gelernt und konnte sogar seine Beziehung retten. „Ich bin mit meiner Freundin jetzt schon fast sechs Jahre zusammen, aber es war immer eine On-off-Beziehung. Als ich den Kurs belegte, waren wir gerade getrennt, wir dachten: endgültig“, erzählt Charlie. Er habe in dem Kurs aber gemerkt, wie sehr er sie vermisst habe, wie wertvoll eine lange Beziehung sei und wie sie ihre Probleme lösen könnten. „Ich habe gelernt, dass gute Kommunikation bedeutet zu sagen, was man denkt“, erklärt Charlie. „Das mag den anderen verletzen, aber es kann noch schlimmere Folgen haben, wenn man es nie sagt.“

Der Kurs besteht aus zwei Sitzungen in der Woche, die jeweils ein spezielles Thema behandeln: Partnerwahl, Konfliktlösung, die Bedeutung von Sex. „Wir haben gelernt, dass eine Beziehung mit Sex besser ist als eine ohne“, sagt Charlie und grinst dabei, als habe er das schon vorher gewusst.

Ehe-Unterricht hat vor allem in Amerika eine gewisse Tradition. Er richtete sich früher aber insbesondere an die Frauen, die dafür sorgen mussten, den Mann zufriedenzustellen und die Ehe am Laufen zu halten. Gerade in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vermittelte man den Mädchen und Frauen die Rolle einer guten Ehefrau, die dem Mann unterstellt ist, ihn verwöhnt und niemals um Hilfe im Haushalt fragt. Noch in der Bush-Ära startete die Regierung eine Ini­tiative für steuerfinanzierten Ehe-Unterricht für sozial schwache Menschen, auch Obama ließ das Programm weiterlaufen. In Deutschland war man vor nicht allzu langer Zeit noch der Meinung, Frauen sollten gewisse Qualitäten in eine Ehe mitbringen. Deswegen legte man Wert auf den Hauswirtschaftsunterricht für Mädchen.

Kurse an der Uni sucht man bei uns aber vergeblich, obwohl die Nachfrage wahrscheinlich vorhanden wäre. Der Münchner Psychologe Martin Greisel sagt: „Eine lange und glückliche Beziehung steht immer noch ganz weit oben auf der Prioritätenliste.“ Auch wenn die Ehe nicht mehr für alle die gewählte Form dafür sei: In den vergangenen fünfzig Jahren hat der Prozentsatz der Menschen, die heiraten, stark abgenommen. Greisel hält Kurse wie den von Alexandra Solomon durchaus für hilfreich, zumal wir heutzutage viel größere Anforderungen an unsere Beziehungen stellen. „Früher gab man sich damit zufrieden, eine gute Partie zu machen. Heute will man mit dem Partner kommunizieren können, sich wohlfühlen, gefordert werden und noch viel mehr“, sagt Greisel. Gewisse Kompetenzen dafür könne man durchaus in einem Kurs erlernen. Und für Studenten könne es von großem Vorteil sein, akademische Inhalte zu verinnerlichen, indem sie diese quasi am eigenen Leib erfahren.

„Marriage 101“ ist sehr arbeitsintensiv. Zu dem Kurs gehört ein dicker Reader aus Büchern mit Titeln wie „Eheforschung im 20. Jahrhundert und Forschungsagenda für das 21. Jahrhundert“ oder „Liebe triangulieren“. Die Inhalte werden schriftlich abgefragt. Außerdem müssen drei Hausarbeiten geschrieben werden: über ein Interview mit den Eltern, ein Interview mit einem sogenannten Mentorenpaar und über ein frei wählbares Thema. Alexandra Solomon erklärt: „Im Gespräch mit den Eltern geht es darum, sich selbst besser kennenzulernen; zu verstehen, welche Art von Beziehung man vorgelebt bekommen hat.“ Bei ihren Mentorenpaaren sollen die Studenten herausfinden, warum deren Beziehung funktioniert und wie sie miteinander umgehen. Die Paare sind dabei keineswegs alle perfekte Beziehungsvorbilder auf der Zielgeraden zur diamantenen Hochzeit: „Wir haben einige, die schon lange verheiratet sind, aber auch unverheiratete Paare. Wir haben homosexuelle, interkulturelle und Transgender-Paare“, betont Solomon.

Ihre Assistentin Meghan Emerson, eine Masterstudentin, hält die akademische Komponente des Kurses für sehr wichtig. Zwar spiele in Sachen Beziehung die eigene Erfahrung eine große Rolle, sagt Meghan, es gebe aber biologische Erkenntnisse, die einen zum Profi unter all den ahnungslosen Beziehungslaien machen könnten. „Zum Beispiel ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Verliebte anfangs eine Art Sucht nach ihrem Partner empfinden“, erklärt sie. MRT-Aufnahmen würden zeigen, dass die Bilder der Gehirne von frisch Verliebten ähnlich aussehen wie die von Kokainabhängigen. Wenn man von solchen biologischen Prozessen wisse, könne man sich auf verschiedene Phasen der Beziehung einstellen, statt gleich hinzuschmeißen, wenn die Schmetterlinge sich verziehen. Außerdem räumt der Kurs mit der Vorstellung auf, dass irgendwo da draußen der oder die Richtige wartet, der perfekte Partner fürs Leben. „Wir sind so damit beschäftigt, Mr. Right zu suchen und in Selbstmitleid zu verfallen, wenn er nicht kommt, dass wir vergessen, darüber nachzudenken, was wir selbst in einer Beziehung zu bieten haben“, sagt die Kursleiterin. Assistentin Meghan ist überzeugt davon, dass es jungen Menschen an guten Vorbildern für erfolgreiche Ehen mangelt. Außerdem bestehe in vielen Köpfen das Bild der Sie-lebten-glücklich-bis-an-ihr-Ende-Romanze. „Das ist unrealistisch und birgt den Irrglauben, es habe nichts mit Arbeit zu tun, seine Beziehung am Laufen zu halten“, erklärt Meghan.

Natürlich ist das alles ein Faustschlag ins Gesicht jedes Romantikers. Die Ehe zu akademisieren, das Führen einer guten Beziehung zu lernen und zu lehren, das bedeutet eine Entromantisierung der Liebe. Und wenn man es weiterdenkt, entzieht es auch vielen anderen Aspekten unseres Lebens – Romanen, Filmen, Musik – den Nährboden. Die Studenten lernen, dass Liebe vor allem sehr viel Arbeit ist. Aber immerhin eine Arbeit, die sich lohnt.

Das Ende der Einbahnstraße

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Minister Gerd Müller steht in Berlin vor einem Panoramafenster im elften Stock seines Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und spricht von einer „offenen, globalen Welt“. Von einer Welt, die es nur gibt, wenn man auf der richtigen Seite steht. Lionel Dzidzi befand sich die meiste Zeit seines Lebens auf der falschen. Jetzt aber ist er hier in Berlin, er schaut aus dem Fenster, hinunter auf Häuserdächer. Die Viktoria auf der Siegessäule glänzt golden, weiter rechts reflektiert das Kuppeldach des Reichstags die Sonne, es glänzt um die Wette mit dem gläsernen Berliner Hauptbahnhof.

Lionel ist 24 Jahre alt und macht einen Freiwilligendienst. Seit Mitte Dezember lebt er in Greifswald und arbeitet bei einer Reihe von lokalen Vereinen. Er kommt aus Chimoio, einer 240000-Einwohner-Stadt in Mosambik, einem der ärmsten Länder der Welt. Ein Visum für jemanden wie ihn? Undenkbar.

[plugin bildergalerielight Bild1="
Lionel, 24, kommt aus einem Land, in dem es keine Fußgängerzone und keine riesigen Kaufhäuser gibt. In Greifswald erlebt er jeden Tag Überraschungen." Bild2="Im Arm des Ministers: Gerd Müller (CSU) und der Botschafter von Mosambik empfangen Lionel und einen weiteren Freiwilligen. Lionels Gedanken sind in solchen Momenten ganz woanders." Bild3="Lionels Arbeitstag ist vollgepackt. Mal baut er mit dem Naturschutzbund Krötenzäune, mal bereitet er Seminare vor, mal streicht er den Mast eines schiffs im Greifswalder Hafen." Bild4="Manchmal, in großen Gruppen, wenn viel und schnell geredet wird, ist Lionel überfordert. Dann möchte er nur noch allein sein." Bild5="Zu Hause in Mosambik verdient Lionel sein Geld mit Auftritten in Bars. „Meistens war ich satt“, sagt er." Bild6="Auf dem Heimweg geht Lionel am Hafen von Greifswald entlang. In Mosambik war er noch niemals am Meer."]

In den vergangenen Wochen hat es mehrere Massenanstürme afrikanischer Flüchtlinge auf die beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta gegeben. Immer wieder riskieren Menschen ihr Leben, um nach Europa zu gelangen. Lionel stieg einfach in ein Flugzeug.

Schon seit 2008 schickt das Entwicklungshilfeministerium über sein Weltwärts-Programm junge Deutsche in Entwicklungsländer. Und Lionel ist nun einer der Ersten, die den entgegengesetzten Weg nahmen: von Süd nach Nord. Von arm nach reich. Von Mosambik nach Mecklenburg-Vorpommern.

Minister Müller mahnt auf der Willkommensveranstaltung die ersten Freiwilligen dieser neuen Südkomponente des Programms, Deutsch zu lernen. Eine Hochsprache, wie er sagt. Er spricht von Goethe und Beethoven und der besten Fußballnation. „Wir sind modern, aufgeschlossen, ein Land mit Qualität, Industrie, den besten Autos der Welt.“ Lionel skizziert mit seinem Kugelschreiber ein Mosaik auf den Block, der vor ihm liegt.


Wäre es irgendwie möglich, würde er gern Kunst studieren. Er malt gern leuchtende, großformatige Ölgemälde, darauf abstrakte Figuren und Alltagsszenen. Eines der Bilder, die er auf sein Blog hochgeladen hat, strahlt in Indigoblau, der Farbe, die der Himmel nach der Dämmerung annimmt, kurz bevor es endgültig dunkel wird. Es zeigt den Rücken einer Frau, die im Mondschein vor ihrem Haus sitzt und auf ihren Mann wartet. „O luar continua e enquanto ele nao chega“ heißt das Bild – „Der Mond scheint weiter, während er nicht wiederkommt“.

20 000 junge Deutsche sind bisher für ihren Freiwilligendienst in Entwicklungsländer gegangen. Aber das Programm hatte von An­fang an Gegenwind. Kritiker sagten, es zeuge von Arroganz den Einsatzländern gegenüber, unausgebildete 19-Jährige als Entwicklungshelfer auszusenden. Das Ministerium finanziere damit nur Selbstfindungstrips in arme Länder. Zudem drängten viele der zurückgekehrten Freiwilligen darauf, dass auch junge Menschen aus ihren Einsatzländern nach Deutschland kommen sollten. Nach langem Mauern stimmte das Ministerium zu. Weltwärts soll jetzt also zu einem wirklichen Austauschprogramm werden.

Aber funktioniert dieser Richtungswechsel überhaupt? Von der Armut in den Reichtum? Von Süd nach Nord? Ähnelt Lionels Motivation der eines deutschen Freiwilligen, der nach Mosambik geht? Was bringt ihm seine Zeit in Greifswald?

„Ich bin ein neugieriger Mensch“, sagt Lionel, „deshalb habe ich mich für das Programm beworben.“ Er hat Träume, wer er später einmal sein will. Ein Künstler. Ein Mann mit einer reichen Lebenserfahrung. Jemand, der viel gesehen und erlebt hat, der gereist ist. Unter seinen Freunden gilt Europa als „sehr cool“, viele beneiden ihn um seine Reise. „Ich wünschte, es würden mehr junge Leute die Gelegenheit bekommen“, sagt er. „Sie würden sehen, dass es gar nicht so ist, wie sie es sich vorgestellt haben.“

Zu Hause in Chimoio lebt er in einem kleinen Zimmer, dessen Miete er regelmäßig erst einen Tag vor Beginn des Monats zusammenhat. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Auftritten in Bars und Restaurants, spielt Percussion und Gitarre in einer Afro-Jazz-Band und verkauft ab und zu eins seiner Bilder. „Ich habe einen ungewöhnlichen Beruf“, sagt Lionel, „und auch einen ungewöhnlichen Lebensstil.“ Seine Verwandten sind nicht damit zufrieden. Sie hätten gern, dass er einen festen Job hat, heiratet und Kinder kriegt. „Vielleicht mache ich das ja irgendwann“, sagt er dazu. „Vielleicht aber auch nicht.“

Lionel sagt, er sei zufrieden mit seinem Leben, solange er malen könne und genug zu essen habe. „Meistens war ich satt.“ Der Verein Lemusica, gegründet von einer deutschen und zehn mosambikanischen Frauen, setzt sich gegen häusliche Gewalt ein, kümmert sich um Waisenkinder und bietet Kunstunterricht für Jugendliche an. Lionel, der keine Eltern mehr hat, seit er elf Jahre alt war, lernte hier malen, wurde eine Art ehrenamtlicher Kunstlehrer für jüngere Jugendliche und traf deutsche Weltwärts-Freiwillige, die in dem Projekt arbeiteten. „Es wäre doch toll, wenn du mal zu uns nach Deutschland kommen könntest“, sagten sie zu ihm.

Lionel hatte vor allem gehofft, sich in Deutschland künstlerisch weiterzuentwickeln, Anregungen von anderen Künstlern zu bekommen. Stattdessen arbeitet er nun in einem Netzwerk von fünf Vereinen, darunter der Naturschutzbund und „Verquer“, ein Bildungsanbieter, der an Schulen Workshops organisiert. Er ist in einem Umfeld gelandet, in dem dauernd über alles diskutiert wird. „Das ist oft ziemlich abstrakt und theoretisch“, sagt er. Finanziert wird sein Aufenthalt vom Bund, einen kleineren Anteil müssen die Vereine selber tragen.

Fototermin im Ministerium. Der Minister überragt die Freiwilligen um mehr als einen Kopf. Es gibt Schultertaschen mit Weltwärts-Schlüsselbändern und Kugelschreibern als Geschenk, dann ein Mittagsbuffet und weitere Interviews. Auch der mosambikanische Botschafter möchte sich mit Lionel fotografieren lassen. Lionel lächelt für die Kamera, ohne dass das Lachen seine Augen erreicht. Dann lässt er sich von dem Politiker umarmen. Er spürt, dass er hier auch eine Rolle zu spielen hat. Er soll das Weltwärts-Programm legitimieren, vielleicht Minister Müller schmücken, vielleicht dessen Politik. Er ist ein Statist. Seine Gedanken sind dabei woanders.

„Die ersten Wochen fühlte ich mich schrecklich, ich hatte das Gefühl, mich selbst zu verlieren, nicht mehr zu wissen, wer ich eigentlich bin“, erzählt er. In Greifswald lebt er mit 25 Mitbewohnern in einer WG. Egal ob Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot, immer sitzen viele Menschen an einem großen Tisch. Und immer wird geredet: schnell, viel und deutsch. „Ich höre zu, ich konzentriere mich. Aber irgendwann kann ich nichts mehr aufnehmen und will nur noch allein in meinem Zimmer sein.“

Sein Arbeitspensum ist enorm: Früh am Morgen fährt er mit zu einer Schule, ein Projekttag zum Thema Wasserprivatisierung. Lionel schaut zu, künftig will er solche Workshops selber halten. Am Nachmittag hat er Deutschunterricht. Abends um 20.30 Uhr sitzt Lionel zwischen zwei Frauen bei einem Planungstreffen für eine entwicklungspolitische Veranstaltungsreihe zum Thema Besitz. Sie übersetzen simultan für ihn. Bei der Vorstellungsrunde sagt er das erste Mal mit sicherer Stimme auf Deutsch: „Ich bin Lionel, und ich arbeite hier als Freiwilliger.“ Wie alle anderen Teilnehmer schreibt auch Lionel Vorschläge für Vorträge, Filmabende, Diskussionsveranstaltungen zum Thema Besitz auf Karteikarten, die anschließend an eine Tafel geheftet werden.

Sein Arbeitspensum ist enorm: Früh am Morgen fährt er mit zu einer Schule, ein Projekttag zum Thema Wasserprivatisierung. Lionel schaut zu, künftig will er solche Workshops selber halten. Am Nachmittag hat er Deutschunterricht. Abends um 20.30 Uhr sitzt Lionel zwischen zwei Frauen bei einem Planungstreffen für eine entwicklungspolitische Veranstaltungsreihe zum Thema Besitz. Sie übersetzen simultan für ihn. Bei der Vorstellungsrunde sagt er das erste Mal mit sicherer Stimme auf Deutsch: „Ich bin Lionel, und ich arbeite hier als Freiwilliger.“ Wie alle anderen Teilnehmer schreibt auch Lionel Vorschläge für Vorträge, Filmabende, Diskussionsveranstaltungen zum Thema Besitz auf Karteikarten, die anschließend an eine Tafel geheftet werden.

Katriona Dannenberg von „Verquer“ hat an der Bewerbung für das Weltwärts-Projekt mitgearbeitet. „Lionel bringt viele Erfahrungen aus seinem Verein in Chimoio mit. Das bereichert unsere Arbeit.“ Bei dem Planungstreffen für die Veranstaltungsreihe ging es auch um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Lionel erzählte von Zwangsimpfungen, die häufig von Entwicklungshilfeorganisationen durchgeführt würden, ohne dass den Menschen klar sei, wogegen sie gerade geimpft werden. „Auf das Thema wären wir selber nie gekommen“, sagt Katriona Dannenberg.

Lionel vermisst seine Freunde. Lachen, tanzen, singen, Witze machen. Und, mehr als alles andere, seine Sprache, Portugiesisch. „Philosophische Gedanken teilen, erzählen, was ich denke und fühle, das kann ich eigentlich nur in meiner Muttersprache“, sagt Lionel. Er kommt aus einem der ärmsten Länder der Welt, viele seiner Freunde beneiden ihn um seine Reise. Das heißt aber nicht, dass er den ganzen Tag Freudensprünge macht, weil er hier sein darf. Lionel hat Heimweh. Heimweh nach einem gebeutelten Land.

Sido, ärgere dich nicht

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Ein Gespräch über Rückschläge, bei einer Partie "Mensch, ärgere Dich nicht". Sonderregel: Schmeißt der Reporter eine Figur des Interviewten, darf er eine unangenehme Frage stellen. Umgekehrt darf der schamlos bewerben, was er will, wenn er es schafft, eine Figur des Reporters zu schmeißen.


Ein Backstageraum in Trier. Karg. Niedriger Besuchertisch, niedrige Couch, auf der Sido abwechselnd sitzt oder spätrömisch fläzt.
"Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich fertigmachen werde", sagt er. "Ist kein Problem, wenn er mitspielt, oder?", sagt er auch noch. Es ist eher keine Frage. "Er" ist der Fernsehmoderator Mitja Lafere. Er fährt Sido herum, weil der keinen Führerschein hat. Zwei gegen einen! Los also – mit der ersten Sechs bei Sidos zweitem Wurf.

Wie gehst du mit Rückschlägen um?
Ich bin niedergeschlagen. Manchmal auch sehr. Aber nie lange. Ich rapple mich schnell auf und versuche, eine Lehre draus zu ziehen.

Zum Beispiel?

Nimm mein letztes Album. Das war für meine Verhältnisse ein ziemlicher Flop.

Wir sprechen von
"Aggro Berlin"?
Ja. Das Teil davor war noch rougher, härter. Und dann kam eine Single wie "Hey Du!". Das war zu früh. Und der Imagewechsel zu abrupt. Solche Gedanken mache ich mir dann: Wo ist der Fehler? Auch bei mir? Und da komme ich dann meiner Meinung nach sehr schnell auf vernünftige Schlüsse.

Welche in dem Fall?

Ich habe mich zu sehr beeinflussen lassen von dem, was um mich passiert ist. Ich war neu bei Universal und wollte herausfinden, ob das stimmt, was man sich von Major-Labels so erzählt. Also habe ich gesagt: "Ich will das Album in L.A. aufnehmen. Da gibt’s ein krasses Studio und ’ne krasse Hütte." Einen Monat später war ich dort.

Und?
Ich hab das Studio zweimal betreten. Den Rest haben wir in dem Haus aufgenommen. Und das meiste davon später wieder weggeschmissen – weil’s zu hochtrabend war. Schon ein paarmal hat Sido gehofft, eine Figur schlagen zu können. Als es ihm gelingt, verlässt seinen Körper ein Geräusch wie von einer startenden Kreissäge: Wäääääärbung, jetzt! Und zwar für meinen Freund hier: MC M. Deutschlands erster Fitness-Rapper. Das ist der neue Trend, sag ich euch: Raps über Muskeln und Zirkeltraining. Wir produzieren gerade sein Debütalbum. So, Werbung gemacht. "Kommt bald!", musst du schreiben.

Kannst du gut verlieren?

Bei so etwas schon. Bei Sportkram nicht so. Und beim Pokern – auwei, Alter!

Hast du ein Pokerface? Nicht ganz, gell?

Mir wird immer gesagt, ich hätte keines. Vor allem von Leuten, die mit meinem Geld weggehen und dafür gute Ratschläge dalassen. (lacht)

Wer über die Jahre deine Konzerte verfolgt hat, bekommt das Gefühl: Der Typ hat von Anfang an gecheckt, was er da tut. Auch in den rüpeligeren Zeiten.

Das habe ich auch. Nicht im geschäftlichen Sinne. Aber künstlerisch wusste ich immer, was ich tue, weil ich wusste, was ich will.

Zack! Auch ich schlage endlich eine Figur.


"Arbeitslose sind größtenteils nur zu faul", hast du mal gesagt. Siehst du das noch so?
Man kann natürlich nicht alle über einen Kamm scheren. Wenn ich aber von meinen begrenzten Erfahrungswerten ausgehe, dann ist das so. Und diese Einstellung nervt mich. Ich hab’s auch nur geschafft, weil ich fleißig war.

Hat sich die Art verändert, wie Leute von früher mit dir umgehen?
Wann früher?

Die ausm Block.
Da kenne ich kaum noch jemanden, ehrlich gesagt. Viele haben mir das Gefühl vermittelt, ich würde ihnen etwas schulden. Aber das ist genau dieser faule Gedanke. Ich habe wirklich versucht, einigen zu helfen. Ich habe eine Plattenfirma gegründet und ihnen gesagt: "Hier, macht Musik, ich bring sie raus." Aber die meisten wollten sich einfach ins gemachte Nest setzen und dachten: "Sido regelt das jetzt alles für uns." Aber so geht das eben nicht. Du musst arbeiten. Du musst fleißig sein. Arbeit ist wichtig!

Gibt’s den Jugendschwur zwischen dir und B-Tight wirklich: Jeder gibt dem anderen immer die Hälfte von dem, was er verdient?
Den gab’s wirklich. Aber du kannst dir sicher vorstellen, dass sich das dem Finanzamt sehr schwer erklären lässt. Deshalb mussten wir es aufgeben.

Mit einer Fünf schlage ich eine weitere Figur.


Noch so ein Ausspruch von d
ir: "Bücher sind Zeitverschwendung."
Ja. In einem Film bekomme ich dieselbe Information in zwei Stunden.

Aber deine besten Songs sind die, in denen du Geschichten erzählst.

In drei Minuten.

Trotzdem ist das doch eher Literatur als Fernsehen.

Ich verstehe das Literarische auch, und ich höre gern gute Texte. Aber ich muss sie deshalb nicht lesen. Ist es ein anderer Mörder im Buch? Nein! Sind’s andere Beteiligte im Buch? Nein! Danke schön. Zeitverschwendung.

Heißt das, dass dich das Ergebnis mehr interessiert als der Weg?

Ich mache mir schon auch Gedanken über den Weg. Aber ich würde immer den leichtesten wählen. Der Weg ist für mich nicht das Ziel.

Ist Zeit das, womit du am geizigsten bist?
Ja. Leuten etwas von meiner Zeit zu gönnen, das mache ich sehr bedacht. Er schlägt, eher nebenbei, eine weitere Figur. Ich möchte die "Süddeutsche" bewerben. Super Zeitung, super Interview. Du hast mir noch nicht eine Frage zu meinem Kind gestellt. Warum eigentlich nicht?

Alle bekommen gerade Kinder. Und alle erzählen dasselbe. Womit hast du am meisten Zeit verschwendet?
Ich kann nicht sagen, dass ich wirklich Zeit verschwendet habe. Es gibt jedenfalls nichts, was ich in meinem Leben bereue. Alles, was passiert ist, hat den Typen geformt, der ich heute bin. Dass ich mich heute so angekommen fühle, ist Resultat jedes Schrittes, den ich vorher gegangen bin.

Der Assistent bittet, zum Ende zu kommen. Sido hat als Einziger wenigstens eine Figur im Haus. Klarer Sieg also. Wie angekündigt. Vielleicht kann er das wirklich – in die Zukunft sehen.


Me, Myself and São Paulo

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„Man muss genauer hinsehen, dann sieht man: Ich habe auf jedem Foto eine Hand zur Faust geballt. Das ist die Hand, in der ich den Auslöser halte. Es ist eine Frage von Millisekunden, ob ein Foto was wird oder nicht. Ich muss während der Fahrt oder während eines Tricks auf den Auslöser drücken. Bei einfachen Tricks, einem Wheelie oder einem Ollie, brauche ich ungefähr zehn Versuche. Bei schwereren Tricks, zum Beispiel bei dem Boardslide auf dem Geländer, sind es eher dreißig Versuche, bis ein Foto gut wird. Normalerweise machen Skatefotografen gleich eine Serie von Bildern, dann haben sie zwanzig Bilder von einem Trick, davon ist dann meist eines gut. Bei mir ist das anders. Ich fotografiere mit einer alten Hasselblad, die nur ein Foto auf einmal belichtet. Da ist der richtige Moment das Allerschwerste.

[plugin bildergalerielight Bild1="" Bild2="" Bild3="" Bild4="" Bild5=""]

Ich bin 39, komme aus São Paulo und fahre seit dreißig Jahren Skateboard. Anfangs bin ich auch gesurft, habe dann aber gemerkt: Beton und Asphalt faszinieren mich mehr als die Natur. Die meiste Zeit meines Lebens wurde ich von anderen Leuten fotografiert – ich war zehn Jahre lang Profi, bin in Brasilien, Europa und den USA gefahren. Ich kam also sozusagen als Fotoobjekt mit der Skatefotografie in Berührung. Ich fragte die Fotografen oft nach ihrer Ausrüstung, nach ihren Tricks mit Belichtungszeiten und Winkeln, Stativen und Lampen. Irgendwann besorgte ich mir selbst eine Kamera und fing an, Fotos zu machen. Erst nicht besonders ambitioniert, eher so hobbymäßig. Über die Jahre sammelte ich immer mehr Kameras, vor allem alte analoge, aber es dauerte, bis ich die wichtigste Entdeckung machte: den funkgesteuerten Auslöser. Als ich den in einem Geschäft sah, machte irgendwas in mir klick. Das war die Idee, auf die ich immer gewartet hatte – ohne zu wissen, dass ich auf etwas warte! Ich fing also an, mit dem Funkauslöser zu experimentieren. Er hat einen Radius von hundert Metern. Ich mag sehr totale Aufnahmen. Dafür muss ich die Kamera tatsächlich fünfzig, sechzig Meter entfernt aufstellen. Weil das in São Paulo nicht in allen Gegenden eine gute Idee ist – meine Kamera ist schließlich ein paar Tausend Euro wert –, ist bei diesen Aufnahmen immer ein Freund dabei. Der fasst die Kamera aber nicht an, sondern steht nur daneben, um auf sie aufzupassen. Wenn ich in geschlossenen Räumen fotografiere, mache ich alles allein.

Meine Fotos wurden 2012 in einem großen Museum in São Paulo ausgestellt. Seither kommen ständig Anfragen von anderen Museen und Galerien. Viele von denen bieten mir an, dass ich in ihren Gebäuden skate und dort fotografiere. So bin ich tatsächlich oft der Erste, der diese Spots überhaupt mit einem Skateboard berührt – ein irres Gefühl, sonst wird man ja oft vertrieben, wenn man irgendwo ein Geländer sliden will. Neulich durfte ich in einem Museum skaten, das der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer gebaut hat. Ohne es zu wollen, hat er perfekte Quarterpipes entworfen, verrückte Stufen und Geländer – ein Traum für jeden Skater! Leider war fast überall Teppichboden verlegt, der die Rollen wahnsinnig gebremst hat. Sieht man auf den Fotos aber zum Glück nicht.“

Anarchie in Athen

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Der kaum noch wahrnehmbare Geruch des in der Nacht ausgebrannten Cabrios mischt sich mit dem Duft von gegrilltem Souvlaki vom Imbiss um die Ecke. Serpentinenschwaden von Gras fließen durch die Luft, lösen sich auf. Aus der benachbarten Bar grölt und kracht griechischer Rap. An den Häuserfronten und den kleinen Plätzen sind viele Banner gespannt – „Hände weg! Das ist unser Viertel!“ An den Wänden der Häuser, unter den Bannern, Graffiti: „Hellas, warum verkaufst du deine Kinder?“, „Eat the rich“, „Griechenland stirbt“. Gedenktafeln für zwei erschossene Demonstranten. Beide grade mal fünfzehn Jahre alt. Noch Schüler.

Mit dem üblichen Bild des touristischen Athen hat all dies nichts gemein. Weder mit der über der Stadt thronenden Akropolis noch mit den klassizistischen Bauten an der Platia Syntagma, dem Platz, an dem das griechische Parlament steht und auf dem in den vergangenen Jahren manchmal Hunderte, oft aber auch Hunderttausende Griechen gegen Arbeitslosigkeit, Mas­senentlassungen und Fremdbestimmung demonstriert haben.

[plugin bildergalerielight Bild1="Eine Häuserfront am Exarchion-Platz, der Hochburg der alternativen Szene im Herzen Athens." Bild2="In Exarchia gibt es billiges Bier, Partys und das unangefochten beste Gyros und Souvlaki von Athen." Bild3="Wer sich in das Univiertel begibt, sollte das aber auf keinen Fall mit einem Cabrio oder einem anderen teuer aussehenden Gefährt tun. solche Wagen gehen dort nämlich gern mal in Flammen auf." Bild4="Das dritte Gesicht von Exarchia: Solidarität. Wo der Staat versagt, helfen sich die Bewohner gegenseitig, zum Beispiel mit Sprachkursen." Bild5="In Exarchia bietet die selbstorganisierte Gesundheitseinrichtung im „Vox“ den einwohnern medizinische Grundversorgung." Bild6="Studenten bereiten für das „Vox“ ein großes Banner vor..." Bild7="...auf einem Bauernmarkt verteilen sie Flyer, die sich gegen die rechte Partei Goldene Morgenröte richten." Bild8="Eines von deren Mitgliedern wurde im September wegen Mordes an Rapper Killah P. verhaftet."]

Exarchia – das ist das andere Athen. Der Staat hat in diesem Viertel nichts zu sagen: Polizisten trauen sich nur noch in Truppenstärke in die engen Gassen. Der Bezirk rund um den Exarchion-Platz ist die Hochburg der alternativen Szene im Herzen Athens, ein Barometer für die Krise der griechischen Gesellschaft. Am Abend steigen hier spontane Straßenpartys, billiges Bier, laute Musik inklusive. Schüler, Studenten, Künstler, Anarchisten, Autonome, aber auch alteingesessene Bürger beanspruchen den Bezirk für sich, halten seit Jahren Häuser, Kinos, Geschäfte und Cafés besetzt, betreiben eine eigene Radiostation, eine kostenlose Gesundheitseinrichtung, benennen eigenhändig Straßen um. Der Staat schaut machtlos zu. Viel zu bieten hat er wegen klammer Kassen ohnehin nicht.

Exarchia ist ein alternatives Viertel, eines mit sehr unterschiedlichen Gesichtern. Es kann schillernd und pulsierend sein, voller Hilfsbereitschaft und Lebensfreude. Und es kann hart und voller Verzweiflung sein.

Aphrodite Mitsopoulou, 34, hat in Thessaloniki Architektur studiert, bis sie nach Athen zog, um Schauspiel zu studieren. Seit mehr als fünf Jahren wohnt sie in Exarchia. „Hier läuft die Party“, sagt sie lachend, als sarkastische Anspielung auf die Aussage deutscher Politiker, die „Party in Griechenland sei vorbei“. Bei einem Glas Tee sitzt sie in der Bar „Floral“, einem Treffpunkt für Schüler und Studenten des Viertels. Wüsste man nichts über Exarchia, könnte die Bar glatt als hip durchgehen. Schwarz-Weiß-Fotos mit Porträts von Keith Richards oder Filmausschnitte aus „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ über der Theke wechseln sich ab mit dokumentarisch anmutenden Bildern aus früheren Barzeiten, vielleicht aus den Siebzigern: Die Stühle stehen auf den Tischen, ein Kellner in weißem Jackett stützt sich auf einen Besenstiel, nachdenklich, gleich wird er den Fußboden wischen. Hinter ihm ein Blechschild mit dem französischen Namen „Café de Flore“. Es ist eine Hommage an das berühmte Pariser Café im sechsten Arrondissement, das einmal Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Pablo Picasso zu seinen Gästen zählte. Die jungen Besucher des „Floral“ drehen sich ihre Zigaretten selbst, wie einst Sartre, auch ihre Gespräche drehen sich um den Existenzialismus, um Themen wie Freiheit, Angst, Verantwortung und Handeln – allerdings ein Stück wahrhaftiger, als den meisten wohl lieb ist.

Die Arbeitslosenrate der 15- bis 24-Jährigen in Griechenland liegt bei knapp 62 Prozent, die ihrer Eltern und älteren Geschwister bei rund 28 Prozent. In keinem Land der Europäischen Union sind diese Zahlen höher. Jeder, der im „Floral“ sitzt, weiß: Selbst wenn er oder sie nach dem Studium einen Job findet, werden sich damit nicht mehr als 400 oder 500 Euro im Monat verdienen lassen. „Das ist die beste Perspektive einer ganzen Unigeneration“, ruft einer der Cafébesucher vom Nachbartisch. „Sarkasmus“ ist ein griechisches Wort. Der beißende Spott für viele die einzige Möglichkeit, bei einem Glas Frappé ihre aktuelle Situation herunterzuspielen. Sie sei zwar knapp bei Kasse, sagt Aphrodite, denn für Architekten gebe es derzeit keine Arbeit. Auch ihr Freund Georgios, studierter Soziologe, komme derzeit nicht auf einen grünen Zweig. Er sitzt ihr gegenüber und schweigt. Einmal pro Woche trete sie aber mit einer Schauspielgruppe in einem Theater für Kinder auf, erzählt sie. Vor Kurzem hatte sie noch eine andere Idee. „Wir saßen mit Freunden zu Hause und haben uns gefragt: Was tun?  Da sagte ich spontan: Lasst uns singen!“ Daraus wurde der „Chor von Exarchia“. Und Aphrodite Mitsopoulou leitet diesen Chor. Mitmachen kann jeder, sagt sie. Derzeit seien es etwas mehr als zwanzig Sänger und Sängerinnen. „Dieser Chor macht mir ungeheuer Spaß. Ich kann meine Sorgen und Probleme vergessen. Die Krise ist dann auf einmal ganz weit weg“, erzählt Aphrodite.

„Krise“, auch ein Wort griechischer Herkunft. Sie hat nicht nur in das Leben von Aphrodite und Georgios eine Lücke gerissen. Um die Ecke, im von Autonomen besetzten sozialen Zentrum „Vox“, werden jeden Mittwoch- und Donnerstagabend Kranke kostenlos behandelt – von Ärzten aus dem eigenen Viertel. Das Wartezimmer ist mit ausgeschnittenen bunten Papierpflanzen beklebt, Spielsachen liegen in der Ecke, für Kinder, die mit den Eltern zur Untersuchung kommen. Das griechische Gesundheitswesen steht kurz vor dem Kollaps. Die staatliche Gesundheitskasse hat mehrere Milliarden Euro Schulden, in den staatlichen Krankenhäusern warten Pfleger und Ärzte seit Monaten auf ihr Gehalt, die Folgen des Spardiktats sind täglich vor den Apotheken Athens zu sehen: Arbeitslose und Rentner, die um Medikamente betteln, weil sie keine Krankenversicherung mehr haben oder weil diese die notwendigen Medikamente nicht bezahlt. Die selbstorganisierte Gesundheitseinrichtung im „Vox“ bietet den Einwohnern Exarchias eine medizinische Grundversorgung und psychologische Unterstützung an. In den vergangenen Jahren wurde das Gebäude, das paradoxerweise dem staatlichen Gesundheitsministerium gehört, mehrmals von der Polizei gestürmt und anschließend versiegelt. Immer wieder haben sich die Aktivisten das „Vox“ zurückerobert, nachdem die Polizei verschwunden war. Offiziell mit uns sprechen will niemand, nur einer sagt am Telefon, ohne seinen Namen zu nennen: „Hier ist jeder willkommen: Migranten, Wohnungs- oder Arbeitslose, prekäre Arbeiter ohne Zugang zu den Gesundheitsdiensten. Wir sehen uns als lebendige Zelle des sozialen Widerstands und der Emanzipation gegen die gegenwärtige Barbarei.“ Es klingt etwas pathetisch. Aber wer sich in Exarchia umsieht, weiß, dass es sich nicht nur um große Worte handelt.
[seitenumbruch]
Im Theatersaal in der Themistokleousstraße, ein paar Häuser vom „Floral“ entfernt, ist an diesem milden Märzabend fast jeder Sitzplatz besetzt. Auf der Bühne ein Holztisch, der Lack abgeblättert. Xenia Chrysochoou, 48, pechschwarzes Haar, helle Haut, fragt von der Bühne aus: „Wer braucht Unterricht?“ Prompt heben gut ein Dutzend Väter und Mütter im Publikum den Arm. „Es geht um meine Tochter“, sagt eine Mutter. „Sie braucht unbedingt Nachhilfe in Physik, Chemie und Biologie.“

„Schön. Genau diese Fächer bietet Janna an“, antwortet Chrysochoou.

Janna, 40, schlank, Hornbrille, sanfter Blick, steht auf, stellt sich vor. Sie lehrt Physik an der Universität Athen. Geduldig notiert Chrysochoou die wichtigsten Daten der Schüler: Name, Alter, Telefonnummer und gewünschte Fächer. Am Ende stehen sechzehn Namen auf der Liste. „Die Eltern können es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder wie früher nachmittags auf eine private Nachhilfeschule zu schicken. Jetzt kommen sie zu uns“, sagt sie.

[plugin bildergalerielight Bild9="Seit einem Studentenaufstand in den Siebzigern am Polytechnikum waren die Universitäten für Polizisten tabu." Bild10="Deren Präsenz im Viertel ist immer noch minimal. Deshalb kann man auch am hellen Tag Junkies die Billigdroge Sisa konsumieren sehen." Bild11="Einfach machen: Nikos Kotselopoulos hat aus einem ungenutzten Firmengelände..." Bild12="...einen selbstverwalteten Park gemacht." Bild13="Alles, was die Bürger hier noch vom Staat erwarten, ist Gewalt durch Polizeieinsätze."]

„Zu uns“ heißt zur Bürgerinitiative Exarchia. Gegründet wurde diese vor sieben Jahren, vor Kurzem aber hat die Initiative die „Zeitbank Exarchia“ ins Leben gerufen. Sie funktioniert so: Unidozentin Janna bekommt für ihren Privatunterricht Gutschriften bei der Zeitbank. Ob Babysitting, Bügeln, Maler- oder Elektroarbeiten – wem Zeit gutgeschrieben worden ist, der kann im Gegenzug die Arbeit anderer Bürger aus dem Viertel als Dienstleistung in Anspruch nehmen. Kostenlos. Janna braucht die Hilfe eines Elektrikers. Das Prinzip: Alle Arbeiten haben genau den gleichen Wert. Die einzige Währung ist die aufgewendete Zeit. Mittlerweile führt die Zeitbank mehrere Hundert Kunden.

Über Griechenlands Grenzen hinaus erlangte Exarchia traurige Bekanntheit als Ort des ersten Studentenaufstands gegen die Militärjunta, die das Land zwischen 1967 und 1974 regierte. Am 17. November 1973 riss ein Panzer des Regimes das Tor des Polytechnikums nieder, das Studenten besetzt hielten. Je nachdem, mit welcher Seite man spricht, ist die Rede von 25 bis 50 Toten. Die Ereignisse um den Studentenaufstand waren der Anfang vom Ende der Obristendiktatur und begründeten den Mythos des Viertels als alternatives Zentrum. Als Folge des Panzereinsatzes am Polytechnikum wurde ein weltweit einzigartiges Gesetz erlassen: Griechische Universitäten waren von 1974 für die Polizei tabu. Das Universitätsasyl, 37 Jahre in Kraft, wurde erst 2011 gekippt, mitten in der Krise. Wahrscheinlich aus Angst, Demonstranten könnten sich dort verschanzen. Manche im „Floral“ ziehen deshalb heute schon wieder Parallelen zur Obristendiktatur.

Genährt wird der Exarchia-Mythos auch von zwei Morden: Im November 1985 wurde der 15-jährige Schüler Michalis Kaltezas von einem Polizisten der Spezialeinheit MAT erschossen, am 6. Dezember 2008 traf eine Polizistenkugel den ebenfalls 15-jährigen Schüler Alexandros Grigoropoulos. Die bereits erwähnten Gedenktafeln sind den beiden gewidmet. Die Straße, auf der Grigoropoulos starb, wurde von Bewohnern eigenhändig um-benannt und trägt nun seinen Namen. Nach beiden Morden kam es zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Exarchia-Bewohnern und der Polizei. Unzählige Youtube-Videos von damals zeigen ausartende Demonstrationen, brennende Mülltonnen und Autos und mutmaßlich unverhältnismäßige Polizeigewalt.

So wundert es nicht, dass genau hier, so erzählen es die Bewohner von Exarchia, das „Avato“, gilt. Das griechische Wort umschreibt den Umstand, dass das Viertel für die Polizei als No-go-Area gilt. Es ist die einzige in Hellas. Wahr ist aber auch: Die Polizei ist an den Grenzen des Viertels und überall dort massiv präsent, wo es darum geht, öffentliche Gebäude zu bewachen: Polizeistationen, Parteibüros, Ministerien – aus der Angst, diese könnten angegriffen oder in Brand gesetzt werden. Fragt man allerdings die Polizisten vor Ort, spielen sie die Problematik herunter: „Alles unter Kontrolle“, sagt einer. Offiziell heißt es gar, Exarchia sei ein Viertel wie jedes andere.

Xenia Chrysochoou, Sozialpsychologin an der Athener Pantion-Universität und Bewohnerin von Exarchia, aber weiß: „Wenn man die Polizei wirklich braucht, kommt sie nicht.“ Und dass man die Polizei in ihrem Viertel braucht, ist nicht so selten. Auf dem Exarchion-Platz, der mit bunten Graffiti und beschriebenen Transparenten geschmückt ist, sind Drogenhandel und -konsum Alltag. Unter den Junkies weit verbreitet ist derzeit Sisa, eine fiese, mit Batteriesäure angereicherte Billigdroge, die schnell süchtig macht. „Kokain der Armen“ nennen sie es hier. Auf dem Platz ist das Zeug am helllichten Tag für einen Euro zu haben. Auf einem verwitterten Plakat steht in griechischer Schrift: „Die Bullen verkaufen das Heroin!“ Der Satz des Polizisten klingt einem wie Hohn in den Ohren: „Alles unter Kontrolle.“

Dennoch: Ob Theater, Kinos, In-Restaurants wie das „Saleo“, das Kultcafé „Floral“, das von Autonomen besetzte „Vox“ oder auch der legendäre Stehimbiss „Kavouras“ mit dem unangefochten besten Souvlaki-Spieß in ganz Athen: Exarchia ist ein beliebter Ort für viele junge Athener, vor allem am Wochenende. Allerdings: Das schnittige Cabrio oder den wuchtigen Geländewagen sollte man beim Besuch lieber nicht in Exarchia parken. „Die können schon mal in Flammen aufgehen“, sagt Nikos Kotselopoulos.

Kotselopoulos, 45, Rechtsanwalt, lebt auch in Exarchia. Als Student der Athener Universität in der stark frequentierten Solonosstraße, einer Querstraße zur Themistokleous, verliebte er sich schon vor mehr als 25 Jahren in „sein“ Exarchia. Er sagt: „Hier leben zwar viele Menschen der unterschiedlichsten Couleur. Irgendwie fühlt man sich aber trotzdem wie in einem Dorf. Auf der Straße treffe ich immer Bekannte und Freunde. In Athen findest du das nur hier.“

Kotselopoulos ist einer jener Aktivisten, die auf einem unbenutzten Gelände vor knapp fünf Jahren geradezu handstreichartig den Navarino-Park schufen. Die griechische Ingenieurkammer TEE, welcher das betreffende Grundstück gehört, hatte es jahrelang an den Betreiber eines Parkplatzes vermietet. Als der Vertrag Ende 2008 auslief und die Ingenieurkammer nicht wusste, was sie mit dem Gelände anfangen wollte, ergriffen vor allem die Studenten und jungen Paare mit Kindern von Exarchia kurzerhand die Initiative, ohne Absprache mit dem Eigentümer.

Ihr Motto: „Grünfläche statt Zement“. Sie brachen den Betonboden auf, sie gruben, schütteten Erde auf, pflanzten Bäume und Sträucher und richteten auch einen Kinderspielplatz ein. Heute gleicht der Navarino-Park einer Oase im Athener Betonmeer – und für Kotselopoulos ist er das Sinnbild einer funktionierenden Selbstverwaltung. Der Rechtsanwalt packte damals selbst mit an. „Ich habe einen Betonbohrer bedient, zum ersten Mal in meinem Leben“, erinnert er sich lachend und bückt sich, um herumliegendes Papier und Plastik aufzuheben und in den überquellenden Mülleimer zu stopfen. „Wir sind sehr stolz auf unseren Park. Ich liebe die Palmen und Olivenbäume. Schau, hier! Diese habe ich selber gepflanzt.“

Wohnen in Exarchia ist nicht teuer. Für ein fünfzig Quadratmeter großes Apartment zahlt man gegenwärtig ungefähr 180 Euro, fast die Hälfte weniger als noch vor fünf Jahren – Tendenz weiter fallend.

Gerade läuft eine junge Frau durch den Park. Sie sei vor etwa einem Jahr „ganz bewusst“ nach Exarchia gezogen, erzählt Johanna Voudouri: „Eigentlich müsste ich mir die Miete sparen, die ich hier für meine Wohnung bezahle. Aber mir gefällt es bei meinen Eltern überhaupt nicht mehr, seit die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte die ganze Region im Athener Westen terrorisiert. Schlägertrupps jagen nachts auf offener Straße Einwanderer aus Asien, weil sie eine andere Hautfarbe haben. Ich finde das schrecklich.“

Nach Exarchia traue sich kein Morgenrötler, sagt Johanna. Toleranz werde hier großgeschrieben. Auch in der Krise.
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